Ohnmacht im Schwimmbad

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Manfred Dworschak
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Kardiologen Breithardt, Schulze-Bahr: Suche nach der genetischen Spur des Killers
MEDIZIN
Ohnmacht im Schwimmbad
Jedes Jahr sterben Tausende Deutsche am plötzlichen Herztod,
weil ein Defekt im Erbgut nicht rechtzeitig erkannt wird.
Die ahnungslosen Opfer sind meist jung und wirken kerngesund.
M
it Kennerblick verfolgte der Trainer den Bewegungsablauf der
Schwimmerin. Elegant wie ein
Fisch glitt sie durchs Wasser. Kein Zweifel: Die 16-Jährige war ein Naturtalent.
Mit Trainingseifer würde sie es zu etwas
bringen.
Nur wenige Sekunden wurde der Trainer abgelenkt. Als er die 16-Jährige wieder
erblickte, trieb sie mit dem Gesicht nach
unten im Wasser. Alle Wiederbelebungsversuche scheiterten.
War die begabte Schwimmerin einfach
so beim Training ertrunken? Für den
Coach unvorstellbar – aber bei der Obduktion konnten die Pathologen keine andere Erklärung finden.
Erst eine molekulargenetische Autopsie
von Spezialisten an der Mayo-Klinik in
Rochester brachte Licht in den rätselhaften Fall: Ein Gendefekt hatte bei dem
Mädchen akute Herzrhythmusstörungen
ausgelöst – und die führten dann sekundenschnell zum Tod.
„Wenn Träger dieser Mutation an Land
ohnmächtig werden, wachen sie vielleicht
mit blauen Flecken wieder auf“, erklärt
Michael Ackerman, Leiter des Genlabors.
„Aber wenn das Gleiche im Wasser passiert, kommt oft jede Hilfe zu spät.“
Bei älteren Opfern haben Herzrhythmusstörungen meist organische Ursachen.
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Gefährdet sind Menschen mit Arteriosklerose, bei denen wegen Verengungen in
den Gefäßen zu wenig Blut ins Herz gelangt. Auch Abnutzungserscheinungen des
Pumpmuskels oder Narbenbildungen nach
überstandenen Infarkten können den Sekundentod auslösen.
B.S.I.P. / SUPERBILD
neuen riesenhaften Teilchenbeschleuniger,
genannt Large Hadron Collider, der nächstes Jahr am Genfer Forschungszentrum
Cern in Betrieb geht.
Auch die Alice in der Quantenwelt ist
guten Mutes, was die Lösbarkeit des kosmischen Rätselwerks betrifft. Ihr literarisches Vorbild kennt sie allerdings nur
flüchtig; Romane kann sie nämlich nicht
leiden: „Alles nur Phantasie.“ Arroyo Camejo dagegen hungert nach Modellen, die
ihr die wirkliche Welt erklären.
Aber sind Romane nicht auch Modelle,
nur eben für die mindestens quantengleichen Rätsel des menschlichen Verhaltens?
Mag sein, meint die Autorin. „Aber da lese
ich doch lieber ein Psychologielehrbuch.“
Das findet sie erheblich spannender.
Arroyo Camejo, so viel ist sicher, duldet
keine Umschweife auf dem Weg zum Wissen. Kein Wunder, dass sie sich in der
Schule meist langweilte. Oft genug war das
Schreiben nach den Hausaufgaben, sagt
sie, „das Schöne am Tag“.
Für ein Leben nebenher blieb wundersamerweise auch noch Zeit: Das QuantenMädchen tanzte klassisches Ballett, spielte
Geige (zwei 1. Plätze beim Wettbewerb
„Jugend musiziert“) und spazierte mit dem
Hund durch den nahen Wald. Nur gegen
Zeitverschwendung ist Arroyo Camejo von
jeher allergisch – Fernsehen etwa. Sie hat
es versucht, „es geht einfach nicht“.
Wenn der Jungautorin ein freies Stündchen unterläuft, bastelt sie lieber elektronische Gerätschaften. Und was wohl?
Keineswegs Bewegungsmelder mit angeschlossener Spritzpistole oder kleine Roboter, die Tischtennisbälle jagen – auf so
was kämen Menschen, die Romane lesen.
