Ärztlich assistierter Suizid als Herausforderung für das ärztliche Berufsethos Autoren: 1. Dr. med. Sabine Salloch, M.A., Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin, Ruhr-Universität Bochum 2. Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann, Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin, Ruhr-Universität Bochum zur Publikation in: Kongresspublikation III. Interdisziplinärer Kongress Junge Naturwissenschaft und Praxis – "Chancen und Grenzen (in) der Medizin" (Hanns Martin Schleyer-Stiftung / Heinz Nixdorf Stiftung) Wörter: 2.280 Anschrift: Dr. med. Sabine Salloch, M.A. Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Ruhr-Universität Bochum Markstraße 258a 44799 Bochum Tel. 0234/32-28642 Fax: 0234/32-14205 E-Mail: [email protected] 1 Einleitung - Zur aktuellen Diskussion um den ärztlich assistierten Suizid Der ärztlich assistierte Suizid (auch als „ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung“ bezeichnet) ist aktuell Gegenstand intensiver sowohl wissenschaftlicher als auch (standes-)ethischer Debatten in der Medizin. Neuen Auftrieb erhielt diese Diskussion im Januar 2011 mit der Veröffentlichung einer Neufassung der „Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung“. Während in der vorangegangenen Fassung aus dem Jahr 2004 noch explizit die Position vertreten worden war, dass die Mitwirkung des Arztes1 bei der Selbsttötung eines Patienten dem ärztlichen Ethos widerspreche2, wurde in der neu veröffentlichten Version an der entsprechenden Textstelle eine schwächere Formulierung gewählt. In der aktuellen Fassung heißt es: „Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung ist keine ärztliche Aufgabe.“3 Diese geänderte Formulierung in den „Grundsätzen“ der Bundesärztekammer hinsichtlich des ärztlich assistierten Suizides ist von unterschiedlichen Seiten heftig kritisiert worden. So haben sich sowohl einzelne Landesärztekammern (Hessen4, Westfalen-Lippe5), als auch andere Interessenvertretungen (Deutsche Hospiz Stiftung6, Deutsche Krebsgesellschaft7) von der neuen Auffassung distanziert. Weiterhin wurde in Verbindung mit der Änderung der „Grundsätze“ auch die Frage laut, ob überhaupt noch von einem ärztlichen Ethos in Bezug auf Handlungspraxen am Lebensende gesprochen werden könne8. Im Gegensatz zur Neuformulierung der „Grundsätze“ der Bundesärztekammer, deren Position hinsichtlich des ärztlich assistierten Suizides von vielen Beteiligten im Sinne einer Liberalisierung verstanden wurde, verabschiedete der 114. Deutsche Ärztetag in Kiel im Juni eine Änderung der Musterberufsordnung, die diesbezüglich eine andere Tendenz zeigt9. In der aktuellen Fassung der Musterberufsordnung findet sich in §16 ein ausdrückliches Verbot der ärztlichen Hilfe zur Selbsttötung10. Die standesethisch relevanten Dokumente der deutschen Ärzteschaft bieten damit hinsichtlich des ärztlich assistierten Suizides derzeit kein 1 In der vorliegenden Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit zur Bezeichnung gemischtgeschlechtlicher Gruppen die männliche Form verwendet. 2 http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/Sterbebegl2004.pdf (Zugriff am 28.09.2011) 3 http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/Sterbebegleitung_17022011.pdf (Zugriff am 28.09.2011) 4 http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/45252/Aerztekammer_Hessen_lehnt_BAeKGrundsaetze_zur_aerztlichen_Sterbebegleitung_ab.htm (Zugriff am 28.09.2011) 5 Gegen ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung (2011) Westfälisches Ärzteblatt Ausgabe 05/11:11. 6 http://www.hospize.de/servicepresse/2011/mitteilung426.html (Zugriff am 28.09.2011) 7 http://www.dhpv.de/tl_files/public/Aktuelles/News/DKG_Widerspruch-BAEK_2011-04-26.pdf (Zugriff am 28.09.2011) 8 Petra Gehring (2011) Soll es überhaupt noch ein ärztliches Ethos geben? Frankfurter Allgemeine Zeitung 31.03.2011. 