"Aus religiösen Gründen braucht es keinen Turm mehr"

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Interview:
Der Kirchenhistoriker Mariano Delgado über die Bedeutung profaner und religiöser Türme
"Aus religiösen Gründen braucht es keinen Turm mehr"
Von Georges Scherrer / Kipa
Freiburg i. Ü., 16.10.09 (Kipa) Der Turm ist heute in der Schweiz in aller Munde und
zwar als Minarett: Die einen möchten ein solches bauen, andere wollen es nicht. Hat
der Turm eine sakrale oder liturgische Bedeutung? Bei christlichen Kirchen nicht, bei
Moscheen ursprünglich ja, heute aber nicht mehr, sagt Mariano Delgado, Professor für
Kirchengeschichte an der Universität Freiburg und Direktor des Instituts für das
Studium der Religionen und den interreligiösen Dialog. Die Presseagentur Kipa hat mit
ihm gesprochen.
Türme würden aber immer auch als herrschaftliche Zeichen und Ausdruck des
"Höhendrangs" verstanden, zum Beispiel in der Geschichte des Turms zu Babel, in den
italienischen Geschlechtertürmen einflussreicher Familien des Mittelalters und in den
heutigen "Bankentempeln", sagt Delgado. Die Türme prächtiger Kathedralen und Moscheen
sind zum Teil so zu verstehen, auch wenn sie primär zum Lob Gottes errichtet worden sind.
Kipa: Der Turm zu Babel sollte bis zum Himmel reichen. Er scheiterte. Warum?
Mariano Delgado: In der Bibel wird erzählt, warum der Turmbau zu Babel scheiterte. Die
Menschen wollten mit der Spitze des Turms bis zum Himmel hinauf. Dies wird heute als
Höhendrang verstand, als Zeichen des Hochmuts, Gott gleich werden zu wollen. Das ist die
eine theologische Auslegung des Turmbaus.
Kipa: Das ist aber nicht die ausschliessliche Bedeutung eines Turms...
Delgado: Nein, aber der Turmbau zu Babel wird in der Bibel auf diese Weise interpretiert. Es
gibt natürlich andere Deutungen der Geschichte, vor allem der Sprachverwirrung, die aber mit
dem Turm als solchem nichts zu tun haben.
Kipa: Was ist die Bedeutung von Kirchtürmen?
Delgado: Die Kirchen brauchen weder aus liturgischen noch aus theologischen Gründen
einen Turm. Der Petersdom beispielsweise hat keinen. Man geht heute davon aus, dass die
ersten Kirchenbauten keine Türme aufwiesen. Die Türme tauchten vermutlich erstmals im
heutigen Syrien auf. Es waren aber keine eigentlichen Türme, sondern kleine Frontaltürme
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als Anbau neben der Fassade. In ihnen führten Treppen zu Emporen. Diese
Zweckgebundenheit an die Treppenanlage ist bis ins Mittelalter vorhanden. Es gab also in
den ersten Jahrhunderten des Christentums keine Türme, die dem Aufhängen der Glocken
dienten.
Erst später tauchte der Turm im Zusammenhang mit Kirchen auf. Der älteste erhaltene
Kirchenturm in unseren Breitengraden ist der Campanile der Kirche Sant´Apollinare Nuovo in
Ravenna, der aus dem 9. Jahrhundert stammt. Es gab bereits zuvor kleine Türme für kleine
Glocken. Solche Glocken verbreiteten sich mit den irischen Missionaren im 5. und 6.
Jahrhundert in Europa. Der eigentliche Turmbau für grössere Glocken setzte in der Zeit der
Karolinger ein, also im 9. Jahrhundert. Vor allem die Benediktiner bauten mächtige
Kirchtürme für ihre Abteien, zum Beispiel in Cluny. Dies führte dann auch zu einer
Gegenreaktion. Aus den Benediktinern lösten sich die Zisterzienser als Reformbewegung, die
eine Ästhetik der Einfachheit vertraten. In ihren Abteien verzichteten sie auf Kirchtürme und
bauten sehr bescheidene Dachreiter, um dort eine kleine Glocke anzubringen.
Kipa: Warum haben die Benediktinerabteien zum Teil mehrere Türme?
Delgado: Die Mehrzahl der Türme sollte die Bedeutung der Abtei unterstreichen. Diese
wurden an der Westseite der Kirche, also in Opposition zum Altar gebaut, der im Osten steht.
