Zentrum für kirchliche Sozialforschung (Zekis) Was glauben die Hessen? Zusammenfassung zentraler Ergebnisse einer Untersuchung im Auftrag des Hessischen Rundfunks Januar 2012 Prof. Dr. Dr. Michael N. Ebertz unter Mitarbeit von Prof. Dr. Burkhard Werner, Lucia A. Segler und Samuel Scherer Telefon Fax E-Mail: +49 761 200-1580 +49 761 200-1496 [email protected] ____________________________________________________________________ Karlstraße 63 79104 Freiburg www.kh-freiburg.de 1. Ergebnisse nach Dimensionen der Religiosität 1.1 Öffentliche Dimension von Religiosität 1.1.1 Mehr als drei Viertel der befragten Hessen (76 Prozent), darunter mehrheitlich auch Muslime und religiös Nicht-Organisierte, „finden es gut, dass es die Kirchen gibt“. Das ist einer der höchsten Zustimmungswerte, die wir überhaupt gemessen haben. Es gibt also eine über die eigene religiöse Zugehörigkeit hinausreichende hohe generelle Akzeptanz der Existenz der Kirchen in der hessischen Bevölkerung, überdurchschnittlich übrigens bei den Frauen und bei den über 40-Jährigen. 1.1.2 Insgesamt gab etwa jeder/jede Fünfte (19 Prozent) aller Befragten zur Antwort, „einmal oder mehr als einmal pro Woche“ eine öffentliche religiöse Veranstaltung zu besuchen. Die meisten sind „selten“ (23 Prozent) oder „nie“ (25 Prozent) bei einer solchen öffentlichen religiösen Praxis anwesend, das heißt nicht einmal „mehrmals im Jahr“ (22 Prozent) oder gar „ein- bis dreimal im Monat“ (10 Prozent). 1.1.3 Jene für die Kirchen positive Aussage (s. 1.1.1) meint nicht, dass in der hessischen Bevölkerung, gar unter den hessischen Kirchenmitgliedern die Zustimmung zu kirchenoffiziellen Erwartungen und Glaubensaussagen weit verbreitet ist. Gemeint ist auch nicht, dass sie Antworten auf aus der Sicht der Befragten höchstrelevante Fragen haben. Mehr als zwei Drittel der Befragten (72 Prozent) stimmen dem Satz uneingeschränkt (41 Prozent) oder „teils, teils“ (31 Prozent) zu, „dass die Kirchen auf Fragen, die sie wirklich bewegen, keine Antwort haben“. Erstaunlich ist, dass es ausnahmsweise die älteren Befragten sind, die überdurchschnittlich hoch (48 Prozent) dieser massiven Defizitaussage über die Kirchen ganz und gar zustimmen. Der Satz: Je älter, desto frömmer, stimmt nicht mehr in jeder Hinsicht. 1.1.4 Mit dem hohen Wert der allgemeinen Akzeptanz der Kirchen (s. 1.1.1) geht auch nicht die Erwartung oder die Zustimmung der Befragten einher, dass die Kirchen Lebenssinn zu verbürgen vermögen. Einen noch höheren, und zwar den höchsten Zustimmungswert, den wir überhaupt gemessen haben, findet die autozentrische Aussage, dass „das Leben nur dann einen Sinn hat, wenn man ihm selber einen Sinn gibt“. Mit 80-prozentiger Zustimmung aller Befragten verbindet diese Aussage auch die jüngsten (85 Prozent) und die ältesten (86) Altersklassen und stellt gleichsam die religiöse Konsensformel der Hessen dar. 1.1.5 Die Kombination der beiden höchsten Zustimmungswerte unserer Befragung - hohe Akzeptanz der Kirchen einerseits und hohe Akzeptanz der individuellen Autonomie oder Autozentrik in Sachen Lebenssinn – ist ein Schlüssel zur Interpretation unserer Daten. Sie steht für ein Spannungsverhältnis von (religiösem) Individuum und (religiöser) Institution. Diese wird nur dann akzeptiert, wenn sie der religiösen Selbstbestimmung Rechnung trägt. Auf eine Kurzformel gebracht: religiöse Autozentrik ja, gern auch mit den Kirchen, wenn sie sich dieser Konsensformel unterordnen. Jedenfalls hat die religiöse Regie von der Institution auf die Seite des Individuums gewechselt. 