Medikamentöse Behandlung von Tic-Störungen Alexander Häge Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Zentralinstitut für seelische Gesundheit Mannheim Ulm, 25.09.2010 Tics - Definition • plötzliche, schnelle, sich wiederholende, unrhythmische, motorische Bewegungen und/oder Lautäußerungen, die keinem offensichtlichen Zweck dienen • als unvermeidbar empfunden • entweder einzelne Muskeln oder funktionell zusammenhängende Muskelgruppen • Unterscheidung nach ihrer Qualität (motorisch/vokal) und ihrer Komplexität Unterscheidungen Motorisch Vokal Einfach Blinzeln, Naserümpfen, Schulterzucken, Kopfwerfen Räuspern, Schnalzen, Grunzen, Piepsen Komplex Hüpfen, Klatschen, Berühren, Stampfen, Grimassieren Wörter, Sätze, Kurzaussagen Besonderheiten Echopraxie, Kopropraxie, Touching Echolalie, Koprolalie, Palilalie komplexe motorische Tics: – Kopropraxie (obszöne Gesten) – Echopraxie (Imitieren von Bewegungen anderer) – Touching (Berührungs-Tics) komplexe vokale Tics: – Koprolalie (das Ausrufen obszöner Wörter) – Echolalie (Nachsprechen von Wörtern anderer) – Palilalie (Wiederholen eigener Silben, Wörter) • im Gegensatz zu anderen Bewegungsstörungen bei Tics häufig "Vorgefühl" - sensomotorische Vorboten (z. B. Muskelanspannung, Kribbelgefühl, Kitzeln, Stechen, Jucken) • Ausführen des Tics verschafft vorrübergehende Erleichterung – die als unangenehm empfundenen Wahrnehmungen werden kurzzeitig abgemildert • Die Mehrzahl, insbesondere der erwachsenen Patienten ist in der Lage, die Tics für einen gewissen Zeitraum willentlich zu unterdrücken, was häufig zu einer Zunahme der inneren Anspannung mit nachfolgend kompensatorischen Anstieg der Ticfrequenz führt (Rebound Phänomen) • Im Schlaf ist die Ausprägung der Tics meist sehr gering. Klassifikation nach ICD-10 F95.0 Vorübergehende Ticstörung (Dauer < 12 Monate) F95.1 Chronische motorische oder vokale Ticstörung (Dauer > 1 Jahr, nur motorische oder nur vokale Tics) F95.2 kombinierte vokale und multiple motorische Tics (Gilles de la Tourette-Syndrom, Tourette-Syndrom) F95.8/9 Sonstige / nicht näher bezeichnete Ticstörung (alle klinisch bedeutsamen Tics, die die Kriterien nach ICD-10 nicht komplett erfüllen, z.B. wenn der Beginn nach Vollendung des 18. Lebensjahres liegt) Verlauf • Per definitionem bestehen Tics im Rahmen einer transienten Tic-Störung < 1 Jahr und remittieren spontan und dauerhaft. • Alle anderen Tic-Störungen verlaufen chronisch und persistieren. • Der Verlauf ist durch erhebliche spontane Fluktuationen gekennzeichnet. • Beeinflussung durch: – Emotionale Beteiligung (Ärger, Angst, Freude), Stress, Ermüdung (oft deutliche Zunahme) – Ruhe, Entspannung, Konzentration, Abklenkung, Cannabis- und Alkoholeinfluss (meist Verminderung) Verlauf • Altersabhängigkeit mit stärkster Ausprägung der Tics zwischen dem 10. und 14. Lebensjahr • Ältere Kinder können das Ausführen der Tics häufig für eine gewisse Zeit (Minuten bis Stunden) willkürlich verzögern oder unterdrücken (meist mit entspr. Rebound Phänomen) • Zum Ende der Pubertät und im Erwachsenenalter kommt es fast immer zu einer spontanen Verminderung der Tics, so dass mehrheitlich auch beim Tourette-Syndrom (TS) von einer günstigen Prognose ausgegangen werden kann. • Bis heute ist strittig, ob chronische Tic-Störungen (einschließlich