Das Tourette-Syndrom unter sprachwissenschaftlicher und

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Pädagogik
Susann Sulzbach
Das Tourette-Syndrom unter
sprachwissenschaftlicher und
pädagogischer Betrachtung
Examensarbeit
Universität Leipzig
Erziehungswissenschaftliche Fakultät
Institut für Förderpädagogik
Das Tourette-Syndrom unter vorrangig
sprachwissenschaftlicher und
pädagogischer Betrachtung
Wissenschaftliche Arbeit
zur Ersten Staatsprüfung
für das Lehramt an Förderschulen
im Fach Sprachbehindertenpädagogik
vorgelegt von:
Susann Sulzbach
am:
27.07.2006
„Mit dem Touretteschen Syndrom ist das Leben wild und ausgelassen,
so als wäre man die ganze Zeit betrunken. Mit Haldol1 ist es langweilig,
man wird nüchtern und spießig. Aber in keinem der beiden Zustände ist
man wirklich frei … Ihr ‚Normalen’, bei denen die richtigen Transmitter
zur rechten Zeit an den richtigen Stellen im Gehirn sind, könnt euch
immer alle Gefühle, alle Lebensstile aussuchen – ihr könnt schwer oder
leicht sein, je nachdem, wie es die Situation erfordert. Wir können das
nicht: Das Syndrom zwingt uns zu schweben, und Haldol zwingt uns, am
Boden der Tatsachen zu kleben. Ihr seid frei, ihr befindet euch in einem
natürlichen Gleichgewicht, aber wir haben nur eine künstliches und
müssen das Beste daraus machen.“
(Witty Ticcy Ray. In: SACKS 1994, Der Mann der seine Frau
mit einem Hut verwechselte, S. 142)
1
Medikament zur Behandlung des TS
2
Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung........................................................................................................6
2.
Historischer Blick auf das Tourette-Syndrom .............................................9
3.
Das Tourette-Syndrom – eine kurze Wesensbestimmung .......................14
4.
3.1.
Definition von Tics...................................................................................14
3.2.
Hauptmerkmale des Tourette-Syndroms ................................................16
Differenzierte Betrachtung der Symptome unter sprachlicher
Akzenturierung.............................................................................................18
4.1.
Motorische Tics.......................................................................................18
4.1.1.
4.1.2.
4.1.3.
4.2.
Einfache motorische Tics .......................................................................... 18
Komplexe motorische Tics ........................................................................ 19
Häufigkeiten motorischer Tics ................................................................... 20
Vokale Tics – der sprachliche Aspekt des Tourette-Syndroms...............21
4.2.1.
4.2.2.
4.2.3.
4.2.4.
4.2.5.
4.2.6.
4.2.7.
Einfache vokale Tics.................................................................................. 22
Komplexe vokale Tics................................................................................ 22
Koprolalie................................................................................................... 23
Echolalie und Palilalie................................................................................ 26
Syntaktisches Auftreten der vokalen Tics.................................................. 26
Abweichungen der sprachlichen Fähigkeiten bei Tourette-Patienten als
Ansatzpunkt für sprachheilpädagogische Maßnahmen ............................. 28
Stottern und Tourette................................................................................. 33
5.
Krankheitsverlauf.........................................................................................35
6.
Begleiterscheinungen des Tourette-Syndroms und ihre sprachliche
Dimension.....................................................................................................39
6.1.
Sprachliche und andere Zwänge, Zwangshandlungen und
Zwangsgedanken....................................................................................39
6.2.
Depressivität, Aggressivität und selbstdestruktives Verhalten aufgrund
‚andersartiger’ Kommunikationsvoraussetzungen ..................................40
6.3.
Hyperkinetisches Syndrom .....................................................................42
6.4.
Lese-Rechtschreib-Schwäche und andere Lernstörungen .....................43
6.5.
Überdurchschnittliche motorische, sprachliche und künstlerische
Fähigkeiten .............................................................................................44
3
7.
Ätiologie........................................................................................................47
7.1.
Genetische Dispositionen .......................................................................47
7.2.
Organische Faktoren ..............................................................................48
7.2.1.
7.2.2.
7.2.3.
7.3.
