Theoretische Fundierung des Süd­Shaolin­Praxiskonzeptes von Wolfgang Jährling Süd­Shaolin Institut Oberstr. 24, 64653 Lorsch Datum: 09.02.2013 Inhalt 1. Einleitung..........................................................................................................................................1 2. Chan­buddhistische Philosophie.......................................................................................................3 2.1 Voraussetzungen.........................................................................................................................3 2.2 Offene Weite ohne Haltepunkt...................................................................................................4 2.3 Subjektivität: Das leidende Selbst als leere Täuschung.............................................................5 2.4 Die nicht­dualistische Doppelstruktur der Wirklichkeit............................................................6 2.5 Soteriologie: Von der Verblendung zur Erleuchtung.................................................................7 3. Ein buddhistisch­pädagogisches Fundament....................................................................................8 3.1 Lernen als Verstrickung oder als Befreiung...............................................................................9 3.2 Lernen als Durchschauen von Bedingtheit................................................................................9 3.3 Einsicht gewinnen statt vorgegebener Sinn..............................................................................10 3.4 Unberechenbares Lernen..........................................................................................................11 3.5 Lehren als Bei­Sich­Beginnen.................................................................................................11 4. Das Süd­Shaolin Praxiskonzept......................................................................................................11 4.1 Nicht­dualistisches Denken in der Praxis.................................................................................12 4.2 Die fünf Elemente....................................................................................................................13 4.2.1 Form.................................................................................................................................13 4.2.2 Bedeutung.........................................................................................................................14 4.2.3 Prinzipien.........................................................................................................................14 4.2.4 Wirklichkeit......................................................................................................................15 4.2.5 Kunst................................................................................................................................15 4.2.6 Die fünf Elemente als Sprache.........................................................................................16 4.3 Formen.....................................................................................................................................16 4.4 Ein Modell: Die 6½ Prinzipien................................................................................................16 5. Schlusswort und Ausblick...............................................................................................................17 Literatur..............................................................................................................................................19 1. Einleitung Das Ziel dieser Arbeit ist: • Erstens: Das pädagogische Praxiskonzept zu beschreiben, das zum Unterrichten insbesondere in der International Weng Chun Kung Fu Association sowie auch in einigen unabhängigen Schulen und kleineren Verbänden weltweit eingesetzt wird. Verwendung findet es hauptsächlich im Gruppen­ und Einzelunterricht des chinesischen Kampfkunst­ Stils Weng Chun Kung Fu sowie der ebenfalls chinesischen Körperarbeitsmethode Süd­ Shaolin Qi Gong1. Da laut der mündlichen Überlieferung der Ursprung dieser Methoden in den südlichen Shaolin­Tempeln liegt, bezeichne ich das Praxiskonzept hier als „Süd­Shaolin­ Praxiskonzept”. Derzeit werden schätzungsweise ein paar tausend Menschen damit unterrichtet. • Zweitens: Das Praxiskonzept soll nicht nur für sich beschrieben, sondern zugleich auch theoretisch fundiert werden. Es basiert auf Chan­buddhistischer Philosophie (jap. Zen), einer vor ca. 1500 Jahren in China entstandenen Richtung des Mahayana­Buddhismus. Entsprechend werde ich keine abendländischen Lerntheorien, sondern den (Chan­)Buddhismus als Grundlage für die theoretische Fundierung nutzen. Dazu werde ich zunächst die wichtigsten Aspekte des Chan­Buddhismus zusammen fassen (Abschnitt 2), um dann pädagogische Implikationen daraus abzuleiten (Abschnitt 3), ehe ich das Praxiskonzept beschreibe (Abschnitt 4). Eine besondere Eigenschaft, die sowohl dem (Chan­)Buddhismus im Allgemeinen als auch dem Süd­Shaolin­Praxiskonzept im Speziellen eigen ist, besteht darin, dass es sich um Überlieferungen handelt, die nicht auf Schriften basieren: „Der Buddhismus als Tradition setzte ein mit einer mündlichen Überlieferung, die von Lehrer zu Schüler weitergegeben wurde und über deren Inhalte die Gemeinschaft der Sangha wachte. Diese mündliche Tradition ist für den gesamten Buddhismus immer sehr bedeutsam gewesen, und sie wird von vielen 'Buddhologen' unterschätzt, die sich naturgemäß als Forschungsgegenstand nur auf Texte stützen können. Innerhalb der buddhistischen Traditionen spielt diese mündliche Weitergabe wichtiger Lehrinhalte eine bedeutende Rolle.” (Brodbeck2009, S. 5) Teilweise besteht noch nicht einmal eine explizite mündliche Überlieferung2, weil auch bereits die gemeinsame Situation von Lehrer° und Schüler° einen wesentlichen Teil der Überlieferung ausmacht3. Zudem steht insbesondere die eigene Übungspraxis im Vordergrund: „Wenn man den Buddhismus bloß als Philosophie behandelt, wird man niemals sein Wesen erfahren, weil in ihm Verstehen und Praxis gleichermaßen betont werden. In der Ch'an­Schule ist allein die aus tatsächlicher Praxis resultierende Erfahrung wichtig, nicht aber das Verlassen auf die geschriebene und gesprochene Sprache.” (Hsing2008, S. 10) 1 Inwiefern andere Stilrichtungen die gleichen oder ähnliche Elemente in ihrem Praxiskonzept nutzen, ist mir nicht bekannt. Fest steht immerhin, dass viele sich zumindest auf dem gleichen theoretischen Hintergrund berufen, sodass diese Arbeit für große Teile der Gemeinschaft asiatischer Kampf­ und Bewegungskünste interessant sein dürfte. 2 Im Chan wird betont, dass es „Keine Abhängigkeit von Worten und Sprache” gibt. Vgl. Cheng1981, S. 472 und Sheng­yen, S. 3 3 Was im deutlichen Gegensatz steht zu einigen modernen erziehungswissenschaftlichen Konzeptionen, in denen auf „Selbststeuerung” gesetzt wird und apersonale Medien wie Lernprogramme die Rolle eines Lehrers° weitgehend übernehmen sollen. Die Anwendung derartiger Konzeptionen findet sich durchaus auch in den Kampfkünsten und im Qi Gong in Form von Video­gestützten Fernausbildungen. ­ 1 ­ Das bedeutet für diese Arbeit: • In der Darstellung des Süd­Shaolin­Praxiskonzeptes können daher leider nur sehr wenige Quellenangaben zum Konzept selbst gemacht werden. Mit der vorliegenden Arbeit ist erstmalig eine ausführliche schriftliche Darstellung des Süd­Shaolin­Praxiskonzeptes gegeben, die sich deshalb zu weiten Teilen aus meinen persönlichen Notizen, Erfahrungen, Erinnerungen und auch Schlussfolgerungen speist. Entsprechend wünsche ich mir, dass diese Arbeit nicht als ein „Das ist so!” gelesen wird, sondern als Möglichkeit, durch nach­ vollziehen meiner Ausführungen eine hoffentlich inspirierende Einsicht in das Praxiskonzept zu erhalten (vgl. Abschnitt 3.3). • Etwas anders gestaltet sich die Situation bezüglich buddhistischer Philosophie und Erkenntnislehre. Hier steht doch zumindest für die Zwecke dieser Arbeit eine weitgehend ausreichende Fülle an Materialien zur Verfügung. Insbesondere beziehe ich mich auf die Arbeiten von Karl­Heinz Brodbeck, da er die buddhistische Erkenntnistheorie zu einer „Grundlage für die Sozialwissenschaften” (Brodbeck2002, S. 1) ausgearbeitet hat. Ich erhebe allerdings keinen Anspruch darauf, die Chan­Philosophie in ihrer ganzen Tiefe erfasst zu haben, ganz abgesehen von der Unmöglichkeit, sie in diesem Rahmen umfassend wiederzugeben. Das sollte den Nutzen dieser Arbeit aber nicht vermindern. Zuletzt sei noch eine formale Konvention erläutert, die ich entwickelt habe, auch wenn sie vielleicht erst im Kontext von Abschnitt 2 wirklich verständlich wird: Wenn von Personen die Rede ist, werden die jeweiligen Bezeichnungen mit einem kleinen Kreis (°) markiert. Es gibt hier also beispielsweise Lehrer° und Schüler°. Dabei wird der flüssigen Lesbarkeit halber generell auf das generische Maskulinum zurückgegriffen. Tatsächlich sollte aber z.B. jeder in dieser Arbeit vorkommende Lehrer° weder