Populäre Musik als Politikum

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Musik und Popularität
Populäre Kultur und Musik
Herausgegeben von Michael Fischer und Nils Grosch
Band 2
Waxmann 2011
Münster / New York / München / Berlin
Sabine Meine, Nina Noeske (Hrsg.)
Musik und Popularität
Aspekte zu einer Kulturgeschichte
zwischen 1500 und heute
Waxmann 2011
Münster / New York / München / Berlin
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im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der
Deutschen Forschungsgemeinschaft
ISBN 978-3-8309-2263-6
ISSN 1869-8417
© Waxmann Verlag GmbH, Münster 2011
www.waxmann.com
[email protected]
Umschlaggestaltung: Pleßmann Design, Ascheberg
Umschlagabbildung: Liszt in Berlin, 1842, farbiges Titelkupfer von Theodor Hosemann, in:
Glaßbrenner, Adolf (Pseudonym A. Brennglas): Franz Liszt in Berlin. Eine Komödie in drei
Acten, in: Berlin wie es ist und – trinkt, Heft 14. Leipzig 1842.
Druck: Hubert & Co., Göttingen
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier, säurefrei gemäß ISO 9706
Printed in Germany
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Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages
in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung elektronischer
Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Inhalt
Sabine Meine und Nina Noeske
Musik und Popularität
Einführende Überlegungen ........................................................................................... 7
Dietrich Helms
Musikgeschichte für »lange Ohren«?
Gedanken zur Geschichtsschreibung nicht nur der populären Musik .................. 25
Sabine Meine
Liebe und Musik
Eine populäre Beziehung im Italien des 16. Jahrhunderts ....................................... 39
Nils Grosch
Über das Alter der Populären Musik und die Erfindung
des ›Volkslieds‹ .............................................................................................................. 59
Katharina Hottmann
Zwischen bürgerlicher Geselligkeit und Popularität
Sozialer Ort und ästhetische Normen des Hamburger Liedes
in der Aufklärung........................................................................................................... 77
Katrin Eggers
Zu Populär?
Stille Nacht, heilige Nacht und der Kitsch: Alfred Schnittke,
Krzysztof Penderecki, Anton Plate ............................................................................ 101
Nina Noeske
Virtuosität als Massenphänomen
Das Jahr 1848 in der Musikpublizistik...................................................................... 123
Knut Holtsträter
Der Crooner, das unbekannte Wesen .................................................................... 145
Inhalt
5
Florian Heesch
Extreme Metal und Gender
Zur Stimme der Death-Metal-Vokalistin Angela Gossow .................................... 167
Melanie Unseld
Und täglich grüßt die Nachtmusik
Gedanken über die ›Klassik-Hits‹ des Repertoires ................................................. 187
Matthias Tischer
Gedanken über Popmusik für die Gebildeten unter ihren Verächtern
Zum Beispiel: Pet Sounds und Sgt. Pepper .............................................................. 195
Reinhard Kopiez & Daniel Müllensiefen
Auf der Suche nach den »Popularitätsfaktoren«
in den Song-Melodien des Beatles-Albums Revolver
Eine computergestützte Feature-Analyse................................................................. 207
Lorenz Luyken
Ich bin kein Beatles-Fan – ja, und?
Einige persönliche Anmerkungen zum musikästhetischen Diskurs ................... 227
Stefan Weiss
Another Clue for You All
Wie die Beatles-Fans das Zuhören lernten .............................................................. 231
Autorinnen und Autoren............................................................................................ 247
6
Inhalt
Sabine Meine und Nina Noeske
Musik und Popularität
Einführende Überlegungen
Zweifellos war die ›pop music‹ des 20. Jahrhunderts eine umwälzende Neuerung.
