Teilhabe / Rehabilitation Foto: fotomek/fo tolia. com Mit Bewältigungsstrategien zur beruflichen Selbstverwirklichung Eine Studie deckte die wichtigen Schlüs­selfähigkeiten hörbeeinträchtigter Menschen für beruflichen Erfolg auf. M enschen mit einer Hörminde­ rung begegnen besonderen beruflichen Erschwernissen, weil sie anders hören als die Mehrheit der „normal“* Hörenden und ihnen oft aus Unwissenheit oder aufgrund von Vorbehalten unterstellt wird, weniger leistungsfähig zu sein als diese. Dadurch werden Barrieren konstruiert, die den Zugang zu und die Entwicklung in einem Beruf über die eigentlichen beruflichen Anforderungen hinaus erschweren oder gar behindern. Auf die Hörminderung bezogene berufliche Erschwernisse sind Er­ gebnisse von Diskriminierungs­ prozessen. So bekräftigte Frank:2 „Chancengerechtigkeit würde dann bestehen, wenn Menschen mit und ohne Behinderung bei gleichem Aufwand, bei gleichem Engage­ ment, gleiche Möglichkeiten hät­ ten.“ Laut Kathrin müssen Hörge­ minderte für beruflichen Erfolg Menschen mit einer Hörminderung können ihren Beruf frei wählen, darin erfolgreich und zufrieden sein! Als Schlüssel zu beruflicher Selbstverwirklichung können Menschen mit einer Hörminderung berufliche Bewältigungsstrategien entwickeln.1 Wie? Darüber hat Silvester Popescu-Willigmann für eine Studie mit zehn Frauen und Männern gesprochen, die mit ihrer Hörminderung ein Studium abgeschlossen und anschließend Berufslaufbahnen eingeschlagen hatten, die mit ihren Fähigkeiten und Wünschen überein­stimmten. Als entscheidend erwies sich ihr Umgang mit den vorgefundenen beruflichen Barrieren. „immer besser sein und immer härter arbeiten als andere“. Diese Formen sozialer Ungerech­ tigkeit zu beseitigen sollte nicht in der Verantwortung der diskrimi­ nierten Personen liegen, sondern ein Anliegen aller Gesellschafts­ mitglieder sein. Solange jedoch die Gesellschaft keinen „gerechten Zu­ stand“ erreicht hat, bedarf es indi­ vidueller Bewältigungsstrategien, um die berufliche Teilhabe zu ver­ bessern. Berufliche Bewältigungsstrategien sind Einstellungen, Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltenswei- * „normal“ hörend = Der Begriff „normal“ steht anstelle von „gut“ hörend, damit nicht der Anschein erweckt wird, als sei die Hörfähigkeit der Grund für ungleiche Berufschancen. Der Autor geht von einer sozialen Herstellung von Behinderung aus, nämlich gegen Menschen, die von einer gesellschaftlich konstruierten Norm abweichen. So verstanden ist Behinderung eine Sanktionierung (Bestrafung) von Menschen, die nicht dem Durchschnitt (dem „Normalen“) entsprechen. Das „Normale“ (gut hören) wird auf-, das „Anormale“ (nicht so gut wie die meisten hören) abwertend interpretiert, und zwar als Minderleis­ tungsfähigkeit. Diese Wertung „legitimiert“ soziale Exklusion und stellt Behinderung her. Um diesen Zusammenhang aufzuzeigen, ist im Text von „normal“ Hörenden die Rede. Eine Lösung bedarf nicht nur der Kompensation der Hörminderung, sondern auch der Um­ deutung negativer Vorstellungen bei Entscheidungsträgern/innen. 1 Dieser Artikel beruht auf dem aktuellen Buch „Berufliche Bewältigungsstrategien und ‚Behinderung’“ (Springer VS) von Silvester PopescuWilligmann, das in „Spektrum Hören“ 2/2014 vorgestellt wurde. Die Ergebnisse können in diesem Artikel aus Platzgründen nur in Auszügen wiedergeben werden. Das Modell, alle Determinanten und die theoretischen Grundlagen sind ebenso wie die Lebensläufe der Interviewten im Buch dokumentiert. 