Auffälligkeiten der subkortikalen Strukturen, insbesondere der
Basalganglien ............................................................................................ 49
Imbalance der Neurotransmitter ................................................................ 51
Hirnanatomische Veränderungen und Auffälligkeiten im EEG .................. 53
Modellvorstellungen zur Tic-Entstehung .................................................54
8.
Diagnostik unter förderpädagogischen und klinischen Gesichtspunkten .
.......................................................................................................................55
9.
Behandlung des Tourette-Syndroms .........................................................60
9.1.
Medikamentöse Behandlung ..................................................................60
9.2.
Verhaltenstherapeutische Behandlung, insbesondere das Habit Reversal
Training...................................................................................................63
10. Fallbeispiel ...................................................................................................67
10.1. Beschreibung des Vorgehens .................................................................67
10.2. Allgemeine Angaben zum Kind ...............................................................67
10.3. Vorgeschichte und Umfeld………………………………………………..…68
10.3.1.
10.3.2.
10.3.3.
Informationen aus schriftlichen Quellen (Schülerakte) zum Störungsbild . 68
Auswertung der Beobachtungen ............................................................... 73
Auswertung der Fragebögen der Mutter und der Klassenlehrerin............. 75
11. Förderpädagogische Interventionen bei Kindern mit Tourette-Syndrom ...
.......................................................................................................................78
11.1. Schulerfahrungen von Personen mit TS .................................................78
11.2. Die ‚richtige’ Schulform ...........................................................................81
11.3. Vorschläge zum (förder)pädagogischen Umgang mit dem TouretteSyndrom .................................................................................................83
11.3.1.
11.3.2.
11.3.3.
Leitlinien für den Unterricht bezüglich Aufmerksamkeitsproblemen,
sprachlicher und schriftsprachlicher Einschränkungen.............................. 83
Maßnahmen bei vokalen Tics und sprachlichen Problemen ..................... 88
Schriftliche Leistungsüberprüfungen und Hausaufgaben.......................... 90
4
11.4. Vorschläge zum (förder)pädagogischen Umgang mit anderen
Auffälligkeiten, die im Zusammenhang mit dem TS stehen ....................92
11.4.1.
11.4.2.
11.4.3.
11.4.4.
Anregungen zu Interventionen bei Aufmerksamkeitsstörungen ................ 92
Anregungen zu Interventionen bei Zwangssymptomen ............................ 94
Anregungen zu Interventionen bei aggressivem Verhalten aufgrund
gestörter Impulskontrolle............................................................................ 95
Einblicke in förderpädagogische Maßnahmen bei Lernstörungen und
Leistungsschwächen, Sprechstörungen und Leseschwächen .................. 96
11.5. Kritische Betrachtung der Maßnahmen.................................................103
12. Literaturverzeichnis ...................................................................................108
13. Internetquellenverzeichnis........................................................................111
14. Tabellenverzeichnis ...................................................................................116
15. Abbildungsverzeichnis..............................................................................116
16. Selbstständigkeitserklärung .....................................................................117
17. Anhang........................................................................................................118
17.1. Materialien zur Diagnostik/ vokalen und motorischen Einschätzung des
TS und seiner Komorbiditäten ..............................................................118
17.1.1.
17.1.2.
17.1.3.
17.1.4.
17.1.5.
17.1.6.
Tourette-Syndrom-Globalskala (TSGS) (nach Harcherik et al. 1984) ..... 118
Tourette-Syndrom-Schweregrad-Skala (TSSS) (nach Shapiro et al. 1988);
Auszug ..................................................................................................... 119
Tourette-Syndrom-Symptomliste (TSSL) (nach Leckman et al. 1988).... 120
Conners-Skala zum hyperkinetischen Syndrom (modifiziert).................. 122
Leyton-Zwangssyndrom-Fragebogen für Kinder (Berg et al. 1986, bearb. v.
H.-C. Steinhausen 1988); Auszug ........................................................... 123
Zwangsfragebogen für Patienten mit Ticstörungen (nach Frankel et al.
1986; modifiziert); Auszug ....................................................................... 124
17.2. Hospitationsprotokolle...........................................................................125
17.2.1.
17.2.2.
17.2.3.