9 http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.2.7535.9293.9347 (Zugriff am 28.09.2011) 10 http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/MBO_08_20111.pdf (Zugriff am 28.09.2011) 2 einheitliches Bild. Weiterhin bleibt unterbestimmt, welche Aufgabe die ärztliche Standesethik insgesamt im Hinblick auf medizinisches Handeln am Lebensende haben kann. Die aktuelle Diskussion soll daher in diesem Beitrag zum Anlass genommen werden, die Praxis des ärztlich assistierten Suizides in Deutschland sowie auch die Bedeutung der ärztlichen Standesethik in diesem Kontext zu diskutieren. Ärztlich assistierter Suizid aus juristischer und medizinethischer Perspektive Unter ärztlich assistiertem Suizid versteht man eine Handlungsweise, bei der ein Arzt einem Patienten durch Verschreiben oder Bereitstellung von Medikamenten Hilfe zur Selbsttötung leistet. Der Patient vollzieht die Selbsttötung dann eigenständig und kontrolliert dabei den gesamten Handlungsverlauf, wodurch juristisch gesehen die „Tatherrschaft“ auf Seiten des Patienten verbleibt11. Die Assistenz zur Selbsttötung ist, ebenso wie der Suizid, kein Gegenstand des deutschen Strafgesetzbuchs. Es können dem Arzt, der Hilfe zur Selbsttötung leistet, jedoch juristische Probleme entstehen, die aus seiner Garantenstellung gegenüber dem Patienten und der möglicherweise unterlassenen Hilfeleistung erwachsen12. Aus der fehlenden gesetzlichen Regelung des ärztlich assistierten Suizides folgt keine Verletzung oder Aufhebung des Fremdtötungsverbots, da die Assistenz zur Selbsttötung nicht mit der Tötung einer anderen Person gleichzusetzen ist. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der ärztlich assistierte Suizid von der Tötung auf Verlangen (auch: „aktive Sterbehilfe“). Bei der Tötung auf Verlangen vollzieht der Arzt die Tötungshandlung (z.B. die Injektion einer letalen Dosis von Medikamenten) auf den Wunsch des Patienten hin; die „Tatherrschaft“ bleibt in diesem Fall auf Seiten des Arztes. Die Tötung auf Verlangen ist nach §216 StGB in Deutschland strafbar. Während der ärztlich assistierte Suizid in Deutschland kein Gegenstand des Strafgesetzbuches ist, bestehen in verschiedenen anderen Staaten (etwa den Benelux-Ländern und den US-Bundesstaaten Oregon und Washington) diesbezügliche gesetzliche Regelungen. Es gelten hier jedoch unterschiedliche Voraussetzungen für eine straffreie Durchführung des assistierten Suizides, etwa hinsichtlich minderjähriger oder psychisch kranker Patienten. Auch aus medizinethischer Sicht ist der ärztlich assistierte Suizid eine umstrittene Praxis und Gegenstand umfangreicher ethischer Diskussionen. Das Patientenrecht auf Selbstbestimmung bildet die zentrale normative Grundlage für den Respekt vor dem selbstbestimmten Willen des Patienten zu sterben. Im Rahmen dieser Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht muss 11 vgl. BGHSt 19, 135 (Urteil vom 14.08.63 - 2 StR 181/63) Schildmann J, Vollmann J (2006) Ärztliche Assistenz zur Selbsttötung – ethische, rechtliche und klinische Aspekte. Dtsch Med Wochenschrift 131:1405-1408. 12 3 jedoch einschränkend berücksichtigt werden, dass das Ideal eines frei verantworteten Suizids nur in wenigen Fällen zutreffend ist, da der überwiegenden Mehrheit der Suizide und Suizidversuche potentiell behandelbare psychische Erkrankungen oder Krisensituationen zugrunde liegen13. Insbesondere psychische Störungen (z.B. Depressionen, Suchterkrankungen oder schizophrene Psychosen) können dazu beitragen, dass der Suizidwunsch eines Patienten nicht mehr als Ausdruck seines selbstbestimmten Willens angesehen werden kann. Demgegenüber liegt jedoch bei einem Teil der Betroffenen ein sogenannter „Bilanzsuizid“ vor, also die Selbsttötung nach umfassender rationaler Abwägung der positiven und negativen Aspekte des eigenen Lebens. In diesem Fall kann der Wunsch nach Lebensbeendigung durchaus dem selbstbestimmten Willen des Patienten entsprechen. Ein weiteres Argument gegen die Praxis des ärztlich assistierten Suizides ist die Gefahr möglicher unerwünschter gesellschaftlicher Auswirkungen. Von Kritikern wird hier insbesondere betont, dass ein sozialer Druck auf alte und kranke Menschen vermieden werden müsse, sich durch Suizid das Leben zu nehmen, um Angehörige und die Gesellschaft nicht durch die eigene Krankheit und Hilfsbedürftigkeit zu belasten14. Zugunsten des ärztlich assistierten Suizides kann hingegen angeführt werden, dass er möglicherweise geeignet ist, andere Methoden der Selbsttötung, die für den Betroffenen inhuman und für dritte Personen gefährlich sein können, zu verhindern (etwa Sprung aus großer Höhe, Vor-den-Zug-Werfen). Ein weiterer relevanter Aspekt bei der ethischen Bewertung des ärztlich assistierten Suizides ist, dass im Unterschied zur Tötung auf Verlangen die Tötungshandlung durch den Patienten selbst durchgeführt wird. Hieraus ergeben sich unter Umständen Vorteile in Hinsicht auf die Realisierung der Patientenautonomie und die Vermeidung von Tötungen, die nicht dem Willen des Patienten entsprechen. Weiterhin ist die Diskussion um eine Liberalisierung des ärztlich assistierten Suizides möglicherweise geeignet, den Stellenwert der Patientenselbstbestimmung in der Medizin generell zu erhöhen15. Der ärztlich assistierte Suizid stellt den traditionellen ärztlichen Paternalismus in Frage, indem einer modernen Auffassung des Arzt-Patient-Verhältnisses Vorschub leistet, im Rahmen derer das Moment der Patientenselbstbestimmung zentral ist, während der Arzt den Patienten in der Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts unterstützt16. Umstritten ist allerdings derzeit, ob der 13 ebd. vgl. zu diesem Argument auch die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats (vormals: Nationaler Ethikrat) von 2006 http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/Stellungnahme_Selbstbestimmung_und_Fuersorge_am_Lebensende.pdf (Zugriff am 28.09.2011) 15 Vollmann J (2004) Ärztliche Beihilfe zum Suizid bei AIDS-Patienten in den USA. Eine qualitative InterviewStudie über professionelle Ethik und Praxis im Wandel. Ethik Med 14:270-286. 16 Vollmann J (2003) Sterbebegleitung. Gesundheitsberichterstattung des Bundes Heft 2 (2. überarbeitete Auflage) Verlag Robert Koch-Institut, Berlin. 14 4 assistierte Suizid als ärztliche Aufgabe aufgefasst werden muss, oder ob die Assistenz, wie dies etwa der in der Schweiz überwiegenden Praxis entspricht, auch durch nicht-ärztliche Helfer geleistet werden kann17. Empirische Daten In den vergangenen Jahren wurde eine Reihe von empirischen Untersuchungen durchgeführt, welche sowohl die ärztliche Handlungspraxis als auch die Meinungen und Einstellungen unterschiedlicher Personengruppen hinsichtlich des ärztlich assistierten Suizides analysiert haben. Eine im Jahr 2009 von der Bundesärztekammer in Auftrag gegebene Untersuchung des Allensbach-Instituts zeigte, dass jeder dritte befragte deutsche Arzt im Laufe seines Berufslebens bereits um Beihilfe zum Suizid gebeten worden ist18. Darüber hinaus befürworteten 30% der befragten Ärzte eine Legalisierung des ärztlich assistierten Suizides in Deutschland. Hohe Zustimmung (89%) erhielt jedoch das Argument, dass eine Legalisierung des ärztlich assistierten Suizides dazu führen könnte, dass Menschen sich um ärztliche Hilfe beim Suizid bemühten, weil sie sich als Belastung für Familie und Gesellschaft fühlten. In der internationalen EURELD-Studie („European end-of-life decisions“) wurden mittels Fragebögen medizinische Entscheidungen am