Relativismus in der Philosophie. Versionen, Hintergründe und Probleme Bernd Irlenborn, Paderborn „Truth, far from being a solemn and severe master, is a docile and obedient servant.“ Nelson Goodman Historischer Ausgangspunkt der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Problem des Relativismus war die berühmte These des Sophisten Protagoras, der Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nicht seienden, dass sie nicht sind. 1 Diese Behauptung diente Protagoras offensichtlich als Einleitung für ein (später verloren gegangenes) Buch, dem er den Titel Alétheia („Wahrheit“) gegeben hatte. Der Zusammenhang zwischen Wahrheit und Relativismus wird deutlich, wenn man den Satz so versteht: Alles, was mir als wahr erscheint, ist wahr für mich; und alles, was jemand anderem als wahr erscheint, ist wahr für ihn. Allerdings gibt es aber bis heute kontroverse Ansichten, wie der Homo-mensura-Satz zu verstehen ist. Insofern ist die philosophische Kritik des Relativismus bzw. relativistischer Thesen nicht neu, selbst wenn der Begriff „Relativismus“ sich historisch erst zu Anfang des letzten Jahrhunderts eingebürgert hat. 2 Wie man schon bei den Vorsokratikern sehen kann, liegt im begründeten Zweifel, dass Denkweisen immer nur relativ für bestimmte Völker und Kulturen gelten könnten, ein zentrales Motiv für den Beginn des philosophischen Fragens nach der archē, nach einem letzten nicht-relativen Grund für alle widerstreitenden Wahrheitsansprüche. Gerade dieses Anliegen, die Betonung einer letzten, nicht-relativen Wahrheit, steht auch im Hintergrund der jüngsten Kritik des Lehramts der Katholischen Kirche am modernen Relativismus. Die Enzyklika Fides et Ratio von 1998 spricht von einem „Misstrauen gegenüber der Wahrheit“, das man in der heutigen Welt vorfinde. Die Ursachen dafür sieht die Enzyklika im Relativismus und Pluralismus, d. h. in Positionen, die aus der Sicht von Fides et Ratio den exklusiven Charakter der Wahrheit leugnen und davon ausgehen, dass alle Denkpositionen gleichwertig seien.3 Papst Benedikt XVI. hat diese Kritik 2005 fortgeführt und zugespitzt mit seinem Ausdruck einer „Diktatur Platon, Theaitetos 152a. Vgl. G. König, Art. „Relativismus“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, hg. von J. Ritter u. a., Basel 1992, 613-622, 613. 3 J. Paul II., Enzyklika Fides et Ratio, Einleitung, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1998, 9f. Im Original heißt es: „Licita sententiarum varietas iam indistincto concessit pluralismo, principio niso omnes opinationes idem prorsus valere: unum hoc est signorum latissime disseminatorum illius diffidentiae de veritate, quam hodiernis in adiunctis deprehendi passim licet.“ 1 2 des Relativismus“. Die entscheidende Passage in der Predigt Benedikts vor dem Kardinalskollegium anlässlich der Papstwahl lautet: „Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in diesen letzten Jahrzehnten kennen gelernt, wie viele ideologische Strömungen, wie viele Denkweisen … Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen worden: vom Marxismus zum Liberalismus bis hin zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus; vom Atheismus zu einem vagen religiösen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Synkretismus, und so weiter. Jeden Tag entstehen neue Sekten […]. Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich ‘vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin-und-hertreibenlassen’, als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als let ztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt.“ 4 Während die Enzyklika Fides et Ratio den Relativismus unverkennbar als ein prägendes Kennzeichen der modernen Philosophie beschreibt, versteht ihn Papst Benedikt XVI. eher als eine aufkommende geistige Haltung, die sich in der westlichen Alltagskultur zu verfestigen und, in kaum noch hinterfragter Weise, beherrschend aufzutreten droht. Es geht mir im Folgenden nicht um eine Analyse der Stellungnahmen von Papst Benedikt zu diesem Thema. Ich möchte die theologischen Bedenken als Ausgangspunkt nehmen für die Fragen, was „Relativismus“ philosophisch bedeutet und inwiefern er eine Herausford erung für den christlichen Glauben darstellt. 5 Die lehramtliche Kritik dient insofern als Problemanzeige für die Frage nach dem Relativismus. Im ersten Abschnitt geht es einführend um den Begriff „Relativismus“ und um verschiedene Varianten dieser Position. Im zweiten Abschnitt werde ich die Aufmerksamkeit auf eine Spielart lenken, die im Kern des relativist ischen Denkens liegt, den Relativismus der Wahrheit. Im dritten Abschnitt geht es um den Zusammenhang zwischen Relativismus und Antirealismus. Im vierten und letzten Abschnitt werde ich einige Thesen als Zusammenfassung festhalten. I. „Relativismus“: Begriff und Varianten J. Ratzinger, Predigt in der Heiligen Messe „Pro Eligendo Romano Pontifice“, in: Der A nfang. Papst Benedikt XVI. Josef Ratzinger. Predigten und Ansprachen, Bonn 2005, 12 -16, 14. 5 Unter „Herausforderung“ verstehe ich die durch fremde Doktrinen oder Praktiken ausgelö ste kognitive Infragestellung der Geltung einer bestimmten Überzeugung oder eines Systems von Überzeugungen. 