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Auf Spurensuche im kindlichen
Hormonhaushalt
Spezialbereich Endokrinologie: Zu groß, zu
klein, zu früh, zu spät? Der kindliche Hormonhaushalt und seine vielfältigen Störungen
Im Grunde ist ihre Arbeit der eines Detektivs nicht unähnlich: „Wir
EndokrinologInnen müssen auch anhand von vielen Befunden und
Details die Fakten richtig kombinieren und so den Fall lösen“, sagt
Univ.-Prof.in Dr.in Gabriele Häusler. Die Pädiaterin ist seit 25 Jahren
an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde tätig und
leitet die Endokrinologische Ambulanz. Gemeinsam mit ihren KollegInnen ist sie für die Diagnostik und Therapie von angeborenen und erworbenen Hormonstörungen der jungen PatientInnen zuständig –
Krankheitsbilder also wie Wachstumsstörungen, Störungen der
Schilddrüse, der Nebenniere, der Hirnanhangdrüse oder der Sexualentwicklung.
„Die Endokrinologie ist ein stilles Fach in der Medizin, ein wenig
ein Orchideenfach, für das viel Spezialwissen notwendig ist. Noch
meine unmittelbaren VorgängerInnen waren echte PionierInnen auf
dem Gebiet“, sagt Prof.in Häusler. Denn die Endokrinologie hat in den
vergangenen Jahrzehnten wichtige Fortschritte gemacht. Wenn auch
anders, als dies auf anderen Gebieten der Medizin der Fall war. Denn
hier waren es weniger, wie in anderen Fächern, innovative Geräte
oder Fortschritte der Medizintechnik, die zu wesentlichen Fortschritten
beigetragen haben. Sondern wesentlich war die zunehmende Entschlüsselung der dem Hormonsystem zugrunde liegenden Prozesse
– insbesondere dank immer neuer Erkenntnisse aus der Genetik
und der Molekularbiologie. Das Fachgebiet hat damit an Stellenwert
gewonnen. „Viele der Hormonmessungen sind mittlerweile Routine
geworden“, sagt Prof.in Häusler. „Gleichzeitig hat sich das Verständnis
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Das Wachsen ist eine
Kernkompetenz der
Kinderheilkunde. Wachstum ist ein entscheidendes Charakteristikum, das
Kinder und Jugendliche
von Erwachsenen
unterscheidet, die ihre
endgültige Körpergröße
erreicht haben.
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für Krankheiten, die unser Fachgebiet betreffen, erweitert. Zunehmend
finden sich genetisch bedingte Störungen hinter Krankheitsbildern,
die sich klinisch als Wachstumsstörung oder Störung der Pubertätsbedingung präsentieren.“
Ein Fach etabliert sich
Die Endokrinologie ist eine vergleichsweise junge medizinische Disziplin.
Denn wenn auch das Erscheinungsbild endokrinologischer Erkrankungen
wie Kropf oder Diabetes schon lange, bis zurück in die Antike,
beobachtet wurde, ließ das Verständnis für ihre Ursachen noch auf
sich warten. Erst mit der Verfügbarkeit physiologischer und chemischer
Kenntnisse im 19. Jahrhundert wurde dies langsam anders. Einen
wichtigen Teil seiner Entwicklung hatte das Fachgebiet übrigens in
der österreichischen Hauptstadt gemacht: Just im Jahr 1911, in
dem die neue Universitäts-Kinderklinik im AKH eröffnet wurde, veröffentlichte der Wiener Pathologe Prof. Arthur Biedl nicht nur sein
Standardwerk zum Thema „Innere Sekretion“, sondern es gelang
ihm auch erstmals, die parathyreogene Tetanie bei Tieren nachzuweisen.
Bereits ein Jahr zuvor hatte der ebenfalls in Wien tätige Dr. Bernhard
Aschner den Zusammenhang zwischen Wachstum und Hypophyse
entdeckt. Auf seine Arbeiten über die Hypophysenfunktion gestützt,
führte der Chirurg Dr. Julius von Hochenegg die erste Hypophysenoperation am Menschen durch. 1925 entfernte der Chirurg Prof.
Felix Mandl, ebenfalls in Wien, erstmals ein Nebenschilddrüsenadenom
bei Osteitis fibrosa. Alle diese Errungenschaften trugen zunehmend
zu einer Spezialisierung bei. Waren allerdings nach dem Zweiten
Weltkrieg Endokrinologie und Stoffwechsel noch eher bescheidene
Teilgebiete der Inneren Medizin, wurden sie schließlich in den 1960er
Jahren zu einem eigenständigen Gebiet mit den heute bekannten
Schwerpunkten.
