62 BZB November 14 Wissenschaft und Fortbildung Klinisches Management der marginalen Parodontitis Der Kampf gegen den nahezu unbekannten Feind E i n K u r s b e r i c h t v o n D r. S e n k a G r ü n w a l d , M ü n c h e n Laut Mundgesundheitsstudien ist die marginale Parodontitis neben der Karies die häufigste orale Erkrankung und die häufigste Krankheit des Menschen überhaupt. Durch den Rückgang der Karies und den damit verbundenen längeren Zahnerhalt ist diese bakterielle Infektion des marginalen Zahnhalteapparates von stetig wachsender Prävalenz. Sie erfordert einen strukturierten Behandlungsablauf sowie Therapiesicherheit und Kostenbewusstsein für die Behandlung seitens des Patienten. Aktuelle wissenschaftliche Studien bieten inzwischen auch ein besseres Verständnis der Erkrankungs ursache und eine differenzierte Einschätzung der Möglichkeiten moderner Behandlungsmethoden. Einen gelungenen Überblick über die derzeitigen Entwicklungen in der Parodontologie und die aus aktuellen Studien gewonnenen effektiveren Behandlungsstrategien bot der Tageskurs von Prof. Dr. Dr. Matthias Folwaczny an der eazf in München. Ätiologie und die Macht des Biofilms Die parodontale Erkrankung entsteht auf der Basis mannigfaltiger Wechselwirkungen zwischen dem Immunsystem und bestimmten Bakterien. Diese Wechselwirkungen werden sowohl von genetischen (z. B. Funktionsdefekte neutrophiler Granulozyten) als auch von erworbenen (z. B. Diabetes mellitus) und umweltbedingten Faktoren (z. B. Stress, Rauchen) beeinflusst. Das Vorhandensein eines oder mehrerer Risikofaktoren erhöht das Risiko der Entstehung einer Parodontitis dabei nicht per se, sondern steigert die Wahrscheinlichkeit eines aggressiven Verlaufs einer bereits eingetretenen Erkrankung. „Die bakterielle Infektion durch einen virulenten Genotypus und ein mutierter Wirt müssen aufeinandertreffen, damit eine Parodontitis entsteht“, so der Referent. Das bedeutet wiederum nicht nur, dass sich eine Stärkung des Immunsystems positiv auf die parodontale Situation auswirkt, sondern dass im Umkehrschluss vor allem eine unbehandelte Parodontitis weitere Erkrankungen verstärken oder erst entstehen lassen kann. So kann eine manifeste Parodontitis zum Beispiel nicht nur die Rate der Früh- geburtlichkeit erhöhen, sie kann auch der Auslöser bisphosphonat-assoziierter Nekrosen sein oder Einfluss darauf haben, dass systemische Erkrankungen wie Diabetes mellitus entstehen. Um effektive Behandlungskonzepte entwickeln zu können, bedarf es eines umfassenden Verständnisses der Ätiologie dieses multifaktoriellen Geschehens sowie eines detaillierten Wissens über die individuellen Risikofaktoren und die Progression der Erkrankung. Die manifeste parodontale Erkrankung wird vermutlich irgendwann durch eine unzureichende Mundhygiene ausgelöst, die es den knapp 1 000 bereits in der Mundhöhle vorhandenen Bakterienspezies ermöglicht, sich innerhalb eines komplex strukturierten Biofilms zu organisieren. Die Organisation als Biofilm sichert den einzelnen Bakterien nicht nur das Überleben in der parodontalen Tasche, sie sorgt auch für ihre explosionsartige Vermehrung sowie für ihre steigende Resistenz und Toleranz sowohl gegenüber der Immunabwehr als auch gegenüber lokalen und systemischen antimikrobiellen Substanzen und Antibiotika. Nicht empfindliche Bakterien können zum