Lebensende in sechs europäischen Staaten untersucht. Hier konnte nachgewiesen werden, dass mit 0,36 % der höchste Anteil von ärztlich assistierten Suiziden an den untersuchten Todesfällen in der Schweiz auftrat. In den Niederlanden fand ein ärztlich assistierter Suizid in 0,21% der untersuchten Todesfälle statt, der Anteil der Todesfälle durch Tötung auf Verlangen war jedoch mit 2,59% in den Niederlanden deutlich höher19. Eine an der EURELD-Studie orientierte Befragung der ärztlichen Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin ergab, dass ärztlich assistierter Suizid in 0,1% der untersuchten Todesfälle durchgeführt wurde20. Weitere relevante empirische Untersuchungen weisen darauf hin, dass in denjenigen Ländern, in denen ärztlich assistierter Suizid eine legale Praxis ist, nur ein Teil der Patienten die ihnen zur Verfügung gestellten tödlichen Medikamente auch tatsächlich einnimmt (so 53 von 95 befragten Bürgern im US-Bundesstaat Oregon)21. Dies legt die Interpretation nahe, dass für 17 vgl. dazu etwa Randall F, Downie R (2010) Assisted suicide and voluntary euthanasia: role contradictions for physicians. Clin Med 10:323-325 sowie Martin AK, Mauron A, Hurst SA (2011) Assisted suicide is compatible with medical ethos. Am J Bioeth 11:55-57. 18 http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/Sterbehilfe1.pdf (Zugriff am 28.09.2011) 19 van der Heide A et al. (2003) End-of-life decision-making in six European countries: a descriptive study. Lancet 362:345-350. 20 Schildmann J et al. (2010) End-of-life practices in palliative care: a cross sectional survey of physician members of the German Society for Palliative Medicine. Palliat Med 24:820-827. 21 Oregon Department of Human Services. 12th Annual Report on Oregon’s Death with Dignity Act. http://public.health.oregon.gov/ProviderPartnerResources/EvaluationResearch/DeathwithDignityAct/Documents /year12.pdf (Zugriff am 28.09.2011) Ähnlich lautende Aussagen finden sich auch in den Jahresberichten der 5 diesen Teil der Patienten das Wissen, ihr Leben selbst beenden zu können („being in control“), ausreichend ist, dass sie den Suizid aber nicht in die Tat umsetzen. Ärztliche Standesethik im Spannungsfeld zwischen Moral und Ethik Wie bereits dargestellt wird die Frage nach der Zulässigkeit des ärztlich assistierten Suizides derzeit vielfach unter Bezugnahme auf die ärztliche Standesethik diskutiert. Unklar bleibt dabei jedoch, welche spezifische Bedeutung der Standesethik im Rahmen konkreter ethischer Debatten zukommt. Im Folgenden soll vor dem Hintergrund der klassischen philosophischen Unterscheidung zwischen Moral und Ethik ein Schlaglicht auf die Unklarheiten geworfen werden, die in der aktuellen Debatte hinsichtlich der Rolle der ärztlichen Standesethik auftreten. Die dabei vorgetragenen Überlegungen haben dabei den Charakter eines ersten Problemaufrisses, sollten also nicht als abschließende Analyse aufgefasst werden. Unter „Moral“ wird der philosophischen Standardauffassung nach22 die Gesamtheit der Überzeugungen vom normativ Richtigen und evaluativ Guten sowie der diesen Überzeugungen korrespondierenden Handlungen verstanden23. Demzufolge bezieht Moral sich auf soziale Phänomene, die einem historischen und gesellschaftlichen Wandel unterliegen. Es geht hier um Regeln und Wertmaßstäbe, die de facto das Handeln bestimmter Gruppen von Individuen leiten und in diesem Sinne auch normative Wirksamkeit entfalten. Als „Ethik“ hingegen wird die wissenschaftliche Disziplin bezeichnet, welche diese faktischen Überzeugungen und Handlungen einer philosophischen Reflexion unterzieht. Die Ethik ist damit die methodisch geleitete Untersuchung und Kritik moralischer Aussagen (Theorie der Moral). Ein zentraler Aufgabenbereich der Ethik ist die ethische Rechtfertigung