Hospitationsprotokoll 06.04.2006: Hauswirtschaft................................... 125
Hospitationsprotokoll 11.05.2006 (1): Doppelstunde Hauswirtschaft ...... 126
Hospitationsprotokoll 11.05.2006 (2): Vertretungsstunde Deutsch ......... 127
17.3. Fragebögen zum Fallbeispiel ................................................................129
17.3.1.
17.3.2.
Elternfragebogen zu M., ausgefüllt von der Mutter des Jungen .............. 129
Lehrerfragebogen zu M., ausgefüllt von der Klassenlehrerin des Jungen ....
................................................................................................................. 133
5
1. Einleitung
1.
Einleitung
Diese Examensarbeit beschäftigt sich mit dem Tourette-Syndrom, wobei der Blickwinkel
aus sprachlichen und förderpädagogischen Perspektiven erfolgt. Auslöser war ein von mir
gehaltenes Seminarreferat im Fachbereich Sprachbehindertenpädagogik, das nicht nur
mein Interesse zur Thematik weckte, sondern mir auch zeigte, wie wenig dieses
Störungsbild bekannt ist: Für den Großteil der Kommilitonen referierte ich über ‚Neuland’.
Daher ist die Zielstellung meiner Arbeit, durch das Beleuchten eines möglichst
umfassenden Bildes zum Tourette-Syndrom einen Teil Aufklärungsarbeit zu leisten.
Das Tourette-Syndrom ist eine neuropsychiatrische, organische Erkrankung und konnte in
allen Rassen und Kulturen beobachtet werden (vgl. SCHAUENBURG/ DRESSLER 1992, S.
457). Motorische und vokale Tics prägen das Störungsbild. Es ist als Behinderung
anerkannt,
bei
einer
schweren
Ausprägung
kann
sogar
rechtlich
eine
‚Schwerstbehinderung’ geltend gemacht werden (vgl. THIELE 2000, S. 185) und rechtfertigt
somit die Auseinandersetzung im Rahmen der Förderpädagogik.
Das auf die Einleitung folgende zweite Kapitel umreißt die Geschichte des TouretteSyndroms bezüglich Erklärungsansätzen, betroffener historischer Persönlichkeiten
(insbesondere Mozart, dessen sprachliche ‚Entgleisungen’ beispielhaft dargelegt werden),
beschreibt die Rolle Gilles de la Tourettes im Erkenntnisprozess um die Störung und gibt
eine Übersicht zum Paradigmenwechsel in Hinblick auf die Pathogenese des TS.
Im dritten Kapitel wird das Störungsbild Tourette-Syndrom mit Hilfe des DSM-IV und des
DSM-III-R (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) in
Überblicksform
dargelegt. Es enthält Informationen zu differentialdiagnostischen
Aspekten sowie zu grundlegenden Charakteristika und Symptomen der Krankheit und gibt
einen ersten Einblick in den Krankheitsverlauf.
Kapitel vier befasst sich mit den motorischen und vokalen Tics im Speziellen. Während
der Abschnitt zur motorischen Problematik kurz gehalten ist, wird auf die sprachliche
Komponente in Form vokaler Tics und deren Sonderformen – wie z.B. die Echolalie –
tiefer eingegangen. Anhand wissenschaftlicher Studien, die die Sprache von Menschen
mit TS zum Gegenstand hatten, können detaillierte Aussagen getroffen werden. Die
Klärung syntaktischer Gesichtspunkte, die Betrachtung der sprachlichen Besonderheiten
6
1. Einleitung
bei Tourette-Patienten, sprachheilpädagogische Ansätze und die Verbindung zum
Störungsbild Stottern sind Teil dieses Kapitels.
Im darauffolgenden Kapitel steht der Krankheitsverlauf im Mittelpunkt. Eingeschlossen
sind Ausführungen zur Unwillkürlichkeit der Tics sowie zur Aneignung derselben.
Im sechsten Kapitel wird auf die Komorbiditäten des Tourette-Syndroms eingegangen.
