C. Lührs da Silva Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Universitätsklinikum Ulm Chronische Tic-Störungen und Tourette Syndrom C. Lührs da Silva Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Universitätsklinikum Ulm „Wenn das Gehirn des Menschen so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir so dumm, dass wir es trotzdem nicht verstehen würden.“ Jostein Gaarder Gliederung Gliederung I. Historie und Epidemiologie II. Definition und Symptomatik III. Pathophysiologie IV. Therapie - Psychoedukation (Familie, Umfeld) - psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe) - Psychotherapie (Verhaltens- vs. supportiver Therapie) - medikamentöse Therapie - [Tiefenhirnstimulation] Gliederung Gliederung I. Historie und Epidemiologie II. Definition und Symptomatik III. Pathophysiologie IV. Therapie - Psychoedukation (Familie, Umfeld) - psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe) - Psychotherapie (Verhaltens- vs. supportiver Therapie) - medikamentöse Therapie Georges Albert Edouard Brutus Gilles de la Tourette 1857-1904 Behandlungszimmer von Dr. Gilles de la Tourette in der Rue l'Université 39 in Paris Fluktuationen 1825 Jaques Itard: Marquise de Dampierre 1885 Gilles de la Tourette: „Mentale Degeneration“; „somatische Manifestation einer Hysterie“ versus Unterform der Chorea oder motorische Störung 1902 H. Meige/E. Feindel „Impulskontrollstörung“, „Schwäche des Willens“ 1921 Sandor Ferenczi / Sigmund Freud „Hysteriesymptome, unterdrückte kindliche Sexualität“ 1940s Margaret Mahler „unterdrückte sexuelle und aggressive Konflikte“ 1973 Arthur (Psychiater) u. Elaine Shapiro (Psychologin): Haloperidol Epidemiologie - Jungen : Mädchen 4:1 - Früher allgemein akzeptierte Prävalenzzahlen: 0,5/1000 (Bruun, 1984) - In allgemeiner Schulpopulation 0,7% (1990,1999) - Alle Ticstörungen zusammen bis zu 7% (Banarjee 1998, Mason 1998, Khalifa 2003) Schwedische schulbasierte Untersuchung: - Schulkinder im Alter 7-15 Jahre - 4.479 Kinder und ihre Eltern füllten Fragenbogen aus - Interview und klinische Untersuchung nach Screening: 290 Kinder (190 Jungen, 107 Mädchen) hatten Tics nach DMS-IV 0,6% TS 0,8% chron. Motor. Ticstörung 0,5% chron. Vokale Ticstörung 4,8% transiente Tics Zusammen: 6,6% hatten Tic-Störung im letzten Jahr Khalifa, Dev Med Child Neurol Mai 2003 Psychopathologie der Kinder mit Tic Störungen in dieser schulbasierten Untersuchung Von 4,479 Kindern 25 34 24 214 Tourette Syndrom (TD) Chronisch motorische Tic-Störung (CMT) Chronisch vokale Tic-Störung (CVT) Vorübergehende (transiente) Tic-Störung (TT) 3 Stufen Protokoll: Tic screening, Telefon-Interview, klinische Untersuchung Die 25 Kinder mit TD wurden verglichen mit 25 Kindern aus der TT-Gruppe und 25 gesunden Kontrollen. Bei 92% der Kinder mit vollem Tourette Syndrom wurden Psychiatrische Komorbiditäten gefunden: Am häufigsten ADHS. Kinder mit CVT waren ähnlich häufig betroffen wie Kinder mit TD. Aggressive Verhaltensweisen am häufigsten bei TD. Khalifa N, von Knorring AL, J Am Acad Child Adolesc Psychiatry. 2006 Gliederung Gliederung I. Epidemiologie II. Definition und Symptomatik III. Pathophysiologie IV. Therapie - Psychoedukation (Familie, Umfeld) - psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe) - Psychotherapie (Verhaltens- vs. supportiver Therapie) - medikamentöse Therapie DEFINITION nach ICD 10 Internationales Klassifikationssystem der WHO Nach ICD 10 werden folgende primäre Tic-Störungen unterschieden: F95.0: vorübergehende Tic-Störung (Dauer < 12 Monate) F95.1: chronische motorische oder vokale Tic-Störung (Dauer > 1 Jahr, nur motorische oder nur vokale Tics) F95.2: kombinierte vokale und multiple motorische Tics (Gilles de la Tourette-Syndrom, TS) F95.8: sonstige Tic-Störungen F95.9: Tic-Störung, nicht näher bezeichnet Eine vorübergehende Tic-Störung kommt praktisch nur bei Kindern vor. Meist bestehen nur gering ausgeprägte einfache motorische Tics, sodass in der Regel keine Behandlung notwendig ist. Klinisches Bild der Tic-Störungen - plötzliche, unwillkürliche