2 Zur Veranschaulichung sind einige Interviewaussagen im Text eingearbeitet. Die Namen sind anonymisiert. 20 Spektrum hören 5 | 2014 Teilhabe / Rehabilitation Foto: Hartmut Ohm Silvester Popescu-Willigmann ist DiplomWirtschaftspädagoge, Diplom-Verwal­ tungswirt (FH) und Finanzfachwirt (FH). Er wurde zum Geschäftsführer einer so­zialen Einrichtung in Hamburg berufen. Außerdem forscht er zu Sozial­ wirtschaft, Sozialmanagement und zu sozialer Ungleichheit, ist Hochschul­ lehr­­beauftragter und freiberuflicher Dozent. Im Fach­aus­schuss Arbeits­ markt­politik der Deutschen Gesellschaft der Hörgeschädigten-Selbsthilfe und Fachverbände e. V. engagiert er sich für die berufliche Emanzipation von Men­ schen mit einer Hörminderung. Sein Profil im Internet: www.dozent-spw.de, Kontakt per E-Mail: [email protected] sen, die berufliche Erschwernisse in sozialen Interaktionen lösen las­ sen. Sie geben Betroffenen Hand­ lungsmacht und erweitern ihre Möglichkeiten. Typische Erfahrungen Hörgeminderter im beruflichen Alltag Schon bei der Bewerbung um eine Stelle können Benachteiligungen auftreten. Würden Arbeitgeber, so Gunthers Erfahrung, bereits in den Bewerbungsunterlagen sehen, dass jemand hörgemindert ist, „dann gehe ich davon aus, dass man in 80 Prozent der Fälle aussortiert wird“. Julius bestätigte: „Bei wirk­ lich gleichen fachlichen Vorausset­ zungen zieht der Behinderte den Kürzeren.“ Eine barrierefreie Infrastruktur findet sich trotz staatlicher Bezu­ schussung an vielen Arbeitsplätzen nicht. „Die muss ich mir erst er­ kämpfen“, berichtete Claus. Arbeit­ geber scheinen organisatorischen und finanziellen Mehraufwand zu scheuen, den beeinträchtigte Ar­ beitnehmer aus ihrer Sicht verur­ sachen. So bleibt es Hörgeminder­ ten häufig selbst überlassen, sich ideale Arbeitsvoraussetzungen zu schaffen, wie die Ausstattung mit Hilfsmitteln. maßen immer im Mittelpunkt steht: Das Kompensieren von Hördefizi­ ten und das Aufrechthalten einer permanent hohen Aufmerksamkeit sind anstrengend. Weiterer Stress wird durch das Ausgeschlossensein vor allem von informellen, aber be­ reichernden „Klatschgesprächen“ und durch im Beruf erfahrene „Un­ gerechtigkeiten“ verursacht; eben­ so durch das Risiko sozialer Isola­ tion am Arbeitsplatz. Soziale Barrieren behindern die berufliche Entfaltung Auch ein beruflicher Aufstieg ist für Hörgeminderte schwerer zu errei­ chen, selbst wenn sie – wie Thomas – eine exzellente Fachkompetenz haben: „Was mir nicht gelungen ist: Karriere, jetzt mal vom beruflichen Aufstieg her. (…) Denn man konnte sich in der Firma nicht vorstellen, dass ein Mehrfachbehinderter eine Führungsposition ausüben könnte.