Angefangen mit dem Rock and Roll Mitte der 1950er Jahre, wurde sie zum Inbegriff neuer Musik für junge Leute, deren Verbreitung wesentlich an neue Medien
und Musiktechnologien gebunden war und ist. ›Pop music‹ hat damit neue Hörund Konsumgewohnheiten etabliert, so dass sie heute vor allem ein Forschungsfeld der Musikpsychologie, Musikpädagogik, der Medien- und Kulturwissenschaften sowie der systematischen Musikwissenschaft darstellt. Der Begriff der
›populären Musik‹ hat jedoch eine längere Geschichte, die bis in die aufklärerischen Debatten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückreicht. Im Zuge
des Diskurses, der sich damals über ›Popularität‹ und ›Volkstümlichkeit‹ als programmatische Maßstäbe von Poesie entwickelte, kam nun auch die Idee einer
Musik auf, die »jedermann verständlich und behaglich fällt«.1 Populäre Lieder –
und das hieß »faßliche« und »sangbare« Lieder2 – galten in diesem Zusammenhang als Visitenkarte eines modernen, ethisch und künstlerisch aufgeschlossenen
Denkens; an ihnen haftete daher noch wenig von dem Makel, der ihnen im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts – als Gegenbegriff zur höheren ›Tonkunst‹ und
im Zuge der zunehmenden Kommerzialisierung von Musik – anzuhaften begann.3 Einen Höhepunkt erreichte die ästhetisch abwertende Polemik gegen populäre Musik im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts, da die Unterhaltungsindustrie, namentlich unter amerikanischem Einfluss, zu boomen begann. So interpretierte Max Horkheimer »Popularität« 1941 als »vorbehaltlose […] Übereinstimmung der Menschen mit allem, von dem die Vergnügungsindustrie glaubt,
es gefalle ihnen.«4 Und Theodor W. Adorno ergänzte die soziologische Analyse
1
2
3
4
Böcklin, Franz von: Fragmente zur höhern Musik und für ästhetische Tonliebhaber. Freyburg und Konstanz 1811, S. 29.
Vgl. Schwab, Heinrich W.: Popularität und Kunstlied. Studien zu Lied und Liedästhetik der
mittleren Goethezeit 1770–1814. Regensburg 1965, S. 19ff. Vgl. zum Hamburger Lied der
Aufklärung auch den Beitrag von Katharina Hottmann in diesem Band.
Vgl. Wicke, Peter: Populäre Musik, in: 2MGG, Sachteil, Bd. 7. Kassel, Basel u. a. 1997, Sp.
1694–1704, hier: Sp. 1694–1696.
Horkheimer, Max: Neue Kunst und Massenkultur (1941), in: Ders.: Gesammelte Schriften
IV. Hg. von Alfred Schmidt. Frankfurt a. M. 1988, S. 419–438, hier: S. 437.
Musik und Popularität
7
seines Kollegen, indem er den ästhetischen Verfall der populären Musik konstatierte, den sie sich durch die endgültige Trennung von der Kunstmusik eingehandelt habe: »Das Material der Vulgärmusik ist das veraltete oder depravierte
der Kunstmusik«.5 Bekanntermaßen sollte Adorno im amerikanischen Exil unmittelbarer Augen- und Ohrenzeuge des Erfolgs der Kulturindustrie sowie der
frenetischen Begeisterung für die (afro-)amerikanische, ›schwarze‹ Musik werden, die ihm als Verfechter der Autonomieästhetik ein die bildungsbürgerliche
Hochkultur geradezu verletzendes Greuel bedeutete.
Was demnach ›populäre Musik‹ sein kann, welche moralischen und ästhetischen
Maximen mit ihr verbunden werden, hängt stets vom jeweiligen historischen
Kontext ab. Dabei ist das Phänomen selbst zweifellos älter als seine Begriffsgeschichte; denn Musik, die den Menschen unmittelbar gefällig und verständlich
war, gab es zu allen Zeiten und wird bereits in der Frühen Neuzeit, mit Beginn
des (Musik-)Drucks, konkret greifbar.
So vielfältig sich die Bedeutungen des Adjektivs ›populär‹ im Laufe der Jahrhunderte aufgespalten haben: Das Wort bleibt semantisch mit dem Begriff ›Volk‹
verbunden, von dem es ursprünglich abgeleitet worden ist, so dass das Wort zunächst politisch und legalistisch konnotiert war.6 Doch entwickelte sich bald, im
Zuge der Profilierung und Stärkung des Bürgertums im Europa des späten 18.