Bewegungen und/oder Lautäußerungen, die - typischerweise schnell, abrupt einschießen und kurz andauern und - sich in kurzen Serien wiederholen ohne einen eigenen Rhythmus zu entwickeln SYMPTOMATIK Das TS ist gekennzeichnet durch - multiple motorische und mindestens einen vokalen Tic - Beginn vor dem 18. Lebensjahr, - eine Erkrankungsdauer > 1 Jahr, - Fluktuationen der Tics im Verlauf und den Ausschluss anderer Erkrankungen. Hingegen ist die Schwere der Tics irrelevant. SYMPTOMATIK Motorische Tics: Klinisches Erscheinungsbild Einfache motorische Tics Komplexe motorische Tics Augenblinzeln Hüpfen Augenzwinkern Treten Gesichtsgrimassen Springen Mundöffnen Stampfen Augenrollen Klopfen Stirnrunzeln Kreisen Kopfschütteln Kratzen Kopfnicken Beißen Schulterzucken Schlagen Zwerchfelltics Echopraxie Bauchtics Kopropraxie Rumpftics SYMPTOMATIK Einfache vokale Tics: (plötzliche, sinnlose Geräusche) - - Räuspern Hüsteln Schnäuzen Spucken Grunzen Bellen In- und exspiratorische Atemgeräusche Unzählige andere Geräusche Komplexe vokale Tics: (plötzliche Laute, sinnhafter) - Schreien Summen Pfeifen Palilalie Echolalie Koprolalie Echopraxie: Nachahmen und Wiederholen von vorgezeigten Handlungen und Bewegungen. Kopropraxie: Zeigen unwillkürlicher, obszöner Gesten Echolalie: Wiederholen von Sätzen und Wörtern von Gesprächspartnern. Koprolalie: Wiederholen von unangebrachten oder obszönen Wörter. Was verbessert Tic Symptome? - Schlaf (Tics verschwinden nahezu immer) - Beschäftigung, die fokussierte Aufmerksamkeit erfordert oder auch gezielte motorische Kontrolle, wie zum Beispiel Fahrrad fahren, Tischtennis spielen, ein Musikinstrument spielen - Entspannung (unterschiedlich) - verbale Instruktion Tics zu unterdrücken, besonders wenn es mit Belohnung einhergeht - Während und nach sportlicher Aktivität (normalerweise verschwinden die Tics oder sind zumindest deutlich weniger stark) Was verstärkt Tics? - Streß (50-90%) - Schulbeginn nach den Ferien (60-70%) - selbst ängstlich oder aufgeregt sein, oder sehen, dass ein enger Angehöriger so empfindet (80-90%) - Aufregung, das erste Mal ins Legoland, Geburtstage, Feiertage, insbesondere Weihnachten (Aufregung vor Geschenken) (60-70%) - aufregende, hochspannende Filme (Kino) oder Theater oder Actionfilme im Fernsehen (fast immer) - Erschöpfung (50-75%), Müdigkeit, aber noch nicht so müde um einzuschlafen (fast immer) - Allein sein, einsam fühlen (40-50%) - Stillarbeit in der Schule, Leseaufgaben - Über Tics sprechen, Tics sind suggestibel (fast immer) - Menstruation (bei manchen Frauen) - Essen - Kaffee trinken (nur bei einigen Individuen mit Tics) - sich heiß fühlen, heiße Außentemperaturen Besonderheiten von Tics Schwankungen in Intensität, Häufigkeit, Lokalisation Vorgefühle („premonitory urge“) Echophänomene „genau richtig“ Gefühle („just right phenomenon“) andere „Hypersensitäten“ (Berührungsempfindlichkeit, Hyperakusis) Intensität des Vorgefühls Je dunkler die Farbgebung, desto intensiver und Häufiger wurden Vorgefühle angegeben. N=135 From: Leckman JF, Walker DE, Cohen DJ: Premonitory urges in Tourette syndrome, Am J Psychiatry 1993; 150:98-102. From: Leckman JF, Cohen DJ: Tourette Syndrome: Tics, Obsessions, Compulsions -Developmental Psychopathology and Clinical Care. New York: John Wiley and Sons, 1998a. Im natürlichen Verlauf des TS treten meist zuerst motorische Tics im Alter von 3 bis 8 Jahren auf, d.h. oft mehrere Jahre bevor dann vokale Tics hinzukommen (Jankovic, 2001). Leckman et al In der Mehrzahl der Fälle erreicht die Symptomatik ihren höchsten Schweregrad in der ersten Hälfte der zweiten Lebensdekade, um das 12. Lebensjahr, um dann in der Adoleszenz deutlich abzunehmen. Die Angaben, wie viele jugendliche TS Patienten die Symptomatik tatsächlich verlieren, schwanken allerdings erheblich (50-80%). TS: Nicht nur Tics ADHS 35-90%, Ehrenberg 2005 Jancovic, N Engl J Med 2001 TS: Nicht nur Tics ADHS 35-90%, Ehrenberg 2005 Jancovic, N Engl J Med 2001 Häufige Begleiterkrankungen ADHS Zwangsstörungen Angststörungen (generalisierte Angststörung, soziale Phobie, Panikattacken) Affektive Störungen (Depression) Aggressive Verhaltensweisen (mangelnde Inhibition) Selbstverletzendes Verhalten Umschriebene Entwicklungsstörungen (insbesondere isolierte Schreibstörung) Tourette – nicht nur Tics Kinder mit Tourette leiden häufig unter - Impulsivität, Ablenkbarkeit, Hyperaktivität - Trotzverhalten, Argumentieren, Autoritäten infrage stellen - geringe Frustrationstoleranz, explosive Ausbrüche (“rage attacks”, siehe auch “Intermitt. Explosive disorder”) - Zwangsverhalten - Angst und Depression - Lernproblemen “When [he] has had rage attacks, they can be set off by what seems to be the most minor events. Maybe we didn’t have something he wanted to eat for supper. Maybe I asked him to brush his teeth. He would start ranting and raving and wouldn’t stop. Any attempt to cut him off would escalate even faster. It seemed that until he reached a certain point, he could not calm down. By then he was swearing at me and breaking things. He was totally out of control….. After the incident it was as if nothing ever happened. And if I tried to talk about it, he thought I was overreacted, and of course, said he didn’t do anything. Those episodes were exhausting physically and emotionally.” — A parent describing his teenager’s “rage attacks” Nicht-Wissen verzögert Diagnose ! „dem Kind einen Namen geben“ Je früher die Diagnose gestellt wird, desto bessere Unterstützung kann erfolgen. 314 Kinder mit Tourette Syndrom Systematische Interviews über den diagnostischen Prozess Symptombeginn war im Durchschnitt mit 3 Jahren Bei 40 % waren Tics der Vorstellungsanlass. In den anderen Fällen ADHS, Zwang oder Verhaltensprobleme. Durchschnittsalter des Beginns der Tic-Symptomatik 5,5 Jahre, Wenn weitere Komorbiditäten bestanden, traten Tics im Durchschnitt Deutlich früher auf (0-3,5 Jahren). Das Durchschnittsalter bei Diagnose lag bei 8,9 Jahren. Durchschnittlich lagen von Beginn der Symptome bis zur Diagnose 5,3 Jahre. Zwischen Auftreten der ersten Tics und Diagnose ~ 2,8 Jahre. Mol Debes NM, Hjalgrim H, Skov L, Neuropediatrics 2008 Gliederung Gliederung I. Historie und Epidemiologie II. Definition und Symptomatik III. Pathophysiologie IV. Therapie - Psychoedukation (Familie, Umfeld) - psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe) - Psychotherapie (Verhaltens- vs. supportiver Therapie) - medikamentöse Therapie Genetik, Epigenetik, Risikofaktoren Familienanamnese: Verwandte 1. Grades haben ein Risiko von 5-15%, Irgendeine Form von Tic (transiente, milde) 10-20% Prä- und perinatale Anamnese: Psychosozialer Stress in der Schwangerschaft, Nikotin, Intrauterine Wachstumsretardierung Frühgeburtlichkeit, Hypoxie perinatal (Apgar-Index) Stress, Stresssensitivität Immunologische Dysregulation Infektionen z.B. PANDAS (Pediatric Autoimmune Neuropsychiatric Disorders Associated with Streptococcal Infections) *beta-hämolysierende Streptokokken der Gruppe A (GABHS) EIN SATZ ZU PANDAS Es ist strittig, ob bei Patienten mit Tics, bei denen zuvor in engem zeitlichem Zusammenhang ein Streptokokken-Infekt nachgewiesen wurde, die Diagnose PANDAS („Pediatric Autoimmune Neuropsychiatric Disorders Associated with Streptococcal Infections") gestellt werden sollte. Bis zum Vorliegen der Ergebnisse einer vor kurzem begonnenen europaweiten Studie, sollte von einer Langzeitantibiotikagabe oder einer immunsuppressiven Therapie Abstand genommen werden. 