Tourette-Syndrom) vollständig ausheilen können. Epidemiologie • Prävalenz von Tic-Störungen bei Kindern und Jugendlichen Vorübergehende Ticstörung 4-12% Chronische Ticstörung 3-4% Tourette-Syndrom kleiner 1% (Prävalenzraten variieren entsprechend zugrunde gelegten Kriterien: Population, Diagnosekriterien etc.) • Nach Studienlage (2008): Prävalenz des Tourette Syndroms (insgesamt) zwischen 3,5/1.000 und 7,2/1.000. • Aus nicht geklärter Ursache TS bei Jungen 3-4 mal häufiger als bei Mädchen Ätiologie und Pathophysiologie • • Ursache des Tourette-Syndroms: Störung in kortiko-striatothalamo-kortikalen Regelkreisen Zahlreiche bildgebende Untersuchungen: – Veränderungen insbesondere im frontalen Kortex, in den Basalganglien und dem limbischen System – niedriges Volumen der Basalganglien und des corpus callosum, verringerter Glucosemetabolismus des präfrontalen und somatosensomotorischen Cortex, der Insula und des Temporallappens • Derzeit ist unklar, ob beim Tourette-Syndrom primär von einer Basalganglienerkrankung oder aber von einer Störung des frontalen Kortex auszugehen ist (Bohlhalter et al. 2006, Leckman et al. 2006). Ätiologie und Pathophysiologie • Pathophysiologisch: Beteiligung des dopaminergen Systems (sowohl des präsynaptisch gelegenen Dopamintransporters als auch postsynaptischer Dopaminrezeptoren) • Zusätzlich konnten bei Tourette-Syndrom-Patienten Veränderungen im serotonergen System nachgewiesen werden (Müller-Vahl et al. 2005). • Studien mit transkranieller Magnetstimulation deuten auf eine erhöhte Exzitabilität motorischer Regelkreise und eine gestörte sensomotorische Integration hin (Ziemann et al. 1997, Moll et al. 2001). Ätiologie und Pathophysiologie • Familien- und Zwillingsstudien lassen darauf schließen, dass dem Tourette-Syndrom eine polygenetische Vererbung mit unvollständiger und variabler Penetranz zugrunde liegt. • Verschiedene, als krankheitsrelevant beschriebene Genveränderungen konnten in Folgestudien nicht bestätigt werden, so dass weiterhin kein geeigneter Test für die Klinik zur Verfügung steht. • Neben genetischen Veränderungen sind zur Krankheitsmanifestation vermutlich auch nichtgenetische Faktoren relevant. Ätiologie und Pathophysiologie Annahme: • Tic-Störungen - analog der Chorea Sydenham – immunvermittelte Streptokokken-Folgeerkrankungen (pediatric autoimmune neuropsychiatric disorder associated with streptococcal infection, PANDAS) (Infekt durch beta-hämolysierende Streptokokken der Gruppe A, nachfolgend autoimmunologischer Prozess mit Schädigung von Neuronen des Putamens und Nucleus caudatus) PANDAS Kriterien • • • • • Tics oder Zwangsstörung Beginn vor der Pubertät Episodischer Verlauf mit abruptem Beginn oder dramatischer Symptomverschlechterung Symptombeginn oder –zunahme in engem zeitlichen Zusammenhang mit Streptokokkeninfekt Neurologische Auffälligkeiten • • • Fraglich ob die Diagnose „PANDAS“ als eigenständiges Krankheitbild gerechtfertigt ist Untersuchungen mit dem Ziel, spezielle AK im Gehirn von Patienten mit Tourette-Syndrom nachzuweisen bzw. durch die Verabreichung solcher AK dem Tourette-Syndrom ähnliche Störungsbilder bei Versuchstieren hervorzurufen, lieferten keine überzeugenden Befund Annahme einer autoimmunologischen Ursache für das Störungsbild wird aktuell eher