und frühen 19. Jahrhunderts, seine ästhetische Dimension und damit ein widersprüchliches Spektrum an Normen und Idealen. Anders etwa als die französischen Nachbarn, die die Ästhetik ihrer Volkskultur an den politisch-legitimativen
Begriffshintergrund gebunden sahen, wurde es für die deutschen Romantiker
kennzeichnend, die Volkskultur ästhetisch neu zu bestimmen bzw. sie in einem
nostalgischen, idealisierenden und realitätsfernen Diskurs zu verklären, was allerdings den Nebeneffekt hatte, dass nun das ›Volk‹ als gesellschaftliche Kategorie
geringgeschätzt und ausgegrenzt wurde. Im 20. Jahrhundert schließlich war die
Diskussion um populäre Kultur maßgeblich durch Überlegungen zur Industrialisierung, Kommerzialisierung und Massengesellschaft geprägt, wovon sich die
Musikwissenschaft zunächst zwangsläufig distanzierte, um ihren Platz als Kunstwissenschaft neben den Sozial- und Geisteswissenschaften zu behaupten. Dort,
wo das Interesse vor allem künstlerisch herausragenden Werken, Gattungen und
(schaffenden) Musikern galt, rückte zwangsläufig Musik aus dem Blick, die auch
einer breiten Masse gefallen sollte oder aus ihr heraus entstanden war, wenn-
5
6
8
Adorno, Theodor W.: Zur gesellschaftlichen Lage der Musik (1932), in: Ders.: Musikalische
Schriften V (Gesammelte Schriften 18). Hg. von Rolf Tiedemann und Klaus Schulz. Frankfurt a. M. 1984. S. 729–777, hier: S. 771.
Vgl. die verschiedenen Übersetzungen des Begriffs ›Volk‹, lateinisch ›populus‹, ›plebs‹ und
›vulgus‹, englisch ›folk‹, ›people/s‹, ›populace‹ und ›public‹, italienisch ›populo‹ oder französisch ›peuple‹ sowie die entsprechenden Adjektive, lateinisch ›popularis‹, englisch ›popular‹, italienisch ›popolare‹ oder französisch ›populaire‹.
Sabine Meine und Nina Noeske
gleich sie das Musikleben ebenso wesentlich prägte und zugleich – dialektisch –
als unabdingbare Voraussetzung jedweder ›Elitekultur‹ gelten muss.7 Im Zuge einer Geschichtsschreibung jedoch, in der Musik als Form gesellschaftlichen und
kulturellen Handelns ebenso relevant ist wie als ästhetisches Ereignis, verdient
ein Phänomen Interesse, das die Musikgeschichte tief und vielschichtig durchdrungen hat. »I wonder sometimes«, schreibt Mitchell Morris im Jahr 2008, »if
our passion as musicologists for masterworks, for canon, for the enduring work,
isn’t in part a panicked waving away of our own transitoriness.« Insofern kann
mit Recht behauptet werden: »Studying recent popular music is always a risk.
[…] Maybe studying the recent is so uncomfortable because it’s so much closer to
death than the certifiably ancient. But how else do we get to be history in our
turn?«8
In der aktuellen Forschung kursieren durchaus konträre Thesen darüber, von
welchem geschichtlichen Zeitpunkt an es legitim ist, von ›populärer Musik‹ zu
sprechen: Dietrich Helms bindet das Phänomen an die technischen Möglichkeiten von ›Sound‹, und das heißt hier: eines hoch individualisierten und unverwechselbaren, technisch reproduzierbaren Klangs, der in der Tat erst mit der
Medienrevolution von Grammophon und Schallplatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts herstellbar wurde.9 Von diesem Zeitpunkt an reichte es aus, die Nadel
über die schwarzen Rillen laufen zu lassen, um sicher zu sein, dass hier niemand
anders als Marlene Dietrich oder Frank Sinatra sang. Doch wissen wir auch, dass
die Faszination für die einzigartige Klangkunst von Stars erheblich vor der Zeit
ihrer technischen Reproduzierbarkeit begann, lösten doch bereits berühmte ›primadonne‹ und ›primiuomini‹ des 17. und 18. Jahrhunderts oder Virtuosen des
19. Jahrhunderts wahre Publikumshysterien aus, wenngleich sie ›nur‹ im Konzertsaal oder Salon stattfanden und noch nicht im Schallplattenladen oder dem
eigenen Schlafzimmer nachgelebt werden konnten. Franz Liszts Auftritt in Berlin
1842 vor einem vollen Saal mit wenigen Herren und vielen jungen Damen,10 denen im Klangrausch die Sinne schwinden, ist in diesem Sinn ein eindrucksvolles
7
Vgl. hierzu auch Rösing, Helmut: »Popularmusikforschung« in Deutschland – von den Anfängen bis zu den 1990er Jahren, in: Musikwissenschaft und populäre Musik. Versuch einer
Bestandsaufnahme. Hg. von Helmut Rösing, Albrecht Schneider und Martin Pfleiderer.