Dazu zählen Zwänge, auch sprachlicher Natur, Depressionen und (Auto)Aggressionen,
u.a.
verursacht
aufgrund
eines
doch
in
gewisser
Weise
‚andersartigen’
Kommunikationsverhaltens, Hyperkinetische Störungen als auch Lese-Rechtschreib- und
andere Lernstörungen, wobei die drei letztgenannten von besonders förderpädagogischer
Bedeutung sind. Besondere ‚Talente’ in sprachlicher, motorischer oder künstlerischer
Ausprägung bei Menschen mit Tourette finden ebenso Erwähnung.
Mit den Hypothesen zur Ätiologie setzt sich Kapitel sieben auseinander. Eingegangen wird
auf genetische und organische Faktoren sowie auf zwei Modellvorstellungen zur TicEntstehung. Auf die Entstehung vokaler Tics aufgrund defizitärer Hemmmechanismen
wird eingegangen.
Während Kapitel acht Einblicke in förderpädagogische und klinische Aspekte der TSDiagnose
gibt,
werden
im
darauffolgenden
Kapitel
medikamentöse
und
verhaltenstherapeutische Behandlungsmöglichkeiten dargelegt. Auf die Umleitung von
Tics in Form des ‚Habit Reversal Trainings’ wird vertiefend eingegangen.
In Kapitel 10 habe ich meine Beobachtungen zu einem Tourette-Kind, das ich mehrfach in
der Schule aufsuchte, beschrieben. Detaillierte Informationen aus der Schülerakte sowie
die Auswertung eines Fragebogens an die Eltern und die Klassenlehrerin ergänzen das
Bild.
Neben meiner Zielstellung zur Aufklärung über die Thematik, stellte ich mir zu Beginn der
Arbeit die Frage, wie Kindern und Jugendlichen mit Tourette-Syndrom im schulischen
Kontext geholfen werden kann bzw. wie man mit ihnen umgeht. Kapitel 11 beschäftigt sich
aus diesem Grunde umfassend mit förderpädagogischen Interventionen, die bei diesen
Kindern angezeigt sind. Nach Berichten zu Schulerfahrungen von Tourette-Patienten und
Ausführungen zur ‚richtigen’ Schulform für diese Kinder, folgen einerseits Anregungen
zum Umgang mit dem TS unter verstärkter Betrachtung der Tics (z.B. in Hinblick auf
sprachliche Schwierigkeiten oder Sondermaßnahmen bei Leistungsüberprüfungen),
7
1. Einleitung
andererseits konkrete Hinweise zum Umgang mit den schon erwähnten Komorbiditäten.
An den entsprechenden Stellen wurde zu relevanten Interventionen bezüglich des von mir
beobachteten
Jungens
Stellung
genommen.
Eine
kritische
Einschätzung
der
vorgeschlagenen Maßnahmen schließt das Kapitel ab.
Ich habe mich bemüht, nicht nur die Krankheit ‚Tourette-Syndrom’ darzustellen, denn zur
Diagnose TS gehört auch ein Mensch, der mit dieser Diagnose umgehen muss. Das
Einbinden von Erfahrungen Betroffener erschien mir deshalb wichtig, so dass ich auch
Einzelschicksale in die verschiedenen Kapitel eingeflochten habe.
Außerdem wurden in den einzelnen Kapiteln so oft wie möglich Bezüge zu
sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkten, z.B. in Form von Beispielen, hergestellt und
der pädagogische Kontext einbezogen, so dass dem Titel der Arbeit gerecht geworden
werden konnte. Gleichwohl sollte der von mir erhobene Anspruch der Betrachtung des
Tourette-Syndroms als gesamtheitliche Störung erfüllt werden.
8
2. Historischer Blick auf das Tourette-Syndrom
2.
Historischer Blick auf das Tourette-Syndrom
Symptome im Sinne des Tourette-Syndroms (im Folgenden auch als TS oder nur Tourette
bezeichnet) finden schon vor 2000 Jahren im antiken Griechenland Erwähnung: Der
Gelehrte und Arzt Aretios von Kappadokien – ein Schüler Hippokrates’ – beschreibt
"... Fälle von Zuckungen, Grimassenschneiden, Gebell, plötzlichen
Flüchen und unvermittelten blasphemischen Äußerungen ..." (HARTUNG
1995, S. 123).
