Etzold, Hannemann (Hg.) rhythmos F5821_Etzold.indd 1 02.05.16 13:56 F5821_Etzold.indd 2 02.05.16 13:56 Jörn Etzold, Moritz Hannemann (Hg.) rhythmos Formen des Unbeständigen nach Hölderlin Wilhelm Fink F5821_Etzold.indd 3 02.05.16 13:56 Gedruckt mit Unterstützung des Rektorats der Ruhr-Universität Bochum und der Deutschen Forschungsgemeinschaft Umschlagabbildung und Umschlaggestaltung: Jue Löffelholz, Frankfurt am Main Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2016 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN: 978-3-7705-5821-6 F5821_Etzold.indd 4 02.05.16 13:56 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Jörn Etzold (Evanston/Frankfurt am Main) Formen des Unbeständigen. Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Rhythmus nach Hölderlin Samuel Weber (Evanston/Paris) Zäsur als Unterbindung. Einige vorläufige Bemerkungen zu Hölderlins „Anmerkungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Yashar Mohagheghi (Bielefeld) Zäsur der Zeit und Poetik der Tragödie. Zum Verhältnis von Rhythmus und Gedächtnis im Anschluss an Hölderlins Sophokles-„Anmerkungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Esa Kirkkopelto (Helsinki) Hölderlin, Sophokles und die zwei Rhythmen der Moderne . . . . 85 Marita Tatari (Bochum) Handlung als Rhythmus in der antiken Tragödie . . . . . . . . . . . . 107 II. Politiken des Rhythmus Martin Jörg Schäfer (Hamburg) Mimetischer Rhythmus. Zur Bedingtheit von Platons politischem Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Hanna Höfer-Lück (Bochum) Synkope und Chor. Roberto Rossellinis Stromboli. Terra di Dio . . 155 III. Poetiken des Rhythmus Maud Meyzaud (Hagen) Zufall, Roman, „romantischer Rhythmus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 F5821_Etzold.indd 5 02.05.16 13:56 6 Inhalt Thomas Forrer (Luzern) Rhythmischer Transport. Zur Tropik von Rhythmus (Rilke, Benjamin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 IV. Rhythmische Räume Ulrike Haß (Bochum) Das größere Theater Kleists . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Jörn Etzold (Evanston/Frankfurt am Main) Milieus, Rhythmen, Licht. Zwischen Appia und Uexküll . . . . . . 253 Moritz Hannemann und Rasmus Nordholt (Bochum) Zwischen Figur und Landschaft, Ritornell und Musik. Zum rhythmischen und musikalischen Denken von Gilles Deleuze und Félix Guattari . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Laurent Chétouane „Ich habe die Wände lange gebraucht, jetzt nicht mehr“. Gespräch mit Jörn Etzold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Jue Löffelholz rêve de la rive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 F5821_Etzold.indd 6 02.05.16 13:56 Vorwort Rhythmus ist einer jener vermeintlich untergeordneten, randständigen Begriffe, die das Potential haben, ins Zentrum des Theaters zu führen. Nicht etwa, weil der Rhythmus selbst im Mittelpunkt des Theaters stünde, sondern weil die Frage nach dem Rhythmus jenen Zusammenhang, der das Theater ist, in den Blick zu nehmen vermag: das Verhältnis seiner Elemente noch vor jeder Art von Synthese und Einheit, die Bewegungen ihres Werdens, insofern sie immer schon in Relation zueinander stehen. Dies ist kein Privileg des Theaters und vermutlich nicht einmal eines der Kunst. Und doch ist die Frage nach dem Rhythmus im Bereich der Künste von besonderer Bedeutung, insofern sie auf die Komposition der Körper, Stimmen, Figuren, Farben, Töne und Geräusche zielt. Die Formen des Unbeständigen in Theater, Literatur, Film und Musik, die die Beiträge dieses Buches befragen und diskutieren, sind in diesem Sinne keine Symptome des Mangels, sondern der Fülle des Lebendigen. Wenn wir uns für den Titel für das griechische Wort rhythmos (nicht für das latinisierte Rhythmus) entschieden haben, dann nicht nur aufgrund der etymologischen Herkunft, sondern weil mit der Frage des Rhythmus immer wieder das Verhältnis von Antike und Moderne auf dem Spiel steht – das heißt die ‚Gründung‘ der Moderne, ihres Theaters und ihrer Literatur mittels einer paradoxen, doch hochproduktiven Bezugnahme auf die Antike. Das Werk Hölderlins kann in diesem Zusammenhang als Scheitelpunkt begriffen werden, der wiederum zu einer neuen Referenz wurde. Entsprechend heißt „nach Hölderlin“ einerseits bei Hölderlin, zugleich aber zeitlich nach, in der Folge von, im Anschluss an Hölderlin. Weder der Bezug auf die griechische Antike noch auf Hölderlin sind dabei rückwärtsgewandt oder sentimental. Vor allem handelt es sich um jene Konstellation, in der die Nachgeborenen stehen bzw. in die sie sich stellen, um zu werden, was sie sind. Uns eingeschlossen. Eben diese Theorie und Praxis der Bezugnahme ist wesentlich rhythmisch. Dieses Buch versammelt nach einer Einführung elf Aufsätze und ein Gespräch in vier Teilen – „Rhythmus nach Hölderlin“, „Politiken des Rhythmus“, „Poetiken des Rhythmus“ und „Rhythmische Räume“. Der erste Teil besteht aus drei Aufsätzen, die unmittelbar Hölderlins Denken des poetischen Rhythmus untersuchen; der vierte Beitrag F5821_Etzold.indd 7 02.05.16 13:56 8 Vorwort schlägt dann eine Brücke zu Hegels Philosophie der Kunst, genauer: zu seinem Denken des Dramas und der Tragödie. Samuel Weber wendet sich in seinem Aufsatz Hölderlins viel diskutierter Rede von der „Zäsur“ als „gegenrhythmischer Unterbrechung“ zu. Anders als Philippe Lacoue-Labarthe in seinen folgenreichen Lektüren behauptet, eröffne diese Unterbrechung jedoch, so Weber, keine „Leere“. Vielmehr sei sie im doppelten Sinne des Wortes eine „Unterbindung“: Unterbindung der Handlung und ihre gleichsam unterirdische Anbindung an dasjenige, was Weber mit Blick auf Walter Benjamins Hölderlin-Lektüre als „mythische Verbundenheiten“ bezeichnet. Die Anbindung an diese Verbundenheiten generiert im Verlauf der Tragödie einen Rhythmus, „der sich aus einer Reihe exzentrischer Momente bildet.