22 Studien inkludiert, alle mit methodischen Schwächen, Alle retrospektiv, alle klinische Stichproben The majority of the results for demographic factors of parents, including age, education, socioeconomic status, and marital status, revealed no significant association with the onset of TS, or the presence of comorbidity. Many factors were reported to be significantly associated with the onset of TS, the presence of comorbidity and symptom severity, but the most consistently reported factors were maternal smoking and low birth weight. Pathogenese Erhöhte dopaminerge Aktivität im Striatum Dysfunktion im kortiko-striato-palido-thalamo-kortikalen Regelkreis (Basalganglien/Motorkortex)/ inhibitorischer Funktionsdefizit der Basalganglien Störung der subkortikalen Eigenhemmung und der automatischen Bewegungskontrolle Reduzierter Serotoninspiegel? Neuner & Ludolph 2009 Ludolph, Andrea G.; Roessner, Veit; Münchau, Alexander; Müller-Vahl, Kirsten Tourette-Syndrom und andere Tic-Störungen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter Dtsch Arztebl Int 2012; 109(48): 821-8; DOI: 10.3238/arztebl.2012.0821 Folgen in der weiteren Entwicklung: „Meine Lehrerin wollte mir nicht glauben, dass ich das Kopf-Wackeln nicht absichtlich mache. Und dann musste ich mich während der Unterrichtsstunde mit einem Buch auf dem Kopf hinstellen und für jedes Mal, dass das Buch herunterfiel, hat sie mir eine Seite Strafarbeit gegeben…“ (Bericht eines 12jährigen Schülers mit Tourette-Syndrom, 21. Jahrhundert) „Das ist so schlimm, ich geh da nicht mehr hin…..“ (13jähriger Junge, Schulverweigerung bei massiver Exazerbation seiner vokalen Tics mit stark ausgeprägter Koprolalie) „Ich dachte, ich bin das gestörteste Kind auf der ganzen Welt….“ Angst und Scham als Folgen Berechtigte Angst vor Sport aufgrund der Tics und Schamgefühle sind sehr häufig bei Kindern mit chronischen Tic-Störungen und TS zu finden. Personen mit Tic-Störungen erfahren oft soziale Ausgrenzung, da die Tic-Symptomatik von anderen Personen meist als sehr fremd und bizarr wahrgenommen wird und Betroffene demzufolge abgelehnt werden (Marcks 2007). Daher kann es bei entsprechenden Umständen und ungenügender Aufklärung der Umgebung sekundär auch zu ausgeprägten Angststörungen reaktiv zur Tic-Symptomatik kommen, für die möglicherweise auch zusätzlich eine genetische Disposition besteht (Coffey 2000). Ludolph & Kassubek, Ticstörungen und Tourette Syndrom. In: Adoleszenzpsychiatrie: Psychiatrie und Psychotherapie der Adoleszenz und des jungen Erwachsenenalters von Jörg M. Fegert, Annette Streeck-Fischer, und Harald J. Freyberger. 2009 Gliederung Gliederung I. Historie und Epidemiologie II. Definition und Symptomatik III. Pathophysiologie IV. Therapie - Psychoedukation (Familie, Umfeld) - psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe) - Psychotherapie (Verhaltens- vs. supportiver Therapie) - medikamentöse Therapie Behandlungsindikation Tics subjektiver Leidensdruck • Schmerzen • Schlafprobleme sozialer Rückzug • Stigmatisierung / Hänseleien (real, vermutet) • Kraftlosigkeit Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit • direkt durch Tics (Schreiben, Lesen etc.) • durch sekundäre Folgen (Ausschluss aus Unterricht etc.) Prof. Veit Rössner, Dresden, Juni 2014 Therapie - Psychoedukation (Familie, Umfeld) Psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe) Medikation Psychotherapie (Verhaltens- vs. supportiver Therapie) Tiefe Hirnstimulation offensive dezidierte Aufklärung über TS Einstellung zu erkrankten Personen verändert sich soziale Ausgrenzung wird minimiert Folgeerscheinungen wie soziale Phobie der Patienten treten nicht auf oder sind deutlich geringer. Marcks et al. (2007) Frühere klinische Ratschläge Aktuelle klinische Ratschläge Tics ignorieren Tics mehr gewahr werden Tics können nicht kontrolliert werden lernen mit Tics umzugehen nicht bestrafen Erfolgreiches Management belohnen Verhaltenstherapie hilft nicht Einsatz von verhaltenstherapeut. Strategien Nicht versuchen Tics zu unterdrücken Tics können durch fokussierte Aufmerksamkeit kontrolliert werden, konkurrierende Verhaltensantworten helfen dem Vorgefühl zu widerstehen und so den negativen Verstärkungskreislauf zu durchbrechen. Unterdrückung verschlechtert die Tics bis sie „explodieren“ Tics können erfolgreich durch Verhaltensstrategien ohne Rebound Phänomen kontrolliert werden Ticunterdrückung verschlimmert das Vorgefühl Das Vorgefühl wird sich vermindern Es entwickeln sich neue Tics, wenn Tics unterdrückt werden Tics entwickeln sich nicht aus Ticunterdrückung oder Verhaltensstrategien Tics haben keine