Manfred Dworschak 132 Kardiologen Breithardt, Schulze-Bahr: Suche nach der genetischen Spur des Killers MEDIZIN Ohnmacht im Schwimmbad Jedes Jahr sterben Tausende Deutsche am plötzlichen Herztod, weil ein Defekt im Erbgut nicht rechtzeitig erkannt wird. Die ahnungslosen Opfer sind meist jung und wirken kerngesund. M it Kennerblick verfolgte der Trainer den Bewegungsablauf der Schwimmerin. Elegant wie ein Fisch glitt sie durchs Wasser. Kein Zweifel: Die 16-Jährige war ein Naturtalent. Mit Trainingseifer würde sie es zu etwas bringen. Nur wenige Sekunden wurde der Trainer abgelenkt. Als er die 16-Jährige wieder erblickte, trieb sie mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Alle Wiederbelebungsversuche scheiterten. War die begabte Schwimmerin einfach so beim Training ertrunken? Für den Coach unvorstellbar – aber bei der Obduktion konnten die Pathologen keine andere Erklärung finden. Erst eine molekulargenetische Autopsie von Spezialisten an der Mayo-Klinik in Rochester brachte Licht in den rätselhaften Fall: Ein Gendefekt hatte bei dem Mädchen akute Herzrhythmusstörungen ausgelöst – und die führten dann sekundenschnell zum Tod. „Wenn Träger dieser Mutation an Land ohnmächtig werden, wachen sie vielleicht mit blauen Flecken wieder auf“, erklärt Michael Ackerman, Leiter des Genlabors. „Aber wenn das Gleiche im Wasser passiert, kommt oft jede Hilfe zu spät.“ Bei älteren Opfern haben Herzrhythmusstörungen meist organische Ursachen. d e r s p i e g e l 8 / 2 0 0 6 Gefährdet sind Menschen mit Arteriosklerose, bei denen wegen Verengungen in den Gefäßen zu wenig Blut ins Herz gelangt. Auch Abnutzungserscheinungen des Pumpmuskels oder Narbenbildungen nach überstandenen Infarkten können den Sekundentod auslösen. B.S.I.P. / SUPERBILD neuen riesenhaften Teilchenbeschleuniger, genannt Large Hadron Collider, der nächstes Jahr am Genfer Forschungszentrum Cern in Betrieb geht. Auch die Alice in der Quantenwelt ist guten Mutes, was die Lösbarkeit des kosmischen Rätselwerks betrifft. Ihr literarisches Vorbild kennt sie allerdings nur flüchtig; Romane kann sie nämlich nicht leiden: „Alles nur Phantasie.“ Arroyo Camejo dagegen hungert nach Modellen, die ihr die wirkliche Welt erklären. Aber sind Romane nicht auch Modelle, nur eben für die mindestens quantengleichen Rätsel des menschlichen Verhaltens? Mag sein, meint die Autorin. „Aber da lese ich doch lieber ein Psychologielehrbuch.“ Das findet sie erheblich spannender. Arroyo Camejo, so viel ist sicher, duldet keine Umschweife auf dem Weg zum Wissen. Kein Wunder, dass sie sich in der Schule meist langweilte. Oft genug war das Schreiben nach den Hausaufgaben, sagt sie, „das Schöne am Tag“. Für ein Leben nebenher blieb wundersamerweise auch noch Zeit: Das QuantenMädchen tanzte klassisches Ballett, spielte Geige (zwei 1. Plätze beim Wettbewerb „Jugend musiziert“) und spazierte mit dem Hund durch den nahen Wald. Nur gegen Zeitverschwendung ist Arroyo Camejo von jeher allergisch – Fernsehen etwa. Sie hat es versucht, „es geht einfach nicht“. Wenn der Jungautorin ein freies Stündchen unterläuft, bastelt sie lieber elektronische Gerätschaften. Und was wohl? Keineswegs Bewegungsmelder mit angeschlossener Spritzpistole oder kleine Roboter, die Tischtennisbälle jagen – auf so was kämen Menschen, die Romane lesen. Arroyo Camejo hingegen baute ein Labornetzteil. Ein schnöderes Ding gibt es nicht. Kenner aber wissen: Solche Netzteile sind verpolungsfest! Die Restwelligkeit nicht der Rede wert! Die unentwegte Gründlerin hat sogar die Leiterbahnen eigenhändig auf die Platinen geätzt – „ich wollte eben verstehen, wie das geht.