“ Auch Yashar Mohagheghi widmet sich Hölderlins „Anmerkungen“ zu Sophokles, in denen die griechische Tragödie als Scheidung von Menschen und Göttern verstanden wird. Seinen Aufsatz leitet daher die Frage, wie ein Gedächtnis möglich sein kann, das der abwesenden Götter gedenkt – ein Gedächtnis ohne Referenz. Der Bezug auf die von den Göttern gelassene Leere bewege die Dichtung und erzeuge ihren immanenten, zäsurierten Rhythmus. Der Rhythmus erinnere somit nicht ein verlorenes Objekt, sondern jene „Zeitlichkeit“, die durch die Abkehr der Götter gestiftet wird. Weber weist in seinem Text darauf hin, dass die Folge der „mythischen Verbundenheiten“ – verstanden als Fluch, der auf den Labdakiden liege – erst am Ende von Sophokles’ letzter Tragödie wirklich sichtbar werde: Sie bildet gleichsam den Fluchtpunkt der „Anmerkungen“, denn Hölderlin erklärt dort, dass die moderne („hesperische“) Tragödie „mehr im Geschmake des Oedipus auf Kolonos“ sei. Esa Kirkkopelto liest in seinem Aufsatz eben diese Tragödie ‚mit Hölderlin‘: Sie weist auf das „Schicksaallose“, das „dysmoron“ der Modernen voraus, das – im Vokabular von Hölderlins „Lehre vom Wechsel der Töne“ – nicht im tragischen, sondern vielmehr nur im epischen „Kunstcharakter“ ausgedrückt werden kann. Der innere Rhythmus dieser letzten Tragödie ergibt sich daher, so Kirkkopelto, aus einem Wechsel zwischen dem Zögern und dem schnellem Vorausschreiten im Angesicht dieses Schritts in die epische, schicksalslose Moderne. Nicht Hölderlin, sondern Hegel steht im Zentrum von Marita Tataris Beitrag, der den Begriff der „Handlung“ neu zu denken versucht: „Handlung“ sei bei Hegel das Kunstwerk überhaupt als „Differenzzu-sich“; sie sei die immanente Unruhe, die es in Bewegung versetzt – und somit wesentlich Rhythmus. Handlung finde in der Tragödie nicht allein zwischen den Protagonisten statt, sondern vor allem zwi- F5821_Etzold.indd 8 02.05.16 13:56 Vorwort 9 schen den Protagonisten und dem Chor. Diese These wird mit der Lektüre zweier Essays zu „Ödipus auf Kolonos“ kontextualisiert: der eine stammt von Samuel Weber, der andere ist der hier abgedruckte von Esa Kirkkopelto. Der zweite Teil widmet sich der politischen Dimension des Rhythmus. Martin Jörg Schäfer untersucht in seinem Beitrag das Verhältnis von Theater und Erziehung in Platons idealem Staat. Die Unterscheidung von „wohlgemessenen“ und „unregelmäßigen“ Rhythmen erscheint als eine eminent politische: Wer in den einen singt, darf die polis betreten, wer in den anderen singt, sollte jedoch draußen bleiben. Doch auch die Organisation der polis nach den Prinzipien der „wohlgemessenen“ Rhythmen benötigt eine Form von Theater, auch die Erziehung der Wächter erfolgt auf theatrale Weise, durch mimesis. Nur kennt diese mimesis feste Grenzen, ihr Rhythmus ist eingehegt. Hanna Höfer-Lücks Aufsatz widmet sich der Rolle der Musik und des Chores in Roberto Rossellinis Stromboli. Terra di Dio. Dabei liegt ihr Augenmerk auf dem synkopierten Leitmotiv der Filmmusik, welches auf die medizinische Synkope – die Ohnmacht – der Protagonistin vorausweise. Jene Protagonistin, eine „displaced person“ mit unklarer Vorgeschichte, steht in der kargen Landschaft am Stromboli einem autochthonen Chor gegenüber, mit dem hier wenig Verheißungen verknüpft sind: Die radikal anders verfasste Chorfigur agiert vor allem als Organ sozialer Kontrolle und des Ausschlusses der Einzelfigur. Im dritten Teil werden die poetologischen Diskussionen des ersten Teils aufgegriffen, aber auf andere Gegenstände ausgedehnt. Eine besondere Rolle spielen dabei die Arbeiten Walter Benjamins, dessen Beeinflussung durch Hölderlin – vor allem in den jungen, prägenden Jahren – gar nicht überschätzt werden kann. Maud Meyzauds Beitrag geht von einem Diktum Benjamins in seiner Dissertation über die Kunstphilosophie der Frühromantik aus, in der es heißt: „Die Idee der Poesie ist die Prosa.“ Der „romantische Rhythmus“, dem sie vor allem in detaillierten Novalis-Lektüren nachspürt, ist nüchtern, gleichförmig; er ist kein Rhythmus des mündlichen Vortrags, sondern der Schrift; und seine Form ist nicht das Gedicht, sondern der Roman – als Gattung, die alle anderen Gattungen in sich fasst und zugleich auflöst. Thomas Forrers Beitrag geht von einer medienhistorischen Beobachtung aus: In Bezug auf den Rhythmus der Lyrik stellt er eine Analogie zwischen Transportmitteln und Versmaßen fest. Die Folge von Fuß, Pferd und Eisenbahn kann somit als „Entrückung der rhythmischen Bewegung“ gelesen werden, als ihre sukzessive Loslösung vom Körper. Vor allem in einer detaillierten Lektüre des „Reiter“-Sonetts F5821_Etzold.indd 9 02.05.16 13:56 10 Vorwort aus Rilkes Duineser Elegien weist Forrer, unter Bezugnahme auf Émile Benveniste, die Doppelgestalt des Rhythmus auf: als Form und als Fließen, als Trope und als Vers. Rhythmus zeigt sich dann als Umschlag, der „die Figuren im Gedicht gegenüber der Bewegung hervortreten lässt“. Eine ähnliche Denkfigur findet Forrer schließlich in Benjamins Rede vom „Strudel“ in der „Erkenntniskritischen Vorrede“ des Trauerspielbuchs. Der letzte Teil ist dem Theater und der Musik gewidmet – und letztlich beidem: einem musikalischen, rhythmischen Theater. Ulrike Haß widmet ihren Aufsatz dem „größeren Theater Kleists“. Dieses größere Theater lässt sich nicht in modernen Bühnenräumen einschließen; seine Rhythmik wird bestimmt durch seine Offenheit, seine Unabgeschlossenheit und seine Durchlässigkeit zu dem, was ihm vorausgeht und was ihm folgt. Zunächst in einer Briefstelle, in der er die Stadt Würzburg im Sonnenuntergang als ein riesiges Amphitheater beschreibt, das mit dem Kosmos korrespondiert, ferner im GuiskardFragment und in seinen Erzählungen entwirft Kleist ein Theater der Vielen und des Vielen: In diesem „unermesslichen Theater sind alle versammelt“, sein Maß ist nicht mehr der Mensch. Ein anderes Theater suchte auch Adolphe Appia in seinen Entwürfen „Rhythmischer Räume“. Appia denkt jene als Theaterräume, die nicht mehr durch optische Konstruktion, sondern akustisch hervorgebracht werden. Durch eine neue Art des Tanzes kann die Musik – die für den jungen Appia die Musik Wagners ist – raumgebend werden. Jörn Etzolds Aufsatz vergleicht die folgenreichen Ideen Appias mit der ihnen zeitgenössischen Umweltlehre Jakob von Uexkülls: In beiden Konzepten artikuliert sich eine epistemologische Erschütterung „um 1900“, in der das traditionelle Denken von Raum und Zeit fraglich wird. Dieser Erschütterung sollten andere Erschütterungen folgen: Die rhythmischen Räume sind Zeugnisse einer krisenhaften Zeit. Während Appias Wirkung auf das Theater des zwanzigsten Jahrhundert kaum