Frankfurt a. M. 2002 (Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 19), S. 13–35, hier: S.
28.
8 Morris, Mitchell: Three Little Essays on Evanescence, in: MusicoLogical Identities. Essays in
Honor of Susan McClary. Hg. von Steven Baur, Raymond Knapp und Jacqueline Warwick.
Aldershot und Burlington 2008, S. 179–190, hier: S. 190.
9 Vgl. den Beitrag von Dietrich Helms in diesem Band.
10 Vgl. das von Theodor Hosemann gestaltete Titelkupfer, in: Glaßbrenner, Adolf (Pseud. A.
Brennglas): Franz Liszt in Berlin. Eine Komödie in drei Acten, in: Berlin wie es ist und –
trinkt, Heft 14. Leipzig 1842. Das Titelkupfer ist in der ersten Auflage (1842) bunt, in der
zweiten (1847) schwarzweiß.
Musik und Popularität
9
Dokument der Lisztomania11 des 19. Jahrhunderts, die durchaus mit der späteren
»Beatlemania« der 1960er Jahre vergleichbar ist. So steckt auch Peter Wicke in
seinen maßstabsetzenden Darstellungen der Geschichte populärer Musik den
zeitlichen Rahmen des Phänomens entsprechend weiter und verfolgt seine Anfänge bis hin zu Mozart zurück,12 der bekanntermaßen den väterlichen Rat bekam, »das populare« nicht zu vergessen.13
Wicke erkennt somit die Geschichte der Aufklärung und Industrialisierung als
Entwicklungsepoche populärer Musik an, wenngleich er – zu Recht – von einem
einschneidenden Paradigmenwechsel zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgeht,
der aufgrund des Medienbooms vom Grammophon bis zum Internet einerseits
sowie der Loslösung populärer Musik von ihrem regionalen Umfeld andererseits
zum zentralen Untersuchungszeitraum des Phänomens geworden ist.14 Ist allerdings einmal der Perspektivwechsel vollzogen, den Motivationen und Bedingungen der aus dem 20. Jahrhundert bekannten Popmusik auch in früheren Jahrhunderten nachzugehen, eröffnet sich ein faszinierend weites Untersuchungsfeld
für die Beziehungen von Musik und Popularität, das uns nicht nur vielfältige historische Begründungen des enger umgrenzten Gegenstands der ›pop music‹ liefert. Denn so gesehen, relativieren sich selbst die gesetzten Unterscheidungen von
populärer und elitärer Musik dahingehend, dass eine Erfolgsgeschichte des
19. Jahrhunderts wie etwa des ›Jungfernkranz‹ aus Carl Maria von Webers Oper
Der Freischütz15 mindestens ebenso überzeugend als populäre Musik deutbar ist
wie das durchaus elitäre Album Revolver der späten Beatles.16
Die Anfänge eines in diesem Sinne erweiterten Begriffs von populärer Musik sind
letztlich bis ins frühe 16. Jahrhundert zurück zu verfolgen, da die erste Medienre11 Vgl. hierzu den gleichnamigen Film von Ken Russell aus dem Jahre 1975.
12 Wicke, Peter: Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik. Frankfurt
a. M. 2001, S. 7. Ebenso berücksichtigt Mechthild von Schoenebeck das 18. und 19. Jahrhundert in ihrer Habilitationsschrift: Was macht Musik populär? Untersuchungen zu Theorie und Geschichte populärer Musik. Frankfurt a. M. 1987 (Europäische Hochschulschriften,
Reihe XXXVI, Musikwissenschaft 31).