als männlich noch als weiblich gedacht werden, noch als beide Möglichkeiten, noch als keine von beiden – noch als nichts davon (und selbst das nicht). Diese Formation aus der buddhistischen Logik verweist auf die Nicht­Identität (vgl. Abschnitt 2.3). Der Kreis (°) erinnert also daran, dass es sich bei einer Personenbezeichnung um eine Entität im Zirkel des Wissens (der konventionellen Wirklichkeit) handelt, d.h. um eine identitätslogische Figur, die letztendlich eine Täuschung darstellt (denn in der buddhistischen Logik gilt: a ≠ a, es gibt also keine mit sich identische Person). Das trifft zwar streng genommen auf jeden verwendeten Begriff zu, aber ich gehe davon aus, dass es bei Personen besonders relevant (also heilsam) ist, fortwährend daran zu erinnern. ­ 2 ­ 2. Chan­buddhistische Philosophie 2.1 Voraussetzungen Zuerst möchte ich die Voraussetzungen buddhistischer Philosophie klären. Der Buddhismus geht davon aus, dass man nichts über Erkenntnisprozesse aussagen kann, wenn man das Denken nicht beherrscht. Dabei geht es nicht darum, korrektes logisches Schlussfolgern zu erlernen (auch wenn diese Fähigkeit sich durch die gewonnene Klarheit des Denkens nebenbei entwickelt). Gemeint ist vielmehr, die Funktionsweise des Denkens durch die eigene Erfahrung damit zu durchschauen4. Die praktische Methode dazu ist die Meditation. Wenn man dies als gültigen Weg zur Erkenntnis akzeptiert, werden alle anderen Wege dadurch ausgeschlossen. Denn man erlangt so Einblick in die täuschende Struktur der alltäglichen Erfahrung, die damit als gültige Erkenntnisquelle ausscheidet. In ähnlicher Weise wird auch die Gültigkeit jeglicher Überlieferung und der Logik in Frage gestellt. Somit müssen alle anderen Erkenntniswege wenn nicht verworfen, so doch zumindest deutlich relativiert werden. Die Konsequenz ist, dass der Buddhismus (a) keine absoluten Wahrheiten zu überliefern beabsichtigt, (b) sich auch nicht primär auf logisches Argumentieren stützt und (c) auch das alltägliche Erleben nicht als Maßstab nimmt, denn gerade letzteres wird als verblendet erkannt5. Stattdessen soll jedem Praktizierenden° zu vergleichbaren (nicht­alltäglichen) Erfahrungen verholfen werden, wie sie der historische Buddha vor ca. 2500 Jahren hatte6. Diese Erfahrung kann üblicherweise nur durch lange und intensive Übung erlangt werden7, denn: „Die Beherrschung des Denkprozesses ist weit davon entfernt, eine natürliche Gabe des Menschen zu sein.” (Brodbeck2005, S. 29) Für gewöhnlich ist das Denken gefangen in Gewohnheiten. Schon deshalb kann auch von einer a priori gegebenen Autonomie nicht die Rede sein. Allerdings ist das veränderbar. „Es lässt sich nicht ­ wie ein physikalisches Gesetz ­ festschreiben, ob das Bewusstsein Sklave oder Herr einer Situation, körperlicher Vorgänge, der Emotionen usw. ist.” (Brodbeck2005, S. 91) Durch Achtsamkeit ist eine Verschiebung möglich. Das wird unmittelbar sichtbar am Atem, der zwar auch automatisch funktioniert, aber kontrolliert werden kann, wenn man ihm Beachtung schenkt. Daher beginnt buddhistische Meditation beim Atem. Es handelt sich dabei also nicht um eine reine Entspannungsübung (auch wenn Entspannung auf dem Weg notwendig dazu gehört, vgl. Sheng­yen, S. 10). Der Buddhismus wird gelegentlich als eine Wissenschaft des menschlichen Geistes bezeichnet. „An die Stelle einer psychologischen, ontologischen, oder erkenntnistheoretischen Beziehung zwischen Subjekt und Objekt tritt [aber] im Buddhismus die Analyse jener Bedingungen, die diese Dualität erzeugen und der täuschenden Prozesse, die sich dabei vollziehen.” (Brodbeck2005, S. 38) 4 Vgl. Brodbeck2005, S. 30: „Kants 'Fähigkeit zu erkennen' wird im Buddhismus wörtlich genommen: Man kann die Erkenntnisprozesse erst dann in ihrer inneren Kraft und Dynamik, in ihrer Reichweite und Verläßlichkeit durchschauen, wenn man das Denken als Fähigkeit performativ beherrscht.” 5 Vgl. Brodbeck2005, S. 93: „Der Mensch ist als Handelnder ein Zeichenprozess, doch dieser Zeichenprozess ist ein Prozess der Verblendung und deshalb keine verlässliche Grundlage, weder für das Handeln noch für die Wissenschaften.” 6 Vgl. Brodbeck2005, S. 42 7 Zumindest im Chan­Buddhismus geht man davon aus, dass unter sehr günstigen Umständen diese Erkenntnis auch ohne Übung eintreten kann und daher auch Tiere diese Erfahrung machen können, obwohl sie nicht systematisch nach einer Lehre üben können. Der Grund dafür liegt in der Erkenntnis, dass nichts eine definitive Natur und Funktion hat und daher potentiell jedes Ereignis auch zur Erleuchtung führen kann. Vgl. Cheng1981, S. 467 ­ 3 ­ 2.2 Offene Weite ohne Haltepunkt Was ist nun das Ergebnis dieser buddhistischen Analyse? Man kann versuchen, es verbal so auszudrücken: „Eine offene Weite wird durch das Wissen mit einer Topologie von Begriffen durchzogen, in deren Grenzen die Menschen erkennen und handeln.” (Brodbeck2002, S. 4). Diese offene Weite, dieser Bedeutungsraum ist aber nicht etwa der „wahre Zustand der Welt”8, denn die Welt ist erst der Inhalt dieses Raums: Die Welt ist erst das, was erkannt werden kann. Die Suche nach einem „letzten Grund” scheitert, weil es in dieser offenen Weite keinen Haltepunkt gibt, an dem sich die Begriffe festhalten können; sie halten sich nur aneinander fest. Wer nach einem letzten Grund sucht, verändert also nur die Vernetzung des Wissens9 und trägt damit nur zum Wandel bei. Erstens ist die offene Weite also keine Entität, kein „Etwas”: „To emphasize that 'emptiness' is not primarily an ontological concept and does not refer to any absolute reality, [Nagarjuna] warned that 'In order to refute all erroneous views, the Victorious One teaches emptiness. He who holds that there is an emptiness will be called incurable by all Buddhas.'” (Cheng1981, S. 456) (Übersetzung: „Um zu betonen, dass 'Leerheit' nicht in erster Linie ein ontologisches Konzept ist und sich nicht auf eine absolute Realität bezieht, warnte Nagarjuna: 'Um alle falschen Ansichten zurückzuweisen, lehrt der Erhabene die Leerheit. Wer daran festhält, dass es eine Leerheit gibt, wird von allen Buddhas als unheilbar bezeichnet.'”) Zweitens existiert darin nichts „aus sich selbst heraus”10. Jede Entität definiert sich nur durch ihre Vernetzung, d.h. ihre Abgrenzung von anderen, ist also abhängig von ihnen. Diese Abhängigkeit ist keine kausale Beziehung, sondern eine zirkuläre11. Will man einen letzten Grund finden, wird man den Zirkel als „Teufelskreis” verdammen12 und in der Folge die Leerheit nicht erkennen können. Wenn es kein Selbst­Sein gibt, dann mag man daraus voreilig folgern, dass alles nichtig sei. Schon dem historischen Buddha wurde wiederholt Nihilismus vorgeworfen und bis heute wird das Konzept der „Leerheit” aller Dinge regelmäßig als „Nichts” missverstanden. Der Buddhismus meidet aber als „mittlerer Weg” alle extremen Sichtweisen (d.h. alle Sichtweisen). Wenn es heißt, dass alle Dinge leer sind, ist weder ein Sein noch ein Nichts behauptet. Verdeutlicht werden kann dies (nicht zufällig in besonderer Klarheit) am Geld13: Geld hat seinen Wert nur, weil alle daran glauben, dass es ihn hat. Das Geld hat kein feststellbares Sein aus sich heraus. Da es offensichtlich aber funktioniert, ist es auch kein Nichts. Das Wissen ist ebenso eine leere Täuschung, die funktioniert. Tatsächlich können nur leere Täuschungen funktionieren: „Es ist die Leerheit der Begriffe, die allererst ihre Vernetzung im Wissen möglich macht.” (Brodbeck2002, S. 8). Man mag hier noch skeptisch sein14 und fragen, ob man dadurch nicht doch in postmoderner Beliebigkeit landet. Schließlich gibt es keinen letzten Grund, auf den man sich berufen könnte. Doch Beliebigkeit ergibt sich daraus keineswegs. Der folgende Abschnitt soll zeigen warum. 8 Vgl. Brodbeck2002, S. 11 9 Vgl. Paetow2004, S. 74: Der Buddhismus lehnt „metaphysische Haltungen ab, die nach einem wesentlichen oder ursprünglichen (substantiellen) Prinzip hinter der Wirklichkeit suchen, so, wie es in unserer Kultur insbesondere in (natur­) wissenschaftlichen Bereichen zur Gewohnheit wurde.” 10 Vgl. Hsing2008, S. 8: „Unterscheidung entsteht in unserem Geist aufgrund der Erregung unserer Gedanken. Wenn unser Geist still ist, sind die Objekte aus sich heraus nicht in der Lage, Unterschiede zu machen.” 