Bertelsmann Stiftung Muslimische Religiosität in Deutschland me von Religion reden und Bildung meinen? bildungsbürgerlich-chauvinistischen Gegen­ Worum geht es, wenn einerseits in muslimi­ konsens, dass wir heute alle klüger seien. Im scher Selbsteinschätzung die klassische Pra­ Gegenteil: Nicht zu glauben gilt sogar demje­ xis gelebter Religiosität zwar hoch angesehen nigen als unklug, der nur wenig Glaubens­ wird, sie sich aber nicht in gleichem Maße im praxis erkennen lässt. Dass das im Koran ent­ täglichen Leben niederschlägt (zwischen 71 Pro­ wickelte Zutrauen in Gott (dort auf Arabisch zent und 75 Prozent halten das Einhalten tawakkul) zusammenhängt mit dem Selbstver­ religiöser Speisevorschriften oder das Fasten trauen dessen, der daran glaubt, ist für Musli­ im Monat Ramadan für „ziemlich“ oder „sehr“ me integrierbar in die postmodernen Denk­ wichtig, aber nur 37 Prozent geben an, sich im kulturen.5 In dieser Auslegung sind die religiös Alltag in vergleichbarer Intensität daran zu Distanzierten natürlich zurückhaltender, aber halten, 25 Prozent sogar kaum oder gar nicht). mit der erwarteten Uneindeutigkeit: 76 Prozent Was zählt hier, wenn nicht die Anrufung Allahs der in Rede stehenden Altersgruppe glauben und der Fleiß in der Frömmigkeitsübung? zum Beispiel ausdrücklich an ein Leben nach dem Tod, dito 91 Prozent der allgemein sehr religiös Eingestellten ohne Berücksichtigung Religiöse Intelligenz der Altersgruppe, aber nur 46 Prozent der dezi­ Muslime sehen in der kognitiven Dimension diert Nichtreligiösen glauben daran „gar nicht“. des Islam als ihrer Religion und Lebensweise Woran genau wird geglaubt? 78 Prozent der gerne einen Vorzug: An Gott, den Engeln oder jungen Erwachsenen glauben an das Paradies, dem Jenseits festzuhalten kollidiert im islami­ 77 Prozent an die Hölle, 64 Prozent an Engel schen Kosmos nicht zwangsläufig mit dem und immerhin noch 60 Prozent an den Teufel. Glaube an Gott, Engel, Teufel und Dämonen im Vergleich aller muslimischen Generationen mit der jungen Altersgruppe 5 6 100 90 91 89 80 70 16 17 60 64 63 50 18 60 18 50 40 30 20 10 16 18 20 20 0 Muslime gesamt 18-29 Jahre Gott Personen mit hoher Ausprägung (in Prozent) Muslime gesamt Engel 18-29 Jahre Muslime gesamt Teufel 18-29 Jahre Muslime gesamt 18-29 Jahre Dämonen Personen mit mittlerer Ausprägung (in Prozent) Bertels m a n n Sti ftu n g | 54 | Der Glaube an ein Leben nach dem Tod in sei­ wofür ich mich in die Verantwortung nehmen ner Dimension des Heils spielt also bei der in lassen will. Zielangabe ist ein individualisier­ Rede stehenden Altersgruppe eine herausra­ teres, pluraleres und offeneres Verständnis von gende Rolle. Hier scheint sich allerdings eine Religion – ausdrücklich auch anderer Religio­ Tendenz zur Öffnung anzukündigen, denn nen: 64 Prozent sehen in jeder Religion einen die­se Dimension wird nicht mehr nur exklu­ wahren Kern, und sogar 86 Prozent finden, siv auf das eigene religiöse Deutungssystem dass man generell gegenüber allen Religionen beschränkt: 30 Prozent der befragten Gruppe offen sein soll. Die Hypothese, dass dies der junger muslimischer Erwachsener geben an, Haltung der Muslime in der Türkei, in Bos­ für sich selbst auch auf Lehren verschiedener nien, im Iran und in arabischen Ländern all­ religiöser Traditionen zurückzugreifen, und gemein entspricht (das sind die vier wesentli­ nur 22 Prozent lehnen das rundheraus ab. Die chen ermittelten kulturellen Bezugsräume der alten tribalen Merkmale sichtbarer Religions­ Befragten), wird sich nur schwer aufrechterhal­ zugehörigkeit zählen offenbar nicht mehr so ten lassen, wohl aber die Annahme, dass das viel: Das Muslimsein verstanden als Zugehö­ auch dort abhängig ist vom Bildungsgrad. Ver­ rigkeit zum Clan, zur Ethnie, zur Nation, zur mutlich bestätigen also auch diese Zahlen den Sprachgemeinschaft oder gar zur sozialen Grup­ Befund steigender Bildungsabschlüsse junger pe der Deklassierten wird zunehmend als hin­ Muslime in Deutschland. Der Gegenentwurf derlich für die eigene religiöse Identität gese­ zur Öffnung, nämlich die Rigorisierung des hen, die neu aufgebaut werden muss. Bei die­ islamischen Regelwerks und der Rückruf zur sem Neuaufbau geht es jetzt mehr um die Fra­ grünen Fahne, kommt bei Muslimen aller Bil­ ge, wer ich sein will, was mir wichtig ist und dungsniveaus immer schlechter an.6 | 55 |