verlassen (s. Leitlinien Neurologie 2008) Ätiologie und Pathophysiologie Sekundäre Tics: – selten – im Rahmen anderer Erkrankungen (etwa postenzephalitisch, posttraumatisch, bei Neuroakanthozytose, M. Wilson, M. Huntington) – medikamentös induziert (Serotonin-Wiederaufnahmehemmer wie Paroxetin, Lamotrigin, Carbamazepin) – Anamnese und neurologischer Untersuchungsbefund mit zahlreichen, für das TS untypischen Befunden wie ungewöhnlichem Verlauf mit spätem Beginn, fehlenden Fluktuationen und weiteren Hyperkinesen (wie Dystonie, Chorea) Komorbidität • ADHS: • bei ca. 40-60% der Patienten mit einer Tic-Störung • tritt häufig vor Ausbruch der Tic-Störung in der Vorschulzeit auf • Zwangsstörungen • 40-70% der Patienten mit TS • gleichzeitig Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen • Unterscheidung von Zwangshandlungen und komplexen Tics oft sehr schwierig • • • • • Angststörungen 25-40% Depressive Symptome ca. 50% Lernschwierigkeiten leichte neurologische Auffälligkeiten Schwierigkeiten in der Eltern-Kind-Beziehung Familiäre Reaktion/ Interaktion vor Diagnosestellung wird die Störung oft als Erziehungsfehler oder Marotte interpretiert Die Familie kann mit den Verhaltensweisen des Kindes nichts anfangen und betrachtet das Kind als Störenfried Die Eltern reagieren häufig mit Angst, Beschämtheit, Ärger, Strafen, Rückzug Das Kind selbst fühlt sich unverstanden, isoliert, zieht sich immer mehr zurück und fühlt sich unerklärlichen inneren Vorgängen ausgesetzt Erleichterung mit Diagnosestellung, aber auch Schuld- und Schamgefühle für bislang gezeigte Reaktionen der Eltern besseres Verständnis des Kindes gegenüber seiner Krankheit Diagnose eines TouretteSyndroms • Tourette-Syndrom ist durch das kombinierte, aber nicht unbedingt gleichzeitige Auftreten von multiplen motorischen und mindestens einem vokalen Tic gekennzeichnet. • Der Beginn liegt typischerweise zwischen dem 6. und 8. Lebensjahr (nach DSM IV-TR vor dem 18. Lebensjahr). • • Anfangs bestehen in aller Regel geringe einfache motorische Tics. Vokale Tics treten oft erst 2-3 Jahre später auf. • Spontane Fluktuationen sind so charakteristisch für Tics, dass sie ein obligates Diagnosekriterium darstellen. • Es wird keine besondere Schwere der Tics oder das Vorkommen komplexer Tics (wie etwa eine Koprolalie) gefordert. Diagnose eines TouretteSyndroms • Ein Tourette-Syndrom ohne jegliche Komorbiditäten ist vergleichsweise selten und tritt nur bei etwa 12% aller Patienten auf (Freeman et al. 2000). • Es wird mehrheitlich begleitet von: – – – – Verhaltensauffälligkeiten wie ADHS Zwangsstörung Depression Angststörung – autoaggressiven Handlungen • Da diese Symptome den Grad der psychosozialen Beeinträchtigung wesentlich mitbestimmen können und ggf. behandlungsbedürftig sind, sollte gezielt danach gefragt werden. Interventionsmethoden medikamentöse Behandlung Therapie - allgemein Psychoedukation ist der erste Behandlunsschritt: • Aufklärung und Beratung (auch der Eltern und des unmittelbaren sozialen Umfeldes) . • Selbsthilfegruppen bieten Austausch, Erhalt von Fachinformationen, gegenseitige Unterstützung, tragen zur Überwindung der eigenen Isolation bei und helfen, ohne professionelle Hilfe Lösungen zu finden. • Das Angebot der Tourette-Selbsthilfegruppe (TouretteGesellschaft