4 2 Der philosophische Begriff „Relativismus“ bezieht sich nicht auf eine feststehende und genau definierbare Theorie, sondern umfasst ein Bündel verschiedener Problemstellungen, die sich in allen Bereichen der Philosophie vorfinden lassen. Um diese Vielfalt übersichtlicher zu gestalten, möchte ich zunächst auf formale Beschreibungen zurückgreifen. Der Relativismus impliziert die These, dass etwas relativ zu etwas anderem ist. Dafür steht die zweistellige Relation aRb (a ist relativ zu b). Diese Relation ist nicht symmetrisch; sie beinhaltet die einseitige Abhängigkeit der Variable a von der Variable b. Die Relation aRb kann man in drei Hinsichten näher erläutern:6 Erstens gibt es die abhängige Variable a: also das, was relativ ist; zweitens die unabhängige Variable b: das, wozu etwas relativ ist; drittens die Relationsbeziehung R. Für a werden häufig folgende Variablen eingesetzt: Bedeutung, Wahrheit, Erkenntnis, Überzeugungen, Wirklichkeit, Moral usw. Bei b kann man differenzieren zwischen Abstrakta wie Sprache, Kultur, Paradigma, Begriffsschema, und Konkreta, die ein Individuum, eine Gemeinschaft, die Spezies Mensch usw. bezeichnen. Für R sind mehrere Differenzierungen möglich. Ich erwähne aus Zeitgründen nur die wichtigste, die Unterscheidung zwischen einer deskriptiven und normativen Relativierung. Bei jener wird die Beziehung der Variablen (meist empirisch) nur beschrieben („Es gibt unterschiedliche Verständnisse von Wahrheit bei den indonesischen Naturvölkern“); bei letzterer dagegen enthält die Relativierung ein normatives Urteil („Wahrheit ist immer nur relativ zu einem Begriffsschema“). Durch Kombinationsmöglichkeiten zwischen den Variablen ergeben sich zahlreiche Varianten des Relativismus. Ich skizziere im Folgenden einige zentrale Spielarten. Zu beachten ist, dass diese Relativismen nicht genau voneinander abgrenzbar sind und auch, dass es möglich ist, eine Variante zu vertreten und eine andere abzulehnen. (1) alethischer Relativismus (Wahrheitsrelativismus): Hier geht es im Kern um zwei miteinander verwandte Ideen: Erstens wird behauptet, dass es keine objektive Wahrheit gibt, sondern dass die Wahrheit einer Behauptung – je nach Konzeption – von unterschiedlichen Parametern oder Kontexten wie Kultur, Sprache, Moral usw. abhängig ist. Es gibt demnach für Menschen keine Wahrheit unabhängig von dieser Standpunktgebundenheit, keinen Gottesstandpunkt, von dem aus mit autoritativer Gewalt entschieden werden könnte, welche von allen konkurrierenden Wahrheitsan- Vgl. S. Haack, Reflections on Relativism: From Momentous Tautology to Seducive Contradiction, in: Dies., Manifesto of a Passionate Moderate. Unfashionable Essays, Chicago 1998, 149 -166, 149; Ch. Swoyer, Art. “Relativism”, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2008 Edition), URL = <http://plato.stanford.edu/archives/win2008/entries/relativism/>. 6 3 sprüchen in nicht-relativem Sinne wahr und welche falsch sind. Zweitens behaupten manche Wahrheitsrelativisten, dass es nicht nur absolute Wahrheitswerte wie wahr oder falsch gibt. Für solche Relativisten müssen die Wahrheitswerte von Behauptungen nicht nur davon abhängen, wie die Welt ist (und damit also entweder wahr oder falsch sein), sondern sie können sich auch auf zusätzlichen Faktoren wie graduelle Geschmacksinstanzen, Wissenszustände, Interessenlagen usw. beziehen. 7 Diese Position führt zur These, dass es auch relative, abgestufte Wahrheitswerte zwischen wahr und falsch geben könne. Ein solcher „indexikalischer Relativismus“ wird zurzeit etwa von John MacFarlane oder Max Kölbel vertreten.8 Eine weitere Strategie, das Prinzip der Zweiwertigkeit aufzugeben, findet sich bei mehrwertigen Logiken, die als dritten Wahrheitswert beispielsweise „kontingent möglich“ oder „weder wahr noch falsch“ ansetzen. Solche mehrwertigen Logiken können die Basis für einen logischen Relativismus darstellen, wie er etwa von Joseph Margolis vertreten wird.9 (2) semantischer/linguistischer Relativismus: Ausgangspunkt ist hier die These, dass die Bedeutung von Ausdrücken sich nur im Kontext einer b estimmten Sprache verstehen lässt. Sprachliche Ausdrücke sind demgemäß nicht ohne Bedeutungsveränderungen in eine andere Sprache übersetzbar. Beispiele wären hier linguistische Theorien, die davon ausgehen, dass die Art des Denkens durch die Struktur der jeweiligen Muttersprache b edingt wird. Nach der Theorie von Benjamin Lee Whorf gliedern wir die Natur auf in Kategorien, die vom Struktursystem der jeweiligen Muttersprache abhängen. Wie die Natur selbst ist, wissen wir nicht; wir kategorisieren sie allein gemäß unserer linguistischen Systeme. 10 (3) epistemischer Relativismus: Hier wird behauptet, es gebe keine Erkenntnis, die nicht abhängig von Begriffsschemata, Theorien, Sprachsystemen usw. ist. Ein universales, objektives Beurteilungskriterium für die Wahrheit einer Erkenntnis ist nicht verfügbar. Deshalb, so beispielsweise Nelson Goodman,11 gebe es eine Vielzahl von Weltbildern, die jeweils relativ Vgl. M. Kölbel, Sittenvielfalt und moralischer Relativismus, in: G. Ernst (Hg.), Moralischer Re alismus, Paderborn 2009, 139-161, 142f. 8 Siehe dazu M. Garcia-Carpintero/M. Kölbel (Hg.), Relative Truth, Oxford 2008; vgl. darin insbesondere M. Kölbel, Introduction: Motivations for Relativism, 1-40. 9 Vgl. J. Margolis, The Truth about Relativism, in: M. Krausz (Hg)., Relativism. A Contemporary Anthology, New York 2010, 100-123. 