1.1.6 Noch stärker als die deutsche Bevölkerung (63 Prozent) bzw. die westdeutsche Bevölkerung (65 Prozent) insgesamt relativieren die hessischen Befragten ihre eigene Religion, indem gut zwei Drittel von ihnen (70 Prozent) davon ausgehen, dass „jede Religion einen wahren Kern“ hat. 2 Die hessischen Befragten scheinen auch synkretismusfreudiger zu sein als die (west)deutsche Gesamtbevölkerung. Sie sagen nämlich beinahe doppelt so häufig (40 Prozent) als diese (Gesamtdeutschland: 22 Prozent; Westdeutschland: 24 Prozent) aus, sich „selbst an verschiedenen religiösen Traditionen zu orientieren“. Die Bereitschaft, „möglichst viele Menschen für meine Religion zu gewinnen“, ist deshalb in Hessen wie in West- und Gesamtdeutschland (16 bzw. 14 bzw. 13 Prozent) nur mäßig ausgeprägt. Auch Hessen sind keine religiösen Missionare. 1.1.7 Dem entspricht auch der Befund, dass unter den Hessen (80 Prozent) die tendenziell fundamentalistische Überzeugung, „dass in religiösen Fragen vor allem meine eigene Religion Recht hat und andere Religionen eher Unrecht haben“, auf höhere Ablehnung stößt als in Gesamt- bzw. in Westdeutschland (69 bzw. 70 Prozent). Gleichwohl wird man nicht fehlgehen, wenn man annäherungsweise 10 Prozent der Hessen als fundamentalistisch geneigt qualifiziert. Aber die meisten Hessen sind allerdings weder Missionare noch Fundamentalisten in Sachen Religion. 1.2 Private Dimension von Religiosität 1.2.1 Zwei Drittel der befragten Hessen glauben an die ‚Macht des Gebets‘, jedenfalls daran, „dass Gebete etwas bewirken“. Die Akzeptanz dieser ja spezifisch religiösen Kommunikationspraxis ist hoch. 1.2.2 In der Gesamtheit der hessischen Bevölkerung geben 42 Prozent an, „täglich“ bzw. „wöchentlich“ zu beten. In dieser Hinsicht scheinen die Hessen etwas frömmer als die (west-)deutsche Gesamtbevölkerung zu sein. 1.3 Intellektuelle Dimension von Religiosität 1.3.1 Der Blick auf die intellektuelle Dimension zeigt, dass die Hessen ein ähnlich ausgeprägtes Interesse wie die westdeutsche Gesamtbevölkerung daran haben, über religiöse Themen nachzudenken. Religion ist nicht aus den Köpfen der Hessen verschwunden. Nur ein gutes Viertel der befragten Hessen (27 Prozent) gibt an, „selten“ oder „nie“ über religiöse Themen nachzudenken. 1.3.2 Auch „Horizonte“ kann an diesem religiösen Interesse partizipieren, kennen doch 38 Prozent der Befragten – darunter auch ein ähnlich hoher Anteil von religiös Ungebundenen – diese zweitälteste HR-Sendung nach der „Hessenschau“. 1.4 Dimension der religiösen Erfahrung 1.4.1 Während der Glaube an die Erfahrbarkeit von Gottes Eingriff Leben die Hessen eher in Befürworter (47 Prozent) und Verneiner Prozent) polarisiert, wird der Glücksbringer-, der Sternen- und Zauberglauben doch von einer Zweidrittel- bis Dreiviertel-Mehrheit hessischen Befragten abgelehnt. ins (42 der der 1.4.2 Fast drei Viertel der Hessen (73 Prozent) glauben daran, „dass es hinter oder über unserem normalen Leben ein Geheimnis gibt“. Das ist der dritthöchste Zustimmungswert in unserer Befragung (nach der Zustimmung zu den Aussagen, „dass das Leben nur einen Sinn hat, wenn 3 man ihm selber einen Sinn gibt“, und dass man es „gut findet, dass es die Kirchen gibt“). 1.4.3 Das ist möglicherweise aus religiös offizieller Sicht zu wenig, obwohl damit zumindest für die hessische Bevölkerung eine allgemeine religiöse Basis bzw. Ansprechbarkeit signalisiert wird. Kombiniert mit den beiden anderen Aussagen, die höchste Zustimmungswerte erreicht haben, lässt sich daraus schlagwortartig die Kurzformel generieren: Kirche ja, sofern sie dieses ‚offene Geheimnis‘ nicht dogmatisch schließt und die Autozentrik der Lebenssinngebung respektiert. 