überschätzt werden kann, wurde Uexküll, wenn auch weniger in der Biologie, so doch in der Philosophie bei Heidegger und Merleau-Ponty sehr stark rezipiert – bis hin zu Deleuze/Guattari und den heutigen environmental studies. Moritz Hannemann und Rasmus Nordholt gehen in ihrem Aufsatz dem Rhythmus-Denken von Deleuze und Guattari nach, welches nicht nur ein Denken über Rhythmus, sondern ein rhythmisches Denken ist. Musik erscheint in Tausend Plateaus im Spannungsfeld von Territorialisierung und Deterritorialisierung; ebenso wie das „Ritornell“ – zum Beispiel als Gesang eines Vogels – ein Territorium schafft, erzeugt der Rhythmus zugleich dessen stetige Auflösung. Rhythmus, so Hannemann und Nordholt, spielt F5821_Etzold.indd 10 02.05.16 13:56 Vorwort 11 sich „zwischen verschiedenen Milieus im Sinne von raum-zeitlichen Gefügen“ ab und ist als „deren Verhältnis, ihre Interaktion und gegenseitige Variation zu begreifen“. Am Ende der Sektion zu einem größeren, rhythmischen Theater steht ein Blick in die Praxis: Im Gespräch mit Jörn Etzold erzählt der Regisseur und Choreograph Laurent Chétouane von seinem Verhältnis zu Hölderlin, von den Techniken, die er verwendet, um den Raum der Bühne zu messen, von den Wänden und dem Boden im Theater und von der Arbeit mit und gegen Strawinskys Musik in seiner Choreographie Sacré Sacre du Printemps von 2012. Eröffnet und abgeschlossen wird dieser Band von Jue Löffelholz, der den Einband und die Kapitelteiler als raumzeitliche Variation über Hölderlins Ausruf aus den Turmjahren, „Pallaksch!“, gestaltet hat – weniger im Sinne eines Artworks, sondern vielmehr im Sinne eines eigenen Beitrags, der an dem Bündel von Fragen Anteil hat, die die Texte in diesem Buch umtreiben. Ein Essay des Künstlers schließt den Band ab. Dem vorliegenden Band ging die Tagung „Rhythmus der Vorstellungen“ voraus, die am 2. und 3. November 2012 im Schauspielhaus Bochum stattfand. Die keynote address hielt Samuel Weber. Die Tagung stand im Kontext des DFG-Projekts „Theater, Rhythmus und Demokratie“ und wurde mit Mitteln der „Novizenprämie“ des Rektorats der Ruhr-Universität Bochum finanziert. Wir danken Olaf Kröck und Justus von Verschuer vom Schauspielhaus Bochum für die organisatorische Unterstützung, außerdem Sina-Marie Schneller für ihre Hilfe bei der Durchführung der Tagung. Unser ganz besonderer Dank gilt Mechthild Heede (†) vom Institut für Theaterwissenschaft der RuhrUniversität Bochum für die liebevolle Hilfe bei der Vorbereitung. Sie fehlt uns. Von wenigen Ausnahmen abgesehen handelt es sich bei den Texten des vorliegenden Bandes um die überarbeiteten und weiterentwickelten Fassungen der im Rahmen der Tagung gehaltenen Vorträge. Der Beitrag von Esa Kirkkopelto erschien zunächst in der Zeitschrift Po&sie (Nr. 141, 2012), Almut Pape hat ihn aus dem Französischen übersetzt. Alle anderen Texte sind Originalbeiträge. Die Herausgeber Chicago und Bochum, im September 2015 F5821_Etzold.indd 11 02.05.16 13:56 F5821_Etzold.indd 12 02.05.16 13:56 Jörn Etzold (Evanston/Frankfurt am Main) Formen des Unbeständigen Zur Einführung I. Rhythmus und Takt Eine grundlegende Schwierigkeit des europäischen Denkens ist sein Beharren auf binären Oppositionen. Auch der Rhythmus wurde in der langen Geschichte seiner musikologischen, poetologischen oder politischen Theoretisierung oft in Bezug auf ein Gegenüber definiert: auf den Takt. Rhythmus ist fast immer dasjenige, was nicht Takt, aber ohne den Takt nicht denkbar ist. Der Unterschied zwischen beiden Begriffen lässt sich sofort feststellen, wenn man ein Musikstück aus der neueren europäischen Tradition hört – aus einer Tradition vom Barock bis hin zum Jazz und Pop, aber diesseits von Cage und Messiaen: Ein solches Stück bezieht seine innere Spannung eben aus dem Verhältnis von Takt und Rhythmus. Zwischen ihnen steht das Metrum, das aus dem griechischen metron abgeleitet ist, dem Maß. Takt und Metrum werden oft synonym verwendet, aber sie sind nicht identisch: Der Takt ist das Grundschema, er beruht auf der gleichmäßigen Teilung eines Zeitraums in gleich große Intervalle; das Metrum hingegen ist Struktur der Betonung der einzelnen Teile in diesem Takt. So ist ein Marsch ebenso wie ein Swing-Stück im 4/4-Takt notiert; im Marsch jedoch wird der zweite und der vierte Taktteil betont; im Swing der erste und der dritte: Obwohl beide Stücke den gleichen Takt haben, ist ihr Metrum verschieden. Das Metrum ist also bereits ein Mittler zwischen dem Takt und dem Rhythmus. Jener ist in den seltensten Fällen mit Takt oder Metrum identisch; fast immer ist der Rhythmus eine Abweichung vom Takt, die sich jedoch – zumindest in den erwähnten Musikformen – nicht von ihm löst, sondern ihn umspielt, variiert, Synkopen setzt, Triolen oder Hemiolen einfügt und doch immer wieder zum Takt zurückkehrt. Takt wäre dann die zählbare Regel, Rhythmus die freie Variation dieser Regel. Dieses Verhältnis ist prägend für die gesamte europäische Theoriebildung. Etabliert wurde es von Platon. Doch auch Platons Verständnis vom Takt ist nicht das unsrige: Denn dem modernen Takt liegt die F5821_Etzold.indd 13 02.05.16 13:56 14 Jörn Etzold Möglichkeit einer homogenen Messung von Zeit zugrunde, die sich erst gegen Ende des Mittelalters mit der Erfindung mechanischer Uhren durchsetzte und dann in der Musik des Barock hörbar wurde.1 Ein solches Maß – das auch erst die Generalpause möglich machte – lag den Griechen, die das Maß aus dem Gesang nahmen, nicht vor. In seiner vorplatonischen Bedeutung aber ist Rhythmus noch gar nicht an einen regelmäßigen Takt und eine Wiederkehr identischer Einheiten gebunden. Wie Émile Benveniste gezeigt hat, war rhythmos bei den vorsokratischen Philosophen, Lyrikern und Tragikern zunächst eine besondere Form von Raum und Zeit – die „improvisierte, momentane und veränderliche Form“.2 Benvenistes Versuche, die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs rhythmos freizulegen, hat jedoch auch Vorgänger im philosophischen Denken des zwanzigsten Jahrhunderts: Rhythmus wird dort eben nicht als Variation eines festen, zählbaren Maßes verstanden, sondern als Eröffnung eines anderen Maßes – im Raum und in der Zeit, in der Verbindung beider. Im Denken des Rhythmus wird die Frage danach gestellt, was überhaupt ein Maß ist, wie ein Maß gegeben wird. Somit soll sich der Begriff des Rhythmus auch aus seiner wirkungsmächtigen Beziehung zum Takt und zum Messen in gleichförmigen Einheiten lösen. Vielmehr wird mit dem Rhythmus – in verschiedenen Ausprägungen – ein anderes Verständnis von Zeit und Raum, vom Zeitraum gesucht und jene grundlegende Definition von Raum und Zeit in Frage gestellt, die Immanuel Kant in der „transzendentalen Ästhetik“ gibt, die er seinem Projekt einer Kritik der reinen Vernunft voranstellt: „Raum und Zeit sind quanta continuata, weil kein Teil derselben gegeben werden kann, ohne ihn zwischen Grenzen (Punkten und Augenblicken) einzuschließen, mithin nur so, daß dieser Teil selbst wiederum ein Raum, oder eine Zeit ist. Der Raum besteht also nur aus Räumen, die Zeit aus Zeiten.