psychische Bedeutung, es handelt sich um eine neurologische Störung Tics können kommen und gehen, in Assoziation mit Stress, Aufregung, Veränderungen von Umweltfaktoren und/oder Aufmerksamkeit durch andere Personen. Nach Bennett et al., 2013 Verhaltenstherapie Habit reversal training = Gewohnheitsumkehrtraining (Azrin und Nunn, 1973, primär für Nägelkauen, Daumenlutschen, Trichotillomanie) - Wahrnehmungstraining - Training im Umgang mit unvorhersehbaren Ereignissen - Entspannungstraining - Identifizieren und Erlernen eines Alternativverhaltens - Automatisierung und Generalisierung dieses Alternativverhaltens Verhaltenstherapie Exposure and response prevention (Verdellen et al., 2004) Zielt darauf ab den Automatismus zu durchbrechen, dass einem Vorgefühl („premonitory urge“) auch immer ein Tic folgen muss. Comprehensive Behavioral Intervention for Tics (CBIT) training the patient to be more aware of tics, training patients to do competing behavior when they feel the urge to tic, and making changes to day to day activities in ways that can be helpful in reducing tics. (Piacentini, Woods, Scahill,…. Walkup, JAMA 2010) Leicht bis mittelgradig betroffene Kinder/Jugendliche, Effektstärke 0,68 Medikamentöse Therapieoptionen bei Tourette Syndrom Die Pharmakotherapie des TS wird in verschiedenen Altersgruppen und auch in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich gehandhabt. Leitlininien KJP Deutschland (abgelaufen): „Pharmakotherapie: (ein einziges offiziell zugelassenes Medikament zur Behandlung von Ticstörungen ist Haloperidol. Wegen dessen deutlicher unerwünschter Arzneimittelwirkung ist es schon lange nur als Mittel dritter Wahl eingeordnet; d.h. aber, dass i.d.R. eine medikamentöse Behandlung der Ticstörungen "off-label" im Sinne eines individuellen Heilversuchs stattfinden muss.)….. „Medikament der ersten Wahl ist Tiaprid (II)….“ Risperidon (0,5-4 mg/Tag) kann als Mittel zweiter Wahl gelten, während Haloperidol (0,25-4 mg/Tag) und Pimozid (0,5-4 mg/Tag) Medikamente dritter Wahl (II) Leitlinien Neurologie 4. überarbeitete Auflage 10/2008 Medikament erster Wahl Tiaprid (50-100 mg zu Beginn bis 600-800 mg) Sulpirid (3-6x 200 mg/d) oder Risperidon (2x 1mg/d, 4mg/d) Leitlinien Psychiatrie Leitlinien für Tic-Störungen liegen nicht vor. Britisches National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) hat bislang keine Behandlungsempfehlung für TS ausgesprochen. In den USA und Kanada wird niedrig dosiert Clonidin und Guanfacin auch im Kindesalter empfohlen. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie, Entwicklungsstufe S1, Stand 09/12 Pharmakotherapie Die Studienlage zur medikamentösen Therapie von TicStörungen ist mangelhaft. So liegen fast nur Fallberichte, offene unkontrollierte oder randomisierte Studien mit geringer Patientenzahl vor. Direkte Vergleiche der einzelnen Substanzen fehlen weitgehend. Eindeutige Therapieempfehlungen lassen sich aus den verfügbaren Daten nicht ableiten. Daher richten sich die Behandlungsempfehlungen in nicht geringem Maße nach persönlichen Erfahrungen, regionaler Verfügbarkeit, Behandlungskosten und Zulassungsstatus. Die medikamentöse Behandlung führt oft zu einer Tic-Reduktion um etwa 50 %, nicht aber zur vollständigen Symptomfreiheit. Medikamentöse Therapieoptionen bei Tourette Syndrom Dopamin modulierende Psychopharmaka: Dopaminantagonisten Tiaprid (Benzamid) Pimozid Risperidon Olanzapin Clozapin Quetiapin Ziprasidon Andere Benzamide: Sulpirid, Amisulpirid, Metoclopramid typische Neuroleptika: Haloperidol Ludolph & Kassubek, Ticstörungen und Tourette Syndrom. In: Adoleszenzpsychiatrie: Psychiatrie und Psychotherapie der Adoleszenz und des jungen Erwachsenenalters von Jörg M. Fegert, Annette Streeck-Fischer, und Harald J. Freyberger. 