“ Dabei müsste das Arbeiten für Men­ schen mit Hörminderung gar nicht so problematisch sein. Das Allge­ meine Gleichbehandlungsgesetz verbietet Diskriminierung im Be­ ruf, und Sozialgesetze wie das SGB IX begründen Ansprüche auf finanzielle Unterstützung für tech­ nische Hilfsmittel sowie Assistenz­ leistungen, mit denen Hördefizite teilweise kompensiert und kommu­ nikationsförderliche Arbeitsbedin­ gungen finanziert werden könnten. Über diese beispielhaften Erschwer­ nisse hinaus ist für das Arbeiten mit einer Hörminderung charakte­ ristisch, dass das Hören gewisser­ Die Gesprächspartner/innen erleb­ ten allerdings eine zuweilen rest­ riktive Zuteilungspraxis von Behör­ den wie Versorgungsämtern und Grafik: Silvester Popescu-Willigmann; modifiziert nach: Berufliche Bewältigungsstrategien und ‚Behinderung‘ (Springer VS, 2014: S. 145) 5 | 2014 Spektrum hören 21 Teilhabe / Rehabilitation Krankenkassen. Ein rechtlicher An­ spruch garantiert demnach noch nicht, diesen auch erfüllt zu bekom­ men. So stellte Julius, der beruflich mit öffentlichen Stellen zusammen­ arbeitete, fest: „Deutsche Behör­ den sind so getrimmt, dass alles, was sie theoretisch ablehnen kön­ nen, erst mal abgelehnt wird. Nur das, was absolut nicht mehr abge­ lehnt werden kann, kriegst du. Und dieser Kampf mit den Behörden, das ist das, was ich als größtes Hin­ dernis sehe, weil die spekulieren ja quasi darauf, dass einer (…) auf sei­ ne Rechte verzichtet.“ Christiane bestätigte: „Wenn ich die ganze Zeit, die ich verbracht habe, um für das Geld zu kämpfen, dafür hätte einbringen können, meinen Job zu machen, ist das auch nicht unbe­ dingt Chancengleichheit.“ Die unzureichende Barrierefrei­ heit am Arbeitsplatz und die er­ schwerte berufliche Teilhabe las­ sen sich auf soziale Umstände zurückführen; in Form von Hand­ lungen durch Personen oder als Folge von durch Menschen ge­ schaffenen Regeln, die Entschei­ dungen motivieren und ungleiche Chancen „rechtfertigen“. Interpretationen. So neigen sie da­ zu, fälschlicherweise dort antiso­ ziale Verhaltensweisen oder man­ gelnde Kompetenz zu unterstellen, wo ein für sie nicht nachvollziehba­ res Verhalten durch die hörgemin­ derte Person gezeigt wird. (2) Des Weiteren bestehen offenbar allgemeine Vorbehalte gegenüber der Beschäftigung von Menschen mit „Behinderung“. Diese resultie­ ren aus der Befürchtung eines or­ ganisatorischen und finanziellen Mehraufwands sowie einer unter­ stellten Minderleistungsfähigkeit. (3) Darüber hinaus machten einige Interviewte das „Stigma Hörschä­ digung“ als Ursache für Benachtei­ ligungen aus, da noch häufig die Gleichsetzung „taub = doof“ bei Ar­ beitgebern vorzuherrschen scheint. Die erreichte berufliche Position drückt nämlich aus, welche Fähig­ keiten und Talente einer Person in einem sozialen Raum wie einem Unternehmen anerkannt und wert­ geschätzt werden. In einer moder­ nen, arbeitsteiligen Gesellschaft ist es gerecht, wenn jemand leistungs­ adäquat arbeiten kann und berufli­ che Positionen nicht aufgrund leis­ tungsirrelevanter Sachverhalte (wie der Hörminderung) vorenthalten werden. Berufliche Barrieren sind also Ergebnisse sozialer Prozesse – und als solche veränderbar. Erfolgsför­ derliche berufliche Bewältigungs­ strategien sind daher Einstellun­ gen, Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensweisen, die in sozialen Interaktionen – im Beruf oder mit Behörden – wirksam sind, neue so­ ziale Realitäten und (berufliche) Chancen zu schaffen. Bewältigungsstrategien für eine berufliche Selbstverwirklichung In Unternehmen bestehen oft (Vor-) Urteile über Menschen mit „Behin­ derung“ beziehungsweise über Men­ schen mit Hörminderung. Diese Anschauungen drücken sich in Form zu hoher oder zu niedriger