“3 Martin Heidegger, Walter Benjamin, Gilles Deleuze und Félix Guattari und andere haben 1 Zur Herausbildung der gleichmäßig messbaren Zeit vgl. die einschlägigen Untersuchungen Jacques LeGoffs, vor allem: Kultur des europäischen Mittelalters, München, Zürich 1970 und Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und Kultur im Europa des 5.-15. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1984. 2Émile Benveniste, „Der Begriff des ‚Rhythmus‘ und sein sprachlicher Ausdruck“, in: ders., Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, Frankfurt am Main 1977, S. 363-374, hier 371. 3 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1995, Bd. III/IV, hier III, S. 211. F5821_Etzold.indd 14 02.05.16 13:56 Formen des Unbeständigen 15 dieser kantischen Prämisse auf verschiedene Weise widersprochen und ein anderes Denken von Raum und Zeit experimentiert, das immer wieder Rhythmus als Formgebung des Unbeständigen ins Spiel bringt. Wenn Rhythmus aber eine solche Form ist, dann hat er auch eine intrinsische politische Dimension. Politisch heißt hier: bezogen auf die Formen des Zusammenlebens. Jenes besteht immer schon im Teilen: Singuläre Lebewesen teilen sich ihre endliche Zeit und einen begrenzten Raum. Nach welchen Rhythmen sie dies tun, mit welchem Maß sie jene überhaupt messen, sind zentrale Themen jeder Politik. Nicht ohne Grund war eines der ersten großen emanzipatorischen Themen die Dauer der Arbeitszeit. Auch hier lässt sich freilich wieder ein konventionelles Verständnis von Takt und Rhythmus anlegen: Dann wäre die Arbeit dem strengen Takt untergeordnet, die Freizeit variiert eine luftige Melodie in lockeren Rhythmen, die sich letztlich doch dem Takt fügt. Und Arbeit und Freizeit generieren dann wiederum verschiedene räumliche Konstellationen: Büros sind streng geometrisch eingerichtet und ermöglichen den Takt der Arbeit; Freizeitumgebungen sind meist weiche und flexible, rhythmische Arrangements. Doch diese verschiedenen Raumordungen verlieren ihre strikte Trennung in der Ausgestaltung von Arbeits- als Freizeitumgebungen und im Eindringen von Arbeit in jeden Winkel der Freizeit. Doch diese Aufweichung soll nicht täuschen: Bis heute liegt der Moderne der gleichmäßige Takt zugrunde, den schon Karl Marx in seiner Analyse der Ware als „Elementarform“4 der kapitalistischen Gesellschaft herausstellte. Ohne die genaue Messung von Raum und Zeit gäbe es keinen Börsenhandel, keine Mikroelektronik, keine Infrastruktur. Lassen sich Raum und Zeit überhaupt anders denken denn als voneinander getrennt und je in kleinste Elemente teilbar? Eine Kunstform, die in besonderer Weise den Rhythmus als Aufteilung von Raum-Zeit erforscht, ist das Theater. Seit der Neuzeit findet das westliche Theater in genau ausgemessenen und explizit nach geo-metrischen Prinzipien optisch erschlossenen Räumen statt.5 Und anders als in fast allen anderen Kulturen geht man in der Moderne abends, nach der Arbeit ins Theater. Doch spätestens seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, seit Antonin Artauds „Theater der Grausamkeit“ und Adolphe Appias „rhythmischen Räumen“, sucht das Theater in besonderem 4 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. I, in: ders., Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1962, S. 49. 5 Zur Genese dieser „Bühnenform“ vgl. die Studie von Ulrike Haß, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005. F5821_Etzold.indd 15 02.05.16 13:56 16 Jörn Etzold Maße nach anderen Zeiträumen, die nicht optisch konstruiert und homogen messbar sind, sondern in Bewegung, unbeständig, occasionell und die nicht die Akteure wie Dinge in sich aufbewahren, sondern die zugleich mit ihnen erscheinen und verschwinden. Diese Zeiträume lassen sich dann auch nicht mehr im Theatergebäude unterbringen: So lässt Artaud das Theater in seinem wohl radikalsten Text nicht in einem abgesonderten Gebäude zu einer abgesonderten Zeit stattfinden, sondern – als Pest – inmitten des zerfallenden sozialen Raums von Marseille.6 Wie aber sind diese Zeit-Räume zu messen? Welche Form wird in ihnen oder: durch sie dem Unbeständigen gegeben? Hat ein solches Theater noch eine Form oder ist es nichts weiter als die Auflösung jeder Form? Doch auch in konventionelleren Theaterraufführungen wird ein Raum erzeugt, der zeitlich und beweglich ist: Sprache und Musik werden raumbildend, zwischen den Sprechenden und sich Bewegenden entstehen flüchtige Konstellationen. Vielleicht wird hier mit einem anderen Maß experimentiert: Doch ist dieses Maß im Theater fast immer an den menschlichen Körper gebunden, sosehr es auch über ihn hinausreichen mag. Das unterscheidet das Theater von den Mikro- und Makro-Rhythmen der Ökonomie, vom algorithmenbasierten Finanzhandel oder von den Jahrmillionen des Nuklidenverfalls. Ist das Theater daher altmodisch und erledigt, Teil der alten und überkommenden Künste des „Menschen“, dessen Wissen und Technik seine biologischen Bedingtheiten mittlerweile weit übersteigen? Oder erinnert es an den Leib als jener Grundbedingung alles Wahrnehmens, Denkens, Empfindens? Denn dies ist eine Besonderheit des Begriffs „Rhythmus“: Vermutlich ist es sinnlos, ihn zu verwenden, wenn er nicht auf einen Leib bezogen wird, der den Rhythmus empfindet. Das Wort „Rhythmusgefühl“ zumindest ist deutlich gebräuchlicher und auch eingängiger als „Rhythmusdenken“. Die Konzeption des vorliegenden Buches geht in besonderer Weise von Friedrich Hölderlins