11 Vgl. Brodbeck2005, S. 111 12 Vgl. Brodbeck2002, S. 10 13 Vgl. Brodbeck2007, S. 11­13 14 Das wäre sogar begrüßenswert, vgl. Hsing2008, S. 14: „Ch'an ermutigt uns, mit Zweifeln zu beginnen. Ein kleiner Zweifel wird zu einer kleinen Erkenntnis führen. Ein großer Zweifel wird zu einer großen Erkenntnis führen. Ohne Zweifel wird es keine Erkenntnis geben.” ­ 4 ­ 2.3 Subjektivität: Das leidende Selbst als leere Täuschung Wir haben bereits festgehalten: Die offene Weite ist keine Entität. Wenn man sich eine Vorstellung von ihr macht, verfehlt man sie. Schauen wir uns den Grund dafür genauer an: Betrachtet man die offene Weite als eine Entität, dann bringt man damit automatisch (als „Schatten der Entität”) auch das (eigene) Selbst hervor. Die Entität ist dann nämlich das, was nicht das Selbst ist und umgekehrt. Wir befinden uns somit also bereits im Wissen, das die offene Weite durchzieht und haben dabei die offene Weite als solche verloren. Betrachten wir es positiv: Wir haben dabei die Ur­Dualität gefunden, nämlich Selbst und Entität15. Damit ist insbesondere das Selbst als eine leere Täuschung enttarnt16, als ein Teil des Wissens. Es gibt also nicht das Individuum und die Gesellschaft und daneben dann noch das Wissen, sondern die Individuen machen sich durch das Wissen zu dem, was sie sind (und die Gesellschaft ist ein Prozess des Wissens)17. „Bloß Taten gibt es, doch kein Täter findet sich” ist ein klassischer Lehrsatz des Buddhismus18, der deshalb das Nicht­Selbst lehrt (in Abgrenzung zum „Selbst” aus der Lehre des Hinduismus). Die Nicht­Selbst­Lehre sagt dabei aber gerade nicht, dass es eine Entität „Nicht­Selbst” gäbe, sondern dass das Selbst eine leere Täuschung ist (vgl. Brodbeck2005, S.106). So weit hätten wir noch kein Problem: Unsere feste Überzeugung, ein mit sich identisches Selbst zu sein, basiert auf einer Verblendung, na und? Der Punkt ist aber, dass genau diese Verblendung die Ursache menschlichen Leidens ist. Weil man sich als Selbst identifiziert, leidet man darunter, dass man daran scheitert, Dinge zu ergreifen, die man haben will (wie Reichtum, Anerkennung, Glück, Gesundheit, Erfolg, …)19. Leben ist Leiden: „Das Leben ist, als würde man auf messergespickte Bäume klettern oder Berge erklimmen, aus denen lauter Schwerter ragen: Tag und Nacht sticht dich irgendwas” (Sojun2006, S. 11). Und selbst wenn man vorübergehend auf der sonnigen Seite sitzt, sind Alter, Krankheit und Tod doch unausweichlich. Somit ist selbst Glück (bzw. das, was jeweils gerade als Glück gilt) letztlich leidvoll durch seine Vergänglichkeit. Kurz gesagt: Subjektivität wird als leidvoll erkannt. Transzendiert man jedoch das Subjektive (durch entsprechende Praxis, die zur Einsicht in die Leerheit führt), verschwindet auch das Leiden20, aber mehr noch: Dabei entsteht grenzenloses Mitgefühl mit allen fühlenden Wesen, die man nicht mehr als „andere” (dualistisch) von sich abgrenzt und deren Leiden man so erkennt. An die Stelle einer Ethik, die sagt, was man tun soll, tritt im Buddhismus also eine Anleitung, die erklärt wie man Freiheit vom „unkritischen, naiven Glauben” (Paetow2004, S. 71) an das eigene Selbst erlangen kann, was dann mitfühlendes Denken, Reden und Handeln zur Konsequenz hat. Dagegen wird das gewöhnliche, egoistische Handeln als Mangel an Freiheit gesehen: „Die Freiheit, seinen Zwecken zu folgen, ist die Herrschaft der Zwecke, nicht die Freiheit, sie auch lassen zu können. Das Ego ist Sklave seiner Wünsche und Zwecke. Die buddhistische Freiheit (...) ist insofern radikal, als sie sich gerade gegen die Illusion eines „freien Egos” wendet. die Freiheit des Ichs ist tatsächlich eine Illusion. Das Ich ist vielmehr ein Spielball unbewusster Gewohnheitsmuster (samskara) und das gewöhnliche Denken der Menschen ist weit davon entfernt, ein Souverän zu sein.” (Brodbeck2005, S. 100) 15 Vgl. Brodbeck2002, S. 17 16 Vgl. Paetow2004, S. 83: „Die vermeintlich substantielle Identität des Subjektiven erscheint bei eingehender Analyse nur als ein Zusammenspiel von wandelbaren, flüchtigen psycho­physischen Faktoren (...), die aufgrund eines kontinuierlichen Anhaftungsprozesses das Gefühl einer psycho­physischen Identität vermitteln.” 17 Vgl. Brodbeck2002, S. 1 18 Visuddhi­Magga XVI, übers. v. Nyantiloka, Konstanz 1952, S. 597, zitiert nach Brodbeck2005, S. 33 19 Auch das Nicht­Wollen (etwa in Form von Angst oder Hass) ist eine Form des Ergreifens, gewissermaßen eine negative Version des Anhaftens. 20 Vgl. Paetow2004, S. 79 ­ 5 ­ 2.4 Die nicht­dualistische Doppelstruktur der Wirklichkeit Sie sind so ermüdend, diese Ansichten von Sein und Nicht­Sein, Ich und Anderen, Form und Substanz, Subjekt und Objekt. – Jikme Lingpa, Narak Kong Shak Manch ein Leser° wird angesichts der hier ausgebreiteten philosophischen Gedanken in das obige buddhistische Gedicht einstimmen wollen. Der Punkt ist ja letztlich, genau solche (metaphysischen) Ansichten zu lassen. Wie das gedacht werden kann, verdeutlicht das Modell der zweigeteilten Wahrheit bzw. Wirklichkeit . Es wird dabei zwischen der absoluten/letztendlichen Wahrheit und der konventionellen Wahrheit unterschieden. „Konventionell” bedeutet dabei (nach Brodbeck2002, S. 16): sozial, gewohnt, traditionell, relativ, situativ. Man möchte hinzufügen: oftmals ermüdend. Ein klassisches Bild, das den Unterschied verdeutlicht, lautet: Wer ein Seil für eine Schlange hält, der irrt aus konventioneller Sicht. Hält man das Seil für ein Seil, ist man aus konventioneller Sicht im Recht. Aus absoluter Sicht irrt man immer noch. Denn um ein Seil zu sein(!), müsste es ein Sein haben. Auch die buddhistische Lehre ist demnach nur konventionelle Wahrheit. Damit ist klar, dass der Buddhismus sich „dadurch auszeichnet, dass er bereit ist, sich in seiner Letztgültigkeit, Absolutheit und zeitlichen Dauer selbst zu relativieren.” (Litsch2007) Daran führt kein Weg vorbei, denn: „Alle Aussagen über die Leerheit bewegen sich, da es Aussagen in der Begriffs­Matrix und in der sprachlichen Täuschung sind, zwischen diesen beiden Extremen des 'es gibt' und 'es gibt nicht'” (Brodbeck2005, S. 110)21, was letztendlich im Widerspruch steht zum „mittleren Weg”, der Extreme meidet. Das bedeutet, dass die Metaphysik keineswegs nur dann in der Sprache durchscheint, wenn ein „Eigentliches”, „Wahres”, „Ursprüngliches” oder „Natürliches” behauptet wird. „Man kann der Metaphysik nicht entrinnen, wenn man ihr Bewegungsprinzip fortführt: Das Denken in Entitäten.” (Brodbeck2002, S. 422). Es ist also nicht möglich, die Metaphysik auf dem sprachlichen Weg zu überwinden22. Darum ist die westliche Philosophie trotz aller Versuche immer wieder an der Überwindung der Metaphysik gescheitert und kann auch nur daran scheitern. Genau deshalb kann es nicht darum gehen, sie zu überwinden – sondern höchstens darum, sie zu lassen. Das kann nicht mit Hilfe der (bedingten, ergreifenden) Sprache geschehen23. Insofern ist(!) auch dieser Text hier natürlich(!) voller Metaphysik. Da Sprache also nie wahr in einem absoluten Sinn sein kann, hat der Buddhismus auch kein grundsätzliches Problem mit der Nutzung von Worten wie „eigentlich”, „wahr”, „natürlich” und „ursprünglich”, die sich oft in buddhistischen Texten finden. Der Zweck dieser Texte ist aber ein anderer; nämlich der, Hilfestellung für die Übungspraxis zu geben. Im Chan wird die größte Hilfe allerdings oft schlichtweg darin gesehen, auf die vorrangige Wichtigkeit der Übungspraxis selbst zu verweisen: „Es ist leicht, über Zen zu reden, doch ebenso nutzlos.” (Sojun2006, S. 50) Der Grund dafür liegt nahe: „Jede philosophische und theoretische Analyse bleibt aus buddhistischer Perspektive Spekulation” (Paetow2004, S. 76). Bevor ich die pädagogischen Konsequenzen diskutiere, möchte ich daher im folgenden Abschnitt zuletzt noch auf den praktischen Befreiungsweg des Buddhismus eingehen. 21 Vgl. Cheng1981, S. 466: „all verbal statements are the expressions of the dualistic way of thinking and involve contradictions or absurdities.” (Übersetzung: „Alle verbalen Aussagen sind Audruck der dualistischen Denkweise und enthalten Widersprüche und Absurditäten.”) 22 Vgl. Brodbeck2002, S. 320. Auch deshalb nicht, weil jeder Überwindungs­Versuch ein Ergreifen ist, vgl. ebd, S. 44 23 Wenn dagegen ein Chan­Meister die Frage eines Schülers beantwortet, indem er wortlos den Raum verlässt, so liegt darin keine Metaphysik (vgl. Cheng1981, S. 467). Allerdings ist dies nur für fortgeschrittene Schüler verständlich. ­ 6 ­ 2.5 Soteriologie: Von der Verblendung zur Erleuchtung Aus der Leerheit (Abschnitt 2.2) und dem Leiden (Abschnitt 2.3) ergibt sich eine positive Pespektive: Die Idee der Leerheit bzw. des Nicht­Selbst zeigt, dass das Leiden nicht als alternativloser Bestandteil menschlicher Natur betrachtet wird: Das Leiden ist auch eine leere Täuschung24. Gerade im Fehlen einer Festlegung durch einen „Wesenskern” liegt das Potential, das Leiden zu überwinden. Dieses Potential wird im Chan (und einigen anderen Strömungen) als Buddha­Natur bezeichnet. Dieser Begriff kann natürlich auch leicht missverstanden werden als Wesenskern, denn er zählt zu den Versuchen, „sich dem Absoluten sprachlich zu nähern, wobei aber auch hier durch die letztliche Betonung der Unsagbarkeit der letzten Erkenntnis keine Ontologie verfochten worden ist.” (Paetow2004, S. 71)25. Da die Buddha­Natur also leer ist, „kann sie auch funktional sein: [als] Weg zur Befreiung vom Leiden. Sie ist nicht die 'Natur' eines Wesens, sondern die Möglichkeit, ein Buddha zu werden, sowie die Einsicht in die Leerheit vom Ich und von allen Gegebenheiten und außerdem der Prozess der Verwirklichung.” (Wachs2008, S. 9)26. Der Buddhismus als religiöse Praxis hat also hierin ein klares Ziel, das auch als Erleuchtung, Erwachen, Befreiung oder Erreichen des Nirvana27 bezeichnet wird. Gemeint ist damit, nichts mehr zu ergreifen, ein Loslassen aller Anhaftungen, also vor allem aller dualistischen Ansichten. Das Leben als besitzlose(r) Mönch/Nonne° ist offensichtlich ein möglicher Zugang, um sich im Loslassen zu üben, aber es sind zahllose andere Zugänge denkbar. Es hat sich in der Geschichte des Buddhismus auch eine große Vielfalt an Übungen entwickelt28. Entscheidend ist nie deren äußere Form, sondern ob sie geeignet sind, dem Übenden° zu helfen, sich von Anhaftungen zu befreien29. Dieser Weg soll bis in die letzte Konsequenz verfolgt werden: „Wenn Sie sich von allen weltlichen Ärgernissen und Leiden befreien möchten und wenn Sie Befreiung wünschen, haften Sie noch an Ihrem Selbst. ” (Sheng­yen, S. 9) Letztlich muss selbst die Dualität „dualistisch vs. nicht­ dualistisch” gelassen werden, denn „The Middle Way is not just a refutation of a pair of extreme views, but a negation of all extreme views wherever they occur.” (Cheng1981, S. 457, Übersetzung: „Der mittlere Weg ist nicht nur die Widerlegung eines [bestimmten] Paars extremer Ansichten, sondern die Zurückweisung aller extremen Ansichten, wo immer sie auch auftreten.”) Es geht also „nicht um eine konkurrierende Lehre neben anderen Lehren, sondern um das Loslassen der mit jeder Lehre ergriffenen Illusion” (Brodbeck2005, S. 107/108). Der Buddhismus ist insofern kritische Philosophie, als das Aufzeigen einer richtigen Sichtweise für ihn nur darin besteht, falsche Sichtweisen zurückzuweisen30. 