“ Nun, da das Buch vollendet ist, wird erst einmal genüsslich studiert. Aber in den Semesterferien, wer weiß, findet sich vielleicht schon Zeit für Band zwei der Trilogie über die Welt. Ehe der Springer-Verlag den Vertrag fürs nächste Buch unterschreibt, sollte er sich fürs Erste ein wenig schämen. Er glaubte wohl, das kluge Werk eines hübschen Mädchens verkaufe sich von allein. Die Sprache steckt noch voller wunderlicher Grillen: Die Autorin liebt es, sich in Umständlichkeiten zu ergehen; vieles sagt, bekräftigt und wiederholt sie mehrmals hintereinander, oft fast wortgleich. Ein guter Lektor hätte beherzt gekürzt, dafür die hochgerechnet gut 500 fehlenden Kommata nachgetragen – dann wäre es ein tadelloses Buch geworden. Imposant ist es auch so. FRITZ STOCKMEIER / BILDFOLIO Wissenschaft Patientin bei Belastungs-EKG Stresshormone ausgeschüttet SVEN SIMON Doch inzwischen gelingt Genfahndern wie Ackerman immer häufiger der Nachweis, dass auch Fehler im Erbgut verantwortlich sein können. Zwischen 5000 und 10 000 Herztote, so eine neue Schätzung, werden jedes Jahr allein in Deutschland Opfer von genetisch bedingten Herzrhythmusstörungen. Nur selten ahnen die Betroffenen etwas von der latenten Gefahr, in der sie schweben. Ackerman: „Der plötzliche Herztod ist oft der erste und einzige Hinweis auf den Gendefekt.“ Mindestens 80 Prozent der plötzlichen Herztode von jungen Athleten werden laut Chris Semsarian, Molekularkardiologe an der University of Sydney, durch mutierte Gene ausgelöst. Die Opfer sterben häufig so überraschend am Kammerflimmern wie der 28-jährige Kameruner Nationalkicker Marc-Vivien Foé im Juni 2003 oder der brasilianische Abwehrspieler Serginho im Oktober vorvergangenen Jahres. Die defekten Gene enthalten zum Beispiel fehlerhafte Bauanleitungen für die Ionenkanäle der Herzmuskelzellen. Dadurch kann der Blutmotor von einer Sekunde zur anderen ins Stottern geraten: Die elektrischen Erregungen, die durch das Herz wandern, bilden keine einheitlichen Fronten mehr, die Muskelzellen und Muskelfasern agieren wild durcheinander. Es kommt zu Nachschwankungen und kreisenden Erregungen, die unterschiedlichen Bewegungsphasen überlagern und kreuzen sich. Am Ende zuckt und flimmert der Herzmuskel nur noch, seine Auswurfleistung sinkt dramatisch – „wenn man Kammerflimmern nicht innerhalb von zwei Minuten beendet, kann man die Opfer nicht mehr zurückholen“, erklärt Martin Borggrefe, Kardiologe an der Universitätsklinik Mannheim. Besonders tragisch: Bei den genetisch bedingten Rhythmusstörungen sind die Opfer fast immer jung und wirken äußerlich kerngesund. „Der Pathologe findet bei der Obduktion nichts, es sei denn, er sucht nach DNA-Veränderungen“, erklärt Stefan Kääb, Kardiologe am Münchner Klinikum Großhadern. Oft sind äußere Auslöser schuld daran, dass sich die schlummernden Gendefekte schlagartig bemerkbar machen. Bei rund 70 Prozent der plötzlichen Herztode von jungen Leuten ereignet sich der Unfall während oder nach einer sportlichen Betätigung. Andere Träger der Gendefekte fallen mit Rhythmusstörungen in Ohnmacht, wenn der Wecker losscheppert oder das Telefon läutet. Vor allem der Sprung ins Wasser birgt bei bestimmten Formen des Erbleidens ein extrem hohes Risiko. Durch das Eintauchen und die körperliche Anstrengung beim Schwimmen, so