Beispiel die empfindlicheren effektiv abschirmen. Eine gleichgepolte Matrixladung sorgt für die Abstoßung eines Wirkstoffes, oder die Bakterien gehen mithilfe von sogenannten Alarmonen (intrazelluläre Signalmoleküle) in den Schlafzustand über und werden erst wieder aktiv, wenn die Wirkstoffwirkung nachlässt. Die Gabe von Antibiotika ist daher bei manchen Biofilmen nicht nur unwirksam, sondern wird zum Teil auch noch als Wachstumsvorteil genutzt, so Professor Folwaczny. Die Zerstörung beziehungsweise die Entfernung des Biofilms ist deshalb essenziell und muss nach wie vor mechanisch erfolgen. Parodontopathogene Keime und Antibiose Doch welche parodontopathogenen Keime sind für die Manifestation einer parodontalen Erkrankung verantwortlich? „Wir stochern immer noch im Dunkeln und kämpfen gegen einen nahezu unbekannten Feind“, so die Antwort des Referenten, denn nur Wissenschaft und Fortbildung ein kleiner Bruchteil der parodontopathogenen Bakterien und vermutlich auch der Viren ist bekannt. Nach heutigem Verständnis scheint das Vorhandensein des sogenannten „roten Komplexes“ aus Porphyromonas gingivalis (Pg), Tanerella forsynthia (Tf) und Treponema denticola (Td) Voraussetzung für die Entstehung einer Parodontitis zu sein. Eine Schlüsselrolle übernimmt auch der einzeln vorkommende Aggregatibacter actinomycetemcomitans (Aa). Sein Auftreten erfordert unbedingt eine unterstützende antibiotische Therapie. Während der sogenannte rote (Pg, Tf, Td) und auch der orange Komplex (allem voran mit Prevotella intermedia) erfolgreich mechanisch und gegebenenfalls antibiotisch reduziert werden, kann es zum Überwuchern mit Aa und somit zu einem Rezidiv kommen. Bei Vorhandensein von Aa hilft daher nur der WinkelhoffCocktail, das heißt die kombinierte Gabe von Amoxicillin (500 mg 3/d für 7 d) und Metronidazol (400 mg 3/d für 7 d) beziehungsweise bei Penicillinallergie Ciprofloxacin (250 mg 2/d für 7 d) und Metronidazol (500 mg 2/d für 7 d). Wenn Aa ausgeschlossen werden kann, dann reicht die alleinige Gabe von Metronidazol oder Azithromycin (500 mg), das für drei Tage nur einmal täglich eingenommen werden muss und daher von manchen Patienten besser akzeptiert wird. Wie einige neuere Studien zu diesem Thema zeigen, ist bei noch unbehandeltem und somit voll entzündetem Gewebe die Wirkung einer systemischen antimikrobiellen Therapie besser. Deshalb wird im Rahmen der initialen Therapiephase bei der fortgeschrittenen chronischen Parodontitis in einigen Zentren immer häufiger die sofortige Gabe eines Antibiotikums gegenüber der verzögerten Gabe erst nach ausbleibendem primären Therapieerfolg vorgezogen. Die Applikation von Antibiotika in einzelne Taschen mittels Fäden, Gels oder Chips empfahl der Referent lediglich bei ein bis zwei Zähnen mit lokalem Rezidiv. Wichtig dabei ist weniger, welchen Wirkstoff das individuell verwendete Präparat enthält, sondern vielmehr wie lange der antimikrobielle Wirkstoff durch das Trägermedium in der Tasche verbleibt. Messbare klinische Effekte sind in der Regel nur mit Präparaten zu erzielen, die wenigstens für fünf bis sieben Tage einen ausreichenden Wirkstoffspiegel in der Tasche sicherstellen können. Anamnese, Befund, Vorbehandlung „Die PA-Therapie steht und fällt mit einer gewissen Pedanterie“: Einer eingehenden Anamnese und Be- BZB November 14 fundung folgt immer eine