Auch der römische Imperator Claudius (10 v. Chr. – 54 n. Chr.) wird von einem damaligen
Biograph und Geschichtsschreiber neben Äußerlichkeiten wie folgt charakterisiert:
„Wenn er durch das Spiel oder das ernsthafte Geschäft erregt war, hatte
er einige unangenehme Merkmale aufzuweisen. Es handelte sich dabei
um unkontrolliertes Lachen, Speichelfluß im Bereich des Mundes, eine
'laufende Nase', Stammeln und anhaltende nervöse Tics. Diese nahmen
unter emotionaler Belastung so stark zu, daß sein Kopf von einer Seite
zur anderen flog“ (ROTHENBERGER 1991, S. 200).
Mangels wissenschaftlicher Erklärungen wurden göttliche Einflüsse für die als Manie oder
Wahnsinn bezeichnete Diagnose verantwortlich gemacht (vgl. HARTUNG 1995, S. 123).
Eine weitere Beschreibung eines vermeintlichen Tourette-Patienten findet sich in dem von
SPRENGER und INSTITORIS verfassten „Hexenhammer“ („Malleus maleficarum“, 1487), ein
Kommentar zur „Hexenbulle“, die Grundlage für die Gerichtspraxis bei der Führung von
Hexenprozessen auf dem Höhepunkt der Inquisition im Mittelalter war. (vgl. HARTUNG
1995, S. 125). Dort ist von einem Priester die Rede, der selbst angab, vom Teufel
besessen zu sein. Selbiger hätte des Priesters Extremitäten, Nacken, Zunge, und Lunge
in Besitz genommen, so dass sich der Geistliche gezwungen fühle
„Worte auszusprechen, Laute auszustoßen, beim Gebet plötzlich die
Zunge herauszustrecken, oder an Beinen, Armen, Nacken und Rumpf zu
zucken“ (ROTHENBERGER 1991, S. 3).
Die angebliche ‚Heilung’ der vokalen und motorischen Tics erfolgte durch die für diese Zeit
übliche Teufelsaustreibung, bei anderen Fällen durch Verbrennung, so dass aufgrund von
9
2. Historischer Blick auf das Tourette-Syndrom
Aberglaube und der Vorstellung, Dämonen könnten von Menschen Besitz ergreifen, TicKranke in der ständigen Angst vor Verfolgung und Bezichtigung der Hexerei leben
mussten (vgl. HARTUNG 1995, S. 126).
Neben Molière (1622 – 1673), Peter dem Großen (1672 – 1725) und Napoleon (1769 –
1821) soll auch Mozart an TS erkrankt gewesen sein (vgl. HARTUNG 1995, S. 127). Zu
Anlass des Mozartjahres so auch eine andere Sicht auf das ‚Wunderkind’. Dank Mozarts
intensiven Briefwechseln dienen die oftmals derben Schriftstücke als Grundlage für
Vermutungen, dass der hochbegabte Musiker neben Koprolalie2 auch an Koprographie3 litt
(vgl. ROTHENBERGER 1991, S. 200). Einen Einblick in die auch von Wortspielen geprägten
Briefe geben die Zeilen an das ‚Bäsle’, seiner wahrscheinlich ersten Geliebten (vgl.
HILDESHEIMER 2005, S. 122):
"ja ja, ich bin meiner sache gewis, und sollt ich heut noch machen einen
schiss, obwohl ich in 14 Tagen geh nach Paris. wenn sie mir also wolln
antworten, aus der stadt Augsburg dorten, so schreiben sie mir baldt,
damit ich den brief erhalt, sonst wenn ich etwa schon bin weck,
bekomme ich statt einen brief einen dreck. dreck! – dreck! – o dreck! – o
süsses wort! – dreck! – schmeck! – auch schön! – dreck, schmeck! […]."
(HILDESHEIMER 2005, S. 125)
Nun könnte man diese Obszönitäten vielleicht als Laune eines jungen Mannes abtun, der
einen provozierenden Brief an eine junge Frau schreibt. Doch auch in Briefen an seinen
Vater – dem er zeitlebens großen Respekt zollte und der für seine Strenge bekannt war –
treten Formulierungen dieser Art auf:
„Nun addio. Ich küsse dem papa nochmahlen die hände, […] und auf das
heisel nun begieb ich mich, und einen dreck vielleicht scheisse ich
[...]“ (HILDESHEIMER 2005, S. 126).