Arroyo Camejo hingegen baute ein Labornetzteil. Ein schnöderes Ding gibt es
nicht. Kenner aber wissen: Solche Netzteile sind verpolungsfest! Die Restwelligkeit nicht der Rede wert! Die unentwegte
Gründlerin hat sogar die Leiterbahnen eigenhändig auf die Platinen geätzt – „ich
wollte eben verstehen, wie das geht.“
Nun, da das Buch vollendet ist, wird erst
einmal genüsslich studiert. Aber in den
Semesterferien, wer weiß, findet sich vielleicht schon Zeit für Band zwei der Trilogie über die Welt.
Ehe der Springer-Verlag den Vertrag fürs
nächste Buch unterschreibt, sollte er sich
fürs Erste ein wenig schämen. Er glaubte
wohl, das kluge Werk eines hübschen
Mädchens verkaufe sich von allein. Die
Sprache steckt noch voller wunderlicher
Grillen: Die Autorin liebt es, sich in Umständlichkeiten zu ergehen; vieles sagt, bekräftigt und wiederholt sie mehrmals hintereinander, oft fast wortgleich. Ein guter
Lektor hätte beherzt gekürzt, dafür die
hochgerechnet gut 500 fehlenden Kommata nachgetragen – dann wäre es ein tadelloses Buch geworden.
Imposant ist es auch so.
FRITZ STOCKMEIER / BILDFOLIO
Wissenschaft
Patientin bei Belastungs-EKG
Stresshormone ausgeschüttet
SVEN SIMON
Doch inzwischen gelingt Genfahndern
wie Ackerman immer häufiger der Nachweis, dass auch Fehler im Erbgut verantwortlich sein können. Zwischen 5000 und
10 000 Herztote, so eine neue Schätzung,
werden jedes Jahr allein in Deutschland
Opfer von genetisch bedingten Herzrhythmusstörungen. Nur selten ahnen die Betroffenen etwas von der latenten Gefahr, in
der sie schweben. Ackerman: „Der plötzliche Herztod ist oft der erste und einzige
Hinweis auf den Gendefekt.“
Mindestens 80 Prozent der plötzlichen
Herztode von jungen Athleten werden laut
Chris Semsarian, Molekularkardiologe an
der University of Sydney, durch mutierte
Gene ausgelöst. Die Opfer sterben häufig
so überraschend am Kammerflimmern wie
der 28-jährige Kameruner Nationalkicker
Marc-Vivien Foé im Juni 2003 oder der
brasilianische Abwehrspieler Serginho im
Oktober vorvergangenen Jahres.
Die defekten Gene enthalten zum Beispiel fehlerhafte Bauanleitungen für die Ionenkanäle der Herzmuskelzellen. Dadurch
kann der Blutmotor von einer Sekunde
zur anderen ins Stottern geraten: Die elektrischen Erregungen, die durch das Herz
wandern, bilden keine einheitlichen Fronten mehr, die Muskelzellen und Muskelfasern agieren wild durcheinander. Es
kommt zu Nachschwankungen und kreisenden Erregungen, die unterschiedlichen
Bewegungsphasen überlagern und kreuzen sich.
Am Ende zuckt und flimmert der Herzmuskel nur noch, seine Auswurfleistung
sinkt dramatisch – „wenn man Kammerflimmern nicht innerhalb von zwei Minuten beendet, kann man die Opfer nicht
mehr zurückholen“, erklärt Martin Borggrefe, Kardiologe an der Universitätsklinik Mannheim.
Besonders tragisch: Bei den genetisch
bedingten Rhythmusstörungen sind die
Opfer fast immer jung und wirken äußerlich kerngesund. „Der Pathologe findet bei
der Obduktion nichts, es sei denn, er sucht
nach DNA-Veränderungen“, erklärt Stefan
Kääb, Kardiologe am Münchner Klinikum
Großhadern.
Oft sind äußere Auslöser schuld daran,
dass sich die schlummernden Gendefekte
schlagartig bemerkbar machen. Bei rund
70 Prozent der plötzlichen Herztode von
jungen Leuten ereignet sich der Unfall
während oder nach einer sportlichen
Betätigung. Andere Träger der Gendefekte
fallen mit Rhythmusstörungen in Ohnmacht, wenn der Wecker losscheppert oder
das Telefon läutet.