1.4.4 Dass „Wundererlebnisse weiter verbreitet sind, als oft angenommen wird“ (Institut für Demoskopie Allensbach), wird man auch für die hessische Bevölkerung sagen können. Deren Wunderglaube scheint denjenigen der deutschen Bevölkerung, wie er vor fünf Jahren erhoben wurde, rein quantitativ sogar noch zu übertreffen. Hessen sind Wundergläubige. Auch die Zustimmung zum Wunderglauben erreicht mit 70 Prozent einen weiteren der höchsten Werte unserer Umfrage. Unseren Ergebnissen zufolge scheinen für die Befragten „Wunder“ etwas anderes zu bedeuten als „zaubern“ oder das, was Glücksbringer bewirken, denn an Wunder glauben sie viermal eher als ans Zaubern und dreimal eher als an Glücksbringer. 1.5 Dimension des Glaubens und des Lebenssinns 1.5.1 Können wir in solchen Vorstellungen wie dem Wunderglauben, dem Glauben an ein Geheimnis über oder hinter dem normalen Leben oder in der Autozentrik der Lebenssinngebung noch eine mehr oder weniger starke gemeinsame religiöse Basis der hessischen Befragten erkennen, trennen sich die religiösen Wege der Hessen wieder, wenn speziellere und institutionell stärker definierte Glaubensvorstellungen in den Blick geraten. 1.5.2 Dies gilt zwar weniger für die Gottesfrage insgesamt, denn dass „es so etwas wie eine höhere Macht (ein höheres Wesen) gibt“, „dass es Gott gibt“, wird – wie auch in der deutschen Gesamtbevölkerung - von mehr als zwei Dritteln der Hessen (69 bzw. 67 Prozent) geteilt. Für die Befragten scheint auch eine monotheistische Vorstellung bei derartigen, auf „Gott“ oder eine „höhere Macht“ bezogenen Formulierungen des Transzendenzbezuges vorherrschend zu sein. Eine polytheistische Position ist offensichtlich nicht mehrheitsfähig. Sie wird mit 71 Prozent mehrheitlich – auch in hohem Konsens der Generationen und Geschlechter – abgelehnt. 1.5.3 Die religiösen Wege der Hessen trennen sich bereits anlässlich der Konkretisierung des Gottesbildes. So ist das jüdisch-christlich überlieferte personale Gottesbild nicht nur in der christlichen Theologie, sondern auch in der breiten (hessischen) Bevölkerung nicht mehr konsensfähig und insofern auch keine Basis der gesellschaftlichen Integration. 1.5.4 Eher glauben die Hessen – die hessischen Frauen (56 Prozent) noch an Engel, als an einen Schöpfergott, der mit jedem Menschen in eine persönliche Beziehung treten kann. Überhaupt sind die hessischen Frauen alles in allem sozusagen religiös gestimmter als die hessischen Männer. 1.5.5 An die Existenz des Teufels glaubt nur eine Minderheit von hessischen Männern (28 Prozent) und Frauen (27 Prozent), aber es sind doch mehr als diejenigen, die an eine Göttervielfalt (17 bzw. 20 Prozent) glauben. 4 1.5.6 Glauben die Hessen (noch) an einen „Gott, der sich in Jesus zu erkennen gegeben hat“? Nicht einmal mehr jeder Zweite kann dem zustimmen. In den beiden jüngsten Befragtengruppen signalisiert nur jeder Dritte (18-29-Jährige: 33; 30-39-Jährige: 35 Prozent) Zustimmung und indirekt damit zugleich eine der stärksten Differenzen – Traditionsbrüche? - hin zu den ältesten Generationen unserer Befragten (56 Prozent). Macht man die Zustimmung allein zu dieser Formulierung zu einem entscheidenden Kriterium für christliche Religiosität, ist davon auszugehen, dass die „Christen“ in Hessen zu einer Minderheit geworden und selbst unter den Mitgliedern beider