Leistungserwartungen von Perso­ nalverantwortlichen, Managern oder Führungskräften aus und beein­ flussen, ob ein Unternehmen es für lohnend erachtet, sich inklusions­ förderlich zu verhalten, eine bar­ rierefreie Infrastruktur zu unter­ halten und den gleichberechtigten Zu­gang zu beruflichen Positionen zu öffnen. Berufliche Selbstverwirklichung ist ein Konzept, das aus Sicht Berufs­ tätiger mehr beinhaltet als Karrie­ re zu machen. Karriere bezieht sich darauf, Positionen mit immer mehr (Führungs-, Fach- oder Fi­ nanz-)Verantwortung innerhalb eines Unternehmens oder über mehrere Unternehmen hinweg zu erreichen. Nicht alle Menschen streben aber eine solche berufliche Entwicklung an. In der Studie konnten drei Ursa­ chen für negative Urteile über Men­ schen mit Hörminderung rekon­ struiert werden: (1) Schlüsselpersonen in Firmen wissen wenig über Schwerhörig­ keit, und ihre Entscheidungen fu­ ßen daher auf Vermutungen und Berufliche Selbstverwirklichung indes bedeutet, eine berufliche Tä­ tigkeit auszuüben, die den eigenen Fähigkeiten entspricht und mit der man sich identifizieren kann. Sie ist daher sowohl ein subjektives berufliches Erfolgsmerkmal als auch ein Indikator für soziale Gerechtigkeit: 22 Spektrum hören 5 | 2014 Selbstverwirklichung als berufliches Erfolgsmerkmal Obwohl allen Interviewten beruf­ liche Barrieren begegnet waren, gelang es ihnen, berufliche Selbst­ verwirklichung zu erlangen. Der Schlüssel dazu waren ihre Bewäl­ tigungsstrategien. Bewältigungsstrategien wirken in sozialen Interaktionen als bewusst oder unbewusst ausgefochtener „Kampf um (berufliche) Anerkennung“ – mit Entscheidungsträ­ gern/innen aus Unternehmen und Behörden. Im Erfolgsfall werden Negativurteile über Menschen mit Hörminderung positiv umgedeutet, wodurch Raum für faire(re) beruf­ liche Bedingungen entsteht. Dann treten bei Personalentscheidungen andere Eigenschaften als die Sin­ nesbeeinträchtigung in den Vorder­ grund, etwa die Leistungsfähigkeit und der Leistungswille. Folgende, bei jeder Person indivi­ duell ausgeprägte Strategieberei­ che deckte die Studie auf: (1) die eigenen Umgangsweisen mit der Hörminderung, (2) persönliche Kompetenzen und (3) soziale Interaktionen. Das Zusammenspiel ihrer Bewäl­ tigungsstrategien bildete bei allen Interviewten eine „starke“, das heißt eine selbstbewusste und handlungskompetente, Persönlichkeit aus – mit einem Denk- und Verhaltensre­ pertoire, das sie befähigte, sich über Barrieren hinwegzusetzen und be­ rufliche Möglichkeiten zu schaffen, Teilhabe / Rehabilitation wortung und empfahlen sich durch viel Einsatz und Engagement für Beförderungen. Was auch für „normal“ Hörende gilt, hatten die Interviewten beson­ ders verinnerlicht: Sie interessier­ ten sich beruflich sehr für Neues und waren örtlich flexibel. Sie zeig­ ten eine hohe Bereitschaft, für eine berufliche Option gewohntes Ter­ rain zu verlassen. Viele der Inter­ viewten waren sehr wissbegierig, hatten mehrere Qualifikationen und nutzten viele Möglichkeiten der Weiterbildung. Sie erprobten neu­ este Hilfsmittel und fanden durch ihre Unvoreingenommenheit (auch sich selbst gegenüber!) so manche berufliche Nische. Grafik: Silvester Popescu-Willigmann; modifiziert nach: Berufliche Bewältigungsstrategien und ‚Behinderung‘ (Springer VS, 2014: S. 161) die