moralischer Aussagen und damit die Auseinandersetzung mit der Frage, unter welchen Bedingungen moralische Aussagen normative Verbindlichkeit beanspruchen sollten. Ein dritter Begriff, der in diesem terminologischen Kontext diskutiert werden kann, ist derjenige des „Ethos“. Bezüglich der systematischen Einordnung des „Ethos“ im Verhältnis zu Ethik und Moral werden jedoch unterschiedliche Auffassungen vertreten. Während bei einigen Autoren der Begriff des Ethos nicht klar von demjenigen der Moral getrennt wird24, gilt bei anderen Autoren das Ethos als eine spezifische Ausformung der Moral und des Schweizer Sterbehilfeorganisation „Dignitas“ http://www.dignitas.ch/images/stories/pdf/bericht-jahr-2004.pdf (Zugriff am 28.09.2011) 22 Einzelne Philosophen weichen jedoch aus jeweils unterschiedlichen Gründen von dieser Begriffsverwendung von „Moral“ und „Ethik“ ab, so etwa Jürgen Habermas und Paul Ricoeur. 23 Düwell M, Hübenthal C, Werner MH (2011) Einleitung. In: dies. Handbuch Ethik (3. aktualisierte Auflage) Metzler, Stuttgart S 1-23. 24 Höffe O (2002) Lexikon der Ethik (6. neubearbeitete Auflage) C.H. Beck, München. 6 sittlichen Charakters des einzelnen Handelnden innerhalb einer bestimmten sozialen Gruppe25. Obwohl es sich beim Ethos um einen im Rahmen philosophischer Nomenklatur nicht einheitlich besetzten Begriff handelt, hat er doch in verschiedenen Zusammenhängen praxisrelevante Bedeutung, etwa in seiner Spezifizierung als „Berufsethos“. Als Berufsethos bezeichnet man die Gesamtheit der moralischen Einstellungen und Normen, an denen sich das Handeln eines bestimmten Berufsstandes ausrichtet und die von den Angehörigen dieses Berufsstandes für verbindlich gehalten und im Rahmen der Ausbildung tradiert werden26. Es geht hier also um die geteilten Wertvorstellungen von Personen innerhalb eines bestimmten Berufsfeldes, wie sie etwa auch die ärztliche Standesethik zum Ausdruck bringen soll. Die ärztliche Standesethik spielt dabei im Denken und Urteilen von Ärzten auch heute noch vielfach eine wichtige Rolle, wie nicht zuletzt die aktuelle Diskussion um den ärztlich assistierten Suizid zeigt. Dennoch können an dem Konzept ärztlicher Standesethik, wie es in aktuellen Debatten in Erscheinung tritt, verschiedene Aspekte kritisiert werden, die im Folgenden kurz angerissen werden sollen. Zunächst einmal kann gefragt werden, ob es sich bei der ärztlichen Standesethik tatsächlich um eine Standesethik im eigentlichen Wortsinn handelt. Aufgabe der Ethik ist, wie oben dargestellt, die kritische Auseinandersetzung mit bestimmten moralischen Überzeugungen und Handlungsweisen. Ethik meint also nicht die Wiedergabe faktisch vorherrschender Werthaltungen, sondern erhebt den Anspruch, diese aus einer extern-kritischen Perspektive zu analysieren. Dies bedeutet zum einen, dass moralische Aussagen unter Anwendung allgemein-logischer Kriterien wie Transparenz, Explizitheit und Kohärenz geprüft werden sollten. Darüber hinaus stellt sich für die Ethik aber auch die Frage nach der spezifisch normativen Rechtfertigung. Ein breites Spektrum ethischer Theorien kann hier einbezogen werden, um die normative Stimmigkeit bestimmter moralischer Positionen zu beurteilen. Bei der Formulierung standesethischer Normen in der Medizin fehlt jedoch aktuell vielfach dieses extern-kritische Moment, welches die Ethik kennzeichnet. Es wird hier häufig nicht unterschieden zwischen den faktischen moralischen Überzeugungen der Ärzteschaft (oder einzelner ihrer Vertreter) und einer medizinethischen Reflexion bestimmter moralisch umstrittener Praxen wie dem ärztlich assistierten Suizid. Wünschenswert wäre die Hinzuziehung medizinethischer Expertise, um eine umfassende ethische Evaluation entsprechender Fragestellungen leisten zu können. Die medizinethisch-kritische Diskussion 25 Honnefelder L (2011) Sittlichkeit / Ethos. In: Düwell M, Hübenthal C, Werner MH Handbuch Ethik (3. aktualisierte Auflage) Metzler, Stuttgart S 508-513. 