Kirchen erhebliche Anteile an „Nicht-Christen“ sind. Tatsächlich glaubt etwa jeder dritte Protestant bzw. jeder fünfte Katholik in Hessen nicht daran, „dass sich Gott in Jesus zu erkennen geben hat“. Ein Christentum ohne Christus, ein Christentum ohne Christen scheint in den Kirchen bereits Realität zu sein. 1.5.7 Angesichts der Krise spezifisch des personalen Gottesbildes hat es Plausibilität, dass die Sinngebung des Lebens mehrheitlich nicht (mehr) nomo- bzw. theozentrisch verankert wird. Die Aussage, die eine durch einen religiösen Glauben bestimmte Sinnkonstitution zum Ausdruck bringt, dass „das Leben für mich nur einen Sinn hat, weil es einen Gott gibt“, stößt in der hessischen Gesamtbevölkerung allenfalls noch in den älteren Generationen auf Zustimmung, aber selbst bei den über 60-Jährigen liegt sie nur bei einem guten Drittel (37 Prozent). 1.5.8 Damit geht nicht die Leugnung der Sinnstruktur des Lebens einher, findet doch die Aussage, dass „das Leben meiner Meinung nach wenig Sinn hat“ (5 Prozent), den geringsten Zustimmungswert unserer Befragung überhaupt. Der Lebenssinn der Mehrheit der Befragten scheint – zumindest auch und schwerpunktmäßig - immanente bzw. intramundane Bezugspunkte zu haben. Für zwei Drittel der Befragten „trägt das Leben seinen Sinn in sich selbst“. 1.5.9 Wenn es um die eschatologische Ausrichtung des Lebens geht („weil es nach dem Tod noch etwas gibt“), trennen sich die Wege in der hessischen Bevölkerung weiter. Gerade noch mehrheitsfähig ist in ihr die vage (und platonisierende) Vorstellung, dass es nach dem Tod irgendwie weitergeht, indem die „Seelen“ der Toten (55 Prozent) in einer himmlischen Sphäre (58 Prozent) weiterleben, aber nicht die Toten als solche. Je unspezifischer die Formulierungen sind und je weniger sie das diesseitige Leben zu irritieren vermögen, desto zustimmungsfähiger scheinen sie zu sein. Und umgekehrt: Je spezifischer, für das diesseitige Leben konsequenzenreicher, aber auch – selbst unter Theologen - umstrittener die eschatologischen Formulierungen sind, desto weniger werden sie akzeptiert, ja stoßen mehrheitlich auf Ablehnung. Verneint wird der Glaube an ein ethisches Endgericht (mit 62 Prozent) oder die Hölle (mit 68 Prozent) allerdings noch stärker als der Glaube an eine Auferstehung (mit 54 Prozent). 1.5.10 Der Glaube an eine Wiedergeburt im diesseitigen Leben (Reinkarnation) scheint den - am stärksten an den männlichen Befragten beobachtbaren - Niedergang traditioneller eschatologischer Vorstellungen nicht kompensieren zu können. Zwei Drittel (66 Prozent) der hessischen Befragten lehnen ihn ab. 5 2. Ergebnisse nach religiösen Orientierungstypen Die Befragungsergebnisse lassen es zu, ein analytisch-strukturelles Schema von Typen religiöser Konfigurationen zu konstruieren, um unabhängig von den religiösen Zugehörigkeiten oder Mitgliedschaften unterschiedliche religiöse Orientierungstypen erfassen zu können. Sechs Typen konnten unterschieden werden: „Christen“ – „Nicht-christliche Theisten“ – „Kosmotheisten“ – „Deisten, Pandeisten und Polytheisten“ – „Atheisten“ – „Sonstige“. 