13 Leopold Mozart an seinen Sohn Wolfgang Amadeus im Brief vom 11.12.1780: »[…] vergiß
also das so genannte populare nicht, das auch die langen Ohren Kitzelt [sic]«, in: Wolfgang
Amadeus Mozart: Briefe und Aufzeichnungen. Hg. von der Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg. Gesammelt und erläutert von Wilhelm A. Bauer, Band 3, 1780–1786. Kassel
u. a. 1963, S. 53.
14 Wicke, Peter: Sound-Technologien und Körper-Metamorphosen: Das Populäre in der Musik
des 20. Jahrhunderts, in: Rock- und Popmusik. Hg. von Peter Wicke. Laaber 2001 (Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert 8), S. 9–60, hier: S. 14ff.
15 Vgl. den Beitrag von Melanie Unseld in diesem Band.
16 Vgl. die Beiträge von Reinhard Kopiez & Daniel Müllensiefen und Stefan Weiss in diesem
Band. Matthias Tischers Beitrag beschäftigt sich mit der Dialektik von Ästhetik und sozialer Praxis am Beispiel der Beatles und der Beach Boys; Lorenz Luyken stellt in seinem persönlichen Reflexionen die Frage nach dem Werturteil.
10
Sabine Meine und Nina Noeske
volution des Drucks und des Musikdrucks die technischen Bedingungen eines
Informations- und Kommunikationssystems schuf,17 das u. a. auch dem Publikumsgeschmack entgegenkommen und diesen durch öffentliche Diskussionen
beeinflussen konnte. Daher spannt sich der historische Bogen der hier diskutierten Beispiele von einer frühen Jugendmusikkultur der deutschsprachigen Reformation bis hin zu den Soundexperimenten der späten 1960er Jahre. Wir haben
uns mithin für die ›lange Geschichte der Popmusik‹ entschieden, aus deren Fülle
wir in diesem Band einige Fallbeispiele zur Diskussion stellen möchten.18 Leitend
sind dabei die Fragen, wie, warum und unter welchen Bedingungen Musik populär war und ist bzw. wie man über populäre Musik sprach und spricht. Im Folgenden stehen dafür Aspekte der Politisierung, Moralisierung, des Gendering
und der Kommerzialisierung im Vordergrund.
Populäre Musik als Politikum
Seitdem über Musik nachgedacht und gesprochen wird, werden auch deren mögliche Wirkungen auf Körper, Seele und Geist diskutiert. So forderte bereits Platon
in seiner Schrift Der Staat, dass die »Wächter« eines Landes ihre »Hauptwacht« –
ausgerechnet – in der Musik bauen sollten, um diese genau beobachten zu können.19 Offensichtlich vermag die Musik, wie man bereits in der Antike erkannte,
die Menschen in ihren Bann zu ziehen: Einige Tonarten verursachen Traurigkeit,
andere kräftigen die Seele, einige Rhythmen peitschen auf, andere führen zu geistig-körperlicher Erschlaffung.20 Musik ist demnach eine Macht, die, wenn sie
nicht in geordnete Bahnen gelenkt wird, innerhalb eines Gemeinwesens eine potentielle Gefahr darstellt. Denn was wäre, so die Überlegung auch der Philosophen, mit einem Volk anzufangen, das, durch den übermäßigen Gebrauch bestimmter Tonarten verweichlicht, nicht mehr in den Krieg ziehen kann? So wurde im Laufe der Geschichte nicht nur gezielt Musik eingesetzt, um im Krieg den
Feind in die Flucht zu schlagen, sondern auch, um die eigene nationale und politische Identität zu festigen. Von jeher hatten politische Revolutionen einen eigenen ›Sound‹: So brachte die Französische Revolution zahlreiche populäre Melo-
17 Vgl. Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie
über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt
a. M. 1991, S. 17.
18 Richard Middleton spricht von einer »langen« und einer »kurzen Geschichte« der populären Musik im Hinblick auf ihre Entwicklung bis etwa 1900 und ihre beeindruckende Diversifizierung danach. Vgl. ders.: Musikalische Dimensionen. Genres, Stile, Aufführungspraktiken, in: Wicke: Rock- und Popmusik (wie Fußnote 14), S. 63–98, hier: S. 63.
19 Platon: Der Staat. Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Dritten Theiles
erster Band. Berlin 1828, S. 226.