ihren Eignungen und Neigun­ gen entsprachen; also: berufliche Selbstverwirklichung zu erlangen. (1) Umgangsweisen mit der Hörminderung Die Interviewten hatten eine bewusste und konstruktive Haltung gegenüber ihrer Hörminderung, die ihren Umgang mit derselben und ihr Verhalten in der „Hörenden­ welt“ prägte. Eine Anerkenntnis der Hörminderung als Teil der Per­ son und das Begreifen, ein auditi­ ves Problem zu haben, ebnen den Weg für Lösungen. Der Einsatz von Hilfsmitteln und die Schaffung ei­ ner hörförderlichen Arbeitssituati­ on werden erleichtert, wenn offen mit der Hörminderung umgegan­ gen und auch das (berufliche) Um­ feld dafür sensibilisiert wird; darin waren sich fast alle Interviewten einig. Es braucht ein gesundes Selbstbewusstsein, sich als hörge­ mindert zu „outen“; doch liegt hier die Chance, sein Leben offen zu führen, ohne den Stress, sich ver­ stecken zu müssen und mit der Gelegenheit, dass Kommunikation mit Hörhilfen gelingt. Darüber hinaus verfügten die Inter­ viewten über eine hörminderungsbezogene Handlungskompetenz. Das ist ein fundiertes Wissen über die Beeinträchtigung und ihre Aus­ wirkungen auf die Bewältigung von Alltags- und Berufsanforderungen sowie über den technischen und rechtlichen Stand der Hilfsmittelund Assistenzversorgung. Sie wa­ ren imstande, ihre Fähigkeiten und Leistungsgrenzen einzuschätzen, sich Hilfen zu beschaffen und Ver­ haltensweisen anzuwenden, die ih­ nen die Aufnahme gesprochener Information erleichterten, etwa durch Sitzordnungen in Bespre­ chungen, Nachfragen können und es sich trauen. (2) Persönliche Kompetenzen Die Interviewten waren sehr selbstständige Menschen. Sie hatten eine positive, lösungsorientierte Ein­stel­ lung, glaubten eher an Chancen und fürchteten sich weniger vor Problemen oder einem möglichen Versagen, waren ausdauernd und beharrlich – und sehr durch­set­ zungs­stark. Charakteristisch für alle Interview­ ten war, dass sie im Beruf sehr aktiv waren und ihre beruflichen Positi­ onen mit Eigeninitiative erlang­ ten. So schlugen sie zum Beispiel unorthodoxe Wege bei Bewerbun­ gen ein oder schufen sich zum Teil ihre Stellen selbst. Sie scheuten sich nicht vor beruflicher Verant­ Soziale Interaktion geschieht we­ sentlich über akustische Kommu­ nikation. Die Kommunikationsfähigkeit kann durch den Ausgleich auditiver Defizite mit Hilfsmitteln, durch das Aneignen optischer Ver­ ständnishilfen wie Lippenabsehen sowie durch Verbesserung der Sprachkompetenz optimiert wer­ den. Doch das Sich-einlassen auf den kommunikativen Austausch in Lautsprache bedarf zuvorderst ei­ nes Willens zur Kommunikation, der von der Persönlichkeit abhängt, und der die Überwindung von Kom­ munikationsangst ebenso fordert wie den Mut, sich potenzieller Dis­ kreditierung durch „normal“ Hö­ rende auszusetzen. Der Sprung ins kalte Wasser der Kommunikation wird mit der Zeit belohnt: die Kom­ munikationskompetenz reift, die Hemmschwelle sinkt, das Selbstbe­ wusstsein erstarkt. Der Kommuni­ kationswille lässt die Bewältigungs­ strategien überhaupt erst öffentlich in Erscheinung treten. Gelingt es, die Kommunikationshürde zu neh­ men, erweitern sich die beruflichen Möglichkeiten zusehends. (3) Soziale Interaktionen Laut den Interviewten empfiehlt sich ein privater Bekanntenkreis aus Hörgeminderten und „normal“ Hörenden. So kann das eigene Le­ ben mit Impulsen bereichert wer­ 5 | 2014 Spektrum hören 23 Teilhabe / Rehabilitation den, die sowohl die Identität und Handlungskompetenz als Mensch mit Hörminderung stärken als auch Sicherheit in der „Hörendenwelt“ vermitteln. Die Akzeptanz und der Respekt beider Gruppen erweitern die Wahrnehmung und verhelfen zu einer positiven Lebenseinstellung. Von gar nicht zu unterschätzender Bedeutung für Privat- und Berufs­ leben sind Netzwerke. Selbsthilfevereine bieten Beratung an und sind ein Forum für den Austausch mit anderen Betroffenen. So lässt sich hörminderungsspezifisches Fachwissen generieren. Zugleich kann dieser Austausch mit Ande­ ren psychisch entlasten und die Persönlichkeitsentwicklung fördern. Berufliche Netzwerke unterstüt­ zen beim beruflichen Fortkommen. So eröffnete intensives Networking manch Interviewtem konkrete be­ rufliche Optionen. Kommunikativer Mut und ein ho­ her Aktionsgrad brachten einige Interviewte mit Schlüsselpersonen in Kontakt, die ihnen im Studium oder im Beruf entscheidende Hilfe boten. Eine gewisse Extrovertiert­ heit erhöht also die Wahrschein­ lichkeit, wegweisende Menschen zu treffen und davon beruflich zu profitieren. Fazit Berufstätigkeit sollte auf berufliche Selbstverwirklichung zielen. Für eine langfristig zufriedenstellende Berufslaufbahn sollten die eigenen Fähigkeiten und Wünsche immer wieder selbstkritisch und selbstbewusst reflektiert und mit Mut für Neues mit dem Arbeitsmarkt abge­ glichen werden. Berufliche Bewältigungsstrate­gien in den Bereichen (1) Umgangswei­ sen mit der Hörminderung, (2) per­ sönliche Kompetenzen und (3) so­ ziale Interaktionen schaffen Ge­ staltungshoheit für die eigene Berufslaufbahn; zugleich begrün­ den sie Verantwortung für den ei­ genen beruflichen Werdegang. Be­ 24 Spektrum hören 5 | 2014 Grafik: Silvester Popescu-Willigmann; modifiziert nach: Berufliche Bewältigungsstrategien und ‚Behinderung‘ (Springer VS, 2014: S. 194) wältigungsstrategien verbessern im Idealfall über soziale Prozesse die beruflichen Chancen, helfen Stress abzubauen und steigern das persönliche Wohlbefinden ebenso wie die Leistungsfähigkeit. Die Studie lieferte keinen Hinweis darauf, dass berufliche Bewälti­ gungsstrategien zwangsläufig mit einer bestimmten Qualifikation zu­ sammenhängen. Vielmehr beruhen sie auf einer mentalen Disposition, auf einer Form psychischer „Stärke“, und sind nicht nur Menschen mit Hochschulabschluss vorbehal­ ten. Gelegenheiten der persönlichen Weiterentwicklung wie das Engagement in Verbänden und in Netzwerken sowie Beratungs- und Bildungsangebote sollten daher rege genutzt werden. Dann ist die berufliche Selbstverwirklichung trotz vieler Barrieren für Men­ schen mit einer Hörminderung realistisch und erreichbar! Die ausführlichen Studienergeb­ nisse können Sie im Buch „Beruf­ liche Bewältigungsstrategien und ‚Behinderung’“ von Silvester Pope­ scu-Willigmann nachlesen. Weitere Informationen und Leseproben finden Sie auf der Internetseite www.bewaeltigungsstrategien.de Gewinnspiel Sie haben ähnliche oder ganz andere Erfahrungen gemacht? Schreiben Sie uns: redaktion@ spektrum-hoeren.de. Unter allen Einsendungen verlosen wir ein Buch „Berufliche Bewältigungsstrategien und ‚Behinderung’“ von Silvester PopescuWilligmann.