Theorie und Praxis des poetischen Rhythmus aus, wie sie 1804 in den „Anmerkungen“ zu seinen Übersetzungen der sophokleischen Tragödien „Oedipus der Tyrann“ und „Antigonä“ formuliert und in den Gedichten, vor allem in den späten „Gesängen“, experimentiert wurden. Hölderlin bestimmt in den „Anmerkungen zum Oedipus“ den „ganzen Menschen“ – der über 6 Vgl. Antonin Artaud, „Das Theater und die Pest“, in: ders., Das Theater und sein Double. Werke in Einzelausgaben, Bd. 8, übers. v. Gerd Henniger, München 2012, S. 18-41. F5821_Etzold.indd 16 02.05.16 13:56 Formen des Unbeständigen 17 die Vermögen der „Vorstellung“, der „Empfindung“ und des „Räsonnement“ verfügt – als „Empfindungssystem“.7 Und dieses Empfindungssystem bewegt sich in einem genauer zu bestimmenden Rhythmus, der den Zeitraum der theatralen Aufführung bestimmt. Doch wie kann man über etwas sprechen, was vor allem gefühlt wird? Hier lautet die Antwort Hölderlins: nicht in den Begriffen der „Philosophie“, sondern nur durch die „Poësie“ – obwohl dieses Wort in seinen Schriften vielleicht nicht das meint, was wir uns gängigerweise darunter vorstellen. Im Folgenden soll dennoch zunächst versucht werden, einiges über das Denken des Rhythmus zu sagen. II. Émile Benvenistes Etymologie von „rhythmos“ Kehren wir daher zu Émile Benvenistes etymologischer Untersuchung des griechischen Wortes rhythmos zurück. In einem kurzen und prägnanten Aufsatz in Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft verfolgt Benveniste die Genese dieses Begriffs von den griechischen Lyrikern, Tragikern und vorsokratischen Philosophen bis hin zu Platon. Dabei räumt er zunächst ein gängiges Missverständnis aus: Rhythmos bezeichnet nicht, wie oft angenommen, das regelmäßige Kommen und Gehen der Wellen, es bezeichnet keinen immer wiederkehrenden Naturvorgang. Rhythmos ist in seiner ersten Bedeutung kein natürliches Geschehen; es gibt somit gar keinen natürlichen Rhythmus (auch keinen, den die ‚arrhythmische‘ Moderne wiederfinden könnte, wie unter anderem die Lebensreformbewegung gehofft hat8). Ganz im Gegenteil: Bei Demokrit bezeichnet rhythmos vielmehr „die distinktive Form […], die charakteristische Anordnung der Teile in einem Ganzen.“9 Auch wird das Wort verwendet, um „die individuelle und distinktive ‚Form‘ des menschlichen Charakters zu definieren“; im Sinne von „Veranlagungen“.10 Bei Theokrit findet es sich in der Bedeutung von 7 Friedrich Hölderlin, „Anmerkungen zum Oedipus“, in: ders., Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. D. E. Sattler, Frankfurt am Main u. Basel 1975-2008 (FHA), Bd. 16, S. 247-258, hier 250. 8 Vgl. dazu Gabriele Brandstetter, „Rhythmus als Lebensanschauung. Zum Bewegungsdiskurs um 1900“, in: Christa Bürstle u. a. (Hg.), Aus dem Takt. Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur, Bielefeld 2005, S. 33-44. 9Benveniste, „Der Begriff des ‚Rhythmus‘ und sein sprachlicher Ausdruck“, S. 367. 10 Ebd., S. 368. F5821_Etzold.indd 17 02.05.16 13:56 18 Jörn Etzold „Haltung“11 und bei Sophokles findet Benveniste das Verb rhythmiso in der Bedeutung von „vorstellen, lokalisieren“.12 Arrhythmos hingegen ist bei Euripides eine „unproportionierte Leidenschaft“, die jede Haltung, Vorstellung und Form überschreitet. Das Wort rhythmos bedeutet also „‚distinktive Form, proportionierte Figur; Veranlagung‘ in den vielfältigsten Anwendungen.“13 Benveniste hebt zudem eine morphologische Besonderheit von rhythmos hervor, die das Wort von den anderen Formbegriffen des Griechischen – schema, morphe, eidos – unterscheidet: seine Endung auf -(th)mos. Jene gebe „nicht die Vollendung des Begriffs an, sondern die besondere Modalität der Vollendung, wie sie sich der Anschauung darbietet. Z. B. ist orchesis die Tätigkeit des Tanzens, orchethmos der besondere, in einem Ablauf betrachtete Tanz; […] stasis ist die Tatsache der Haltung; stathmos die Art der Haltung, daher: das Gleichgewicht einer Waage, oder: zufällige Station usw.“14 Die Endung -(th)mos ermöglicht also, in den eigentümlichen Worten aus Hölderlins „Anmerkungen zum Oedipus“, „bei jedem Dinge, vor allem darauf [zu] sehen, daß es Etwas ist, d. h. daß es in dem Mittel (moyen) seiner Erscheinung erkennbar ist“.15 Sie bindet jede Erscheinung an die Modalität. Rhythmos wäre dann also eine Form, die sich immer wieder erst in ihrem Vollzug, in der Art und Weise ihres Erscheinens formieren und zeigen kann. Das Wort bezeichnet keine „Form, die fest und verwirklicht ist und in gewisser Weise als ein Gegenstand hingestellt wird“, sondern „die Form in dem Augenblick, in dem sie angenommen wird durch das, was beweglich, flüssig ist, was keine organische Konsistenz besitzt“.16 Die Bedeutung des Begriffs, die bis heute recht konstant geblieben ist, wird dann erst von Platon festgesetzt: Er spricht im Philebos von den Qualitäten, die „den Bewegungen der Körper inhärent sind, die den Zahlen unterworfen sind und die man Rhythmen und Maße – rhythmous kai metra – nennen muss.“17 Benveniste folgert: „Der entscheidende Umstand [also: die Abgrenzung zum vorsokratischen Den11Ebd. 12Ebd. 13 Ebd., S. 369. 14 Ebd., S. 370. 15 Hölderlin, „Anmerkungen zum Oedipus“, S. 249. 16Benveniste, „Der Begriff des ‚Rhythmus‘ und sein sprachlicher Ausdruck“, S. 370 f. 17 Zitiert nach ebd., S. 373 (Platon, Philebos, 17d). F5821_Etzold.indd 18 02.05.16 13:56 Formen des Unbeständigen 19 ken des Rhythmus, JE] liegt darin, im Begriff eines körperlichen rhythmos, der sich mit dem metron verbindet und dem Gesetz der Zahlen unterworfen ist. Diese ‚Form‘ wird von nun an durch ein ‚Maß‘ bestimmt und einer Ordnung unterworfen.