2.1 „Christen“ sind diejenigen, die von der Existenz eines Gottes überzeugt sind und davon, dass es einen personalen bzw. personorientierten Gott gibt, der sich in Jesus gezeigt hat, und die den Glauben an mehrere Götter ablehnen. „Christen“ stellen mit einem Anteil von 24 Prozent der Befragten eine Minderheit in der hessischen Bevölkerung. Annäherungsweise ein Drittel dieses Orientierungstyps kann als fundamentalistisch geneigt qualifiziert werden. Von den evangelischen Kirchenmitgliedern lässt sich gut jeder Vierte (27 Prozent) und von den katholischen Kirchenmitgliedern jeder Dritte (33 Prozent) diesem Orientierungstyp zuordnen, von den religiös Ungebundenen sind es gut 10 Prozent. Sogar ein Viertel der befragten Muslime (26 Prozent) ist in diesem Sinn „christlich“ orientiert. Es bestätigt sich: Ein Christentum ohne „Christen“ ist bereits Realität in den hessischen Kirchen. Und: „Christen“ sind auch außerhalb der Kirchen zu finden. 2.2 Der Typ des „Nicht-Christlichen Theisten“ umfasst all jene, die zwar von der Existenz eines Gottes überzeugt sind, der ein Schöpfergott ist, aber ihren Gottesglauben nicht mit dem Glauben an Jesus (als Sohn Gottes) verbinden. Gleichwohl ist er dem christlichen Orientierungstyp sehr ähnlich und macht 7 Prozent der hessischen Gesamtbevölkerung aus. Auch unter den Befragten dieses Orientierungstyps wird man ein Drittel mit Neigungen zu fundamentalistischen Haltungen vermuten dürfen. Von den evangelischen bzw. katholischen Kirchenmitgliedern lassen sich jeweils nicht einmal 5 Prozent diesem Orientierungstyp zuordnen, von den befragten Muslimen sind es 39 Prozent. 2.3 Der Orientierungstyp des „Kosmotheisten“ umfasst diejenigen Befragten, die die Welt nicht auf einen Schöpfergott zurückführen, sondern ihr autopoietisch selbst schöpferische und ordnende – und damit göttliche Kraft zuschreiben. Sie verneinen nicht nur Gott als Schöpfer, sondern gehen auch von einem „ewigen Kreislauf zwischen Mensch, Natur und Kosmos“ aus. „Kosmotheisten“ sind Anti-Fundamentalisten. Von den religiös NichtOrganisierten und Mitgliedern nicht-christlicher und nicht-muslimischer Religionen sind beinahe jeder Fünfte (19 Prozent), von den evangelischen Kirchenmitgliedern beinahe jeder Siebte (15 Prozent) und von den Katholiken gut jeder Zehnte (11 Prozent) diesem Orientierungstyp zuordnen. Dieser Orientierungstyp ist mit 14 Prozent in der hessischen Gesamtbevölkerung verteilt. 2.4 Ein weiterer Orientierungstyp führt all diejenigen Befragten zu einem „deistischen, pandeistischen und polytheistischen Mischtyp“ zusammen, die an eine übermenschliche höhere Macht glauben, die auch aus mehreren Göttern/göttlichen Mächten bestehen kann, die an einen Schöpfergott glauben, der aber nicht ins Weltgeschehen interveniert und nicht mit dem Glauben an Jesus (als Sohn Gottes) verbunden wird, aber mit dem Glauben an Engel. Dieser religiöse Orientierungstyp hat einen Anteil von 11 Prozent in der hessischen Bevölkerung. Von den evangelischen 6 Kirchenmitgliedern lässt sich etwa jeder Zehnte und von den katholischen Kirchenmitgliedern jeder Siebte diesem Orientierungstyp zuordnen, von den religiös Ungebundenen sind es knapp 10 Prozent, von den Muslimen 9 Prozent. Auch dieser Orientierungstyp hat eine anti-fundamentalistische Haltung. 2.5 Einen fünften Orientierungstyp nennen wir den „Atheisten“ und fassen damit all jene zusammen, die von der Existenz eines Gottes nicht überzeugt sind, auch nicht von der Existenz von Engeln, die Gott als Schöpfer ebenso verneinen wie einen Gott, der „sich in Jesus zu erkennen gegeben hat“. „Atheisten“ haben mit einem 22-prozentigen Bevölkerungsanteil inzwischen beinahe den Anteil des Orientierungstyps der „Christen“ erreicht. Von den religiös Ungebundenen lassen sich diesem Orientierungstyp 43 Prozent zuordnen, von den befragten evangelischen Kirchenmitgliedern 14 Prozent, von den befragten katholischen Kirchenmitgliedern gut jeder Zehnte. „Atheistische“ Kirchenmitglieder sind Realität in Hessen. 