24 Vgl. Brodbeck2002, S. 322 25 Eine Zusammenfassung der Diskussionen, die in der Geschichte des Buddhismus über den Begriff der Buddhanatur geführt wurden, findet sich bei Brodbeck2005, S. 114­124 26 Es wird dabei die praktische Seite betont: Die Idee der Buddha­Natur „hilft gegen Mutlosigkeit, ermuntert zu einer Haltung des Respekts und wirkt gegen Überheblichkeit.” (ebd. S. 10) 27 Nirvana kann als „verwehen” oder „verlöschen” übersetzt werden. 28 Vgl. Brodbeck1998, S. 5: „Die sog. buddhistische Philosophie ist ein äußerst umfangreiches Kompendium von Hinweisen und Vorschlägen, wie diese Selbsterforschung zu praktizieren ist. ” Vgl. auch die Erläuterungen zu äußerer, innerer und geheimer Praxis bei Keuffer1991, S. 179/180. 29 Vgl. Cheng1981, S. 473: „The essential of meditation (...) is not to sit cross­legged, but to get rid of delusions and passions.” (Übersetzung: „Die Essenz der Meditation beteht nicht darin, mit überkreuzten Beinen zu sitzen, sondern sich von Verblendungen und Anhaftungen zu befreien.”) 30 Vgl. Cheng1981, S. 472: „to negate erroneous views does not require the development of a 'new' view. but merely rejecting all views since all views are one­sided and hence erroneous. (...) 'right' is 'that which is without any view' and 'wrong' is 'that which is with some view.' To eliminate erroneous views is to show right views.” (Übersetzung: „Falsche Ansichten zurückzuweisen erfordert nicht, eine 'neue' Ansicht zu entwickeln, sondern nur, alle Ansichten zurückzuweisen, da alle Ansichten einseitig und damit fehlerhaft sind. (...) Es ist 'richtig', was 'ohne Ansicht ist' und es ist 'falsch', was 'eine Ansicht hat'. Falsche Ansichten zurückzuweisen heißt, richtige Ansichten aufzuzeigen.”) ­ 7 ­ Darin verweist der Buddhismus dennoch auf etwas positiv Bestimmtes; aber eben nicht in dem Sinn, dass er einen direkten Verweis auf einen letzten Grund gibt, sondern dass er wie ein Finger auf den Mond zeigt, ohne für sich in Anspruch zu nehmen, der Mond zu sein oder den Mond zu repräsentieren31. Um etwas Positives zu lehren, muss allerdings auf konventionelle Wahrheit zurück gegriffen werden und damit auch zwischen richtig und falsch unterschieden werden: „We are forced to use the word 'right' (…) in order to put an end to wrong. Once wrong has been ended, then neither does right remain. Therefore the mind is attached to nothing.” (Chi­tsang, The Profound Meaning of Three Treatises, S. 6, zitiert nach Cheng1981) Übersetzung: „Wir sind gezwungen, das Wort 'richtig' zu benutzen, um dem Falschen ein Ende zu setzen. Sobald das Falsche aufgehört hat, dann bleibt auch das Richtige nicht. Deshalb haftet der Geist an nichts.” Dabei sind „richtig” und „falsch” letztlich synonym zu „heilsam” und „unheilsam”. Als heilsame Handlungen gelten solche, die Anhaftungen auflösen. Es gibt dabei aber nichts aus sich heraus Richtiges/Heilsames, sondern nur etwas für eine Person° in einer Situation je Richtiges/Heilsames. Es können aber dennoch sinnvolle Vorschläge unterbreitet werden, denn: „Der Buddhismus erklärt, wie heilsame und unheilsame Handlungen wirken ­ und deshalb kann er heilsame Handlungen empfehlen. Bezüglich unheilsamer Handlungen hingegen herrscht Gelassenheit. Jeder ist sich darin selbst ein Richter. Jede »böse Tat«, in Haß und Gier begangen, ist in sich selbst ihre eigene Hölle.” (Brodbeck1998, S. 6) Man beachte, dass damit bereits eine Empfehlung ausgesprochen ist (nämlich Gelassenheit). Durch die Orientierung an solchen Empfehlungen kann das Leiden des übenden Individuums° vermindert werden; im Mahayana­Buddhismus wird auch sehr viel Wert darauf gelegt, anderen zu helfen, doch eine Utopie kann so nicht gedacht werden: „Es gibt hier kein geschichtliches einmaliges Ziel, schon gar kein verbindliches und garantiertes.” (Paetow2004, S. 74) Denn: „'Welt' bedeutet ontologisch immer auch erlittene Welt, weshalb das Leiden zwar je individuell vermindert, nicht aber aus der Welt entfernt werden kann.” (Brodbeck2002, S. 322) Nun muss aber – auch nach der Erleuchtung – in der Welt gehandelt werden. „Buddhisten wenden sich nicht von der 'Welt' (von anderen Lebewesen) ab, sie wenden sich von der Täuschung in der Welt ab.” (Brodbeck2002, S. 320). Die Lebenswirklichkeit zeichnet sich aber auch gerade dadurch aus, dass selbst bei achtsamer Haltung (angesichts des Wandels auch immer neue) Dilemmata entstehen und man abwägen muss, wie Leid vermindert werden kann. Die Suche nach neuen Wegen des Handelns in der Welt ist damit nie abgeschlossen, wovon auch die sehr lebendige Realität buddhistischer Praxis zeugt, die auch heute noch immer neue Ansätze hervorbringt. 3. Ein buddhistisch­pädagogisches Fundament Ehe ich pädagogische Konsequenzen in den Blick nehme, möchte ich in Anknüpfung an den vorigen Abschnitt betonen, dass ich es keineswegs als Aufgabe der Pädagogik sehe, Menschen zur Erleuchtung zu führen. Als Aufgabe buddhistischer Religionspraxis ist das ein legitimes Ziel. In einer unmittelbaren Übertragung in die Pädagogik läge dagegen lediglich der Entwurf einer naiven, paternalistischen Weltanschauungspädagogik. Ich möchte in den folgenden Abschnitten stattdessen fragen, wie ein Konzept aussehen kann, das Aufbau und Dekonstruktion von Wissensstrukturen32 ermöglicht – freilich ohne den Anspruch, diese Frage bereits abschließend beantworten zu können. 31 Vgl. Sheng­yen, S. 3 32 Darunter fasse ich hier auch „Handlungsstrukturen”. Wir befinden uns schließlich im Kontext eines Praxiskonzeptes, das körperliche Handlungen in den Vordergrund stellt. ­ 8 ­ 3.1 Lernen als Verstrickung oder als Befreiung Die Aneignung von Wissen ist das Bilden von Abgrenzungen, von Differenzen (vgl. Abschnitt 2.2), also das dualistische Unterscheiden. Da bereits in der Ur­Dualität (von Selbst und Entität, vgl. Abschnitt 2.3) die Ursache menschlichen Leidens liegt, ist das Wissen also immer an menschliches Leiden gekoppelt. Sich neues Wissen anzueignen, bedeutet demnach, den Zirkel des Wissens weiterzudrehen und sich dabei möglicherweise nur noch mehr im Leiden zu verstricken. Ablehnen können wir das Wissen aber ebenso wenig, denn das Wissen ist Voraussetzung für unser Denken, Reden und Handeln – und damit auch der Schlüssel zur Verminderung des Leidens, zum Loslassen. Demnach kann Lernen zu heilsamen Effekten führen. Ich möchte im Folgenden nur diese Art des Lernens überhaupt als Lernen bezeichnen und es von einer reinen Wissensaneignung unterscheiden. Wenn man nun aus diesem Winkel an das Lernen herangeht, liegt darin auch immer ein kritisches Potential, denn: „Die Verblendung ist zur sozialen Institution geworden. Deshalb wird die Analyse der verblendeten Denkformen zugleich zu einer Kritik der herrschenden Denkformen. (…) Der Buddhismus sah es immer auch als seine Aufgabe an, jene Denkformen, die Menschen zu Handlungen führen, die nur Leiden verursachen, aufzudecken und ihre innere Unhaltbarkeit herauszuarbeiten, und er bezog damit eigene Fehlentwicklungen selbstkritisch mit ein.” (Brodbeck2009, S. 15) Die Beschäftigung mit dem Wissen wird daher aus buddhistischer Perspektive nicht abgelehnt33. Zur Verminderung des eigenen Leidens sowie für leidmindernde Beteiligung an der Gesellschaft bzw. auch nur für die Kritik ihrer Täuschungen ist es hilfreich, jeweils auf dem neuesten Stand der Täuschung zu sein. Aber nicht nur die Kritik an verblendeten Denkformen, auch das Aufnehmen und Nutzen von Wissensinhalten ist ohne weiteres als Lernen mit heilsamen Effekten denkbar, denn „Nicht primär der Inhalt, das Festhalten einer Theorie ist es, worauf die buddhistische Geistesschulung abzielt, und hier lautet der Kernsatz: Dieses Festhalten gilt es zu lassen.” (Brodbeck2002, S. 214) Es geht demnach immer darum, beim Lernen auch die Bedingtheit der gelernten Inhalte zu durchschauen. 