Ulaş Şener Abstract Die Entpolitisierung der Geldpolitik am Fallbeispiel der Türkei In den Wirtschaftswissenschaften hat sich in den vergangen Dekaden die Auffassung durchgesetzt, dass sich Inflation durch institutionelle Maßnahmen verhindern ließe, wenn Ökonomie und Politik voneinander getrennt würden. Eine Entpolitisierung der Geldpolitik könne durch die Schaffung einer unabhängigen und neutralen Zentralbank gewährleistet werden. In der heutigen Mainstreamlehre hat sich Zentralbankunabhängigkeit als kaum noch hinterfragtes Idealmodell und herrschendes Dogma etabliert. Wirtschaftspolitisch zeigt sich dieser Konsensus darin, dass ab Anfang der 1990er Jahre immer mehr Zentralbanken, sowohl in Industrie- als auch in Schwellenstaaten, reformiert und formell zu unabhängigen Institutionen erklärt wurden. In der Türkei wurde die offizielle Unabhängigkeit der Türkischen Zentralbank (TCMB) nach der schweren Wirtschaftskrise von 2001 beschlossen. Die türkische Regierung schlussfolgerte hieraus, dass für eine krisenfreie Marktwirtschaft die institutionelle Vermittlung und Regulierung durch unabhängige entpolitisierte Instanzen unentbehrlich sei (vgl. Derviş 2006). Im Bereich der Geldpolitik äußerte sich dies dadurch, dass ein neuer regulativer Rahmen ins Leben gerufen wurde. Zum einen wurde die Bankenaufsichtsbehörde gestärkt und eine umfangreiche Bankenkonsolidierung und Regulierung umgesetzt (vgl. Öniş/Bakır 2007). Zum anderen wurde mit der Reform der Zentralbank, die die EZB zum Vorbild nahm, Preisstabilität zum obersten Ziel erklärt und eine unabhängige Zentralbank verkündet (vgl. Bakır 2007). Damit wurde das internationale Standardmodell in der Geldpolitik umgesetzt, und das Verhältnis von Politik und Ökonomie an externalisierte Kontroll- und Aufsichtsinstanzen delegiert (vgl. Watson 2002). Die EU begrüßte den Reformkurs der Türkei, weil sie diesen im Rahmen der politökonomischen Konvergenzkriterien für eine Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen einforderte. Die Senkung der chronischen Inflation Abstract // Ulaş Şener 1 in der Ära nach der Krise von 2001 wird auf den strikten Reformkurs, die fiskal- und geldpolitische Disziplin und Austeritätspolitik zurückgeführt (vgl. Özatay 2007: 149f). Die Senkung der Inflation wird dabei vor allem positiv mit dem neuen Mandat und institutionell unabhängigen Status der Zentralbank nach 2001 in Verbindung gebracht (vgl. Bakır 2007). Gegenstand meines Beitrags ist eine politökonomische Untersuchung der Geldpolitik in der Türkei nach 2001. Ich gehe auf die Fragestellung ein, inwiefern von der formellen Unabhängigkeit der TCMB auch auf eine tatsächlich unabhängige und entpolitisierte Geldpolitik geschlossen werden kann. Um dies zu überprüfen betrachte ich zentrale Aspekte des monetären Policy-Mix und untersuche das Verhältnis von monetären Parametern und makroökonomischen Größen wie Verschuldung, Beschäftigung und Löhne. Dabei werde ich zeigen, dass die positiven Wachstumszahlen und der Inflationsrückgang der türkischen Wirtschaft hand in hand mit steigenden Handelsbilanzdefiziten, einer verschärften ungleichen Einkommensverteilung und einem Anstieg der privaten Verschuldung einhergehen. Abschließend gehe ich auf die Rolle der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008 und der Euro-Krise 2010 ein, die eine neue Kontroverse über die Unabhängigkeit der Zentralbank entfacht hat. Ich werde diskutieren, inwiefern sich diese Debatte im Kontext der Türkei führen lässt. Meinen methodischen Zugang und konzeptionellen Referenzpunkt bilden heterodoxe ökonomische Theorien, die der orthodoxen Vorstellung von einer Entpolitisierung der Geldpolitik und von der Neutralität des Geldes kritisch gegenüberstehen. Hierauf aufbauend werde ich die These vertreten, dass Zentralbankunabhängigkeit, in Anlehnung an Peter Burnham, als Politik der Entpolitisierung (Burnham 2001) verstanden werden muss. Diese Strategie ist auch in der Türkei weder neutral noch unpolitisch, sie ist interessenspezifisch geleitet und im Kontext einer umfassenden Neoliberalisierung und Finanzialisierung der türkischen Wirtschaft und Gesellschaft zu verstehen. Abstract // Ulaş Şener 2