vermuten die Forscher, werden massiv Stresshormone ausgeschüttet, welche die Rhythmusstörung auslösen können. Erst vor kurzem ist das Herztod des Kameruner Nationalkickers Foé (2003): Der Blutmotor geriet ins Stottern Team um Ackerman auf die dafür verantwortlichen Mutationen gestoßen. „Schwimmen ist für die Träger dieses Defekts eine potentiell lebensgefährliche Angelegenheit“, erklärt der US-Forscher. „Wir schätzen, dass 10 bis 20 Prozent der unklaren Todesfälle durch Ertrinken von genetischen Fehlern herrühren, die zu Ausfällen im elektrischen System des Herzens führen.“ Besonders tückisch: Die Opfer haben meist ein normales Ruhe-EKG. Die Rhythmusstörungen treten erst bei körperlicher Anstrengung im Wasser auf. Borggrefe: „Es sieht so aus, als würden sie ertrinken, aber sie ertrinken nicht wirklich.“ Ist die Erbkrankheit hingegen erst einmal diagnostiziert, lässt sich die Bedrohung durch den Sekundentod deutlich reduzieren. Die Behandlung mit Betablockern, die den Herzschlag verlangsamen, hilft bei 80 bis 90 Prozent der Patienten. Erneute Rhythmusstörungen lassen sich dadurch meist verhindern. Allerdings können auch bestimmte Medikamente wie Allergiemittel, Antibiotika oder Psychopharmaka den Takt des Herzmuskels stören. Wer nach einer lebensbedrohlichen Rhythmusattacke schon einmal wiederbelebt werden musste, benötigt einen implantierten Defibrillator: Der automatische Helfer beendet auftretende Störungen mit einem Elektroschock und zwingt das Herz wieder in die normale Gangart zurück. Ruhe- und Belastungs-EKG, LangzeitEKG und Ultraschalluntersuchungen des Herzens sorgen in den meisten Fällen für diagnostischen Durchblick. Wichtig ist auch die Fahndung nach frühen Herztodesfällen in der Familie. Durch beides zusammen können die Ärzte den genetischen Killer in nahezu 90 Prozent der Fälle dingd e r s p i e g e l 8 / 2 0 0 6 fest machen. Gentests hingegen sind derzeit kein Patentrezept; denn noch sind längst nicht alle Mutationen bekannt, die den Taktgeber des Herzens zum Straucheln bringen. Frühwarnzeichen für die angeborenen Defekte sind selten, aber es gibt sie. Schwindel- und Ohnmachtsanfälle bei körperlichen Anstrengungen oder jähen Gefühlsaufwallungen können ein Hinweis darauf sein, dass in den Genen etwas nicht stimmt. „Jedes Vorkommnis dieser Art muss ernst genommen werden“, warnt Günter Breithardt, Kardiologe an der Uni-Klinik Münster. „Vor allem Auftreten in den frühen Lebensjahren ist verdächtig. Eigentlich sollte bei jedem, der schon einmal einen Ohnmachtsanfall hatte, ein EKG geschrieben werden.“ Doch viele Mediziner deuten die Symptome eher als epileptischen Anfall und überweisen die Opfer zur Weiterbehandlung in die Neurologie. Dort wird das zugrundeliegende Leiden freilich selten erkannt, weil Neurologen meist kein EKG schreiben: „Ich kenne Patienten, die gestorben sind, weil sie auf Epilepsie behandelt wurden“, berichtet der münstersche Uni-Kardiologe Eric Schulze-Bahr. Das Wissen um solche Alarmsignale hätte womöglich auch den Tod der 16-jährigen amerikanischen Schwimmerin verhindern können. Zehn Monate vor ihrem Tod war sie etwa eine Minute lang krampfend am Boden liegen geblieben, nachdem ein Mitschüler sie von hinten angerempelt hatte. Nur zwei Tage später war das Mädchen erneut umgekippt, als es vom Fernsehen aufsprang, weil das Telefon läutete. Nach beiden Vorfällen hatten Ärzte es hinterher gründlich untersucht, aber nichts Auffälliges gefunden. Günther Stockinger 133