Deutschland e. V., TGD) stellt für viele Patienten eine wichtige Unterstützung dar: – www.tourette.de – www.tourette-gesellschaft.de Therapie - allgemein Eine Intervention erfolgt nicht zwingend, ihre Durchführung hängt ab von den (psychosozialen) Beeinträchtigungen des Patienten: – – – – – Art und Ausprägung der Tics Subjektive Belastung psychosoziale Entwicklung zwischenmenschliche Beziehungen Fehlen hinreichender Selbstkontroll- und Bewältigungsmechanismen Therapie - allgemein • Die Entscheidung eines Patienten gegen eine Behandlung ist akzeptabel, da nach heutigem Kenntnisstand: – alle verfügbaren Therapien weder die Ursache noch die Prognose der Tic-Störung positiv beeinflussen (Müller-Vahl 2002, Roessner et al. 2004). • Eine Heilung ist nicht möglich! • Bei vielen Patienten mit TS stehen nicht etwa die Tics, sondern psychiatrische Komorbiditäten im Vordergrund und bedürfen vorrangig einer Behandlung. Medikamentöse Therapie • Die Studienlage zur med. Therapie von Tic-Störungen bzw. dem Tourette-Syndrom ist mangelhaft. Es liegen vornehmlich Fallberichte, offene unkontrollierte oder randomisierte Studien mit geringer Patientenzahl vor. • Eindeutige Therapieempfehlungen lassen sich daher aus den verfügbaren Daten nicht ableiten. • Direkte Vergleiche der einzelnen Substanzen fehlen weitgehend. Neuroleptika Typische hochpotente Neuroleptika: • Haloperidol, als einzige Substanz in Deutschland in dieser Indikation (ab dem 3. Lebensjahr) zugelassen (Shapiro et al. 1989, Sallee et al. 1997) , • Pimozid (The Tourette's Syndrome Study Group 1999, Sallee et al. 1997) – sind wirksam in der Verminderung von Tics – sollten wegen stärkerer Nebenwirkungen nur in Einzelfällen eingesetzt werden • in aller Regel Off-label-Verordnung Neuroleptika Atyische Neuroleptika • Benzamide Tiaprid (Klepel et al. 1988, Eggers et al. 1988) und Sulpirid (Robertson et al. 1990, George et al. 1993) haben sich in der Behandlung von Tics bewährt. Allerdings besteht für beide Medikamente in Deutschland keine Zulassung zur Behandlung von TS. • Risperidon (Bruggeman et al. 2001, Dion et al. 2002, Scahill et al. 2003) mehrere Studien mit gesicherter Wirkung. Risperidon Studien • Dion et al. 2002 – – – – – • Double-blind placebo-controlled trial 48 adolescent and adult patients with Tourette syndrom 24 risperidone (in doses of 0.5 to 6.0 mg/d), 24 placebo 8 weeks treatment Significantly superior to placebo on the Global Severity rating of the Tourette Syndrome Severity Scale Scahill et al. 2003 – – – – Double-blind placebo-controlled trial 26 children, 8 adults 8 weeks treatment 16 patients risperidone (mean daily dose 2,5 +/- 0.85 mg/d) showed a 32% reduction in tic severity from baseline compared to 7% reduction for placebo patients (n18) Neuroleptika • zu allen anderen atypischen Neuroleptika lediglich Fallberichte oder kleine Studien: • • • Amisulprid (Fountoulakis et al. 2004) Olanzapin (Onofrj et al. 2000, Stephens et al. 2004) Quetiapin (Mukaddes u. Abali 2004) Ziprasidon Studie • Sallee et. al 2000 – placebo-controlled trial, pilot study – 28 patients aged 7 to 17 years – 56 days of treatment – Ziprasidone was initiated at a dose of 5 mg/d and flexibly titrated to a maximum of 40 mg/d – Ziprasidone was significantly more effective than placebo in reducing