Es gibt Kathedralen aus dem Mittelalter, die vier und mehr Türme zählen. Diese Vielzahl an
Türmen wurde oft aus herrschaftlichen Gründen errichtet, etwa bei fürstbischöflichen oder
kaiserlichen Kathedralen. Indem man mehrere und immer schönere Türme baute, unterstrich
man die ausserordentliche Bedeutung des Bauwerks - und des Bauherrn. Diese Türme
nahmen aber keine theologischen Funktionen wahr, sondern sind als architektonisches
Ornament zu deuten.
Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass viele Kirchentürme zwischen der Mitte des 14. und
der Mitte des 16. Jahrhunderts gebaut wurden, als Europa auch wirtschaftlich einen Sprung
nach vorne machte. Man muss aber auch bedenken, dass viele dieser Bauvorhaben
unvollendet blieben: In Spanien gibt es viele Kathedralen aus dem 16. Jahrhundert, wo die
Türme nicht fertig gebaut wurden. Der Wiener Stephansdom sollte zwei Türme erhalten;
gebaut wurde nur einer. Die Türme der Kathedralen von Köln, Regensburg und Ulm wurde
erst im 19. Jahrhundert fertiggestellt.
Kipa: Ist die Bedeutung von Kirchtürmen vergleichbar mit jener von Minaretten?
Delgado: Nur bedingt. Den Christen wurden die Türme nicht in die Wiege gelegt, sie sind also
später entstanden - nicht zuletzt auch, um die Präsenz eines sakralen Baus in einem
öffentlichen Raum zu kennzeichnen, oder ebenfalls aufgrund der verschiedenen Aufgaben,
die ein Kirchenturm im Mittelalter und in der Neuzeit zu erfüllen hatte. Die Glocken wurden
nicht nur für den Kirchgang geläutet, sondern gleichfalls um Ereignisse zu melden wie Feuer
oder Feinde, die für das Leben der Menschen wichtig waren.
Bereits in den Anfängen des Islams, also im 7. Jahrhundert, verfügten die Moscheen über
einen erhöhten Standplatz für den Gebetsrufer, den Muezzin. Vor allem die Omajaden, eine
Herrscherdynastie im heutigen Syrien, förderte den Turmbau sehr stark. Dies führte zu einer
ähnlichen Entwicklung, wie wir sie in Europa kennen.
Im Islam ist das Minarett einerseits durch seine Funktionalität für den Muezzin begründet,
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andererseits ist es auch ein Statussymbol. Die Türme wurden höher und eleganter. Es gibt
Moscheen mit einem Minarett, solche mit mehreren. Die Hauptmoschee in Mekka hat neun
Minarette. Die Anzahl der Minarette ergibt sich aus der sakralen Bedeutung der Anlage.
Manche Herrscher wie Sultan Suleiman der Prächtige im 16. Jahrhundert haben
wunderbare Moscheen in Auftrag gegeben, um damit die Bedeutung ihrer eigenen Herrschaft
zu unterstreichen. Und im 20. Jahrhundert hat König Hassan von Marokko in Casablanca
eine riesige Moschee mit dem bisher mit 210 Metern höchsten Minarett gebaut. Es heisst,
dass in Iran eine Moschee mit einem 230 m hohen Minarett gebaut wird. Auch hier finden wir
also im Schatten des sakralen Turmbaus einen Höhendrang.
Andererseits hat das Minarett seine ursprüngliche liturgische Bedeutung verloren. Denn in
den islamischen Ländern ertönt der Ruf des Muezzins aus den Lautsprechern, und bei uns ist
es kaum vorstellbar, dass dieser Ruf in den öffentlichen Raum hinein erschallen wird. Wenn
hier Minarette gebaut werden sollen, so nicht aus liturgischen oder theologischen Gründen,
sondern aus solchen, die auch verständlich sind: damit die Muslime mit ihrer Religion in der
Öffentlichkeit besser sichtbar sind.
Solange dabei die Proportionen gewahrt werden - bescheidene Minarette, die mit der
hiesigen traditionellen religiösen Kultur nicht in Konkurrenz treten -, gibt es wohl keinen
Grund, den Muslimen den Bau zu verbieten. Anders stünde der Fall, wenn die europäischen
Muslime selber den Minarettbau explizit als politisches und nicht als religiöses Zeichen
verstünden.
Kipa: Wie gehen andere Religionen mit dem Turm für Sakralbauten um?