2009 Medikamentöse Therapieoptionen bei Tourette Syndrom Dopamin modulierende Psychopharmaka (Forts.): Dopaminagonisten Pergolid, Amantadin, Selegilin, Talipexol Pramipexol in klin. Studie negativ (Kurlan et al., 2012)) Aripiprazol Noradrenerg wirksame Substanzen: Clonidin (alpha-2 Adrenorezeptoragonist) Guanfacin (Intuniv®) Weitere Atomoxetin Stimulanzien Ludolph & Kassubek, Ticstörungen und Tourette Syndrom. In: Adoleszenzpsychiatrie: Psychiatrie und Psychotherapie der Adoleszenz und des jungen Erwachsenenalters von Jörg M. Fegert, Annette Streeck-Fischer, und Harald J. Freyberger. 2009 Ludolph, Andrea G.; Roessner, Veit; Münchau, Alexander; Müller-Vahl, Kirsten Tourette-Syndrom und andere Tic-Störungen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter Dtsch Arztebl Int 2012; 109(48): 821-8; DOI: 10.3238/arztebl.2012.0821 Medikament erster Wahl: Tiaprid (50-100 mg zu Beginn bis 600-800 mg) Risperidon (2x 1mg/d, 4mg/d) oder Sulpirid (3-6x 200 mg/d) Aripiprazol (0,5-20mg/d) // Dronabinol // Botulinumtoxin ADHS ist die häufigste Komorbidität. Psychostimulanzien können bei manchen Kindern Tics verstärken, bei anderen zeigt sich eine positive Wirkung auch auf die Tic-Symptomatik. Rössner et al., Eur Child & Adolesc Pychiatry 2011; Verdellen et al., Eur Child & Adolesc Pychiatry 2011; Neuner & Ludolph, Fortschr Neurol Psychiatr. 2011; Ludolph Klinikmanual KJP 2010; Neuner & Ludolph, Nervenarzt 2009 Aripiprazol Rezeptorprofil • Hohe Affinität für D2-, D3-, 5-HT1A, 5-HT2A-Rezeptoren • Geringe Affinität zu Alpha1-adrenergen Rezeptoren • Geringe Affinität zu H1-Rezeptoren • Keine Affinität zu muskarinergen ACh-Rezeptoren Aufgrund seines alpha1-adrenergen Rezeptorantagonismus kann Aripiprazol die Wirkung bestimmter antihypertensiver Wirkstoffe verstärken. Pharmakokinetik Aripiprazol Maximale Plasmaspiegel wird innerhalb von 3 – 5 Stunden nach der Einnahme erreicht. Bioverfügbarkeit: 87% nach oraler Einnahme. Die mittlere Eliminationshalbwertszeit liegt bei annähernd 75 Stunden für Aripiprazol bei extensiven Metabolisierern über CYP2D6 und bei annähernd 146 Stunden bei „schlechten“ (=„poor“) Metabolisierern über CYP2D6. Steady State: 14 Tage nach Beginn der Erhaltungsdosis oder Wechsel der Dosis. Gleichzeitige Nahrungsaufnahme hat keinen Einfluss. Weitere Substanzen zur Ticbehandlung Clonidin = alpha 2A Rezeptor Agonist 2-[(2,6-Dichlorphenyl)imino]imidazolidin (Antihypertonikum, Migräne-/Glaukom-Mittel, Alkohol-/OpiatEntzugsmittel) - Alpha II-adrenerger Agonist, Stimulation präsynaptischer Autorezeptoren, Hemmung der Noradrenalinfreisetzung, Erniedrigung des Serotoninspiegels, gesteigerter Umsatz von Dopamin Inhibierung des Locus coeruleus (Dos.: 3-4x/d, Beginn 0,05mg; empfohlene Höchstdosis0,003-0,006mg/kg/d) NW.: Müdigkeit, Schwindel, Hypotonie; weniger wirksam als AP Guanfacin = selektiver alpha 2A Rezeptor Agonist, Intuniv® (extended release, Shire), von der US amerikan. Zulassungsbehörde FDA zugelassen für die Behandlung der ADHS als Adjuvans zur Stimulantientherapie bei Kindern und Jugendlichen 6-17 Jahre Ropinirol = Dopaminagonist, eine offene Studie positiv (eine klinische, doppelblinde, placebo-kontrollierte Studie mit Pramipexol, ebenfalls ein DA-Agonist, verlief komplett negativ). Cannabinoide - Seit mehreren tausend Jahren im Orient medizinisch eingesetzt - In Zentraleuropa erstmals im 11. Jahrhundert in Medizinischen Büchern erwähnt - im 16. und 17. Jahrhundert gg. Schmerz, Entzündung, Gelenkbeschwerden eingesetzt - 1839 Wiedereinführung aus Indien durch Dr. W. O´Shaughnessy - in der 2. Hälfte d. 19. Jahrhunderts dann gg. Muskelspasmen, Menstruationsbeschwerden, Rheumatismus, Tetanus, Epilepsie, Wehenmittel, Sedativum - 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts: Ersatz durch chemisch stabilere Substanzen, - in den 60er und 70er Jahren großer Anstieg des illegalen Konsums - in den 90er Jahren wieder vermehrt medizinisches Interesse nach Entdeckung des endogenen cannabinoiden Rezeptorensystems und seiner Liganden (Endorphine, Neuropeptide) Cannabinoide Applikation beeinflusst die Pharmakokinetik: oral, Inhalation, rektal, sublingual Heute Einsatz bei - Chemotherapiepatienten - AIDS-Patienten (Steigerung von Appetit, Gewichtszunahme) - Studien bei MS-Patienten, Verbesserung der Blasenfunktion - Schmerzsyndrome - L-Dopa induzierte Dyskinesien bei Parkinson-Patienten Zulassung ausschließlich für MS Patienten mit schmerzhaften Muskelkrämpfen (Spastik), die anderweitig nicht therapierbar sind! Delta 9-tetrahydrocannabinol (THC) (Dronabinol®) is effective in the treatment of tics in Tourette syndrome: a 6-week randomized trial. - Randomisierte placebo-kontrollierte Doppelblindstudie mit 24 TS-Patienten Behandlung über 6 Wochen mit 5-10 mg THC (Initialdosis bei 2,5 mg, alle vier Tage Erhöhung um 2,5 mg) - Wöchentliche Untersuchungen: auf verschiedenen Skalen signifikante Verbesserung der Tic-Symptomatik aber auch von Verhaltensproblemen (ADHS-Symptomatik) Mueller-Vahl et al.,J Clin Psychiatry. 2003 Apr;64(4):459-65 Neue Studie mit Nabiximol (Sativex®) zurzeit beantragt. Unterschied zu Cannabinol (Dronabinol®): Mundspray, nicht synthetisch, Mischpräparat, THC und Cannabidiol (CBO) Behandlung von Tics und ADHS ADHS 35-90%, Ehrenberg 2005 Jancovic, N Engl J Med 2001 Treatment of ADHD in children with tics: a randomized controlled trial. Tourette's Syndrome Study Group. BACKGROUND: The treatment of children with attention deficit hyperactivity disorder (ADHD) and Tourette syndrome (TS) has been problematic because methylphenidate (MPH)--the most commonly used drug to treat ADHD--has been reported to worsen tics and because clonidine (CLON)--the most commonly prescribed alternative--has unproven efficacy. METHODS: The authors conducted a multicenter, randomized, double-blind clinical trial in which 136 children with ADHD and a chronic tic disorder were randomly administered CLON alone, MPH alone, combined CLON + MPH, or placebo (2 x 2 factorial design). Each subject participated for 16 weeks (weeks 1-4 CLON/placebo dose titration, weeks 5-8 added MPH/placebo dose titration, weeks 9-16 maintenance therapy). RESULTS: 37 children were administered MPH alone, 34 were administered CLON alone, 33 were administered CLON + MPH, and 32 were administered placebo. Treatment of ADHD in children with tics: a randomized controlled trial. Tourette's Syndrome Study Group. For our primary outcome measure of ADHD (Conners Abbreviated Symptom Questionnaire--Teacher), significant improvement occurred for subjects assigned to CLON (p < 0.002) and those assigned to MPH (p < 0.003). Compared with placebo, the greatest benefit occurred with combined CLON + MPH (p < 0.0001). CLON appeared to be most helpful for impulsivity and hyperactivity; MPH appeared to be most helpful for inattention. The proportion of individual subjects reporting a worsening of tics as an adverse effect was no higher in those treated with MPH (20%) than those being administered CLON alone (26%) or placebo (22%). Compared with placebo, measured tic severity lessened in all active treatment groups in the following order: CLON + MPH, CLON alone, MPH alone. Sedation was common with CLON treatment (28% reported moderate or severe sedation), but otherwise the drugs were tolerated well, including absence of any evident cardiac toxicity. CONCLUSIONS: Methylphenidate and clonidine (particularly in combination) are effective for ADHD in children with comorbid tics. Prior recommendations to avoid methylphenidate in these children because of concerns of worsening tics are unsupported by this trial. Neurology. 2002 Feb 26;58(4):527-36. Meta-analysis: treatment of attention-deficit/hyperactivity disorder in children with comorbid tic disorders. Bloch MH, Panza KE, Landeros-Weisenberger A, Leckman JF. Objective: The Food and Drug Administration currently requires the package inserts of most psychostimulant medications to list the presence of a tic disorder as a contraindication to their use. Approximately half of children with Tourette’s syndrome experience comorbid attention-deficit/hyperactivity disorder (ADHD). We sought to determine the relative efficacy of different medications in treating ADHD and tic symptoms in children with both Tourette’s syndrome and ADHD. Method: We conducted a PubMed search to identify all