the Global Severity and Total Tic scores on the Yale Global Tic severity Scale. Neuroleptika • Clopazin war in einer kleinen Studie nicht wirksam und sollte wegen der möglichen schweren Nebenwirkungen (Agranulozytose) nicht eingesetzt werden (Caine et al. 1979). • Aripiprazol scheint nach ersten Erfahrungen und einer offenen Studie eine viel versprechende Behandlungsalternative darzustellen mit guter Wirkung auf Tics bei guter Verträglichkeit (Yoo et al. 2006, Davies et al. 2006). Hierarchie der Pharmakotherapie von Ticstörungen mit D2-Rezeptor-blockierenden Substanzen – auf der Grundlage der Leitlinien der DGKJPP (Rössner et al., 2008) Medikation der 1. Wahl: Tiaprid (max 1200mg/d, verteilt auf drei Gaben, Steigerung 100200mg/Woche) Medikation der 2. Wahl: Risperidon (0,5-4mg/d, 1-2 Gaben, Steigerung 0,25-0,5mg/Woche) Aripiprazol (max. 40mg/d, verteilt auf zwei Gaben, Steigerung 2,510mg/Woche) Sonderstellung bei begleitenden emotionalen Symptomen: Sulpirid (max 900mg/d, verteilt auf drei Gaben, Steigerung 100200mg/Woche) Tiaprid • Dosierung: Kinder 150-300mg/d, verteilt auf drei Gaben; einschleichende Aufdosierung in 50-100mg Schritten pro Woche • UAWs: Gewichtszunahme, Müdigkeit, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Schwindel, Prolaktinspiegelerhöhung, kaum EPS • Kontrolluntersuchungen: bis 3. Behandlungsmonat monatlich Blutbild, Kreatinin, Transaminasen, dann vierteljährlich Blutbild bzw. halbjährlich; EKG und EEG im ersten Monat kontrollieren, dann halbjährlich Puls und Blutdruck (Rössner et al.) Sulpirid • Dosierung: Kinder und Jugendliche max. 10 mg/kg/d; einschleichende Aufdosierung mit 50-100mg-Schritten pro 1-2 Tage, Verteilung auf 2-4 Gaben vor 16 Uhr (antriebssteigernd) • UAWs: Unruhe, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Schwindel, Tachykardie, Hypo-/Hypertonie, gastrointestinale Beschwerden, Gewichtszunahme, unter 300mg selten extrapyramidal-motorische UAWs, Miktionsstörungen, Prolaktinspiegelerhöhung • Kontrolluntersuchungen: Kontrolluntersuchungen: bis 3. Behandlungsmonat monatlich Blutbild, Kreatinin, Transaminasen, dann vierteljährlich Blutbild bzw. halbjährlich; EKG und EEG im ersten Monat kontrollieren, dann halbjährlich Puls und Blutdruck (Rössner et al.) Neuroleptika - allgemein • • • Alle Neuroleptika sollten einschleichend dosiert und langsam gesteigert werden bis zum Eintritt einer positiven Wirkung oder nicht tolerabler Nebenwirkungen. Die Dosierungen liegen zumeist deutlich unterhalb der Dosierungen, die in der Behandlung anderer psychiatrischer Erkrankungen gebräuchlich sind. Häufigste Nebenwirkungen: • • • • Müdigkeit Gewichtszunahme Sexualfunktionsstörungen tardive Dyskinesien unter neuroleptischer Behandlung in dieser Patientengruppe dagegen extrem selten (Müller-Vahl 2002) • Prolaktinerhöhung Alternativen zu Neuroleptika • Für weitere Substanzen (allerdings meist nur aus kleinen oder unkontrollierten Studien) Hinweise auf eine Tic reduzierende Wirkung • Bei Versagen verschiedener Neuroleptika können alternativ folgende Substanzen versucht werden (Müller-Vahl 2002, Roessner et al. 2004): – – – – – – – Clonidin, Guanfacin Dopaminrezeptor-Agonisten wie Pergolid (in niedriger Dosis) Tetrabenazin Baclofen Nikotinkaugummi, -pflaster Tetrahydrocannabinol (THC, Dronabinol) Lokale