3.2 Lernen als Durchschauen von Bedingtheit Es ist also ein Lernen anzustreben, bei dem sich der Schüler° Wissen auf eine Weise aneignet, die es ihm ermöglicht, auch die stets nur relative Gültigkeit dieses Wissens zu durchschauen. Man eignet sich Entitäten an, aber ohne sie zu ergreifen oder zumindest so, dass man sie jederzeit loslassen kann. Als Lehrer° darf man nicht untergehen lassen, dass es letztlich nur „ausgedachte” Konzepte sind, die dem Denken, Sprechen und Handeln eine Orientierung geben sollen. Wer unterrichtet, muss die Leerheit im Hinterkopf haben34. Dabei muss immer auch berücksichtigt werden, dass Schüler° keine unbeschriebenen Blätter sind, sondern schon Vorstellungen mitbringen. Lernen setzt daher zunächst voraus, überhaupt offen für Neues zu sein, also muss man auch womöglich das Loslassen verinnerlichter Irrtümer lernen. „Dieser Befreiungsweg ist deshalb ein „Ent­lernen“, was an unbewussten Mustern (...) eingeübt wurde.” (Brodbeck2009, S. 9) Damit Neues möglich ist, muss das Alte losgelassen werden. Dabei darf es aber gerade nicht nur darum gehen, die bisherigen Annahmen durch eine neue „Wahrheit” zu ersetzen, sondern die Bedingtheit des Alten sowie auch des Neuen zu verstehen. So kann man Neues verwenden, ohne es zu ergreifen. 33 Die letztendliche gegenüber der relativen Wirklichkeit zu bevorzugen würde schließlich eine dualistische Unterscheidung bedeuten und damit Nirvana (die offene Weite) zur Entität machen, vgl. Abschnitt 2.2. 34 Man verzeihe mir den Kalauer. ­ 9 ­ Das erfordert aber eine gewisse Anstrengung seitens des Lernenden°. Das bloße Übernehmen von vorgegebenen Ergebnissen ist hier nicht möglich. Wer z.B. den Bewegungsablauf einer Form (vgl. Abschnitt 4.4) immitiert, der hat in diesem Sinn noch nichts gelernt, sondern sich nur etwas angeeignet (was als erster Schritt oft unumgänglich ist). Lernen ist dann das Abarbeiten, das Erforschen, das Einsicht gewinnen in Zusammenhänge durch Achtsamkeit in der Ausführung der Form. Man kann eine Form also nicht lernen, man kann nur durch die Beschäftigung mit einer angeeigneten Form etwas lernen (z.B. über Körperarbeit). Nur auf diesem Weg kann die Bedingtheit des betreffenden Inhaltes je individuell eingesehen werden (im Sinne von: Einsicht), weil sich nur darüber in eigener Anschauung erschließen lässt, dass (und inwiefern genau) der jeweilige Inhalt eine Orientierungshilfe für die menschliche Praxis darstellt. 3.3 Einsicht gewinnen statt vorgegebener Sinn Wird vom Lehrer° nur vorgegeben, was der Fall ist, fehlt dem Schüler die Möglichkeit, Einsicht zu gewinnen in die Bedingtheit dessen, was da behauptet wird. „In jedem 'Das ist so!' liegt ein abgewiesener Zweifel, ein Damm gegen eine Offenheit, gegen die etwas festgestellt wird. „Fest­Stellung” ­ darin liegt: etwas festmachen wollen, das nicht fest ist, gleichsam etwas aus der Dynamik in die Statik ziehen. (…) Ein Urteil „Das ist so!” lebt gleichsam in der beständigen Angst, man könne die Aussage auch bestreiten. (…) Gerade die Feststellung offenbart, dass da nichts von sich aus fest ist. Das Statement missdeutet die Offenheit einer Situation als bedrohliche Negation, gegen die ein Sein festgestellt werden soll.” (Brodbeck2002, S. 270) Der Buddhismus ist insofern radikal antiautoritär. Damit ist keine „antiautoritäre Erziehung” gemeint35, sondern dass man kein „Das ist so!” behauptet, das nicht nach­vollzogen werden könnte. Ich schreibe „nach­vollzogen” mit Bindestrich, um zu betonen, dass etwas vollzogen werden soll, was zuvor jemand anderes vollzogen hat (statt es einfach nur hinzunehmen). Auf diesem Weg soll zu vergleichbaren Erfahrungen verholfen werden. Lehren heißt demnach vor allem anderen, jemandem Werkzeuge in die Hand zu geben – und diese Werkzeuge auch als solche erkennbar zu machen. Alles andere würde der „Grundhaltung des Buddhismus zuwiderlaufen, keine Haltungen über Sachverhalte einzunehmen, die nicht durch die unmittelbare Erfahrung begründet werden können.” (Paetow2004, S. 70) Aber mehr noch: Da jede Aussage genau genommen eine Anweisung ist (nämlich die Anweisung, einen bestimmten Gedanken zu denken), muss jede Aussage so formuliert werden, dass die Möglichkeit besteht, sie auch zu denken, man also den Gedanken nach­vollziehen kann36. Das bedeutet: Das „Wie” des Denkens soll mit dem Inhalt mitgeteilt werden. Auch wenn Begriffe immer leere Täuschungen sind, kann so zumindest eine Täuschung zweiter Ordnung vermieden werden37. Im bloßen Nach­Vollziehen scheint noch kein Raum für Neues zu sein, doch das täuscht: Wenn im Nach­Vollziehen auch Einsicht in die Bedingtheit des nach­vollzogenen Inhaltes (und damit die Offenheit) gewonnen wird, eröffnet sich auch die Möglichkeit, den Inhalt zu verändern oder zu ersetzen, da er nicht als unveränderliches „Das ist so!” angeeignet wird. „Und wer weiß, wie man etwas loslässt, der hat die Hand frei, kreativ etwas Neues ergreifen zu können.” (Brodbeck2002, S. 2). Das ist nicht nur wünschenswert, sondern angesichts des Wandels letztlich notwendig, denn „Selbst wenn man ein Hindernis überschreitet, erwartet einen noch ein weiteres, das man nicht überwindet, indem man sich nur an Regeln oder Vorbilder hält.” (Sojun2006, S. 58) 35 Denn diese ist in ihrer metaphysischen Voraussetzung einer ursprünglich reinen Natur des Menschen (die man sich nur entfalten lassen müsse) tatsächlich äußerst autoritär. 36 Vgl. Brodbeck2002, S. 76­95 für eine ausführliche Darstellung dieses Ansatzes. 37 Vgl. Brodbeck2002, S. 14 ­ 10 ­ 3.4 Unberechenbares Lernen Wenn nun vom Lehrer° eine Übung vorgegeben ist, dann soll natürlich durch sie auch etwas Bestimmtes vom Schüler° erarbeitet werden. Zugleich steckt aber in jeder Übung viel mehr, nämlich (mindestens fast) der gesammte Themenkomplex, zu dem die Übung gehört und der so auch anhand der Übung erforscht werden kann. Auf Grund der Vernetzung des Wissens ist dies unvermeidlich und da gerade darin das Potential für die eigenständige Erforschung liegt, ist dieser Effekt nicht zu unterbinden, sondern eher noch zu forcieren. Eine sinnvoll konzipierte Übung ist also so beschaffen, dass durch die Beschäftigung mit ihr zahllose Erkenntnisse möglich sind, die von selbst (also ohne die Übung) so meist nicht entstehen könnten38. „Jeder Augenblick enthält die ganze Welt” schreibt der Zen­Meister Dogen (Dogen, Shobogenzo I, Zürich 1975, S. 92, zitiert nach: Brodbeck2002, S. 209). In jedem Text steckt entsprechend (jedenfalls annähernd) die ganze Grammatik der Sprache, in jeder Weng Chun­ oder Qi Gong­Übung stecken alle Prinzipien der Körperarbeit. Daher ist nie ganz vorhersehbar (höchstens antizipierbar), was der Schüler° entdeckt und wozu in ihm Fragen aufkommen. Man sollte deshalb davon nicht überrascht werden, wenn Schüler° über das hinausgehen, was man als Übungsziel vorrangig vorgesehen hatte. Gelegentlich verfehlen sie es auch völlig, wobei dann abzuwägen ist, ob man das zulassen möchte oder ob man (auch als Hilfe zur Entwicklung von Achtsamkeit) diszipliniert und auf den Fokus der Übung zurück verweist. 3.5 Lehren als Bei­Sich­Beginnen Die gleiche Frage kann also je nach Situation zu ganz unterschiedlichen Antworten führen, sogar zu gegensätzlichen (Vgl. Hsing2008, S. 5). Schon Buddha hat in dieser Weise situativ unterrichtet. Um dazu in der Lage sein, muss der Lehrer° Einsicht gewonnen haben in die Bedingtheit seines Tuns: „Somit hängt die Bedeutung von "richtig" oder "korrekt" von den Ursachen oder Umständen eines jeden Falles ab. Wir müssen geistesgegenwärtig, empfindsam, aufgeschlossen, flexibel, schöpferisch und einsichtsvoll sein, um den jeweils unterschiedlichen sich verändernden Kontext wahrzunehmen und darauf zu reagieren.” (Santikaro1996) Die Achtsamkeit des Lehrers° steht daher immer am Anfang. Diese zu entwickeln ist damit eine der zentralen Aufgaben des Lehrers°. Sie ermöglicht es also nicht nur, den nötigen Abstand zu haben, um mit schwierigen Schülern° bzw. Situationen umzugehen, sondern ist Voraussetzung für jegliches pädagogische Handeln. 4. Das Süd­Shaolin Praxiskonzept Das Süd­Shaolin­Praxiskonzept wurde vor dem Hintergrund Chan­buddhistischer Philosophie entwickelt. Diese Verbindung möchte ich in den folgenden Abschnitten herausarbeiten und zugleich die wichtigsten Bausteine des Praxiskonzeptes beschreiben. Zunächst werde ich beschreiben, wie nicht­dualistisches Denken eingesetzt wird (Abschnitt 4.1), um dann in einem zentralen Teil dieser Arbeit (Abschnitt 4.2) darzustellen, wie das Modell der fünf Elemente des Lernprozesses einen praktischen Zugang zur Nutzung des zuvor erarbeiteten Verständnisses von Lernen ermöglicht. Zuletzt werde ich noch die konkretere Ausgestaltung davon am Beispiel der Formen (Abschnitt 4.3) und eines im Weng Chun­Unterricht verwendeten Modells (Abschnitt 4.4) vorstellen. 