10 So zeigen, Whorf zufolge, Hopi-Indianer bedingt durch ihre spezifische Sprache ein ganz anderes Verständnis der Zeit als die Sprecher des Englischen. Vgl. B. J. Whorf, Language, Thought and Reality, Cambridge 1956, 213. Ein theologisches Beispiel wäre die Behauptung, in Bezug auf die Bibel könne man die Frage nach der Wahrheit nicht grundsätzlich stellen, da es, sprachlich bedingt, nur ein je spezifisches hebräisches, griechisches und christliches Wahrheitsverständnis gebe. Vgl. dazu die Kritik von L. B. Puntel, Der Wahrheitsbegriff in Philosophie und Theologie, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Beiheft 9, hg. von E. Jüngel, Tübingen 1995, 16-45, vor allem 24-29. 11 N. Goodman, Ways of Worldmaking, Indianapolis 1978, 20f. 7 4 zu einer bestimmten Version der Wirklichkeit existierten. Einen Vergleich zwischen der in einer Erkenntnis interpretierten und der nicht erkannten Wirklichkeit sei nicht möglich. 12 (4) wissenschaftstheoretischer Relativismus: Diese Form des Relativismus geht davon aus, dass die Gültigkeit von wissenschaftlichen Gesetzen und Theorien nicht objektiv ist, sondern von einem Paradigma abhängt, einem Orientierungsrahmen, der dem jeweils historisch gültigen Konsens der scientific community entspricht. Obwohl sie sich selbst nicht als Relativisten verstanden haben, werden hier gewöhnlich Thomas Kuhn und Paul Feyerabend angeführt. (5) Relativismus bezüglich der Vernunft: Die These lautet hier, es gebe nicht die Vernunft als eine universale Reflexionsinstanz, sondern – bestenfalls – eine Vielzahl von kontextgebundenen und teils miteinander unvereinbaren Rationalitäten. So behauptet beispielsweise Richard Rorty, dass die „Vorstellung einer von allen geteilten Quelle der Wahrheit namens ‘Ve rnunft’“ auf einer Irreführung beruht und eine Allgemeinheit der Bezugnahme suggerieren soll, wo – aus Rortys Sicht – keine ist. 13 Dieser Relativismus stellt sicherlich eine besondere Herausforderung für den starken Vernunftb egriff der katholischen Tradition dar. Es ist deshalb kein Zufall, dass etwa gerade Papst Benedikt XVI. immer wieder den Zusammenhang zwischen einem schwachen Vernunftbegriff und dem gegenwärtigen Relativismus deutlich macht. 14 (6) moralischer Relativismus: Moralische Überzeugungen, Urteile und Wertvorstellungen gelten nach diesem Relativismus nicht universal, sondern nur abhängig von bestimmten Kontexten wie Kultur, Traditionen, Weltbildern usw. Bekannt ist hier etwa die Moralphilosophie von Gilbert Harman.15 Diese Form des Relativismus hat ebenfalls zahlreiche negative Konsequenzen für die christliche Sichtweise, was etwa die Geltung moralischer Normen oder den Status naturrechtlicher Argumente angeht.16 Ebd., 4. R. Rorty, Philosophy and Social Hope, London 1999, xxxii. Vgl. zur Kritik an einem starken Modell von Vernunft auch W. van Rejien/ Dick Veerman, Die Aufklärung, das Erhabene, Philosophie, Ästh etik. Gespräch mit Jean-Francois Lyotard, in: W. Reese-Schäfer, Lyotard zur Einführung, Hamburg 3 1995, 121-165, hier 123. 14 Vgl. etwa M. Pera, J. Ratzinger, Ohne Wurzeln. Der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur, Augsburg 2005, 62-84. 15 Vgl. G. Harman, Moral relativism defended, in: Philosophical Review 84 (1975), 3-22; Ders., J. J. Thomson, Moral Relativism and Moral Objectivity, Cambridge/Mass. 1996. 16 Darauf hat auch Papst Benedikt 2010 bei seinem Besuch in Großbritannien ausdrücklich hingewiesen: „Wenn heutzutage ein intellektueller und moralischer Relativismus die wahren Fundamente unserer Gesellschaft zu untergraben droht, erinnert uns Newman daran, daß wir Menschen, die wir Abbild Gottes und ihm ähnlich sind, erschaffen wurden, um die Wahrheit zu erkennen und in dieser Wahrheit unsere höchste Freiheit und die Erfüllung unserer tiefsten menschlichen Sehnsucht zu 12 13 5 (7) ästhetischer Relativismus: Ästhetische Überzeugungen, Urteile und Wertvorstellungen (wie „Schönheit“) gelten nicht universal, sondern nur abhängig von bestimmten Kontexten wie Kultur, Traditionen, Weltbildern usw. II. Relativismus der Wahrheit Die bislang beschriebenen normativen Varianten des Relativismus vereint eine bestimmte Sicht im Hinblick auf die Frage nach der Geltung von Überzeugungen. Überzeugungen gelten, den skizzierten Relativismen zufolge, nicht an sich oder objektiv, sondern immer nur abhängig von spezifischen Kontexten.17 Was kann man dazu sagen? Überzeugungen gehören zu den assertiven Sprechakten. Sie behaupten die Wahrheit einer Proposition und stellen insofern performativ einen Geltungsanspruch auf. Assertive Sprechakte legen eine Sprecherin auf die Wahrheit einer Proposition und damit auf einen behaupteten Sachverhalt in der Welt fest.18 Die Überzeugung „dass p“ schließt die Überzeugungen ein „es ist wahr, dass p“ und „ich halte p für wahr“. Dass heißt, die skizzierten Formen des Relativismus behaupten, dass es wahr ist, dass die Geltung einer jeweiligen Überzeugung immer nur relativ zu etwas anderem ist. Ist es dann auch wahr, dass die Geltung der relativistischen These selbst nur relativ ist? Der Wahrheitsrelativismus ist philosophisch ein Problem, weil es ihm – verkürzt gesagt – nicht mehr um Wahrheitsbehauptungen geht, sondern nur noch um Relationen, in denen Wahrheitsbehauptungen stehen. Damit referiert die relativistische Position nicht länger auf die Wahrheit einer Überzeugung oder eines Sachverhalts, sondern einzig auf die Wahrheit einer Relation, in der diese Überzeugung oder dieser Sachverhalt steht. Insofern hat der alethische Relativismus das Thema „Wahrheit“ natürlich nicht ausgeblendet; nur stellt sich die Frage nach dem Wahrsein oder Falschsein einer Überzeugung aber immer nur mittelbar, und zwar in Bezug auf deren Abhängigkeit von etwas anderem. Deshalb lehnt eine relativistische Ontologie das Modell einer objektiven Wahrheit ab. „Objektiv“ wäre ein Wahrsein, wenn es nicht abhängig von spezifischen Bezugsgrößen ist. Für den Relativismus kann es Wahrheit nur als interne Bestimmung geben: Wahrsein ist nur innerhalb eines Bezugssystems gegeben. Diese Relativierung stellt eine Gefahr für die Philosophie und für die Wissenschaft überhaupt dar. Wenn es um die Frage nach der Wahrheit und um finden“ (Benedictus XI, Abendgebet zur Seligsprechung von Kardinal John Henry Newman am 18. September 2010, unter: http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/index_ge.htm). 