Botulinumtoxin-Injektionen (insbesondere bei dystonen Tics) Clonidin • • • • • • Alpha2-Rezeptor-Agonist In Deutschland nur Arzneistoff der dritten Wahl, da „im klinischen Alltag sowohl die Reduktion der Tic-Symptome nicht den Erwartungen aus den Studien entspricht als auch die Müdigkeit verglichen mit anderen Wirkstoffen in einer vergleichbar gut wirkenden Dosierung deutlich ausgeprägter erscheint“ (Roessner et al., 2004) Möglichkeit der Verstärkung der Symptome, paradoxe Reaktion (Kessler, 2001) Hochdosiert und/oder in Kombination mit anderen Psychopharmaka (z. Bsp. Stimulanzien) plötzliche Todesfälle n=4 (Cantwell et al., 1997) Zulassung in Deutschland für die Behandlung Tourette-Syndrom „bei unszureichender Wirkung und Verträglichkeit der bisherigen Standardtherapie“ Durch Clonidin werden Aufmerksamkeitsprobleme, Ängstlichkeit und Einschlafstörungen positiv beeinflusst (Sandor, 2003) Med. Therapie von Komorbiditäten • Begleitend bestehende Störungen werden je nach Klinik entsprechend den Empfehlungen für diese Erkrankungen behandelt. • Bei der Behandlung von Tic und Zwang oder Depression hat sich die Kombination aus Neuroleptikum und selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern bewährt. Med. Therapie von Komorbiditäten • Das Stimulans Methylphenidat, das zur Behandlung einer ADHS geeignet ist, „kann entgegen früheren Empfehlungen auch bei Patienten mit zusätzlich bestehenden Tics eingesetzt werden“ – „neuere Studien konnten zeigen, dass MPH allenfalls vorübergehend zu einer Zunahme der Tics führt“ (Gadow et al. 1999, The Tourette's syndrome study group 2002, Roessner et al. 2006) (vgl. Leitlinien Neurologie 2008) • Problematik der Einschätzung der Wirkung von Interventionen bei Tic-Störung • Fluktuierender Verlauf: Perioden mit starker Ausprägung bzw. vielen Ticsalven wechseln mit Perioden geringerer Intensität und Häufigkeit (Leckmann 2002) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit! Alternative Therapien • In den vergangenen Jahren wurden bei einer sehr kleinen Zahl von Patienten mit schwerstem, therapieresistentem TS mittels tiefer Hirnstimulation durchgeführt: • experimentell, nur in spezialisierten Zentren, bei Erwachsenen und im Rahmen von Studien • Fallberichte in geringer Zahl vielversprechende Ergebnisse nicht nur mit einer Verbesserung von Tics, sondern auch von begleitenden Verhaltensstörungen erbrachten (Mink et al. 2006) • Die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) hat sich hingegen in der Behandlung von Tics als wirkungslos erwiesen (Münchau et al. 2002, Orth et al. 2005). Psychotherapie - allgemein • • • Entspannungsverfahren und tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie sind allein in der Therapie von Tics unwirksam u.a. eingesetzt, wenn die begleitenden Störungen zu belastend sind VT: positiver Effekt bisher nur bei einem speziellen verhaltenstherapeutischen Verfahren nachgewiesen (Habit reversal training; Wilhelm et al. 2003, Döpfner u. Rothenberger 2007) VT - spontane Strategien zur willkürlichen Beeinflussung und Selbstkontrolle • Patienten können oft schon den Tic ankündigende sensorische Signale erkennen und den Tic unterdrücken. • Gelingt eine komplette Unterdrückung nicht, wird versucht, Tics durch unauffälliges soziales Verhalten