20 Ebd., S. 219–221.
Musik und Popularität
11
dien hervor,21 anhand derer man die Gesinnung desjenigen, der sie pfiff, schon
von weitem erkannte, doch auch im 19. Jahrhundert sang das Volk – fern jeglichem ästhetischen Anspruch – jene Lieder und spielte bzw. hörte jene Musik, die
es zur Festigung seiner politischen und kulturellen Identität benötigte. Hierfür
nutzte man unter anderem die großen Musikfeste, wo man zugleich debattierte,
sang, aß, trank und tanzte.22
Eine ganz eigene Spielart von ›populärer Musik‹ brachten die Diktaturen des
20. Jahrhunderts hervor: Während es in der NS-Zeit vor allem darum ging, die
›deutsche‹ Kultur von allem ›Nicht-Deutschen‹ freizuhalten – so konnte die programmatisch ›unpopuläre‹23 Zwölftontechnik bzw. ›Atonalität‹ des Juden Arnold
Schönberg, unabhängig von ihren klanglichen Qualitäten, mühelos als ›undeutsch‹ verfemt werden –, handelt es sich beim Sozialistischen Realismus um ein
wesentlich ausgefeilteres Programm. Was sich die jeweiligen Regierungen des
›Ostblocks‹ unter sowjetischer Führung in diesem Sinne auf die Fahnen schrieben, war nichts weniger als die Verwirklichung und Vollendung des Geschichtsprozesses, der, so die Theorie, von den breiten Massen der arbeitenden Bevölkerung vorangetrieben wurde. Der Arbeiter-und-Bauern-Staat DDR hatte entsprechend auch für die passende, den ›Fortschritt‹ vorantreibende Musik zu sorgen,
und dies war in den Augen der Verantwortlichen zunächst vor allem jene Musik,
die mitgesungen werden konnte, eingängige Melodien enthielt und den Menschen ›irgendwie bekannt‹ vorkam. Musik, die aufgrund ihres komplexen Charakters oder ihrer ›Unerhörtheit‹ verunsicherte, war hingegen nicht gefragt.24 Am
Beispiel Hanns Eislers, der in seiner Jugend bekanntlich bei Schönberg Komposition studiert hatte, lässt sich nachvollziehen, welche zum Teil lähmenden Prozesse jenes ›Popularisierungsprogramm‹ sozialistischer Provenienz in Gang zu setzen vermochte: Wer die Palmström-Vertonungen Eislers aus den 1920er Jahren
kennt, die unmissverständlich an Schönbers Pierrot Lunaire erinnern, wird sich
wundern, dass eben jener Komponist zu Beginn der 1950er Jahre aus vollster
Überzeugung in ihrer Eingängigkeit heute nahezu primitiv anmutende Neue
21 Vgl. Heister, Hanns-Werner: Politische Musik, in: 2MGG, Sachteil, Bd. 7. Kassel, Basel u. a.
1997, Sp. 1661–1682, hier: Sp. 1676.
22 Vgl. u. a. Pohl, Richard (Pseud. Hoplit): Das Karlsruher Musikfest im October 1853. Leipzig
1853, S. 21.
23 Charakteristisch hierfür ist der Satz: »Denn wenn es Kunst ist, ist sie nicht für alle, und
wenn sie für alle ist, ist sie keine Kunst.« Vgl. Schönberg, Arnold: Neue Musik, veraltete
Musik, Stil und Gedanke, in: Ders.: Stil und Gedanke. Hg. von Ivan Vojtech, übersetzt von
Gudrun Budde. Frankfurt a. M. 1995, S. 40–53, hier: S. 53.
24 Grundlegend hierzu Schneider, Frank: Was ist musikalischer Fortschritt? Die Diskussion in
den sozialistischen Ländern, in: Europäische Musikgeschichte, Bd. 2. Hg. von Sabine Ehrmann-Herfort, Ludwig Finscher und Giselher Schubert. Kassel, Basel u. a. 2002, S. 1167–
1193.
12
Sabine Meine und Nina Noeske
Deutsche Volkslieder nach Texten des späteren Ministers für Kultur der DDR, Johannes R. Becher, verfasste.