2.6 Ein religiöser „Durchschnittstyp“ spiegelt weitgehend das religiöse Profil der gesamten hessischen Bevölkerung wider, in der er einen Anteil von 22 Prozent hat, und lässt sich keinem der Typen 1-5 zuordnen. Die nachstehende Graphik zeigt die Verteilung aller religiöser Orientierungstypen, von denen sich jeder auch unter den Kirchenmitgliedern finden lässt. Religiöse Orientierungstypen und ihre Verteilung in Hessen 2011 [Angaben in Prozent] 7 3. Ergebnisse nach religiösen Zugehörigkeiten Wir unterscheiden die Befragten in evangelische (40 Prozent) und katholische (25 Prozent) Kirchenmitglieder, nach islamischer Zugehörigkeit (5 Prozent) und in „andere“: 20 Prozent Religionslose; andere christliche (3 Prozent), andere nicht-christliche (2 Prozent) Zugehörigkeiten; diejenigen ohne Antwort (5 Prozent). 3.1 Die auf die individuelle Relevanz bezogene Aussage: „Von mir aus braucht es keine Kirche zu geben“, findet erwartungsgemäß bei den „Anderen“ die höchste Zustimmung, wird aber auch von etwa einem Fünftel der Kirchenmitglieder beider Konfessionen geteilt („stimme zu/stimme teils, teils zu“). Damit bringt ein nicht unerheblicher Teil insbesondere in den protestantischen Reihen die persönliche Irrelevanz der Institution Kirche zum Ausdruck. 3.2 Der Anteil an so genannten ‚nominellen Mitgliedern’ ist unter Katholiken geringer als unter Protestanten, die auch durch eine Mehrheit von ‚Randmitgliedern‘ auffallen. Katholiken haben ihre Mehrheit unter den ‚Kernmitgliedern‘. Letzeres trifft auch für die Muslime unter den Befragten zu. 3.3 „Ich stehe zur Kirche, aber sie muss sich auch ändern“ – dieses Postulat, was einerseits soziale Bindung, andererseits Einspruch zum Ausdruck bringt, wird von 60 bis 85 Prozent von den Protestanten („stimme sehr zu/teils, teils zu“) und von 69 bis 89 Prozent von den Katholiken („stimme sehr zu/teils, teils zu“) geteilt. 3.4 Auch die Mehrheit der Kirchenmitglieder geht davon aus, dass die Regie in Sachen Lebenssinn von der Kirche auf das Individuum übergegangen ist. Nicht nur unter der Kanzel, sondern auch unter dem Krummstab führt das Individuum Regie in religiösen Angelegenheiten. Damit ist die Spannung von Individuum und Institution auch innerhalb der Kirchen hochgradig virulent. 70 Prozent der Katholiken und Protestanten stimmen dem Satz, „dass das Leben nur dann einen Sinn hat, wenn man ihm selber einen Sinn gibt“, mit 83 Prozent ähnlich überdurchschnittlich hoch zu wie die ‚Anderen‘ (84 Prozent), die Katholiken stimmen ihm zusammen mit den Muslimen ebenfalls mehrheitlich, doch verhaltener zu (70 bzw. 74 Prozent). 3.5 Die stärkste Verbundenheit mit ihrer Religion weisen die Muslime auf. Sie sind auch erheblich missionarischer eingestellt. Nur Muslime sind in Hessen Missionare ihrer Religion, die evangelischen und die katholischen Kirchenmitglieder nicht. 3.6 Muslime glauben stärker an die Kraft des Gebets, d.h. daran, „dass Gebete etwas bewirken“. Die Häufigkeit der tatsächlichen Gebetspraxis zeigt eine höhere Gebetsfrequenz bei den Muslimen (Pflichtgebet?), gefolgt von den Katholiken, den Protestanten und dann den ‚Anderen‘. 3.7 Muslime denken erheblich zahlreicher (63 Prozent) als die Protestanten (39 Prozent) und die Katholiken (37 Prozent) über religiöse Themen nach. Aber selbst bei den ‚Anderen‘ (40 Pozent) ist Religion nicht aus den Köpfen verschwunden. „Horizonte“ hat bei den muslimischen Befragten den höchsten Bekanntheitsgrad. 