zu maskieren. • Die Fähigkeit vorauslaufende sensotische Signale zu erkennen nimmt unabhängig von der Dauer der Erkrankung mit dem Alter zu Funktionelle Verhaltensanalyse 1. möglichst umfassende Beschreibung der Tic-Symptomatik (Qualität, Frequenz, Intensität etc.) 2. Unmittelbar vorausgehende und begleitende Gedanken, emotionale Befindlichkeiten und körperliche Sensationen 3. Situative Bedingungen (z. Bsp. Familiäre Stresssituationen) 4. Exploration der verschiedenen Aspekte der positiven und negativen, kurzfristigen und langfristigen Konsequenzen ( z.B. Entlastung, Scham, Schuld, Reaktionen der Umwelt) 5. Erhebung und Hinterfragen - bisheriger Selbstkontrollstrategien und Behandlungsversuche - Selbstbild - subjektives Krankheitsmodell Habit-Reversal-Training (Reaktionsumkehr) • • • Ursprünglich entwickelt, um das stereotype Verhalten von autistischen und retardierten Patienten zu behandeln (Azrin et al., 1973) In einzelnen Studien positiver Effekt durch spezielles verhaltenstherapeutisches Verfahren Habit reversal training (Wilhelm et al. 2003, Döpfner u. Rothenberger 2007) (C) Zu den Anwendungsbereichen des HRT zählen: – – – – – – – Nägelkauen Trichotillomanie Daumenlutschen nervöses Zucken von Schultern, Kopf, etc. Fingerknacken Stottern Tourette-Syndrom Habit-Reversal-Training Zu den grundlegenden Elementen zählt ein Wahrnehmungstraining , anschließend sollte eine dem Tic unvereinbare Antwort zum Einsatz kommen, um diesen zu hemmen oder zu unterbrechen. Bei strikter Anwendung der Reaktionsumkehr wurden bei einer ausgewählten Klientel Raten zwischen 55% und 95% bezüglich einer Reduktion der Tics berichtet (Peterson et al. 1994) Wesentlich für eine erfolgreiche Behandlung ist insbesondere die Therapiemotivation Habit-Reversal-Training Gliederung: 1. Awareness-Training (Wahrnehmungstraining) 2. Aufbau von Veränderungsmotivation 3. Competing-Response-Training 4. Generalisierungstraining 5. Optional: Entspannungstraining 6. Optional: Kontingenzmanagement 1. Awareness-Training • ist zur Verbesserung der Selbstwahrnehmung hinsichtlich der Tic-Symptomatik gedacht • Es besteht aus fünf Komponenten: – – – – – • • Selbst-Monitoring: Analyse der Häufigkeit der Tics response description procedure: detaillierte Beschreibung der Tics response detection procedure: frühzeitige Reaktionserkennung (Therapeut schult den Patienten in der Aufmerksamkeit, erste Zeichen der Tics zu erkennen) early warning procedure: Wahrnehmung voranlaufender sensorischer Anzeichen situation warning training: Wahrnehmung situativer Einflüsse auf das Ausmaß der Tics Die Intensität und Frequenz der Tics kann sich durch die Aufmerksamkeitsfokussierung auch verschlechtern; Effekt kann aber auch nur vorübergehend sein. Wichtig ist hierbei das Erkennen früher Anzeichen, um die Verhaltenskette schnell unterbrechen zu können. 