Deldago: Generell lassen sich Türme religionspsychologisch auch so deuten, wie es in der
Geschichte des Turmbaus zu Babel gezeigt wird, also als Zeichen der Eitelkeit - der Turmbau
zu Babel soll eine Tempelanlage, ein Zikkurat gewesen sein.
Türme begegnen uns nicht nur bei Sakralbauten. Schon im 11. Jahrhundert, als der
Handel in Europa bereits eine beachtliche Bedeutung erlangte, entstanden in Italien die
ersten Geschlechtertürme. In Bologna gab es Dutzende solcher Türme, mit denen die
Familien um die grössere Bedeutung wetteiferten. Diese Türme waren höher als die
Kathedralen. Auch heute beobachtet man dieses Phänomen in unseren Städten mit ihren
prächtigen Hochhäusern. Der Mensch hat in der Architektur seinen Ausdruck zum
Höhendrang beibehalten.
In den Religionen spielen freilich auch andere Gründe eine Rolle: Gott oder "dem Heiligen"
mit dem schönsten und grössten Bauten zu dienen, oder religiöse Bauten im öffentlichen
Raum besser sichtbar zu machen und so die Bedeutung einer Religion hervorzuheben. Auch
Hindus kennen Türme und hohe Eingangsfassaden in ihrem Tempelbau, und die Pagoden im
Buddhismus streben elegant in die Höhe.
Kipa: Beim Bau von Kirchen wird heute oft auf einen Kirchturm verzichtet.
Delgado: Die Türme werden heute vorzugsweise in der Profankultur gebaut. Banken- und
Firmengebäude verkörpern diesen Höhendrang mit ihren Bürotürmen nach wie vor. Die
Kirche ist bescheidener geworden. Sie baut nicht mehr wie im Mittelalter oder in der Neuzeit
im Zentrum der öffentlichen Raumes, sondern diskret am Rand, wo man noch Platz gefunden
hat.
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Andererseits spielen auch Gründe der Funktionalität hinein. Türme zu bauen ist zudem
teuer. Und schliesslich gibt es heute leider nicht so viele begnadete Architekten, die die
Kirchenbautradition kreativ fortsetzen - nicht zuletzt, weil sie heute von anderen
Auftragsgebern besser bezahlt werden.
Die Christen haben vielleicht nicht mehr das Bedürfnis oder den Mut, ihre Präsenz im
öffentlichen Raum durch einen schönen Turm zu markieren. Heute, wo jedermann seine Uhr
hat, kommt den Glocken nicht mehr jene Bedeutung zu, die sie früher hatten, als sie zur
zeitlichen Strukturierung des Tages dienten oder als Alarmgeläut benötigt wurden.
Der Kirchturm hat auf diese Weise seine "profane" Bedeutung eingebüsst. Eine Kirche
wird heute auf ihre liturgische Aufgabe hin gebaut. Dabei sind moderne Kirchenbauten nicht
immer glücklich, weil sie viel zu profan aussehen. Aber wir leben zum Glück in einem Land,
wo nach wie vor die Glocken zu bestimmten Anlässen geläutet werden: Das sollte uns an die
religiöse Matrix unserer Kultur erinnern.
Kipa: Der fehlende Turm - ein Zeichen des Rückzugs der Christen und der Verdunstung des
Glaubens?
Delgado: Man darf das Fehlen des Turms bei modernen Kirchen nicht dramatisieren. Es hat
nichts mit einer Verdunstung des Glaubens zu tun. Beim heutigen Bau von Kirchen achtet
man eher darauf, dass das Wesentliche in ihrem Zentrum steht.
Ich rate davon ab, beim Turmbau in eine Art Wettbewerb mit dem Islam zu treten. Die
Religionsfreiheit gilt für alle: Daher sollen Muslime die diskreten Minarette für ihre Moscheen
bauen können. Genau so ist es Christen weiterhin erlaubt, Türme für ihre Kirchen
aufzustellen.
Separat:
Mariano Delgado
Der Kirchen- und Religionshistoriker Mariano Delgado (54) ist ordentlicher Professor für
Kirchengeschichte an der Universität Freiburg und dort auch Direktor des Instituts für das
Studium der Religionen und den interreligiösen Dialog (www.unifr.ch/ird).
Hinweis für Redaktionen: Zu diesem Beitrag ist ein honorarfreies Bild erhältlich. Es kann bei
der Presseagentur Kipa angefordert werden: [email protected]
(kipa/gs/job)
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