Die Formen einer Abweichung vom normalen
Größenwachstum können
bei Kindern äußerst
vielfältig sein. Sie können
im Vergleich zur Norm zu
klein oder zu groß sein,
sich zu früh oder zu spät
entwickeln. Die Störungen
Kernkompetenz Wachstum
können dauerhaft oder
nur vorübergehend, ange-
In der pädiatrischen Endokrinologie nimmt das Thema „Wachstum“
einen wichtigen Stellenwert ein. „Das Wachsen ist eine Kernkompetenz
der Kinderheilkunde“, erklärt Prof.in Häusler. „Wachstum ist ein entscheidendes Charakteristikum, das Kinder und Jugendliche von Erwachsenen unterscheidet, die ihre endgültige Körpergröße erreicht
haben.“
boren oder erworben sein.
Die Behandlung von Kindern mit Wachstumshormonmangel hat in
den Händen von SpezialistInnen der Universitäts-Kinderklinik eine
lange Tradition, anfangs mit Hilfe von aus menschlichen Hypophysen
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Die Endokrinologie ist ein
stilles Fach in der Medizin.
Hightech-Geräte sind
weniger wichtig als eine
ausgeprägte Fähigkeit der
Ärztinnen und Ärzte,
zu analysieren und zu
extrahiertem Hormon. Ein wesentlicher Fortschritt in dem zunehmend
spezialisierten Fachgebiet gelang Mitte der 1980er Jahre, als Wachstumshormon erstmals biosynthetisch hergestellt wurde. Die neuen
Einsichten ermöglichten nun innovative therapeutische Optionen
abseits des kompletten Wachstumshormonmangels, die zuvor nicht
zur Verfügung standen.
Wichtige Player in der Forschung
kombinieren. Das Fachgebiet hat sich in den
vergangenen Jahrzehnten
stark gewandelt.
Auch 25 Jahre später spielen die Endokrinologie-ExpertInnen der
Wiener Kinderklinik auf dem Gebiet der Wachstumsforschung an
der Spitze der internationalen wissenschaftlichen Liga mit. „Man
kann durchaus sagen, dass wir auf diesem Gebiet, auch weil es sehr
spezialisiert ist und wir klare Schwerpunkte gesetzt haben, in Europa
vorne dabei sind“, sagt Prof.in Häusler.
Das Betätigungsfeld für wissenschaftliche Neugierde ist trotz aller
Fortschritte im Fachgebiet nach wie vor groß. „Wir stehen in vielen
Fragen noch immer am Anfang“, sagt Prof.in Häusler. So ist beispielsweise noch nicht vollständig geklärt, durch welche molekularen
Mechanismen Wachstumshormon direkt in der Wachstumsfuge wirkt
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und welche Faktoren für unterschiedliche Körpergrößen im Erwachsenenalter ursächlich verantwortlich sind. Die WissenschaftlerInnen
um Prof.in Häusler sind sehr aktiv in der Grundlagenforschung und
untersuchen unter anderem die Wirkung von insulinähnlichen Wachstumsfaktoren (IGF-I) auf die Zellen der Wachstumsfuge. In der
klinischen Forschung stehen einerseits die laborchemische Diagnostik
bei der Abklärung von Wachstumshormonmangel, andererseits Therapien bei Wachstumsstörungen im Mittelpunkt. „Gleich wichtig sind
jedoch auch interessante Einzelbeobachtungen – Kinder, die sich
mit einer Wachstumsstörung oder einem auffälligen Hormonbefund
präsentieren und bei denen wir dann gelegentlich eine sehr seltene
Störung diagnostizieren, die auch wissenschaftlich interessante Erkenntnisse bringt.“
Das Verständnis für die
Krankheiten, die das
Fachgebiet Endokrinologie
betreffen, hat sich erweitert. Die SpezialistInnen
arbeiten viel mit genetisch
bedingten Erkrankungen.
„Dauerbrenner“ Körpergröße
Das Thema Körpergröße beschäftigt auch viele Eltern, die in Sorge
sind, das eigene Kind könnte zu groß oder zu klein sein oder werden.