“18 Bei Platon wird der Begriff des Rhythmus festgesetzt: Er steht nun in einem Verhältnis zum Maß und zu den Zahlen – auch wenn das griechische Metrum, als Metrum des Gesangs, noch nicht an die homogene Messung von Zeit gebunden war. Doch die Gleichsetzung von Maß und Zahl im Rhythmus wird im Übergang von der griechischen zur römischen Antike noch einmal verdeutlicht in der Übersetzung von rhythmos als numerus: Rhythmus ist nun das, was zählbar ist – und so finden sich z. B. bei Augustinus Überlegungen zum Rhythmus in Verbindung mit Spekulationen über die Trinität und die göttliche Ordnung von Zahlen.19 Der Rhythmus, den Platon in einen Zusammenhang mit dem Zählen bringt, bekommt bei ihm jedoch auch eine politische Dimension, er ist bedeutsam in Bezug auf den idealen Staat. Von den Rhapsoden sollen nur jene in die Polis eingelassen werden, die in gleichmäßigen, nicht aber jene, die in unregelmäßigen Rhythmen vortragen und gar Naturlaute nachahmen.20 Das Gleichmaß des Rhythmus ist moralisch und politisch erstrebenswert; der ungebundene Rhythmus aber ist es nicht. Ist der Rhythmus erst als Gleichmaß definiert, dann soll auch der Staat nach einem gleichmäßigen Muster geschaffen werden: Noch in der Moderne liegt im regelmäßigen Wechsel ein Substitut für die verlorene Anbindung an die Transzendenz, die vormoderne Souveräne behaupteten: Auch heute noch ist die Regelmäßigkeit von Wahlen und Zinszahlungen ein Zeichen eines geordneten und funktionalen Staatswesens, wohingegen häufige Regierungswechsel oder gar finanzielle Arrhythmien als sicheres Zeichen für „Chaos“ gedeutet werden, also für das Erscheinen der ungreifbaren und formlosen Urmaterie, die als Kosmos rhythmisiert wurde. 18 Ebd., S. 373. 19Vgl. zur Geschichte des Begriffs auch Wilhelm Seidel, Art. „Rhythmus“, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Lexikon ästhetischer Grundbegriffe, Bd. V, Stuttgart u. Weimar 2003, S. 291-314. 20 Vgl. Platon, Der Staat/Politeia, 401a. F5821_Etzold.indd 19 02.05.16 13:56 20 Jörn Etzold III. Hölderlins poetischer Rhythmus In diesem Buch werden verschiedene Formen des Unbeständigen „nach Hölderlin“ untersucht. Dieses „nach“ ist nicht chronologisch oder gar rezeptionsgeschichtlich gemeint; doch sind fast alle Beiträge in diesem Band „nach“ Hölderlin geschrieben, gen Hölderlin, in seine Richtung oder auch gegen ihn. Denn Hölderlin radikalisiert das Denken des Rhythmus in seinen poetologischen und politischen Konsequenzen. Auch Hölderlin scheint zunächst auf die kanonische Unterscheidung zwischen Rhythmus und Takt anzuspielen, wenn er in den „Anmerkungen zur Antigonä“ Philosophie und Poesie gegenüberstellt. Dabei soll ein Rhythmus gewonnen und erlernbar werden, der fähig ist, die verschiedenen Vermögen des „Empfindungssystems“ Mensch in ein Verhältnis zueinander zu setzen.21 Über die Regel, der die Dramaturgie der sophokleischen Tragödie Antigone folgt, schreibt Hölderlin: Sie ist eine der verschiedenen Successionen, in denen sich Vorstellung und Empfindung und Räsonnement, nach poëtischer Logik, entwikelt. So wie nemlich immer die Philosophie nur ein Vermögen der Seele behandelt, so daß die Darstellung dieses Einen Vermögens ein Ganzes macht, und das blose Zusammenhängen der Glieder dieses Einen Vermögens Logik genannt wird; so behandelt die Poësie die verschiedenen Vermögen des Menschen, so daß die Darstellung dieser verschiedenen Vermögen ein Ganzes macht, und das Zusammenhängen der selbstständigeren Theile der verschiedenen Vermögen der Rhythmus, im höhern Sinne, oder das kalkulable Gesez genannt werden kann.22 Zunächst fällt hier die Unterscheidung in Bezug auf die menschlichen Vermögen auf: Die Philosophie behandelt immer nur ein Vermögen zur Zeit; die Poesie aber bringt alle drei – also Vorstellung und Empfin- 21 Eine etwas unterkomplexe, aber nicht uninteressante Studie findet in Hölderlins Schriften deswegen gar neuere Ergebnisse der Hirnforschung präfiguriert. Vgl. Detlef B. Linke, Hölderlin als Hirnforscher, Frankfurt am Main 2005. 22 Friedrich Hölderlin, „Anmerkungen zur Antigonä“, FHA 16, S. 409-421, hier 411. F5821_Etzold.indd 20 02.05.16 13:56 Formen des Unbeständigen 21 dung und Räsonnement – zugleich ins Spiel.23 Aber eben deswegen benötigt die Poesie eine andere Form der Organisation; ihr Rhythmus verbindet die „selbstständigeren Theile“. Jene sind nicht absolut ‚selbständig‘, sondern nur relativ selbständiger als die Glieder der Philosophie; wie an vielen entscheidenden Momenten seines Denkens verwendet Hölderlin auch hier den Komparativ.24 Die Formel der „selbstständigeren Theile“ findet sich bereits in ähnlicher Form (wenn auch absolut verwendet) in einem Brief Hölderlins an seinen Freund Isaac von Sinclair vom 24.12.1798, zur Zeit der Arbeit am ersten Entwurf seines – letztlich unvollendeten – Trauerspiels Empedokles. Dort hat sie eine eminent politische Bedeutung: Ausgehend von Schillers Bemerkungen über den „poetischen Staat“ in den „Briefen über die aesthetische Erziehung des Menschen“25 fordert Hölderlin eine politische Dichtung, welche die Vielen in ihrer Mannigfaltigkeit verbinden soll. Er entwirft ein kommendes Gemeinwesen als ein „lebendiges Ganze[s] […], das zwar durch und durch individualisirt ist und aus lauter selbstständigen, aber eben so innig und ewig verbundenen Theilen besteht. Freilich muß aus jedem endlichen Gesichtspunkt irgend eine der selbstständigen Kräfte des Ganzen die herrschende seyn, aber sie kann auch nur als temporär und gradweise herrschend betrachtet werden“.26 Dieses durch und durch individualisierte Ganze steht dabei unter der Prämisse, die zuvor im selben Brief formuliert wurde: „Es ist auch gut, und sogar die erste Bedingung alles Lebens und aller 23 Diese drei Vermögen entsprechen in etwa jenen, die für Kant bei einem ästhetischen Urteil zusammenkommen: „Wenn […] durch Vergleichung die Einbildungskraft (als Vermögen der Anschauungen a priori) zum Verstande, als Vermögen der Begriffe, durch eine gegebene Vorstellung unabsichtlich in Einstimmung versetzt und dadurch ein Gefühl der Lust erweckt wird, so muß der Gegenstand alsdann als zweckmäßig für die reflektierende Urteilskraft angesehen werden“ (Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: ders., Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. X, Frankfurt am Main 1981, S. 100). Der Einbildungskraft entspricht bei Hölderlin die „Vorstellung“, dem Verstand das „Räsonnement“ und dem „Gefühl“ (das bei Kant ein Gefühl der Lust ist) die „Empfindung“. 24 Vgl. dazu Esa Kirkkopelto, „Comparatifs de Hölderlin“, in: Jacob Rogozinski (Hg.), Philippe Lacoue-Labarthe. La césure et l’impossible, Fécamp 2010, S. 87109. 25 Vgl. Friedrich Schiller, „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, in: ders., Philosophische Schriften. Nationalausgabe, Bd. 20, hg. v. Benno von Wiese, Weimar 2001, S. 309-412. 