Nicht zu vergessen ist hierbei, dass es dem hochreflektierten und gebildeten
Komponisten – ähnlich wie dem Freund und Kollegen Bertolt Brecht mit seiner
Dichtkunst – tatsächlich darum ging, mit seiner Musik das politische Bewusstsein
breiter Bevölkerungskreise zu schärfen:25 Kompositionen sollten, wie es ab Ende
der 1950er Jahre auch der sogenannte ›Bitterfelder Weg‹ vorsah, für das Volk, genauer: den Arbeiter, geschaffen werden. Während man in Darmstadt zur selben
Zeit kompositorisch mit vertracktesten seriellen Prozeduren operierte, die für
den Hörer ohne ausführlichen Kommentar kaum mehr verständlich waren – was
auch als Gegenbewegung zur Massenwirksamkeit der Musik im NS-Staat verstanden werden muss –, versuchte man im Osten nach der missverständlich sogenannten ›Stunde Null‹26 1945, die Lücke zwischen Avantgarde und breiten
Massen mehr oder weniger behutsam zu schließen. Dies ging nicht selten mit
heftigsten Auseinandersetzungen einher; ein eindrucksvolles Zeugnis hierfür ist
der 1948 im Gefolge des II. Internationalen Kongresses der Komponisten und
Musikkritiker in Prag entstandene, als Reaktion auf ein Referat Eislers verfasste
Aufsatz Adornos über die »gegängelte Musik«.27
Dass sich allerdings mit einer im Sinne des Sozialistischen Realismus ›verordneten Popularität‹ nicht nachhaltig Politik machen ließ, verdeutlicht ein Blick auf
die Bedürfnisse breiter Bevölkerungsschichten. Die Jugend nämlich wollte nicht
nur Neue deutsche Volkslieder singen (denn hierzu war sie als organisierte letztlich ohnehin gezwungen), sondern auch und vor allem zu Jazz und Rock’n’Roll
tanzen. Die Konsequenz war, dass jegliche amerikanische ›Unkultur‹ aus der
DDR verbannt wurde. Ersatzweise suchte man, allerdings mit mäßigem Erfolg,
›staatseigenen‹ Jazz zu etablieren. Dabei war man sich in West und Ost einig, dass
die Jugend vom Rock’n’Roll – und später vom Beat28 – nicht zuletzt deswegen
ferngehalten werden sollte, weil dieser, so die Befürchtung, zu unsittlichem Ver-
25 Vgl. hierzu u. a. Noeske, Nina und Tischer, Matthias: Eine viel zu kurze Geschichte der Musikverhältnisse der DDR, in: Music and Dictatorship in Europe and Latin America. Hg. von
Roberto Illiano und Massimiliano Sala. Turnhout 2010 (Speculum Musicae 14), S. 65–120.
26 Dibelius, Ulrich: Moderne Musik I. 1945–1965, München und Mainz 51991, Kapitel »1945 –
das Jahr Null der modernen Musik« (S. 15–17).
27 Adorno, Theodor W.: Die gegängelte Musik, in: Ders.: Dissonanzen. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 31990 (Gesammelte Schriften 14), S. 51–66.
28 Walter Ulbricht äußerte sich 1965 auf dem XI. Plenung des ZK der SED zur westlichen
Beatmusik folgendermaßen: »Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nu kopieren müssen? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je,
und wie das alles heißt, […] sollte man doch Schluss machen.« Vgl. hierzu auch Rauhut,
Michael: Beat in der Grauzone. DDR-Rock 1964 bis 1972 – Politik und Alltag. Berlin 1993.
Musik und Popularität
13
halten anstachelte.29 Für den Staatssozialismus aber war letzteres doppelt schädlich, da der Aufbau eines sozialistischen Deutschlands, salopp gesprochen, andere
Gedanken benötigte als die an Sexualität – zumal letztere nicht kontrolliert werden konnte. Noch in den 1980er Jahren beschäftigte man sich staatlicherseits regelmäßig mit der Punk-Bewegung, die auch in Ostdeutschland an Einfluss gewann und deren Musik als ›staatszersetzend‹ und damit als gefährlich wahrgenommen wurde.30 Es war also nicht nur die elitäre Musik der Avantgarde,
sondern auch die Popmusik der Jugend, die der strengsten Beobachtung bedurfte;31 ›klassische Musik‹, wenn sie bestimmten Erfordernissen entsprach, ›leichte‹
Schlager und genuin ›sozialistisch-realistische‹ Kompositionen hingegen – zu
denken sind etwa an symphonische Werke Ernst Hermann Meyers, Johannes
Paul Thilmans oder Ottmar Gersters – stellten keinen Stein des Anstoßes dar.