„Es ist nicht zu übersehen, dass es immer mehr Eltern gibt, denen
dieses Thema sehr wichtig ist“, sagt Prof.in Häusler. Sie führt das
auch auf eine gesellschaftliche Entwicklung zurück, wonach das
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„Die Erfüllung von
elterlichen oder
gesellschaftlichen
Schönheitsidealen darf
nie Aufgabe der
Endokrinologie sein.“
Aussehen und der „normierte Körper“ immer mehr zählen. Da kann
es schon auch einmal vorkommen, dass die ExpertInnen mit Eltern
konfrontiert sind, die ihrem Kind bei der kleinsten Abweichung von
der Größennorm Hormone geben wollen. „Die Erfüllung von elterlichen
oder gesellschaftlichen Schönheitsidealen darf nie Aufgabe der Endokrinologie sein“, warnt Prof.in Häusler vor einer Pathologisierung
des Themas Körpergröße. Nur drei von 100 Kindern sind tatsächlich,
bezogen auf die sogenannte Perzentilenkurve, klein- oder großwüchsig.
„Und eine Abweichung von der statistischen Norm bedeutet noch
lange nicht, dass das Kind an einer Hormonstörung oder einer genetischen Veränderung leidet“, so Prof.in Häusler.
Hilfreiche Therapien
Liegt tatsächlich eine krankhafte Wachstumsstörung vor, kommen
therapeutisch Hormone zum Einsatz – und hier ist oft auch viel Aufklärungsarbeit gefordert, weiß Prof.in Häusler. „Einerseits gibt es
ganz naive Ansichten über Hormone und deren heilende Wirkung
und andererseits besteht bei manchen Eltern bei dem Begriff Hormontherapie eine unberechtigte Zurückhaltung“, erzählt die Medizinerin. „Dazu mögen auch die Kontroversen über die möglichen
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Risiken von Hormonen in der Kontrazeption oder der Menopausetherapie beigetragen haben. Diese zeigen auch, dass viele Erkenntnisse
in der Endokrinologie eben erst über eine längere Beobachtungsdauer
gewonnen werden können.“ Doch eine Hormonersatztherapie bei
Kindern mit Hormonmangel gefährdet ein betroffenes Kind in keiner
Weise, sagt Prof.in Häusler. „Im Gegenteil, bei einer Ersatztherapie
wird der physiologische Zustand wieder hergestellt.“
Aber nicht nur Kleinwuchs, auch eine Größe jenseits der oberen
Normwerte kann Probleme machen und Eltern mit ihren betroffenen
Kindern zum pädiatrischen Endokrinologen führen. Prof.in Häusler:
„Bei großwüchsigen Kindern gilt es, einen Überschuss an Geschlechtshormonen, zum Beispiel durch einen zu frühen Pubertätsbeginn oder eine Hormonüberproduktion anderer Ursache, auszuschließen.“ Meist handelt es sich jedoch um eine sogenannte familiäre
Normvariante, wobei extreme Körpergrößen auch Richtung Großwuchs
durch das „Anderssein“ psychosozial negativ bewertet werden können.
„Früher wurden bei extremem Großwuchs und psychischer Belastung
relativ häufig hochdosiert Sexualsteroide eingesetzt, um die Endgröße
zu reduzieren. Hier ist die pädiatrische Endokrinologie viel zurückhaltender geworden.“ In der Großwuchsbehandlung wird nun, der
Praxis skandinavischer Länder folgend, häufiger die sogenannte
Epiphysiodese, ein minimal-invasiver chirurgischer Eingriff, empfohlen.
„Generell gehen wir mit Therapieempfehlungen sehr sorgfältig und
gezielt vor, denn die zellulären Mechanismen des Längenwachstums
sind nach wie vor wenig detailliert erforscht und nicht alle Hormonwirkungen geklärt“, so Prof.in Häusler.
Auch heute spielen die
Endokrinologie-ExpertInnen der Wiener Kinderklinik auf dem Gebiet der
Wachstumsforschung an
der Spitze der internationalen wissenschaftlichen
Liga mit.
Vielfältige Ursachen
„Die Abklärung, welche Form einer Wachstumsstörung vorliegt und
wie sie am besten zu therapieren ist, erfordert ein gezieltes Vorgehen
unter Berücksichtigung der Möglichkeiten der niedergelassenen PädiaterInnen und, wenn notwendig, auch weiterführende Diagnostik
an einer spezialisierten Einrichtung wie unserer endokrinen Ambulanz
und in unserem endokrinen Labor.“ An der Universitäts-Kinderklinik
wurde hierfür ein mehrstufiger Abklärungspfad implementiert.
Probleme mit der Schilddrüse
Eine Überfunktion der Schilddrüse kommt gelegentlich bei Jugendlichen
vor und nur äußerst selten bei Kleinkindern oder sogar Neugeborenen.