38 Zudem ist jede Übung auch Selbst­Erforschung bzw. Achtsamkeitsübung. Diesen Aspekt vernachlässige ich in der vorliegenden Arbeit weitgehend; nicht, weil er absolut gesehen weniger wichtig wäre, sondern weil er für das Anliegen dieser Arbeit ­ der theoretischen Fundierung eines konkreten Praxiskonzeptes ­ sekundär ist und weil er in anderen Publikationen schon ausführlich behandelt wurde. Siehe auch Abschnitt 5. ­ 11 ­ 4.1 Nicht­dualistisches Denken in der Praxis Letztlich ist „nicht­dualistisches Denken” zwar ein Widerspruch in sich, aber da es ein leerer Begriff ist, kann er natürlich funktionieren. Es ist sogar eines der wichtigsten praktischen Hifsmittel für jeden Lehrer°, und damit auch für jeden Schüler° – denn eine der Grundlagen der Süd­Shaolin­ Pädagogik ist, dass jeder ein Lehrer° ist. Damit ist die Dualität zwischen dem helfenden Lehrer° und dem hilfbedürftigen Schüler° aufgehoben. Es sollte also nicht die in Unterrichts­Situationen oftmals übliche Hierarchie zwischen „Helfendem” und „Hilfsbedürftigem”39 geben. Dass es sich dabei um eine hierarchische Wertung handelt und nicht um ein neutrales Miteinander, bemerkt man leicht, wenn man sich die Worte genau anfühlt: Der „Helfende” steht in der Wertung immer höher40. Die Auswirkungen des defizitorientierten Blickes sind weithin bekannt. Wenn dagegen jeder als Lehrer° gesehen wird, also jedem anderen Impulse für dessen Entwicklung geben kann, stehen Potentiale im Vordergrund41. Gerade im Gruppen­Unterricht wird es immer vorkommen, dass Schüler° Partnerübungen (die vor allem in der Kampfkunst einen großen Anteil ausmachen) miteinander üben müssen, die auf der persönlichen Ebene Schwierigkeiten miteinander haben. Hier hilft es, sich nicht auf das zu konzentrieren, was man an jemandem nicht mag, sondern auf die Impulse, die der andere° (in seiner Rolle als Lehrer°) einem im gemeinsamen Üben geben kann42. Das zweite wichtige Werkzeug aus dem Werkzeugkasten des nicht­dualistischen Denkens steht eng damit in Verbindung: Das Bild der Blume. Der Schüler° wird nicht als „Problemhaufen” gesehen, sondern als jemand, der wie eine Lotusblume aus dem Morast seiner Zweifel und Schwierigkeiten wächst. Auf der persönlichen Ebene ist es meist so, dass man in jemandem° nur die Blume sieht, wenn man ihn mag – und man nur den Morast sieht, wenn man ihn nicht mag. Als Lehrer° sollte man dagegen beide Aspekte des Schülers° sehen (und das Gesamte als wertvoll betrachten). Dass der Morast Bedingung ist für das Wachstum der Blume, ist unmittelbar einsichtig: Wenn es nicht darum geht, sich Ergebnisse anzueignen, sondern Inhalte zu durchdringen (vgl. Abschnitt 3.3), dann liegt in jeder Schwierigkeit und der damit verbundenen Notwendigkeit, genauer hinzusehen, auch erst das Potential des Lernens. In jeder „negativen” Sache liegt (durch ihre Leerheit) also der Verweis auf etwas „Positives”, so wie das Leiden (auf Grund seiner Leerheit) auf die Möglichkeit verweist, es zu überwinden. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang ein Beispiel aus meiner eigenen Entwicklung: Nachdem ich mich längere Zeit mit der Entwicklung einer bestimmten Fähigkeit schwer getan hatte, wurde ich darauf hingewiesen, welches Potential gerade für mich als Lehrer darin liegt: Wenn mir alle Fähigkeiten wie von selbst „zufliegen” würden, hätte ich nicht das nötige Verständnis im Detail, um Schülern° später bei ihren Schwierigkeiten damit zu helfen. Die Notwendigkeit, das Thema achtsam zu erforschen, kann somit als Geschenk betrachtet werden. Diese (vorgeschlagene) Instruktion zur Einnahme einer neuen Sichtweise ermöglichte es, sich in dem Thema weiter zu widmen ohne sich darin zu verbeißen (anzuhaften). Es geht also weniger um die Überwindung von Schwierigkeiten als um deren Transformation. Hierzu sei noch ein körperliches Beispiel aus dem Weng Chun­Unterricht erwähnt: Ein Schüler°, der im Freikampf zu offensiv nach vorne drängte, bekam den Ratschlag, seinen „Vorwärtsdrang” in „Brückendrang” umzuwandeln (eine Brücke ist ein weitgehend sicherer Zugang zum Gegner). 39 Der Verzicht auf die °­Zeichen ist an dieser Stelle offensichtlich beabsichtigt. 40 Man kann auch zum Vergleich den Versuch unternehmen, die Wertung umgekehrt zu denken. 41 Natürlich nimmt der Leiter des Unterrichts immer eine besondere Rolle ein und somit existiert auch eine Form von Hierarchie und Machtstruktur, aber eben eine, die keine Auf­ und Abwertungen erfordert, damit auch keine Anhaftung erzeugen muss und somit heilsam wirken kann. 42 Achtsamkeit ist natürlich die Voraussetzung dafür ist, diesen Blick im jeweiligen Moment einnehmen zu können. ­ 12 ­ 4.2 Die fünf Elemente Im Süd­Shaolin­Praxiskonzept werden fünf Aspekte des Lernprozesses bestimmt, die aus der buddhistischen Fünf­Elemente­Lehre43 abgeleitet sind. Da es sich dabei um eine feinere Ausgestaltung der zuvor skizzierten Lern­ bzw. Lehrweise handelt, werden hier auch einige der bereits behandelten Gedanken in diesem neuen Kontext wiederholt. Bei den fünf Elementen des Lernprozesses handelt es sich um Form, Bedeutung, Prinzipien, Wirklichkeit und Kunst. Form meint eine feste, klare, abgegrenzte Entität. Bedeutung ist ihre Einbindung in Zusammenhänge. Prinzipien sind die darunter liegenden allgemeinen Mechanismen. Wirklichkeit ist ihre Leerheit. Kunst ist der (in der Kombination aus allen diesen Aspekten liegende) individuelle Ausdruck, der auch immer die Möglichkeit von etwas Neuem offen hält. Dieses Modell kann einerseits als weitgehend lineares Fortschreiten durch die einzelnen Stufen gelesen werden44. Und gewiss benötigt man eine Entität (Form), ehe man ihre Wirklichkeit als leer erkennen kann. Ebenso denkbar ist aber die Lesart, in der alle Aspekte immer zugleich vorhanden sind in jedem Lernprozess, da die Entität (Form) beispielsweise ja auch stets und von Anfang an in Wirklichkeit leer ist. Die Vereinigung dieser beiden Perspektiven ist leicht möglich: Es sind zwar in jedem Lernprozess alle fünf Aspekte jederzeit vorhanden, ihre Gewichtung verschiebt sich aber im Laufe der Zeit. 4.2.1 Form Zu Beginn dominiert also das Element der Form. Jeder° neigt dazu, zunächst an einer Form anzuhaften, sie festhalten bzw. ergreifen zu wollen und sich dabei Illusionen hinzugeben: Man will eine Kampfkunst­Technik haben, die eine Universal­Lösung darstellt (also immer funktioniert). Man will für immer so jung bleiben, wie man ist. Man will eine originale, unveränderte Kampfkunst lernen. Man will eine Weltformel finden, die alles erklärt. Tatsächlich ist nichts davon möglich, auch wenn all das (und mehr) ständig und überall in Aussicht gestellt und gewünscht wird. Man sucht in der Form das Feststehende, die Klarheit, die Sicherheit, bekommt diese aber immer höchstens für den Moment, letztlich folgt doch der Wandel. Es gibt nichts Festes, das sich dauerhaft ergreifen ließe – und darunter leidet man. Selbst wer viele Dinge und Ereignisse erfolgreich ergreifen kann, wird das nicht dauerhaft tun können; so viel ist im Wortsinne todsicher. Es gibt aber auch die Möglichkeit, Freude zu empfinden angesichts des Wandels. Diese Möglichkeit besteht darin, nicht zu ergreifen, sondern den Wandel kunstvoll und in achtsamer Weise zu nutzen und zu steuern. Der Weg dahin beginnt allerdings bei der Form, die für den Moment die gewünschte Klarheit bietet: Bei vorgegebenen Übungen, bei klaren Anweisungen, Bewegungen und Techniken. Auch aus der Gewissheit einer langen und bewährten Tradition (Form) kann man Kraft schöpfen; wer die Ahnen ehren will, kann dies tun, indem er° viel übt und somit die Tradition am Leben hält. So muss auch der Verweis auf den Wert einer Tradition kein Widerspruch zum Primat der Übungspraxis sein ­ zumindest wenn die Überlieferung die Form von Anweisungen hat, deren achtsames Befolgen zu Erfahrungen führt. 43 Diese sollte nicht verwechselt werden mit der bekannteren Lehre der fünf Wandlungsphasen, die im Daoismus und der traditionellen chinesischen Medizin Verwendung findet. 44 Für eine solche Stufen­Interpretation des Modells im Bezug auf Kampfkünste siehe: Hoffmann2011, S. 69­72; dabei speziell im Hinblick auf Körperarbeit: ebd., S. 100 ­ 13 ­ 4.2.2 Bedeutung Zumindest für die meisten „westlichen” Menschen° muss auf Grund ihrer Sozialisation die Anweisung meist auch noch logisch nachvollziehbar begründet werden. Es werden also alle bedingten Erkenntniswege (vgl. Abschnitt 2.1) genutzt45. Diese zeitweilige Notwendigkeit der Begründung verweist schon auf die Einbettung in einen größeren Zusammenhang, also auf die tatsächliche Bedeutung. Diese kann sich zwar durch Übungspraxis von selbst erschließen, aber häufig muss man als Lehrer° den Übungen vorab einen angemessenen Rahmen geben, sonst gibt der Schüler° den Übungen ggf. vorzeitig selbst einen Rahmen – der dann etwa „unwichtige Übung” lauten kann. Das führt dann wiederum zu nachlässigem Üben ohne Achtsamkeit und ohne Forscherdrang, wodurch die Übung tatsächlich sinnlos wird. Die Bedeutung lässt sich dann auch nicht mehr selbst erschließen, womit zirkulär eine Leiden verursachende Bedeutung entstanden ist. Aber selbst wenn der Lehrer vorab die Bedeutung einer Übung erklärt, entsteht Erkenntnis erst durch intensives Erforschen der Übung. Es ist deshalb nicht selten, dass man bei einem Aha­ Erlebnis etwas erkennt, was man eigentlich zuvor bereits wusste; darin zeigt sich auch der Unterschied zwischen Lernen und Aneignen (vgl. Abschnitt 3.1). Lernen bedeutet also forschendes Wiederholen. Die Vernetzung des Wissens kann dabei intensiver werden durch die Wiederholung in unterschiedlichen Kontexten. Dadurch ist es möglich, den Unterricht von Schülergruppen° so aufzubauen, dass zwar auch jede Unterrichtsstunde in sich schlüssig ein bestimmtes Thema behandelt, sich durch regelmäßige Teilnahme aber zugleich neue Verknüpfungen eröffnen, weil bekannte Elemente in neuen Zusammenhängen wieder auftauchen. 