17 Mit „an sich“ und „objektiv“ ist hier also „irrelativ (zu etwas anderem)“ gemeint. 18 Vgl. J. Searle, Mind, Language and Society. Doing Philosophy in the Real World, London 1999, 148f. 6 die Überprüfung von Wahrheitsansprüchen geht, dann liegt das Interesse ja zumeist nicht darin, ob etwas wahr für ein Individuum oder ein Kollektiv ist, sondern ob etwas wahr ist unabhängig davon, ob es von jemandem für wahr gehalten wird. Wäre die Frage nach der Wahrheit in normativem Sinne immer nur eine Frage nach der Bezugsgröße, innerhalb derer etwas als „wahr“ angesehen wird, dann hätte sich Philosophie – zugespitzt formuliert – von den Sachfragen zu verabschieden und nur noch Beziehungs- oder Abhängigkeitsfragen zu klären. Für die Wissenschaft entstünde nicht nur das Dilemma, dass Erkenntnis immer abhängig wäre von einem bestimmten Paradigma, sondern auch, dass man über dessen Wahrheit auch nur wieder in Relation zu etwas anderem, aber nie nicht-relativ entscheiden könnte. Um die Relevanz des Themas etwas plastischer zu machen, möchte ich auf ein simples, aber typisches Beispiel für einen Relativismus zurückgreifen.19 1996 veröffentlicht die New York Times einen Artikel mit der Überschrift „Indianische Kreationisten kommen Archäologen in die Quere“. Es wird berichtet, die archäologisch weithin belegte Erkenntnis, dass die ersten Menschen vor etwa 10.000 Jahren aus Asien über die Beringstraße nach Nordamerika eingewandert sind, werde von indianischen Stämmen als unwahr abgelehnt. Nach indianischen Mythen stammten die Menschen nicht von Affen, sondern von Büffelmenschen ab. Diese hätten zunächst unter der Erde Nordamerikas gelebt und konnten erst durch die Hilfe von übernatürlichen Geistern auf die Erdoberfläche gelangen. Der Artikel berichtet nun, dass mehrere Archäologen offenkundig zu einem „postmodernen Relativismus“ neigten. Die zitierten Wissenschaftler betonen in ihrer Hochschätzung für die unterdrückten indianischen Ureinwohner, dass die wissenschaftliche Erkenntnis nur eine bestimmte Sicht auf die Wirklichkeit sei, die genauso gültig sei wie andere, etwa die des Mythos. Der Archäologe Professor Larry Zimmerman von der Univers ity of Iowa wird angeführt mit dem Zitat: „Ich persönlich lehne Wissenschaft als eine privilegierte Erkenntnis der Welt ab.“ Spielen wir einmal eine mögliche Diskussion zwischen dem zitierten relativistischen Archäologen und einem Nicht-Relativisten, nennen wir ihn Objektivist, durch. Gehen wir der Einfachheit halber von folgender Rekonstruktion der als wahr behaupteten Aussagen aus: (1) Die ersten Menschen kamen nach Nordamerika, indem sie aus Asien über die Beringstraße eingewandert sind. Dieses Beispiel wird angeführt von P. Boghossian, Fear of Knowledge. Against Relativism and Constructivism, Oxford 2006, 1f. 19 7 (2) Die ersten Menschen kamen nach Nordamerika, indem sie mit Hilfe übernatürlicher Geister aus der Erde Nordamerikas gestiegen sind. (3) Der Mythos ist genauso wahr wie die Wissenschaft, da es keine privilegierte Erkenntnis der Welt gibt. Der zitierte Archäologe vertritt die simple relativistische These (3). Für ihn sind (1) und (2) zugleich wahr. Aus verschiedenen Gründen ist er der Ansicht, dass es mehrere Erkenntnisformen der Wirklichkeit gibt und dass keiner davon ein epistemisches Privileg zukommt. Der Objektivist kann nun folgenden Einwand machen: Im Hinblick auf einen Sachverhalt werden offensichtlich unvereinbare Aussagen gemacht. Bezüglich der Besiedlung Nordamerikas werden mit (1) und (2) Behauptungen aufgestellt, die aus logischen Gründen nicht beide zugleich wahr sein können. Deshalb ist (3) falsch. Dass (1) und (2) nicht kompatibel sind, kann der Objektivist noch zusätzlich belegen durch die Aussage der Indianer, dass (1) falsch sei. Aus logischen Gründen gibt es also nur drei Möglichkeiten: entweder gilt (1), oder es gilt (2), oder es gelten weder (1) noch (2). Entscheidend ist also, dass (1) und (2) konträre Aussagen über denselben Sachverhalt sind, die zwar beide falsch, wohl aber nicht beide zugleich wahr sein können. Der Relativist könnte darauf erwidern, (1) und (2) seien keine präzisen Wiedergaben des Behaupteten. Genauer müsse es heißen: (4) Es ist wahr gemäß Theorie 1 (Wissenschaft/Archäologie), dass die ersten Menschen nach Nordamerika kamen, indem sie aus Asien über die Beringstraße eingewandert sind. (5) Es ist wahr gemäß Theorie 2 (Mythos der Indianer), dass die ersten Menschen nach Nordamerika kamen, indem sie mit Hilfe übernatürlicher Geister aus der Erde Nordamerikas gestiegen sind. Für den zitierten Archäologen sind beide Aussagen gleichzeitig wahr. Sie sind aus relativistischer Sicht nicht widersprüchlich, da (1) und (2) nicht an sich, also nicht-relativ, gelten, sondern nur relativ, d. h. jeweils im Rahmen von unterschiedlichen Theoriemodellen, wie in (4) und (5) ausgedrückt. Dafür kann der Relativist zwei Argumente anführen: Erstens hat jede Theorie je eigene Prämissen und Kriterien, nach denen etwas intern als wahr angesehen wird. Insofern können Aussagen der einen Theorie nicht einfach in die jeweils andere übersetzt werden. Zweitens gibt es für Menschen keinen erkenntnistheoretischen Gottesstandpunkt und somit kein nicht-relatives Kriterium, um zu entscheiden, ob etwa Theorie 1 objektiv wahr und Theorie 2 objektiv falsch ist. Es gibt zwar Gründe, warum man eine Theorie einer anderen vorziehen kann; 8 diese Gründe gelten aber nicht absolut, sondern sind subjektiv und falsifizierbar. Der Objektivist kann diese Argumentation zurückweisen, indem er sich auf logische Prinzipien beruft, etwa den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch. Es ist nicht möglich, dass sowohl (1) als auch das Gegenteil, nicht-(1), gilt: Es ist logisch widersprüchlich, dass die Besiedlung Nordamerikas aus Asien erfolgt ist und dass sie nicht aus Asien erfolgt ist. Das Kontradiktionsprinzip verbietet, dass man bezüglich desselben Sachverhalts zugleich und in derselben Hinsicht zwei sich bezüglich der Wahrheit widersprechende Aussagen macht. Nun könnte der Relativist seinen Standpunkt zu einem logischen Relativismus erweitern und etwa die Geltung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch aus der Sicht mehrwertiger Logiken bestreiten. 20 In dieser Hinsicht könnte man etwa das Wahrsein einer Behauptung zeit- oder modallogisch relativieren; „wahr“ wäre dann immer „wahr“ in einer bestimmten Welt, nicht in allen Welten. Diese Strategien – die ich hier nicht weiter verfolgen kann – sind jedoch äußerst umstritten, unter anderem deshalb, da die Infragestellung des Kontradiktionsprinzips selbst wieder zu widersprüchlichen Konsequenzen führt.21 An dieser Stelle führt der Disput an die Grenze der vernünftigen Auseinandersetzung. Edmund Husserl hat dazu einmal treffend (bei seiner Kritik am Psychologismus) bemerkt: „Die Lehre [des Relativismus; B. I.] ist, sowie aufgestellt, schon widerlegt – aber freilich nur für den, welcher die Objektivität alles Logischen einsieht. Den Subjektivisten … kann man nicht überzeugen, wenn ihm nun einmal die Disposition mangelt einzusehen, dass Sätze, wie der vom Widerspruch, im bloßen Sinn der Wahrheit gründen …“22 Die Anerkennung des Prinzips der Zweiwertigkeit ist die Grenzscheide für die Diskussion mit dem Relativismus. Jenseits dieser Grenze führt der Relativismus leicht in den Bereich des Subjektiven oder auch, vorphilosophisch, ins Unreflektierte. 23 Husserl betont weiterhin, dass der Relativismus, sowie aufgestellt, schon widerlegt ist. Damit spricht er den Standardeinwand gegen jegliche normative Relativierung der Wahrheit an. Dieser Standardeinwand lautet Vgl. etwa J. Margolis, The Truth about Relativism, Oxford 1991. Vgl. zur Auseinandersetzung mit einem solchen modallogischen Relativismus H. Cappelen/J. Hawthorne, Relativism and Monadic Truth, Oxford 2009, vor allem 68 -98. 22 E. Husserl, Logische Untersuchungen, Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik, § 35. Gesammelte Werke (Husserliana), Bd. XVIII, hg. von E. Holenstein, Dordrecht 1975, 123. 23 Vgl. dazu treffend H. J. Wendel, Moderner Relativismus. Zur Kritik antirealistischer Sichtw eisen des Erkenntnisproblems, Tübingen 1990, 58f. 20 21 9 in Kurzform: Der Relativist begeht einen performativen Selbstwiderspruch, indem er objektive Wahrheit voraussetzt, wenn er behauptet, es gebe keine objektive, sondern nur relative Wahrheit. Die relativistische These „Wahrheit ist immer nur relativ zu x“ gilt selbst entweder relativ oder nicht-relativ. Gilt sie relativ, wäre sie nur eine These unter vielen, gültig also nur abhängig von x, und müsste insofern nicht weiter beachtet werden. Gilt sie nicht-relativ, so würde der Relativist etwas behaupten, was er gleichzeitig bestreitet, eine objektive, nicht-relative Wahrheit. Der Standardeinwand, der von Platon bis hin zu Thomas Nagel immer wieder vertreten worden ist, mag trivial und abgegriffen anmuten. Diese Anmutung liefert natürlich noch keinen Einwand gegen seine Gültigkeit. Ich glaube, dass der Standardeinwand weiterhin das beste Argument gegen den normativen Wahrheitsrelativismus ist. 24 Es gibt natürlich noch zahlreiche andere, meist eher lokale, d. h. auf spezifische Relativismen bezogene, Gegenargumente. Sie sind jedoch meines Erachtens schwächer als der Standardeinwand. Wie verteidigt sich der normative Relativist gegen den Standardeinwand? Er kann (a) behaupten, die relativistische These sei Teil einer Metasprache und beziehe sich relativierend auf die Objektsprache. Oder er kann (b) behaupten, die relativistische These sei selbst wieder relativ. Beide Strategien scheitern, was ich aber hier aus Zeitgründen nicht ausführen kann. 25 Wenn die Argumente für die Selbstwidersprüchlichkeit des Relativismus, wie behauptet, so schlüssig sind und der Standardeinwand seit der Antike gemacht worden ist, warum gibt es dann das Phänomen „Relativismus“ überhaupt noch? Im philosophischen Bereich, so scheint mir, ist der Relativismus faktisch kein ernsthaftes Problem. Jeder normativ auftretende Relativismus verwickelt sich früher oder später in Widersprüche. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, warum es keine namhaften Philosophinnen und Philosophen gibt – mit Ausnahme von vielleicht Nelson Goodman 26 –, die ihren Standpunkt Der deskriptive Relativismus stellt bezüglich seiner Widerlegung kein größeres Problem dar, da er ja keine normativen Geltungsansprüche erhebt. 25 Zur ersten Strategie: Sie verschiebt das Problem nur auf eine höhere Ebene. Warum gilt gerade die relativistische These der Metasprache und nicht etwa eine konkurrierende nicht -relativistische? Die Entscheidung dafür kann auch wieder nur entweder relativ oder nicht relativ sein. Damit ist man aber wieder bei der Ausgangsanfrage des Standardeinwands. Beide Optionen führen den Relativisten in geltungstheoretische Widersprüche. – Zur zweiten Strategie: (a) R1: aRb / (b) R2: (aRb)R(R1) / (c) R3: ((aRb)R(R1))R(R2) / (d) R4: (…) / (e) (…). In (a) steht R1 für den traditionellen Relativismus, der aRb behauptet. Um sich gegen den Standardeinwand zu immunisieren, relativiert der Rel ativist in (b) die These aRb als abhängig von R1. Auf erneute Anführung des Standardeinwands muss der Relativist die Thesen von R2, R3 usw. immer wieder relativieren. Dieser infinite Regress wäre vielleicht erfolgreich, um dem Standardeinwand zu entgehen; er würde aber die Relevanz von R1, R2, R3 usw. in Frage stellen, weil nicht klar wäre, warum man diese Relativismen als au sdrücklich relative überhaupt beachten sollte, oder genauer, warum man sie mehr beachten sollte als ihre nicht-relativistischen Konkurrenten. 26 N. Goodman, Ways of Worldmaking, Indianapolis 1978, 94. 24 10 ausdrücklich als relativistisch bezeichnen. „Kennen wir einen Relativisten?“, fragt selbst ein postmoderner Denker wie Gianni Vattimo. 27 Auch Richard Rorty, die wohl prominenteste Figur, die mit dem Relativismus zusammengebracht wird, lehnt die Bezeichnung „Relativist“ für sich ab.28 Aber, so könnte man wieder fragen, gibt es denn dann tatsächlich überhaupt eine Herausforderung für die Philosophie und christliche Theologie durch den Relativismus? Und, im Rückblick auf die Ausgangsfrage: Wenn es eine solche Herausforderung nicht gibt, weil der Standardeinwand weiterhin erfolgreich ist und kein ernsthafter Denker sich selbst als Relativist bezeichnet, ist dann die Rede von einer „Diktatur des Relativismus“ nicht völlig überzogen oder gegenstandslos? Ich vertrete dazu folgende Auffassung: 1. Der alethische Relativismus stellt weiterhin eine Herausforderung dar, sowohl für die Philosophie als auch für das Christentum. 2. Diese Herausforderung liegt aber weniger – mit Ausnahme vielleicht des moralischen Relativismus – in einem (eher traditionellen) expliziten Relativismus mit der normativen These aRb, sondern in einem unausdrücklichen und impliziten Relativismus, der vor allem in zwei Bereichen greifbar ist: 2.1 Relativismus in der Konsequenz eines philosophischen Antirealismus bzw. radikalen Konstruktivismus, 29 der Wahrheit auf Fürwahrhalten reduziert (epistemische Wahrheitsauffassung). 2.2 Relativismus als vorphilosophisch-politische Haltung, die aus (a) der empirischen Pluralität von Wahrheitsansprüchen und/oder (b) dem endlichen Erkenntnisvermögen des Menschen normativ eine Relativität von Wahrheit ableitet (relativistischer Fehlschluss: „Weil Wahrheit objektiv nicht erkennbar ist, gibt es keine objektive Wahrheit, nur Richtigkeit im Plural“). Nicht alle Wahrheitsbehauptungen sind gemäß dieser Sichtweise gleich, sondern es gibt (relative) pragmatische und politische Gründe, warum ein Wahrheitsanspruch dem anderen vorzuziehen (nützlicher) ist. Ich möchte im Folgenden aus Zeitgründen nur den ersten Bereich kurz kommentieren. Im Hinblick auf den zweiten Bereich, den man Alltags-Relativismus nennen könnte, bin ich der Meinung: Wenn dieser Alltags-Relativismus zu einer verbreiteten Haltung anwächst, die ganz bestimmte, nämlich selbst wieder als relativ auftretende Wahrheitsansprüche bevorzugt (siehe These 2.2) , R. Girard/G. Vattimo, Christentum und Relativismus, Freiburg/Br. 2008, 49. Zu dieser Diagnose kommen auch P. O’Grady, Relativism, 3; H. Putnam, Reason, Truth and History, Cambridge 1981, 119. 28 Siehe etwa R. Rorty, Consequences of Pragmatism, Minneapolis 1982, 166. 29 „Konstruktivismus“ steht hier nicht für eine bestimmte Schule. 27 11 dann besteht die Gefahr, dass solche Präferenzen zwar als relative verstanden, aber als dogmatische vollzogen werden. Dies hätte wiederum die mögliche Folge, dass bestimmte Meinungen und Sichtweisen – etwa solche, die einen nicht-relativen Wahrheitsanspruch vertreten – von vornherein gar nicht mehr als Thema des öffentlichen Diskurses vorkommen dürfen. Genau dann wäre die Sorge vor dem Aufkommen eines diktatorischen Relativismus berechtigt.30 III. Relativismus und Antirealismus Da die Diskussion um den Antirealismus und seine Gegenposition, den Realismus, komplex ist 31 und es mir nur auf das epistemische Wahrheitsverständnis im Kontext antirealistischer Sichtweisen ankommt, möchte ich die beiden Positionen hier nur idealtypisch und ohne notwendige nähere Differenzierung in zwei Thesen vorstellen: (a) ontologischer Realismus: Die Wirklichkeit (insofern sie aus raumzeitlich lokalisierbaren Gegenständen besteht32) ist zu einem großen Teil von unserem Denken unabhängig. Ein mentaler Zugang (Erkennen, Wissen, wahre Überzeugungen etc.) zu dieser denkunabhängigen Wirklichkeit ist möglich. (b) ontologischer Antirealismus: Es gibt keine