2. Aufbau von Veränderungsmotivation • Folgende Maßnahmen werden getroffen: – Durchsprechen der negativen Auswirkungen des Verhaltens und häufige Rückmeldung und Verstärkung von Fortschritten – ausführliches Besprechen negativer Konsequenzen – Einbeziehung von Bezugspersonen – Maßnahmen sozialer Verstärkung (sollte gerade durch wichtige Bezugspersonen erfolgen) – ggf. tägliche telefonische Rückmeldung 3. Competing-ResponseTraining • • Das Training motorisch inkompatibler Reaktionen ist der zentrale Bestandteil des Trainings. Hierbei werden Muskelpartien, die dem Problemverhalten inkompatibel sind, für 1-2 Minuten angespannt. Beispiele: – Vokale Tics langsames rhythmisches Durchatmen durch die Nase – Zurückwerfen des Kopfes Isometrische Kontraktion der Nackenbeuger (Einsatz der Antagonisten) Kinn wird leicht nach unten zur Brust hin bewegt ohne den Kopf zu beugen. Augen sind geradeaus gerichtet – Naserümpfen Oberlippe etwas nach unten ziehen und Lippen zusammenpressen – Augenblinzeln Öffnen und Schließen der Augen ca. alle drei bis fünf Sekunden. Blick wird alle fünf bis zehn Sekunden langsam und intensiv nach unten gerichtet 3. Competing-ResponseTraining • Die Reaktionen werden erst im Therapiesetting eingeübt und dann allmählich in den Alltagssituationen angewendet. • Wichtig dabei sind der regelmäßige Therapeuten/PatientenKontakt und die soziale Verstärkung. (Man kann kaum zuviel loben, verstärkt wird jede Anstrengung, nicht erst der perfekte Erfolg.) 4. Generalisierungstraining Training zur Generalisierung der Behandlungseffekte auf das Verhalten im natürlichen sozialen Umfeld • • • • Es wird so lange in der Sitzung geübt, bis die entsprechende Methode beherrscht wird. Zunächst in sensu alltagskritische Situationen vorstellen. Die Anwendung der Reaktionen wird in kritischen Alltagssituationen (möglichst alle relevanten) schrittweise eingeübt. Ggf. sollten zusätzliche Anforderungen/ Belastungen eingebaut werden, z.B. Stress, Zeitdruck, Anwesenheit vieler Menschen etc. 5. optional: Entspannungstraining • Das Training soll zur Stressreduktion verhelfen: – – – – progressive Muskelrelaxation (Jacobson, 1938) Atemtechniken (Cappo & Holmes, 1984) imaginative Verfahren (Suinn, 1975) autogenes Training (Schultz, 1978) • vermindert bei richtiger Anwendung Anspannung in Stresssituationen und lindert damit Häufigkeit und Schweregrad der Tics • Die Wirksamkeit der Methoden ist erst wenig untersucht, Effekte sind meist nur kurzfristig. Das Verfahren ist aber in kritischen Alltagssituationen (Prüfung) wirksam 6. optional: Kontingenzmanagement • • • Hierbei wird, basierend auf dem Modell der operanten Konditionierung , das Auftreten von Tics als teilweise abhängig von ihren Konsequenzen begriffen (z. Bsp Unterdrückung beim Arzt, um eine Behandlung zu vermeiden) Dabei gilt (wie überall): die Verhaltenslöschung wird wirksamer durch positive oder negative Verstärkung erreicht als durch Bestrafung Bei jüngeren Kinder z. Bsp. Response-Cost-System (beim Auftreten von Tics werden Token weggenommen, bei langen Ticfreien Intervallen werden zusätzliche Token gegeben) Wichtig: darauf Achten, dass das Kind am Ende des vereinbarten Zeitraumes (je jünger das Kind desto kürzer) immer Token zum „Einlösen“ besitzt Behandlung komorbider Störungen • Tiefenpsychologische Psychotherapie werden eingesetzt bei Depressivität, Ängstlichkeit, sozialem Rückzug, negativem Selbstbild oder Selbstbehauptungsproblemen. • Verhaltenstherapeutische Verfahren können z.B. bei Zwangssymptomen, Aufmerksamkeitsstörungen, Frustrationsintoleranz und Depressivität erfolgen. • Familientherapie ist u.a. empfehlenswert, wenn Interaktionsstörungen in der Familie bestehen oder die Eltern Außenkontakte des Patienten unterbinden.