4.2.3 Prinzipien Durch langfristige intensive Beschäftigung46 ergibt sich auch die Einsicht in allgemeinere Sachverhalte, die über einzelne Entitäten und deren Einbindung in Zusammenhänge hinausgehen: Man gewinnt Einsicht in Prinzipien. Ich möchte betonen, dass es sich dabei nicht um das Ziel handelt, sondern um einen von fünf Aspekten aus dem Lernprozess; es geht also nicht darum, dass ein „Subjekt der Erkenntnis einer Welt des Wandels gegenübersteht, um aus dieser Welt des Wandels, der sich ändernden Meinungen usw. jeweils das 'Bleibende' als das Surrogat der Wirklichkeit heraus zu präparieren” (Brodbeck2005, S. 34). Der Punkt ist vielmehr, sich – innerhalb des Wissenszirkels – im Loslassen zu üben, da man nicht mehr an bestimmten Entitäten festhalten muss, weil man über die Kenntnis von Prinzipien ein hohes Maß an Flexibilität im Denken erlangt. Wenn man also eine Übung erforscht und dabei die eigene alltägliche Wahrnehmung als Grundlage nimmt, dann befindet man sich zwar innerhalb der Verblendung, aber es kann dennoch ein Schritt der Befreiung sein, da man Bewusstheit gewinnt über das, was passiert. Das Herausarbeiten eines gemeinsamen Kerns kann – auch wenn es absolut gesehen falsch ist – relativ gesehen aber zumindest als Zwischenziel doch richtig sein, weil die daraus entstehende Toleranz heilsam wirkt. Wenn etwa andere Qi Gong­Stile die gleiche Übung anders ausführen als der eigene Stil, kann die Einsicht in einen gemeinsamen Kern aller Varianten zeigen, dass die anderen es ebenfalls „richtig” machen. 45 Die relativen Erkenntniswege werden somit keineswegs gänzlich abgelehnt, vgl. etwa auch Paetow2004, S. 13: „Wie deutlich wird, kulminiert vor allem das Verkünden und Argumentieren aus buddhistischer Sicht nur dann in auswegloser Aporie, wenn an diesen Handlungsformen als einzigen Instrumenten der Erkenntnis festgehalten wird.” 46 „Kung Fu” kann sinngemäß übersetzt werden als Fähigkeit, die durch Freude an harter Arbeit über einen langen Zeitraum hinweg erworben wird. ­ 14 ­ Nun ist auch ein Prinzip natürlich eine Entität. Darin liegt ein großes Potential: Prinzipien können so als Form fungieren, als getrennte Grundbausteine. Diese Klarheit und Einfachheit (Form) in den Prinzipien ist deshalb wichtig, weil sie ermöglicht, über die „Bausteine” auch komplexe Zusammenhänge zu verstehen, indem man sie in die Prinzipien zerlegt. In Prinzipien zu denken bedeutet daher, einfache Elemente zu finden, die zusammen das Komplexe ergeben und es erklären können. Das Komplexe alleine ist dagegen unüberschaubar und genügt deshalb nicht, um das Einfache zu verstehen. Es gibt dabei nicht bloß ein einziges Modell solcher Bausteine (Prinzipien). Es werden unterschiedliche Modelle unterrichtet, die jeweils unterschiedliche Aspekte vorrangig ins Blickfeld rücken47. Dass alternative Modelle als Erklärung für die gleichen Zusammenhänge genutzt werden können, ist ein Verweis auf die Auflösung jeglicher Form, also ein Verweis auf die Leerheit. Wärend die Prinzipien also zu Beginn in Form einer Liste nach dem (allseits beliebten) Schema „Dies sind die sieben Dinge, die man wissen muss” ergriffen werden können, kann ein solches Modell losgelassen werden, wenn man über die Verfügbarkeit alternativer Modelle zur Einsicht gelangt, dass alle diese Modelle letztlich nur „Gedichte” sind, die Inspiration bieten48. Möglich ist diese Einsicht natürlich nur über die intensive praktische Auseinandersetzung mit diesen Modellen. 4.2.4 Wirklichkeit Alle Konzepte loszulassen wird oft damit verglichen, ein Boot zurück zu lassen, nachdem man den Fluss überquert hat (Vgl. Brodbeck2005, S. 114). Wenn man beispielsweise durch das Training, das sich an Prinzipien wie Gleichgewicht orientiert, das nötige Körpergefühl entwickelt hat, wird keine Erklärung für „Gleichgewicht” mehr benötigt – und auch das, was andere „Ungleichgewicht” nennen würden, wird nicht mehr abgewertet, sondern kann in gewissen Situationen konstruktiv genutzt werden. Der Aspekt der Wirklichkeit (also der Leerheit aller Entitäten) hat also sehr viel zu tun mit (achtsamer) Sensibilität. Dabei liegt in der Einsicht in die Leerheit keine Verneinung der Lebenswirklichkeit: Das Training entlang des Gleichgewicht­Prinzips behält seinen Wert. Wer dagegen (z.B. auch beim Lernen des Lehrens) von Anfang an „aus dem Bauch heraus” arbeitet, dem fehlt die (theoretische wie praktische) Fundierung. Er° hat zwar keine Konzepte ergriffen, ist aber unstrukturiert (ohne Form) und damit ohne Verständnis und Einsicht in seinem Handeln. 4.2.5 Kunst Zuletzt wird noch der Raum für Neues eröffnet. Unter Berücksichtigung der anderen Elemente ist ein individueller Ausdruck möglich. Es geht hier also um den kunstvollen Umgang mit klarer Form, die bedeutungsvoll in Zusammenhänge eingebunden wird und sich im Rahmen von Prinzipien bewegt, wobei ihrer leeren Wirklichkeit dadurch Rechnung getragen wird, dass die genutzten Entitäten hinsichtlich „ihrer faktischen theoretischen und praktischen Grenzen allerdings letztlich immer als relative, kontingente (sprachliche) Größen in einem letztlich philosophisch (und leiblich­meditativ) dekonstruierbaren Bedeutungskontext” (Paetow2004, S. 487) verstanden werden. 47 Ein solches Modell aus der Weng Chun­Kampfkunst wird exemplarisch in Abschnitt 4.4 beschrieben. 48 Der Buddhismus verwendet traditionell auch verschiedene Zugänge, vgl. beispielsweise Brodbeck2005, S. 104: „Deshalb besagten Zeitlichkeit, abhängiges Entstehen und Leerheit dasselbe.” ­ 15 ­ 4.2.6 Die fünf Elemente als Sprache Der Wert des Modells der fünf Elemente liegt vor allem darin, dass es eine Sprache anbietet, in der auf verschiedensten Ebenen sinnvoll über Lernprozesse gesprochen werden kann: Der Lehrer° kann sie in seiner Unterrichtsplanung ebenso wie in der situativen Betreuung der Schüler° nutzen. Aber auch Schüler° können ihr Üben teilweise eigenständig danach strukturieren. Anhand der fünf Elemente kann das Niveau von Schülern° eingeschätzt werden – und Schüler° auf sehr unterschiedlichem Niveau können gewinnbringend die gleiche Übung praktizieren, da innerhalb der gleichen Übung der Fokus auf einem anderen Element liegen kann. Das Modell der fünf Elemente hat eine enorme Tiefe, die hier bestenfalls angekratzt wurde. 4.3 Formen Formen sind eine Übungsart, die sowohl im Weng Chun Kung Fu (bzw. nahezu allen asiatischen Kampfkünsten) wie auch im Qi Gong genutzt wird. Eine Form ist als „lebendige” Überlieferung gedacht und kann insofern etwa von einem Buch abgegrenzt werden: Ein Buch kann man betrachten als eine Zusammenstellung von thematisch zusammen passenden und sich sinnvoll ergänzenden Informationen. Vor einem buddhistischen Hintergrund werden dagegen nicht primär Informationen, sondern Übungen überliefert. Eine Form ist dann zu sehen als eine Zusammenstellung von thematisch zusammen passenden und sich sinnvoll ergänzenden Übungen. Hauptsächlich werden Solo­Formen verwendet, seltener kommen auch Partner­Formen zum Einsatz. Jede Form hat dabei einen sehr eigenen Charakter, was daran liegt, dass in ihr fünf Aspekte zum Ausdruck kommen: Jede Form besteht erstens natürlich aus dem (meist recht umfassenden) Bewegungsablauf, zweitens hat jede Form ihre eigene historische Geschichte, drittens bietet jede Form einen speziellen Zugang zur Körperarbeit an, viertens bietet jede Form eine Sammlung von Strategien für Kampfsituationen und fünftens ist jede Form auch ein Zugang zur Spiritualität. Eine Form kann also keineswegs (wie dies oft getan wird) auf den ersten Aspekt reduziert werden, sondern ist ein sehr umfassendes Übungs­System. 4.4 Ein Modell: Die 6½ Prinzipien Exemplarisch werde ich hier ein solches Übungs­System des Weng Chun­Stils kurz darstellen, nämlich das darin als erstes gelehrte: Die 6½ Prinzipien­Form49. Diese kurze Form besteht im Wesentlichen aus sieben Übungen, über die je eines der 6½ Prinzipien vermittelt wird: Tai (heben), Lan (verriegeln), Dim (punktuell einwirken), Kit (aufdecken), Got (schneiden), Wun (kreiseln) und Lau (fließen), wobei letzteres als das halbe Prinzip gilt50. Betrachtet man die 6½ Prinzipien entsprechend der fünf Elemente (vgl. Abschnitt 4.2), dann stehen die Prinzipien aus der Perspektive des Form­Elementes abgegrenzt für sich, d.h. es geht darum, wie genau etwa die Körpermechanik des Aushebens (Tai) funktioniert. Die Ebene der Bedeutung umfasst die Relevanz und den Einsatz in Kampfsituationen (so hängt das Ausheben sehr eng mit dem Gleichgewicht zusammen, woraus sich verschiedene Strategien ergeben) ebenso wie die Zusammenhänge der Prinzipien untereinander (Lan neutralisiert Dim, Wun neutralisiert Lan, …). 