Von Anzeichen für Palilalie4 (in schriftlicher Form) zeugt neben dem Brief an das Bäsle
(siehe oben) z.B. ein Brief an den Chorleiter und Musiklehrer Anton Stoll, der Mozart
musikalisch unterstützte und Werke des Salzburgers aufführte (vgl. HARTUNG 1995, S.
127):
2
Zwang, Obszönitäten auszustoßen
Zwang, Obszönitäten niederzuschreiben
4
zwanghaftes Wiederholen eigener Äußerungen
3
10
2. Historischer Blick auf das Tourette-Syndrom
„Liebster Stoll! bester Knoll! grosster Schroll! bist Sternvoll! gell das Moll
thut dir wohl? ...Ich bin Ihr ächter freund franz Süssmayer Scheißdreck.
Scheißhäusel den 12. Juli" (HILDESHEIMER 1977., S. 283, zit. n. HARTUNG
1995, S. 128).
Kritiker allerdings behaupten, Mozart hatte lediglich einen Hang zu Obszönitäten und
Wortspielereien. Während bei einem vokalen Tic ein (kurzzeitiges) Unterdrücken möglich
ist, kann beim Schreiben ganz unterbrochen werden, und dem Tic – z.B. mündlich – freier
Lauf gelassen werden. Selbst stark von Palilalie betroffene TS-Patienten haben zumeist
eine flüssige Schrift und Schreibweise. Außerdem stammen die meisten Beschreibungen
des Grimassierens und von Zwängen (wie das Spielen mit Servietten) aus der Zeit, in der
Mozart schon mit dem Nierenleiden Glomerulo-Nephritis konfrontiert war, an dem er
schließlich starb. So könnten die neurologischen Entgleisungen auch daher stammen,
denn zur Symptomatologie dieser Krankheit gehören u.a. Ruhelosigkeit, Nervenzucken,
Grimassieren, Tics und manchmal gröbere Muskelkrämpfe (vgl. HAMMERSCHMIDT 1998,
Online im Internet).
Der wissenschaftliche Durchbruch bei der Erforschung des TS gelang schließlich 1885
GILLES DE LA TOURETTE, der neun Patienten mit dem nach ihm benannten Syndrom
beschrieb, darunter auch Symptome wie Koprolalie und Echolalie5. Die Veröffentlichung
erfolgte 1885 in der Zeitschrift Archive de Neurologie unter dem Titel "Etude sur une
affection nerveuse caracterisée par l’incoordination motrice accompagnée d’écholalie et
de coprolalie" (KRÄMER O.A., Online im Internet). GILLES DE LA TOURETTE stützte sich u.a.
auf Autoren wie BOUTEILLE (1818), der von „Pseudo-Chorea6“ sprach, oder ITARD, der
1825 ebenfalls von als choreatisch eingestuften Beobachtungen berichtete. TOURETTE, der
wie Siegmund Freud ein Schüler des Neurologen CHARCOTS war, zeigte sich allerdings
unzufrieden mit der falschen Zuordnung der Symptomatik und war sich sicher, dass es
sich um ein eigenes Krankheitsbild handeln müsse. Er stellte u.a. die wechselnde
Symptomatik bezüglich Art und Häufigkeit der Betroffenen heraus, gab Hinweise zur
Diagnostik und zur Abgrenzung von anderen ähnlichen Störungsbildern, ging auf die
erbliche Komponente des Syndroms ein sowie auf die Besonderheit der Krankheit, immer
wieder neue Phänomene hervorzubringen oder zeitweilig ganz zu verschwinden, so dass
der Eindruck einer Heilung entsteht. Er erkannte außerdem, dass sich Faktoren wie
5
Wiederholung der Äußerungen anderer Personen
Chorea (auch „Veitstanz“) ist eine Gruppe extrapyramidaler Bewegungsstörungen. Typisch sind
unwillkürliche, schnelle und arrhythmische Muskelkontraktionen (vgl. ROCHE LEXIKON MEDIZIN 2003, „Chorea“,
Online im Internet).
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