In diesen Altersgruppen ist die rasche Diagnosestellung und optimale
Therapieeinstellung besonders wichtig, um Langzeitschäden wie
Kleinwuchs oder Mikrozephalie zu vermeiden. Bei der Unterfunktion
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der Schilddrüse unterscheidet man die angeborenen Formen der
Athyreose oder Hypothyreose (siehe Abschnitt Stoffwechselscreening,
Seite ##) von den erworbenen Formen, die meist aufgrund einer
Autoimmunerkrankung (Hashimoto-Thyreoiditis) auftreten. „Die Optimierung der medikamentösen Therapie bei den angeborenen
Formen ist wesentlich für das normale Längenwachstum und die
kognitive Entwicklung“, so Prof.in Häusler.
Gestörte Sexualentwicklung
Ein weiteres Gebiet der Pädiatrischen Endokrinologie an der Kinderklinik
mit jährlich rund 600 PatientInnenkontakten ist das der Sexualentwicklungsstörungen, das von Dr. Stefan Riedl betreut wird. Eine
dieser Entwicklungsstörungen ist das Adrenogenitale Syndrom (AGS),
eine Stoffwechselerkrankung in der Nebenniere, die zu vorzeitiger
Geschlechtsentwicklung bei Buben und zu einer Vermännlichung
bei Mädchen führt. Die Suche nach dieser Erkrankung ist fixer Bestandteil des Neugeborenenscreenings.
Intersexualität – eine Abweichung der äußeren Geschlechtsmerkmale
von der Zuordnung der Keimdrüsen oder dem chromosomalen Geschlecht – erfordert viel Expertise: Es kann beispielsweise vorkommen,
dass ein Kind ein weiblich erscheinendes äußeres Genitale trotz Vorhandenseins von Hoden bei 46,XY-Chromosomensatz aufweist und
damit aus genetischer Sicht männlich ist. Eine besondere Herausforderung für die medizinische, aber auch soziale und psychische
Entscheidungsfindung sind Fehlbildungen der Geschlechtsorgane,
die keine eindeutige Zuordnung zu einem Geschlecht erlauben. „Hier
gilt es letztlich immer, einen Konsens zwischen BehandlerInnen und
Eltern zu erreichen, der dem betroffenen Kind eine möglichst hohe
Zufriedenheit und Lebensqualität ermöglicht. Das ist nicht immer
einfach und eine Entscheidung mit eingreifenden Konsequenzen“,
so Prof.in Häusler.
Um diese möglichst gut vorzubereiten, ist eine eingehende Diagnostik
entscheidend. In einigen Fällen von Intersexualität liegt eine Störung
der Nebennierenrindenhormone vor, die bei Neugeborenen zu lebensbedrohlichen Situationen führen kann. Weiters gibt es erbliche
Störungen, die die Geschlechtsentwicklung isoliert betreffen können.
Die hier notwendigen differenzierten Untersuchungen – einschließlich
genetischer Analysen – können nur an spezialisierten Zentren wie
der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde durchgeführt
werden. In unseren Breiten kommt etwa eines von 4.500 Kindern mit
einem uneindeutigen Genitale zur Welt. „In Völkern, in denen das interfamiliäre Heiraten nicht verboten ist, ist die Zahl der Kinder mit
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intersexueller Geschlechtsentwicklung allerdings höher“, so Prof.in
Häusler.
Forschungsehrgeiz
Für die Zukunft wünscht sich Prof.in Häusler, noch mehr Ressourcen
in die Forschung investieren zu können. Der internationale Spitzenplatz
der Kinderklinik in der Wachstumsforschung will gehalten werden.
„Ich halte es für sehr sinnvoll, vor allem in diesem Bereich Grundlagenforschung zu betreiben. Also zu forschen, wie etwas funktioniert,
ohne dass sich daraus gleich eine Therapie ableiten lässt“, sagt
Prof.in Häusler. Denn gerade solche Erkenntnisse sind auf lange Sicht
gesehen von großer Bedeutung. Als gute Detektivin weiß sie eben,
dass ein einziger erbrachter Beweis oft ganze Fälle lösen kann.
Klinische Abteilung für Pädiatrische
Pulmologie, Allergologie und Endokrinologie
Stv. Leiterin: Univ.-Prof.in Dr.in Susanne Greber-Platzer, MBA
2. Stv. Leiterin: Dr.in Edith Nachbaur
Endokrinologische Ambulanz
Leitung: Univ.-Prof.in Dr.in Gabriele Häusler
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