denkunabhängige Wirklichkeit und folglich auch keinen epistemischen Zugang zu ihr (mittels dessen etwa eine Übereinstimmung dieser denkunabhängigen Welt mit Aussagen über sie behauptet werden könnte). Die Annahme einer denkunabhängigen Welt ist sinnlos, da schon der Unterschied zwischen einer denkunabhängigen und einer denkabhängigen Welt immer nur ein Unterschied ist, der im Denken gemacht wird. Alle Strukturen der Welt werden von unserem Denken als mentale Konstrukte geschaffen. Es gibt verschiedene Versionen der Wirklichkeit und relativ zu jeder Version existiert eine Welt. Diese sind nicht alle gleichwertig, manche sind tauglicher als andere. Die Gründe daEin Beispiel für einen solchen implizit dogmatischen Relativismus wäre der „Fall“ des als EU Kommissars vorgesehenen, aber aufgrund seiner Ansichten abgelehnten Rocco Buttiglione. Vgl. dazu J. Wendel/H. Lange, Der „Fall Buttiglione“, in: Die Neue Ordnung 59 (2005), 40-52. 31 Zu theologischen Varianten des Antirealimus vgl. Ch. Weidemann, Theologischer Antirealismus – und warum er so uninteressant ist, in: Was ist wirklich? Neuere Beiträge zu Realismusdebatten in der Philosophie, hg. von Ch. Halbig u. a., Frankfurt/M 2004, 397-427. Allerdings muss man genauer zwischen theologischem Antirealismus und Nonkognitivismus unterscheiden: Während jener Wah rheit generell relativiert, blendet dieser sie – je nach Position – für bestimmte Bereiche ganz aus, etwa den der Religion oder Ethik, akzeptiert sie als nicht-relativ dagegen für andere Bereiche, etwa den der Wissenschaft. 32 Vgl. zum Begriff „Wirklichkeit“ im Kontext realistischer Standpunkte M. Willaschek, Der mentale Zugang zur Welt. Realismus, Skeptizismus und Intentionalität, Frankfurt/M. 2003, 8-13. 30 12 für, Theorie 1 gegenüber Theorie 2 vorzuziehen, sind wiederum relativ. Es gibt keinen nicht-relativen Standpunkt, von dem aus entschieden werden könnte, dass eine der beiden Theorien objektiv wahr und die andere falsch wäre.33 Für den skizzierten Antirealismus gibt es die Wirklichkeit mit ihren raumzeitlich lokalisierbaren Gegenständen nur als eine von unserem Denken konstruierte Wirklichkeit. Unter dieser Voraussetzung gibt es keinen Standort außerhalb unserer Weltversionen oder mentalen Konstrukte, von dem aus entschieden werden könnte, was nun an sich, also in nicht-relativer Perspektive, wahr oder falsch ist. Das hat entscheidende Folgen für das Verständnis von Wahrheit. Ich nenne nur zwei: Erstens gerät Wahrheit damit zu einer rein epistemischen Kategorie im Sinne etwa einer rationalen Akzeptierbarkeit oder eines gerechtfertigten Fürwahrhaltens. Eine solche epistemische Auffassung der Wahrheit bedeutet, dass das Wahrsein in irgendeiner Weise auf ein gerechtfertigtes Fürwahrhalten reduziert wird.34 Diesem epistemischen steht ein nicht-epistemisches Wahrheitsverständnis entgegen: 35 Demgemäß ist Wahrheit eine objektive, nichtrelative Bestimmung, die unabhängig ist von unserem epistemischen Zugang zu ihr und damit unabhängig von unserer Fähigkeit, sie letztgültig zu verifizieren. „Wahrsein“ – so hatte schon Frege mit Nachdruck betont36 – ist etwas anderes als „Fürwahrgehaltenwerden“. Natürlich muss auch für den Vertreter eines nicht-epistemischen Wahrheitsverständnisses jeder Wahrheitsanspruch epistemisch (mit Argumenten für die eigene Position) gerechtfertigt werden: nur ist eben das Wahrsein einer Behauptung davon unabhängig. Wenn es wahr ist, dass sich die Erde um die Sonne dreht oder dass der Planet Mars zwei Monde hat, dann ist dies unabhängig davon wahr, ob Protagoras oder jemand anderes dies für wahr hält. Es mag einmal gute Gründe dafür gegeben haben, die Behauptung „Die Erde ist flach“ als wahr im Sinne von rational akzeptierbar zu halten. Trotzdem war und ist sie falsch. 37 Es ist insofern ein Kennzei- Vgl. als Beispiel dafür etwa N. Goodman, Ways of Worldmaking, 17-21. Ludger Honnefelder sieht im Antirealismus zu Recht die Gefahr, dass „die Differenz zwischen dem Wahren und dem für wahr Gehaltenem“ nicht mehr angemessen expliziert werden kann. Vgl. L. Honnefelder, Die Bedeutung der Metaphysik für Glauben und Wissen, in: H. M. Baumgartner, L. Honnefelder (Hg.), Die philosophische Gottesfrage am Ende des 20. Jahrhunderts, Freiburg/Br. 1999, 47-64, 53. 35 Vgl. dazu näher W. Künne, Bolzanos blühender Baum – Plädoyer für eine nicht-epistemische Wahrheitsauffassung, in: Realismus und Antirealismus, hg. vom Forum für Philosophie Bad Ho mburg, Frankfurt/M. 1992, 224-244. 36 „Wahrsein ist etwas ganz anderes als Fürwahrgehaltenwerden, sei es von Einem, sei es von Vielen, sei es von Allen, und ist in keiner Weise darauf zurückzuführen“ (G. Frege, Grundgesetze der Arit hmetik. Begriffsschriftlich abgeleitet, Bd. 1, Darmstadt 1962, XV). 37 Vgl. H. Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt/M. 1990, 82f. 33 34 13 chen eines zumindest impliziten Relativismus, wenn der Antirealist Wahrheit auf unsere epistemischen Möglichkeiten relativiert, sie festzustellen. Zweitens: Wenn unser Zugang zur Wirklichkeit allein auf mentalen Konstrukten beruht, die relativ sind zu einem Konstrukteur, dann kommt die Frage nach den Bedingungen und den Kontexten auf, unter denen eine solche Konstruktion stattfindet. Dabei kann zunächst empirisch deutlich werden, dass es unterschiedliche Versionen und Deutungen der Wirklichkeit gibt, die miteinander unverträglich sein können. Nun liegt es in dieser Interpretationsrichtung nahe, die vorgefundene Pluralität solcher Weltversionen und Sichtweisen stets als abhängig von unterschiedlichen Kontexten anzusetzen, in denen sie entstanden sind. Genau in dieser Form eines normativen Pluralismus hat der vorphilosophisch-politische Relativismus seinen eigentlichen Ausgangspunkt. Allerdings gilt es zu betonen: Auch der Realist beansprucht keinen Gottesstandpunkt für die Entscheidung, was wahr und was falsch ist. Unter endlichen erkenntnistheoretischen Bedingungen ist dies für die menschliche Erkenntnis nicht möglich. Insofern kann es eine Vielzahl von Weltdeutungen und Wahrheitsansprüchen (und insofern sogar einen deskriptiven Relativismus) auch von einem realistischen Standpunkt aus geben. In einem genetischen Sinne verstanden wäre ein solcher deskriptiver Relativismus auch für den Realisten problemlos: Zum Beispiel ist die Behauptung „Gott ist am Kreuz gestorben“ von ihrem Entstehungshintergrund fraglos relativ zu einer bestimmten Weltsicht, und zwar der christlichen; denn kein Buddhist würde als solcher darauf kommen. In einem geltungstheoretischen Sinne verhält sich dies jedoch anders. „Gott ist am Kreuz gestorben“ ist aus realistischer Sicht in einem objektiven Sinne entweder wahr oder falsch, und zwar unabhängig davon, ob dieser Satz von der Religion X für wahr und von Religion Y für falsch gehalten wird. Selbst wenn in Religion X plötzliche alle konvertierten und keiner mehr den Satz für wahr hielte, wäre er wahr, und zwar genau dann, wenn der behauptete Sachverhalt so besteht, wie der Satz es behauptet. Entscheidender Unterschied des skizzierten Realismus zum Antirealismus ist also das Festhalten an einem nicht-epistemischen Wahrheitsverständnis: Wahrsein ist nicht abhängig von unserem Fürwahrhalten. Ob es nun möglich ist, dieses nicht-epistemische Wahrheitsverständnis mit einer Version der Korrespondenztheorie der Wahrheit zu verbinden, wie es etwa William P. Alston, John Searle oder Richard Schantz tun, 38 ist umstritten. Der Versuch einer solchen Verbindung scheint mir aber trotz aller Probleme der Korre spondenztheorie unerlässlich, um etwa – wie Alston es mit seinem Modell eines „alethic Vgl. W. P. Alston, A Realist Conception of Truth, New York 1996, 5ff., 37 -41; J. R. Searle, The Construction of Social Reality, London 1995, 199-226; R. Schantz, Wahrheit, Referenz und Realismus. Eine Studie zur Sprachphilosophie und Metaphysik, Berlin 1996, 147-177. 38 14 realism“ tut39 – die Grundlagen einer christlichen Weltsicht deutlich zu machen.40 Denn es gibt Wahrheitsbehauptungen, die über unser Verifikationsvermögen hinausgehen, die wir nicht eindeutig entscheiden können und die trotzdem sinnvoll sein können. Dies gilt nicht nur für potenziell verifizierbare Behauptungen wie „Am 5. Juni 1452 sind 37.345 Menschen gestorben“ (etwa, falls eine verlässliche Liste darüber gefunden würde), sondern auch für metaphysische Behauptungen wie „Der Gott Jesu Christi existiert“ oder „Die Welt ist eine Schöpfung Gottes“. Unter Maßgabe eines epistemischen Wahrheitsverständnisses könnten solche Aussagen jedoch bestenfalls wahr im Sinne von rational akzeptierbar sein, und zwar nur für diejenigen, die Gründe haben, daran zu glauben. Darin läge jedoch ein impliziter Relativismus, der Geltungsansprüche immer nur relativ zu bestimmten Paradigmen oder Weltbildern als rational akzeptierbar anerkennt. Gemäß christlicher Metaphysik gilt, wie Robert Spaemann einmal betont hat: „Die Wahrheit des Schöpfungsglaubens ist … nicht daran gebunden, dass sie geglaubt wird.“41 Insofern ist eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Antirealismus auch für die rationale Verantwortung der christlichen Weltsicht von Bedeutung. IV. Fazit 1. Der Standardeinwand zeigt die Selbstwidersprüchlichkeit des normativen (traditionellen) alethischen Relativismus. Insofern stellt der (traditionelle) alethische Relativismus (mit Ausnahme des Moralrelativismus) keine besondere philosophische und theologische Herausforderung dar. 2. Die Herausforderung für Philosophie und Theologie besteht gegenwärtig in Formen eines impliziten alethischen Relativismus. Dieser ist greifbar vor allem in zwei Hinsichten: erstens als Antirealismus, zweitens als Alltagsrelativismus. Vgl. das erste Kapitel in W. P. Alston, A Realist Conception of Truth, 1-64. So heißt es, mit eher zynischem Unterton, bei P. Janich, Was ist Wahrheit? Eine philosophische Wahrheit, München 3 2005, 38f: „Der naive wie praktisch alle raffinierten Formen von Realismus sind säkularisierte Formen religiösen Schöpfungsglaubens (…) Allen Adäquationsauffassungen der Wah rheit als Entsprechung an eine menschenunabhängige Wirklichkeit liegt damit … ein Glaubensakt zugrunde, der nach Art religiöser Glaubensakte zu begreifen ist – und sich damit der Frage ‘Was ist Wahrheit?’ entzieht“. 41 R. Spaemann, Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und die Täuschung der Moderne, Stuttgart 2007, 173. 39 40 15 2.1 In Bezug auf die Auseinandersetzung mit dem Antirealismus ist die katholische Tradition einer nicht-epistemischen Wahrheitsauffassung verpflichtet. 2.2 In Bezug auf die Auseinandersetzung mit dem Alltagsrelativismus (im Kontext von vorphilosophisch-alltäglichen Einstellungen) ist die katholische Tradition (weiterhin) der philosophischen Aufklärung und Kritik verpflichtet, um das Aufkommen einer unhinterfragten „Diktatur“ solcher Einstellungen zu verhindern. 16