26Hölderlin, „An Isaac von Sinclair, 24. Dezember 1798“, FHA 19, S. 342 f., hier 343. F5821_Etzold.indd 21 02.05.16 13:56 22 Jörn Etzold Organisation, daß keine Kraft monarchisch ist im Himmel und auf Erden.“27 Eine absolute Monarchie ist unmöglich – und zwar, wie Hölderlin ausführt, weil auch jene sich auf ihre Untertanen beziehen muss, wodurch sie nicht mehr absolut sein kann. Was Hölderlin hier denkt, wird Walter Benjamin in seinem frühen Aufsatz „Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin“ als „Alleinherrschaft der Beziehung“ bezeichnen und zum „Prinzip des Gedichteten“28 erheben. Die Art und Weise aber, wie sich diese absolute Beziehung organisiert, wäre der Rhythmus: Als Form des Unbeständigen wäre er für Hölderlin auch eine Antwort auf das Ende einer monarchischen Politik, welche, im Sinne der Hobbes’schen Theorie des Leviathan, die Vielen in der Repräsentation vereinigen konnte. Hölderlin versteht den poetischen Rhythmus als eine bewegliche Form der Verbindung der Vielen, die unter keinem monarchischen Gesetz mehr stehen können; und diese Poesie soll dann auch das Gemeinwesen organisieren: Wenig später, in einem Brief an den Bruder, heißt es: Nicht, wie das Spiel, vereinige die Poesie die Menschen, sagt’ ich; sie vereinigt sie nämlich, wenn sie ächt ist und ächt wirkt, mit all dem mannigfachen Leid und Glück und Streben und Hoffen und Fürchten mit all ihren Meinungen und Fehlern, all ihren Tugenden und Ideen, mit allem Großen und Kleinen, das unter ihnen ist, immer mehr, zu einem lebendigen tausendfach gegliederten innigen Ganzen, denn eben dies soll die Poesie selber sein, und wie die Ursache, so die Wirkung.29 Doch wie ist dieses „Ganze“ beschaffen? Rainer Nägele hat auf ein Detail der Formulierung in den „Anmerkungen“ verwiesen. Die Philosophie reiht „Glieder“ aneinander, die in der paulinischen Tradition einen Leib ergeben; doch der Rhythmus der Poesie verbindet nur Teile.30 Er ist nicht organisch, er muss hergestellt werden. Hölderlin aber geht es darum, diese Herstellung beschreibbar zu machen; er sucht das „kalkulable Gesez“ der Tragödien, um so ein Gesetz für die Dichter seiner Zeit finden zu können (dies könnte ihnen dann eine „bürgerliche Exis27Ebd. 28Walter Benjamin, „Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin“, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1999, Bd. II.1, S. 105-126, hier 124. 29 Hölderlin, „An Carl Gok“, FHA 19, S. 342-346, hier 346. 30Vgl. Rainer Nägele, Theater, Theory, Speculation. Walter Benjamin and the Scenes of Modernity, Baltimore, MA u. London 1991, S. 163-165. F5821_Etzold.indd 22 02.05.16 13:56 Formen des Unbeständigen 23 tenz […] sichern“31). Dieses Gesetz kann aber nicht auf eine monarchische Instanz gegründet werden. Als Rhythmus kann es sich nur in seinem Vollzug, in der Modalität seiner Erscheinung, zeigen. Und doch soll das Kalkul des Rhythmus gelehrt und gelernt werden. Zu Beginn der „Anmerkungen zum Oedipus“ fordert Hölderlin eine mechane: Keine techne, die vom Menschen instrumentell beherrscht werden kann, sondern eine Maschinerie, die ihrem eigenen Gesetz folgt und als solche erst den „lebendige[n] Sinn“ hervorbringen soll, „der nicht berechnet werden kann“.32 Entscheidend für den poetischen Rhythmus der Tragödie ist bekanntlich die „gegenrhythmische Unterbrechung“, die „Cäsur“. Hölderlin nennt sie auch „das reine Wort“ oder „die Vorstellung selber“33: Im dramaturgischen Ablauf der beiden Tragödien besteht sie in den Reden des blinden Sehers Tiresias, der jeweils die Herrscher der polis, Ödipus und Kreon, konfrontiert. Jenen Politikern gegenüber ist er der „Aufseher über die Naturmacht, die tragisch, den Menschen seiner Lebenssphäre, dem Mittelpuncte seines innern Lebens in eine andere Welt entrükt und in die exzentrische Sphäre der Todten reißt.“34 Seine Reden bringen die Handlung zu einem Stillstand, und dadurch gelangen die beiden verschieden schweren Teile der Tragödie in ein Gleichgewicht und der je leichtere Teil wird „geschützt“: In „Oedipus der Tyrann“ ist dies der Beginn, in „Antigonä“ das Ende.35 In beiden Fällen jedoch unterbricht die Zäsur eine Handlung, deren Movens das nefas ist, die Überschreitung jedes menschlichen Maßes in einer Identifikation mit Gott. Denn die Poetik des Rhythmus steht im Zusammenhang mit einem anderen stets wiederkehrenden Motiv von Hölderlins Dichtungen und Poetologie: mit der Frage nach dem Maß. Ödipus überschreitet für Hölderlin das menschliche Maß, indem er in seiner Interpretation des Orakelspruchs juristische und religiöse Register vermischt und „priesterlich“36 nach einem Täter sucht, der allein für das Elend der Stadt 31 Hölderlin, „Anmerkungen zum Oedipus“, S. 249. 32 Ebd., S. 250. 33Ebd. 34 Ebd., S. 251. 35Im Falle des Ödipus ist das Ende schwerwiegender, an dem Ödipus erkennt, wer er ist; im Falle der Antigone ist es der Anfang, an dem sie das Gebot des Kreon überschreitet. Ödipus läuft auf das Ende zu; Antigone hingegen geht vom Anfang aus. 36 Hölderlin, „Anmerkungen zum Oedipus“, S. 252. F5821_Etzold.indd 23 02.05.16 13:56 24 Jörn Etzold verantwortlich sei; Antigone hingegen sagt in Hölderlins kühner Übersetzung „mein Zeus“37, sie eignet sich Gott in einer Art pietistischen Wahns an. Beide agieren maßlos; und erst die Zäsur gibt dieser Bewegung ins Maßlose – den „tragische[n] Transport“, welcher „der ungebundenste“38 ist – eine Form, macht sie darstellbar. Durch die Zäsur wird der Zeitraum der Aufführung – „die Vorstellung selber“39 – erst erfahrbar; sie bringt die ungleichen Teile in ein Gleichgewicht und ermöglicht ein Innehalten. Die Tragödie findet in einem prekären Zeitraum statt; Hölderlin bezeichnet ihr Fortschreiten als Formwerdung: Was in ihr „tragisch sich bildet“, ist die „Vernunftform“40. Dieses Wort kann doppelt verstanden werden: zunächst „politisch und zwar republikanisch“41 als gemäßigtes Zusammenleben nach der Herrschaft der Tyrannen; zugleich aber auch erkenntnistheoretisch – als Form der Apperzeption im kantischen Sinne, denn nach Kant sind Raum und Zeit die Formen, unter denen das transzendentale Subjekt die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen anordnet und somit erst als solche erfahrbar macht. Die „Vernunftform“ wäre somit die Organisation von Raum und Zeit im Sinne der bereits zitierten Bestimmung aus der Elementarlehre: Als voneinander unterschiedene quanta continuata ermöglichen sie der Vernunft, die Welt in distinkten Objekten wahrzunehmen. In der Tragödie aber bildet sich nach Hölderlin erst eine solche Form; ihr Maß ist noch nicht der Meter oder die Sekunde, sondern ein bewegliches, rhythmisches Maß. Hölderlin spricht daher von der „gefährliche[n] Form“42 der Tragödie; was sich in ihr ereignet, ist die „Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen“43: also die Umkehr jener Formen, durch welche die Welt dem Subjekt erst zugänglich wird, durch die sich der Bezug zwischen Subjekt und Objekt erst als solcher konstituiert. Erst durch diese Umkehr entsteht dann, „in humaner Zeit“44, die „Vernunftform“. In ihr aber ist Hölderlin zufolge „das Gleichgewicht zu gleich gehalten“45: In der Vernunftform findet eine Mäßigung des 37 Ders., „Anmerkungen zur Antigonä“, S. 412. 