Initialtherapie mit anschließender Reevaluation (ggf. mit unterstützender Parodontalchirurgie) und abschließender unterstützender Parodontaltherapie im Recall. Eine Vorbehandlung mit Professioneller Zahnreinigung und Mundhygieneinstruktion beseitigt bereits Pseudotaschen und motiviert den Patienten zur konsequenten Mitarbeit. Entfernung des Biofilms Zur effektiven Entfernung des Biofilms und der Konkremente stehen scharfe Küretten, Schall- und Ultraschallinstrumente, Pulver-Wasserstrahlgeräte sowie Laser zur Verfügung. Das Scaling mit Handinstrumenten stellt aber immer noch den Goldstandard dar. Ob das Scaling quadrantenweise erfolgt oder nach dem „Full-mouth-Protokoll“ (Scaling innerhalb von 24 Stunden mit Taschendesinfektion und Zungenreinigung durch CHX), scheint für das klinische Ergebnis keinen signifikanten Unterschied zu machen. Obwohl auch sie mit einer festen Systematik eingesetzt werden müssen, ist die Anwendung von Schall- und Ultraschallinstrumenten im Vergleich zu klassischen Handinstrumenten für den Behandler nicht nur weniger ermüdend, sondern auch deutlich schneller. Durchschnittlich erfordert die Reinigung mit Schall- und Ultraschallscalern ungefähr ein Drittel weniger Zeit als die rein manuelle Bearbeitung der Wurzeloberflächen. Die in der Regel etwas dünnere Arbeitsspitze und die Eigenbewegung der maschinellen Reinigungsinstrumente stellen einen weiteren Vorteil bei der Reinigung schwer zugänglicher Bereiche dar, wie etwa bei Zähnen mit Furkationsbefall. PulverWasserstrahlgeräte sind ebenfalls schneller und zudem für die Patienten weitaus angenehmer als Handinstrumente. Sie können allerdings bei Verwendung von konventionellen Applikationsdüsen nur bei Taschen bis maximal fünf Millimetern Tiefe eine zuverlässige subgingivale Reinigung bewerkstelligen. Im subgingivalen Bereich sollten ausschließlich niedrig abrasive Pulver zum Einsatz kommen. Während bislang alle infrage kommenden Produkte ein Glycinpulver verwendeten, sind inzwischen neue Reinigungspulver, beispielsweise auf Basis der Zuckerverbindung Erythritol, verfügbar. Sie zeichnen sich ebenfalls durch eine sehr niedrige Abrasivität aus und ermöglichen damit eine sehr schonende Behandlung der Wurzeloberflächen. Der einzige Laser, der keine starken thermischen Nebenwirkungen auf der Wurzeloberfläche 63 64 BZB November 14 Wissenschaft und Fortbildung erzeugt, ist der Er:YAG-Laser. Er bewirkt eine Abplatzung der Konkremente durch schlagartige strahlungsinduzierte Verdampfung ihres Wassergehalts. Da Laser aber meistens zeit- und kostenintensiv sind und klinisch keine nennenswerten Vorteile gegenüber Handinstrumenten bieten, kommt ihnen bei der Therapie der marginalen Parodontitis keine große Bedeutung zu. Periimplantitis Zur Desinfektion von Implantatoberflächen im Rahmen der Behandlung einer Periimplantitis scheint die photodynamische Therapie, bei der Laserstrahlung mit niedriger Energie zur Abtötung von pathogenen Bakterien eingesetzt wird, Vorteile gegenüber den meisten anderen Methoden zu haben. Bei einer marginalen Desintegration von bis zu vier Millimetern konnte bei dieser „Spezialindikation“ durch Anfärben mit Methylenblau und anschließendem Lasern ein um fast zwei Millimeter höherer Attachmentgewinn erzielt werden als mit Handinstrumenten. Laut Studien weisen übrigens zwölf Prozent aller dentalen