8 3.8 In der Beantwortung der ‚Gottesfrage‘ zeigt sich immer wieder das gleiche Muster: Muslime, die ganz theozentrisch in ihrer Lebenssinngebung ausgerichtet sind, rangieren in der Stärke ihrer Gläubigkeit vor den Katholiken, gefolgt von den Protestanten, dann den ‚Anderen‘: Dass „es Gott gibt“, der „die Welt erschaffen“ hat, „in Ihr Leben eingreift“, „sich persönlich mit jedem einzelnen befasst“. Die letztere Aussage wird allerdings nur noch von den befragten Muslimen (75 Prozent) und Katholiken (51 Prozent) mehrheitlich geteilt, Protestanten lehnen sie mit 46 Prozent sogar mehrheitlich ab, die ‚Anderen‘ mit 70 Prozent. Verbindet die (schwache) Mehrheit der evangelischen und katholischen Kirchenmitglieder gerade noch die Zustimmung (kath.: 67 Prozent; ev.: 57 Prozent) zum Glauben an einen „Gott, der sich in Jesus zu erkennen gegeben hat“ und scheidet sie dieser Glaube von den befragten Muslimen (30 Prozent) und ‚Anderen‘ (25 Prozent), so scheint der Glaube an einen personalen Gott nicht einmal mehr die hessischen Mitglieder der christlichen Kirchen zu verbinden. 9 4. Methodische Informationen Es handelt sich um einen Ansatz der quantitativen empirischen Sozialforschung mit einem geschlossenen Fragebogen, im Rahmen eines mündlichen telefonischen Interviews, durchgeführt von ca. 20 geschulten Interviewerinnen und Interviewern1. Der Fragebogen gliedert sich in folgende Bereiche: 1.Fernsehverhalten und Kenntnisstand zur „Hessenschau“ und zur Sendung „Horizonte“ (als niederschwellige Einstiegsfrage). 2.Soziodemographische Daten: Alter, Geschlecht, Schulund Berufsausbildung, Migrationshintergrund und Staatsangehörigkeit, Gebietskörperschaft (Landkreis/ kreisfreie Stadt) sowie Wohndauer im Land Hessen. 3.Konfessionszugehörigkeit, Grad der Bindung an Glaubensgemeinschaft, religiöse Praktiken und Einstellungen. die Kirche/ 4.Religiöse 0rientierungen, Einstellungen zum Sinn des Lebens und Existenzdeutung zur Konstruktion/Zusammenfassung übergeordneter Orientierungstypen unter den Befragten in der Stichprobe. Nach einem Stichprobenplan zur Erzielung einer 0,1-prozentigen repräsentativen Stichprobe aus der hessischen Bevölkerung im Alter von 18 Jahren konnten bei über 5000 zufällig aus den 13 Telefonbüchern des Landes Hessen ausgewählten und hergestellten Telefonkontakten insgesamt 502 Interviews ganz oder weitgehend vollständig geführt und erfasst werden. Die Verteilung der Fälle in der Rohstichprobe entsprach bei den Merkmalen Staatsangehörigkeit, Migrationshintergrund sowie Gebietskörperschaft weitgehend der Struktur der hessischen Wohnbevölkerung. Hinsichtlich der Merkmale Geschlecht, Altersgruppenzugehörigkeit sowie Konfession wich die Rohstichprobe stärker von der Verteilung in der Bevölkerung ab, so dass eine fallbezogene Gewichtung der Rohstichprobe durchgeführt werden musste. Die gewichtete Stichprobe enthält, wie die 0,1-prozentige Rohstichprobe, 502 Fälle, und ist repräsentativ für die erwachsene Bevölkerung des Landes Hessen nach Geschlecht, Alter, Konfession, Gebietskörperschaft (kreisfreie Stadt versus Landkreis), Staatsangehörigkeit (deutsch versus ausländisch) sowie Migrationshintergrund. 1 Studentische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Hannah Baur, Michaela Böhler, Jennifer Dresch, Elisabeth Graf, Barbara Groß, Matthias Gsell, Lukas Häringer, Andreas Heck, Sophie Hilberer, Marianne Hillenbrand, Judith Kleindienst, Sara Mohn, Leocadie Nganawa, Martina Paulini, Margareta Pirzer, Sonja Schabel, Lisa Schonhardt, Simon Stratz, Kristina Szabady, Karin Zwisler, Rahel Pillmann. 10