double-blind, randomized, placebo-controlled trials examining the efficacy of medications in the treatment of ADHD in the children with comorbid tics. We used a random effects metaanalysis with standardized mean difference as our primary outcome to estimate the effect size of pharmaceutical agents inthe treatment of ADHD symptoms and tics. Results: Our meta-analysis included nine studies We assessed the efficacy of six medications involving 477 subjects. dextroamphetamine, methylphenidate, alpha-2 agonists (clonidine and guanfacine), desipramine, atomoxetine, and deprenyl. Methylphenidate, alpha-2 agonists, desipramine, and atomoxetine demonstrated efficacy in improving ADHD symptoms in children with comorbid tics. Alpha-2 agonists and atomoxetine significantly improved comorbid tic symptoms. Although there was evidence that supratherapeutic doses of Dextroamphetamine worsens tics, there was no evidence that methylphenidate worsened tic severity in the short term. Conclusions: Methylphenidate seems to offer the greatest and most immediate improvement of ADHD symptoms and does not seem to worsen tic symptoms. Alpha-2 agonists offer the best combined improvement in both tic and ADHD symptoms. Atomoxetine and desipramine offer additional evidence-based treatments of ADHD in children with comorbid tics. Supratherapeutic doses of dextroamphetamine should be avoided. J. Am. Acad. Child Adolesc. Psychiatry, 2009;48(9):884-893. Atomoxetin Atomoxetine treatment in children and adolescents with ADHD and comorbid tic disorders. Allen AJ, Kurlan RM, Gilbert DL, Coffey BJ et al, Lilly Research Laboratories, Indianapolis, IN 46285, USA. [email protected] CONCLUSIONS: Atomoxetine did not exacerbate tic symptoms. Rather, there was some evidence of reduction in tic severity with a significant reduction of attention deficit/hyperactivity disorder symptoms. Atomoxetine treatment appeared safe and well tolerated. Neurology. 2005, 65(12):1941-9 Atomoxetine treatment of ADHD in children with comorbid Tourette syndrome OBJECTIVE: This study examines changes in severity of tics and ADHD. Patients were randomly assigned to double-blind treatment with placebo (n = 56) or atomoxetine (0.5-1.5 mg/kg/day, n = 61) for approximately 18 weeks. RESULTS: Atomoxetine subjects showed significantly greater improvement on ADHD symptom measures. Treatment was also associated with significantly greater reduction of tic severity on two of three measures. Significant increases were seen in mean pulse rate and rates of treatment-emergent nausea, decreased appetite, and decreased body weight. No other clinically relevant treatment differences were observed in any other vital sign, adverse event, laboratory parameter, or electrocardiographic measure. CONCLUSION: Atomoxetine is efficacious for treatment of ADHD and its use appears well tolerated in ADHD patients with comorbid TS. Spencer TJ, et al. J Atten Disord. 2008 Jan;11(4):470-81Epub 2007 Oct 12 Tiefenhirnstimulation • Therapierefraktäres TS • Lokalisationen: A) mediale Teil des Thalamus B) Globus pallidus internus C) anteriore Schenkel der Capsula interna/ Nucleus accumbens • OP-Risiko • Sprachveränderung Ludolph, Andrea G.; Roessner, Veit; Münchau, Alexander; Müller-Vahl, Kirsten Tourette-Syndrom und andere Tic-Störungen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter Dtsch Arztebl Int 2012; 109(48): 821-8; DOI: 10.3238/arztebl.2012.0821 „Jedes Verständnis eines solchen Syndroms wird unser Verständnis der allgemeinen menschlichen Natur ungeheuer vertiefen… Ich kenne kein anderes Syndrom, das ähnlich interessant wäre.“ Alexander Romanowitsch Lurija (Begründer der Neuropsychologie, 1902-1977) an Oliver Sacks (1933-2015) Gilles De La Tourette Syndrom Homepage Deutschland Wenn einer aus der Reihe tanzt, ist die Reihe besser zu sehen. Das Außergewöhnliche, Andersartige und Besondere gehört zum Leben unabdingbar und macht es erst lebbar - erst lebendig! www.tourette.de C. Lührs da Silva Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Universitätsklinikum Ulm