26 ebd. 7 ist nicht zuletzt aus dem Grunde wichtig, dass standesethische Richtlinien normative Verbindlichkeit beanspruchen, die bis zur Rechtswirksamkeit reichen kann, etwa bei der vom 114. Deutschen Ärztetag verabschiedeten Musterberufsordnung, die im Falle einer Übernahme der entsprechenden Paragraphen in die Berufsordnungen der Landesärztekammern standesrechtlich verpflichtenden Charakter erhalten würde. Darüber hinaus kann kritisiert werden, dass bei der Formulierung standesethischer Dokumente, die ärztliches Handeln am Lebensende betreffen, die Ergebnisse empirischer Studien zu wenig berücksichtigt werden. Wenn standesethische Dokumente den Anspruch erheben, der vorherrschenden moralischen Überzeugung der deutschen Ärzteschaft Ausdruck zu verleihen, kann eine diesbezügliche empirische Informiertheit erwartet werden. So hat die bereits zitierte Befragung des Allensbach-Instituts aus dem Jahr 2009 gezeigt, dass ein relevanter Anteil (30%) der befragten deutschen Ärzte einer Legalisierung des ärztlich assistierten Suizides positiv gegenübersteht. Solche und ähnliche Daten sollten im Rahmen standesethischer Positionierungen Berücksichtigung finden. Zugleich stellt sich dabei jedoch das Problem, dass innerhalb einer pluralistisch verfassten Gesellschaft in ethischen Fragen vielfach kein Konsens zu erreichen ist, wie ja auch das Beispiel der Untersuchungen zum ärztlich assistierten Suizid zeigt. Die Berufung auf eine „vorherrschende moralische Überzeugung“ der deutschen Ärzteschaft ist bei vielen medizinethischen Fragestellungen am Lebensende problematisch, so dass fragwürdig bleibt, ob standesethische Verlautbarungen diesen Anspruch überhaupt erheben können. Aus normativ-ethischer Perspektive ist weiterhin einschränkend zu berücksichtigen, dass Mehrheitsmeinungen nicht mit ethischer Rechtfertigung gleichgesetzt werden dürfen, dass also aus empirischen Daten kein direkter Rückschluss auf die normative Richtigkeit bestimmter Positionen gezogen werden kann27. Fazit Zusammenfassend ist die aktuelle Diskussion um den ärztlich assistierten Suizid geeignet, ein Schlaglicht auf die Bedeutung der ärztlichen Standesethik innerhalb medizinethischer Debatten zu werfen. Dabei wird deutlich, dass der Status der Standesethik als eines „Ethos“ vor dem Hintergrund der klassischen philosophischen Unterscheidung zwischen Moral und Ethik derzeit unklar ist. Nicht zuletzt durch diese Unklarheit können jedoch Missverständnisse darüber entstehen, auf welchem Wege konkrete standesethische Positionen 27 vgl. etwa Sulmasy DP, Sugarman J (2001) The many methods of medical ethics (or, thirteen ways of looking at a blackbird). In: dies. Methods in medical ethics, Georgetown University Press, Washington S 3-18. 8 zu rechtfertigen sind, ob hier also die Ergebnisse empirischer Forschung zu moralischen Überzeugungen der Ärzteschaft oder aber die Ergebnisse ethisch-kritischer Analyse ausschlaggebend sein sollen. Diese Unklarheit des jeweiligen Rechtfertigungshintergrundes spiegelt sich auch in der derzeit uneinheitlichen Position zum ärztlich assistierten Suizid wider. Wünschenswert wäre in der Diskussion um die standesethische Positionierung der deutschen Ärzteschaft eine medizinethisch-kritische Reflexion des jeweiligen Problemzusammenhangs unter Berücksichtigung relevanter empirischer Daten. Darüber hinaus kann die aktuelle Debatte über den ärztlich assistierten Suizid aber auch zum Anlass genommen werden, ein Nachdenken über Hintergrund und Funktion der ärztlichen Standesethik insgesamt anzustoßen und deren spezifische Konzeption im Spannungsfeld zwischen Moral und Ethik weiterzuentwickeln. 9