Vor allem der Sprung ins Wasser birgt
bei bestimmten Formen des Erbleidens ein
extrem hohes Risiko. Durch das Eintauchen und die körperliche Anstrengung
beim Schwimmen, so vermuten die Forscher, werden massiv Stresshormone ausgeschüttet, welche die Rhythmusstörung
auslösen können. Erst vor kurzem ist das
Herztod des Kameruner Nationalkickers Foé (2003): Der Blutmotor geriet ins Stottern
Team um Ackerman auf die dafür verantwortlichen Mutationen gestoßen.
„Schwimmen ist für die Träger dieses
Defekts eine potentiell lebensgefährliche
Angelegenheit“, erklärt der US-Forscher.
„Wir schätzen, dass 10 bis 20 Prozent der
unklaren Todesfälle durch Ertrinken von
genetischen Fehlern herrühren, die zu Ausfällen im elektrischen System des Herzens
führen.“
Besonders tückisch: Die Opfer haben
meist ein normales Ruhe-EKG. Die Rhythmusstörungen treten erst bei körperlicher
Anstrengung im Wasser auf. Borggrefe:
„Es sieht so aus, als würden sie ertrinken,
aber sie ertrinken nicht wirklich.“
Ist die Erbkrankheit hingegen erst einmal diagnostiziert, lässt sich die Bedrohung durch den Sekundentod deutlich
reduzieren. Die Behandlung mit Betablockern, die den Herzschlag verlangsamen, hilft bei 80 bis 90 Prozent der
Patienten. Erneute Rhythmusstörungen
lassen sich dadurch meist verhindern.
Allerdings können auch bestimmte Medikamente wie Allergiemittel, Antibiotika
oder Psychopharmaka den Takt des Herzmuskels stören.
Wer nach einer lebensbedrohlichen
Rhythmusattacke schon einmal wiederbelebt werden musste, benötigt einen implantierten Defibrillator: Der automatische
Helfer beendet auftretende Störungen mit
einem Elektroschock und zwingt das Herz
wieder in die normale Gangart zurück.
Ruhe- und Belastungs-EKG, LangzeitEKG und Ultraschalluntersuchungen des
Herzens sorgen in den meisten Fällen für
diagnostischen Durchblick. Wichtig ist
auch die Fahndung nach frühen Herztodesfällen in der Familie. Durch beides zusammen können die Ärzte den genetischen
Killer in nahezu 90 Prozent der Fälle dingd e r
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fest machen. Gentests hingegen sind derzeit kein Patentrezept; denn noch sind
längst nicht alle Mutationen bekannt, die
den Taktgeber des Herzens zum Straucheln bringen.
Frühwarnzeichen für die angeborenen
Defekte sind selten, aber es gibt sie.
Schwindel- und Ohnmachtsanfälle bei körperlichen Anstrengungen oder jähen Gefühlsaufwallungen können ein Hinweis
darauf sein, dass in den Genen etwas nicht
stimmt.
„Jedes Vorkommnis dieser Art muss
ernst genommen werden“, warnt Günter
Breithardt, Kardiologe an der Uni-Klinik
Münster. „Vor allem Auftreten in den
frühen Lebensjahren ist verdächtig. Eigentlich sollte bei jedem, der schon einmal einen Ohnmachtsanfall hatte, ein EKG
geschrieben werden.“
Doch viele Mediziner deuten die Symptome eher als epileptischen Anfall und
überweisen die Opfer zur Weiterbehandlung in die Neurologie. Dort wird das zugrundeliegende Leiden freilich selten erkannt, weil Neurologen meist kein EKG
schreiben: „Ich kenne Patienten, die gestorben sind, weil sie auf Epilepsie behandelt wurden“, berichtet der münstersche
Uni-Kardiologe Eric Schulze-Bahr.
Das Wissen um solche Alarmsignale hätte womöglich auch den Tod der 16-jährigen
amerikanischen Schwimmerin verhindern
können. Zehn Monate vor ihrem Tod war
sie etwa eine Minute lang krampfend am
Boden liegen geblieben, nachdem ein Mitschüler sie von hinten angerempelt hatte.
Nur zwei Tage später war das Mädchen erneut umgekippt, als es vom Fernsehen aufsprang, weil das Telefon läutete.
Nach beiden Vorfällen hatten Ärzte es
hinterher gründlich untersucht, aber nichts
Auffälliges gefunden. Günther Stockinger
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