Implantate eine Gingivitis- oder Periimplantitis auf, bei steigender Prävalenz. Aus Professor Folwacznys Sicht kann dem nur durch Prävention begegnet werden. Wenn parodontal erkrankte Patienten Implantate besitzen, ist eine unterstützende Parodontaltherapie zwingend erforderlich. Reevaluation Bei der Reevaluation werden die Behandlungsergebnisse und die Compliance des Patienten bewertet. Sie bildet die Grundlage, um mit dem Patienten die Entscheidung über eventuell notwendige Extraktionen sowie weitere Therapieziele und gegebenenfalls über zukünftige prothetische Maßnahmen zu treffen. „Hoffnungslose Zähne“ müssen nicht unbedingt entfernt werden, wenn sie keine persistierenden Entzündungen unterhalten, nicht in die prothetische Versorgung einbezogen werden, die Patienten gut mitarbeiten und ein regelmäßiges Recall erfolgt. Studien zufolge konnten 40 Prozent solcher „hoffnungsloser Zähne“ mit einem Attachmentverlust von bis zu 90 Prozent bis zu zwölf Jahren erhalten werden. Dies stellt einen erheblichen Zeitgewinn bis zur dann später notwendig werdenden prothetischen Therapie dar. Parodontalchirurgie Die Entscheidung zur Parodontalchirurgie sollte streng erfolgen, seien es reparative, resektive oder regenerative Strategien. Chirurgische Maßnahmen sind nur bei Resttaschen größer oder gleich sechs Millimetern indiziert, darunter schadet eine Parodontalchirurgie eher. Ebenso bei Furkationsdefekten Grad II und bei tiefen dreiwandigen vertikalen Defekten. Hier kann eine DVT-Aufnahme mit kleinem Volumen gegenüber dem zweidimensionalen Röntgen eine genauere Diagnostik bieten. Allerdings ist mit chirurgischen Maßnahmen nur ein Attachmentgewinn von maximal 0,2 bis 0,5 Millimetern zu erzielen, was zum zeitlichen und finanziellen Aufwand der Therapie ins Verhältnis gestellt werden sollte. Auch wurzelresektive Maßnahmen wie Prämolarisierung, Wurzelamputation oder Tunnelierung sind kritisch zu betrachten. Durch diese teilweise sehr aufwendigen Therapiemethoden wird die Erhaltungswürdigkeit von Zähnen mit einem fortgeschrittenen Furkationsdefekt häufig nur unwesentlich verbessert. Die Zähne gehen nach solchen Maßnahmen weniger wegen eines anhaltenden parodontalen Gewebeverlustes als vielmehr wegen anderer Probleme, wie Frakturen oder kariösen und endodontalen Komplikationen, verloren. „Wenn man Parodontalchirurgie macht, dann sollte man konsequent sein und resektiv vorgehen, um die Taschen zu eliminieren“, so Professor Folwaczny. Unterstützende Parodontaltherapie im Recall Den Abschluss der Behandlung und den gleichzeitig entscheidenden Punkt für die Gewährleistung eines langfristigen Behandlungserfolges bildet die unterstützende Parodontaltherapie im Recall. Je nach Einteilung nach dem von Lang und Tonetti 2003 vorgestellten Risikomodell werden Patienten mit niedrigem Risiko zweimal, mit mittlerem Risiko dreimal und mit hohem Risiko viermal jährlich behandelt. Hierbei sollte alle sechs Monate eine erneute Instruktion und Motivation zur Mundhygiene erfolgen. Das Recall ist deswegen so wichtig, weil es laut Studien – zusammen mit der Compliance des Patienten zur Mundhygiene – einen weitaus höheren Einfluss auf den Langzeiterfolg einer Parodontalbehandlung hat, als die gewählte Therapiemethode. Hinweis Die eazf bietet regelmäßig Kurse zur Parodontologie an. Weitere Informationen unter www.eazf.de