49 Hier soll nur ausschnitthaft auf einige für diese Arbeit relevante Aspekte eingegangen werden. Für eine vollständige Darstellung der 6½ Prinzipien, siehe Hofmann2011, S. 41­49 50 Die übliche Erklärung dafür ist, dass es 50% aller anderen ausmacht. Die Benennung wurde womöglich so gewählt, damit jeder° nachfragt, was denn ein halbes Prinzip sei und die entsprechende, wichtige Erklärung bekommen wird – was angesichts der Häufigkeit dieser Frage offenbar funktioniert. ­ 16 ­ Als Prinzipien verstanden, werden alle zugleich in der Körperarbeit ausgedrückt. So sollten mehr und mehr alle Prinzipien in alle Übungen der Form eingearbeitet werden. Die leere Wirklichkeit der Prinzipien zu erkennen heißt, sie als bloße Hilfsmittel zu erkennen, die dem Training eine sinnvolle Struktur geben, etwa indem die Berücksichtigung aller Prinzipien verhindert, dass man sich auf das Training eines Aspektes (etwa der über Dim ausgedrückten Entwicklung von Schlagkraft) versteift und andere Facetten außer acht lässt. Kunst wiederum kann bedeuten, auf Grundlage der eigenen Erfahrungen auch neue Aspekte in die Prinzipien einzuschreiben – oder im Extremfall, ein gänzlich neues Modell zu entwickeln. 5. Schlusswort und Ausblick Neben der theoretischen Fundierung des Süd­Shaolin­Praxiskonzeptes gab es in dieser Arbeit ein zweites, verborgenes Thema: Es war mir auch ein Anliegen zu zeigen, dass buddhistische Philosophie fruchtbare Anknüpfungspunkte an das Denken der Pädagogik bietet – und dies auf einer theoretischen wie praktischen Ebene. Der pädagogische Diskurs kennzeichnet sich nämlich bislang durch einen bemerkenswerten Eurozentrismus. Nachdem wichtige Schriften verschiedenster Autoren außerhalb Europas (und den USA) schon lange in ausgezeichneten Übersetzungen vorliegen, kann das Ignorieren dieser Autoren durch nichts mehr gerechtfertigt werden: „Einem Philosophen, der heute wohl Kant, Hegel oder Popper, nicht dagegen Nagarjuna, Dignaga, Dharmakirti oder einige der wichtigsten chinesischen, japanischen oder tibetischen Autoren studiert hat, kann man nicht nachsagen, dass er seine Hausaufgaben gemacht hätte.” (Brodbeck2002, S. 6) Dass auch für die Pädagogik hier jedoch Potentiale vorhanden sind, zeigt nicht zuletzt die umfassende Arbeit von Björn­Peter Paetow (Paetow2004). Dennoch hat hier insbesondere die Pädagogik ein Defizit: „Der Austausch zwischen Buddhismus, Naturwissenschaften und Neurowissenschaften gilt inzwischen als akzeptiert und fortgeschritten; auch in der Philosophie und der Psychologie liegen vielfältige Arbeiten vor. Die Tradition der Mind and Life Conferences spricht dafür, dass die Kommunikation fest etabliert ist. Dies gilt allerdings nicht für mein Fach, die Erziehungswissenschaft.” (Keuffer2008, S. 3) Mein persönlicher Fokus liegt dabei vor allem auf der Weiterentwicklung des in der vorliegenden Arbeit dargestellten Praxiskonzeptes, denn umgekehrt kann auch ein ursprünglich fernöstliches Praxiskonzept natürlich von der Konfrontation mit abendländischer Pädagogik profitieren. Es ist schließlich nicht so, dass es eine „wahre Lehre” gäbe, die man gegen alle „verwässernden”, äußeren Einflüsse verteidigen müsste51. Generell ist ein Dialog mit allen Wissenschaften aus buddhistischer Sicht zu begrüßen: „Unsere Kultur – Wissenschaften, Gesellschaften und Alltag – hat die Bodenlosigkeit entdeckt. In der Regel gilt sie als etwas Negatives – für alle, von den Propheten unserer Zeit bis zu den normalen Menschen, die darum kämpfen, einen Sinn des Lebens zu finden. Begreift man die Bodenlosigkeit als etwas Negatives, als ein Verlust, dann erwachsen daraus Entfremdung, Verzweiflung, Verzagtheit und Nihilismus. Dem begegnet unsere Kultur gewöhnlich damit, daß sie neue Grundlagen erfindet (oder zu alten zurückkehrt). Die Tradition der Achtsamkeit/Gewahrseinsübung weist den Weg zu einer ganz anderen Lösung. Wird die Bodenlosigkeit akzeptiert und bis zu ihrer letzten Konsequenz verfolgt, das zeigt der Buddhismus, so folgt daraus das von Bedingungen unabhängige Gefühl eines allem innewohnenden Gutseins, das sich in der Welt als spontanes Erbarmen äußert. Daher meinen wir, daß die Antwort auf das Gefühl nihilistischer Entfremdung in unserer Kultur nicht darin bestehen kann, eine neue Grundlage zu suchen; vielmehr müssen wir ein geeignetes diszipliniertes 51 Vgl. Brodbeck2005, S. 130/131 ­ 17 ­ Mittel finden, der Bodenlosigkeit weiter nachzuspüren, sie bis in ihre Tiefe auszuloten. Weil die Wissenschaft in unserer Gesellschaft eine herausragende Stellung einnimmt, muß sie in dieses Bemühen einbezogen werden.“ (Francisco J. Varela, Evan Thompson, Eleanor Rosch: Der Mittlere Weg Der Erkenntnis. München 1995, S. 343, zitiert nach Paetow2004, S. 15) Dieser Dialog gestaltet sich nicht unbedingt immer einfach, denn der Buddhismus kennzeichnet sich gerade durch ein Überschreiten dessen, was Gegenstand der Wissenschaften ist: „Da aber die ganze Welt eine Konstruktion der falschen und täuschenden Gedanken ist, deshalb kommt Nirvāna auch in der Welt nicht als Phänomen vor. Das Nirvāna ist kein Sein, kein Nichts usw., noch ist es auf irgendeine Weise ein Gegenstand des Erkennens. Für den wissenschaftlichen Blick bleibt es notwendig eine Schimäre, eine Fiktion. Doch eben dieser wissenschaftliche Blick verkennt sich selbst, verkennt, dass er ein Blicken­auf­etwas ist, das jedem Inhalt vorausgeht.” (Brodbeck2009, S. 11) Diesen Konflikt habe ich in Kapitel 3 zu lösen versucht, indem ich die pädagogische Aufgabe reduziert habe auf das partikulare Ziel des Aufbaus und der Dekonstruktion von Wissensstrukturen. Dabei befinde ich mich zunächst im teilweisen Widerspruch zur Schlussfolgerung der Arbeit von Josef Keuffer: „Zielorientierung und Spezifizierung wären dann nicht die Maximen von Lehren und Lernen. Das Erkennen der eigenen Orientierungsmuster, ihre Durchdringung und Veränderung auf der Basis von ‚Achtsamkeit’ und ‚Gewahrsein’ kann nur eine Selbsterziehung sein, die den einzelnen Menschen zu einer unmittelbaren Beziehung zur Wirklichkeit führt.” (Keuffer2008, S. 12) Ich bin allerdings der Überzeugung, in dieser Arbeit zumindest angedeutet zu haben, dass auch Zielorientierung und Spezifizierung durchaus mit dem Erkennen der eigenen Orientierungsmuster etc. Hand in Hand gehen kann. ­ 18 ­ Literatur Brodbeck1998: Karl­Heinz Brodbeck, Erkenntnis und Meditation, Gröbenzell­Würzburg. Brodbeck2002: Karl­Heinz Brodbeck, Der Zirkel des Wissens ­ Vom gesellschaftlichen Prozess der Täuschung, Shaker Verlag, Aachen. Brodbeck2005: Karl­Heinz Brodbeck, Buddhismus interkulturell gelesen, Verlag Traugott Bautz, Nordhausen. Brodbeck2007: Karl­Heinz Brodbeck, Kritische Vernunft und Mitgefühl – der buddhistische Beitrag zur Wirtschaftsethik, Würzburg, 2007 / Vortrag, gehalten an der Eröffnungstagung des Zentrums Religionsforschung der Universität Luzern, 29.–30. Juni 2007. Brodbeck2009: Karl­Heinz Brodbeck, Buddhismus: Geschichte, Lehre und Ethik. in: Wege der Religion, hrsg. v. Hamid Reza Yousefi, Nordhausen 2009. Cheng1981: Hsueh­Li Cheng, The Roots of Zen Buddhism, in: Journal of Chinese Philosophy V. 8 (1981), S. 451­478, Dialogue Publishing Company, verfügbar unter http://ccbs.ntu.edu.tw/FULLTEXT/JR­ JOCP/jc26720.htm, abgerufen am 03.01.2013. Hoffmann2011: Andreas Hoffmann, Weng Chun Kung Fu, Budo International, Madrid. Hsing2008: Hsing­yün, Das Wesen des Ch'an, Fo­Guang­Shan­Tempel, Berlin. Keuffer1991: Josef Keuffer, Buddhismus und Erziehung. Eine interkulturelle Studie zu Tibet aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, Waxmann, Münster und New York. Keuffer2008: Josef Keuffer, Buddhismus und Erziehung: Interkulturelles Lernen aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, Vortrag am 8. Januar 2008 an der Universität Hamburg, Zentrum für Buddhismuskunde. Litsch2007: Franz­Johannes Litsch, Moderne, Postmoderne und Buddhismus ­ Warum der Buddha heute in den Westen kommt, Festvortrag zum gemeinsamen Vesakh­Fest der Buddhistischen Union Berlin­ Brandenburg (BUBB) im Mai 2007 in der Werkstatt der Kulturen in Berlin. Paetow2004: Björn­Peter Paetow, Nicht­Identität als Bezugspunkt von Bildungsprozessen – Eine interkulturelle Studie zum (Mahayana­) Buddhismus aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, Bielefeld. Santikaro1996: Santikaro Bhikkhu, Die vier edlen Wahrheiten der modernen Gesellschaft, Vortrag auf der INEB­Konferenz "Dhammic Society: Towards an INEB Vision”, 1995, Übersetzung aus dem Englischen: Gisela Köberlin, erschienen in: Wege zu einer gerechten Gesellschaft, Beiträge engagierter Buddhisten zu einer internationalen Debatte. Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Hamburg 1996. Sheng­yen: Meister Sheng­yen, Im Geist von Ch'an ­ Eine Einführung in den Ch’an Buddhismus, Buddhistische Gesellschaft Berlin Sojun2006: Ikkyu Sojun, Gedichte von der verrückten Wolke, Angkor Verlag, Frankfurt a.M. Wachs2008: Hrsg. Marianne Wachs, Form ist Leere – Leere Form 6 , Buddhistische Themen und Lehrbegriffe, Themenschwerpunkt: Buddhanatur, Buddhistischer Studienverlag, Berlin.