38 Ders., „Anmerkungen zum Oedipus“, S. 250. 39Ebd. 40 Ders., „Anmerkungen zur Antigonä“, S. 421. 41Ebd. 42 Ebd., S. 417. 43 Ebd., S. 419. 44Ebd. 45 Ebd., S. 421. F5821_Etzold.indd 24 02.05.16 13:56 Formen des Unbeständigen 25 maßlosen tragischen Exzesses statt, doch ist ihr ein eigener Exzess inhärent: der Exzess der Gleichheit oder des Maßes selbst. Sie ist nicht mehr die Form, in der die drei Vermögen zusammenspielen; die Vernunft ist zum herrschenden Vermögen geworden. Anders aber als das prekäre Gleichgewicht der ungleichen Teile in der Tragödie, das immer neu tariert werden muss, scheint das exzessive Gleichgewicht in der Vernunftform auf Nivellierung und Homogenisierung herauszulaufen. Hier mag der Grund dafür liegen, dass Hölderlin, nach der Festnahme seines Freundes Sinclair wegen angeblichen Staatsverrats, ausgerufen haben soll: „Ich will kein Jacobiner seyn, Vive le Roi!“46 Was aber ist das Maß – wenn es noch nicht homogenes Messen ist? Ein Maß, das Hölderlin in „Brod und Wein“ wie folgt beschreibt: „Fest bleibt Eins; es sei um Mittag oder es gehe/ bis in die Mitternacht, immer bestehet ein Maas,/ Allen gemein, doch jeglichem auch ist eignes beschieden“47? Jean-Luc Nancy hat diese Verse zum Motto seines Buchs Die undarstellbare Gemeinschaft gemacht;48 und für Nancy ist es eben die Singularität, die allen gemein ist. Was die Menschen teilen, ist, dass sie, jeder für sich, endlich sind. Man hat in diesen Versen einen Verweis darauf gesehen, dass das Versmaß der griechischen Dichtung zu Hölderlins Zeiten noch nicht entschlüsselt war.49 Doch gehen sie über diese literaturhistorische Dimension hinaus: Das Geben des irdischen Maßes wird bei Hölderlin an mehreren Stellen mit dem Wirken eines Gottes verknüpft – welches jedoch ephemer und momentan ist. So heißt es in „Friedensfeier“: „Denn schonend rührt des Maases allzeit kundig/ Nur einen Augenblik die Wohnungen der Menschen/ Ein Gott an, unversehn, und keiner weiß es, wenn?“50 Ein Gott – er ist nicht zu benennen und nicht eindeutig zu fassen – rührt die Wohnungen der Menschen „schonend“ an: Sein Wirken erscheint als Berührung, es kann nur gefühlt, nicht von der Vernunft, vom „Menschen als erkennendem Wesen“51 erkannt werden; doch zugleich ist dieses Anrühren (anders als in der ungeheuren Paarung von Mensch und Gott in 46 Vgl. FHA 7, S. 67 f. 47Friedrich Hölderlin, „Brod und Wein“ (Konstituierter Text VI), FHA 6, S. 258-262, hier 259. 48 Jean-Luc Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, übers. v. Gisela Febel u. Jutta Legueil, Stuttgart 1989. 49 Helmut Müller-Sievers, „Fortsetzung. Zur Rolle des Takts bei der Entstehung des Realismus“, in: Friedrich Balke u. a. (Hg.), Takt und Frequenz. Archiv für Mediengeschichte, Paderborn 2011, S. 27-34. 50 Friedrich Hölderlin, „Friedensfeier“, FHA 8, S. 638-644, hier 642 f. 51 Ders., „Anmerkungen zur Antigonä“, S. 420. F5821_Etzold.indd 25 02.05.16 13:56 26 Jörn Etzold der Tragödie) zurückhaltend. Jener „Gott“, der keinen Namen hat, lässt die irdische Welt bestehen. Denn „des Maßes allzeit kundig“ ist jener Gott, eben weil seine nur einen Augenblick währende Berührung in der Nähe zugleich den Abstand zwischen den Menschen und den Göttern spürbar macht. Diese Berührung ist Nähe und Trennung zugleich und sie eröffnet in der Nähe eine Ferne. Das Maß, dessen der Gott kundig ist, kann nur in einem Augenblick und nur als Fühlen erfahren werden. Daher heißt es im sehr späten Gedicht „In lieblicher Bläue …“, das nur in einer Prosatranskribierung aus Waiblingers Phaeton überliefert ist: „Giebt es auf Erden ein Maaß? Es giebt keines.“52 „Auf der Erde, unter Menschen“53 gibt es kein Maß. Denn: „Auch eine Blume ist schön, weil sie blühet unter der Sonne.“54 Schön ist die Blume nur, weil sie unter der Sonne blüht, in die der Mensch selbst jedoch nicht sehen kann – die also nicht „schön“ ist, ganz einfach, weil sie nicht angeschaut werden kann. Die Sonne würde, wenn man ihr zu nahe käme, alles Leben vernichten, aber nur, weil sie unter der Sonne blüht, ist die Blume schön. „Ist unbekannt Gott? Ist er offenbar wie der Himmel? dieses glaub’ ich eher.“55 Gott offenbart sich nicht in der einen oder anderen konkreten Erscheinung; er ist offenbar wie der Himmel – und der Himmel ist leer. Der offenbare Gott, das ist der leere Himmel über der belebten Erde, das Inkommensurable, welches erst jedes irdische Maß gibt – aber nur, indem es als Inkommensurables bestehen bleibt. Rhythmus wäre in diesem Sinne die Be- oder Anrührung durch das Inkommensurable oder, wie abermals Rainer Nägele schreibt, die „Innervation der Welt und des Göttlichen im Empfindungssystem Mensch, weil in Hölderlins Worten, die Götter (und die Welt) nichts fühlen von selbst. […] Im Rhythmus teilt die Welt sich mit.“56 Und Jean-Luc Nancy erklärt, das „Kalkül des Dichters“ ziele auf ein momenthaftes Treffen ab, auf eine Berührung. „Berühren [aber] ist Teil des Kalküls, weil es ein Maß voraussetzt. Das Maßlose vermag weder Ort noch Oberfläche zu unterscheiden, was das Berühren aber 52 Friedrich Hölderlin, „In lieblicher Bläue …“, FHA 8, S. 1009-1012, hier 1011. 53 Ders., „Anmerkungen zur Antigonä“, S. 414. 54 Ders., „In lieblicher Bläue …“, S. 1011. 55Ebd. 56 Rainer Nägele, Hölderlins Kritik der poetischen Vernunft, Basel, Weil am Rhein u. Wien 2005, S. 99. F5821_Etzold.indd 26 02.05.16 13:56