Deutlich wird hierbei, wie ungreifbar der Begriff der ›Popularität‹ letztlich ist:
Was innerhalb einer bestimmten Gruppe populär ist, ist für die anderen eine
Zumutung; was als ›populär‹ verordnet wird, büßt seine Popularität meist recht
schnell ein und wird durch andere Formen ersetzt, die ihrerseits, wenn sie von
›offizieller‹ Seite aufgegriffen und vereinnahmt werden, irrelevant werden. Für
den Sozialistischen Realismus wie für die Kulturpolitik während der NS-Zeit bot
es sich dabei an, auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner des Musikgeschmacks
zu setzen, um möglichst große Teile der Bevölkerung für sich zu gewinnen. Genau dies war es, was hochsensiblen Intellektuellen wie Adorno von Beginn an
verdächtig war: Allzu populäre Musik konnte, so sein Credo, keine Wahrheit aussprechen; erst recht keine Wahrheit über die (unfreie) Gesellschaft selbst. Musik
kann entsprechend nur dann eine Form der Erkenntnis sein, wenn sie vom
›Rand‹ kommt, d. h. von dort, wo der gesamtgesellschaftliche »Verblendungszusammenhang« überblickt werden kann. 32
Nationale Selbst(er)findung im ›Volkslied‹
Die bewusste Politisierung von Musik geht von der Idee aus, dass die gemeinschaftsstiftende, vereinende Wirkung von populärer Musik zur Stärkung nationa-
29 Vgl. Poiger, Uta G.: Rock’n’Roll, Female Sexuality, and the Cold War Battle over German
Identities, in: The Journal of Modern History (1996) 68, S. 577–616.
30 Vgl. u. a. Stiftung Archiv der Akademie der Künste (SAdK), Signatur 927, Plenartagung,
12.–16.3.1981 in Rostock, Sitzung der Sektion Literatur und Sprachpflege, 16.3.1981, Weltliteratur und Nationalliteratur, Blatt 59f.
31 Vgl. hierzu auch Bloss, Monika: »So ’ne kleine Frau« – Selbstverständnis, (Selbst-)Darstellung und Spielräume von Rock- und Popmusikerinnen der DDR in den 1980er Jahren, in:
Blickwechsel Ost | West. Gender-Topographien. Hg. von Nina Noeske und Melanie Unseld.
Hildesheim 2009 (Jahrbuch Musik und Gender 2), S. 113–127.
32 Adorno 1990 (wie Fußnote 27), S. 52f.
14
Sabine Meine und Nina Noeske
len Denkens und Fühlens eingesetzt werden kann. Für entsprechende Diskussionen, die seit der Aufklärung um das sogenannte ›Volkslied‹ aufkamen, setzten die
Schriften Johann Gottfried Herders den Anfang.33 Er war es, der den Begriff 1771
aus dem englischen Wort ›Popular song‹ nachbildete und publizierte.34
Bis heute bleibt der Begriff ›Volkslied‹ problematisch, insofern in ihm von Beginn
an Idealisierungstendenzen mitschwangen, was denn ein Volkslied zu sein hatte,
und weniger, was man als historische Quelle vorfand. Immer wenn eine mündliche Musikpraxis durch schriftliche Aufzeichnungen fixiert wird, kommt es zu
grundsätzlichen Veränderungen. Es gehört daher zum Dilemma von Musikgeschichtsschreibung, dass wir kaum von geschichtlichen Fakten ausgehen können,
ohne die Spezifik ihrer Überlieferung zu bedenken. Im Fall der Geschichte des
Volkslieds spitzt sich diese Problematik so zu, dass die schriftlich tradierten Lieder oft mehr über die Handschrift des Schreibers aussagen als über die aufgezeichnete Musikpraxis. Herder, der mit seinen Volksliedsammlungen 1778/79 am
Anfang stand, wies noch auf die Ambivalenz der Lieder hin, die das Leben einfacher Leute eben nicht nur positiv, sondern auch in ihren Missständen schilderten.
Doch die sozialkritischen Facetten der Lieder wurden in der romantischen Begeisterung für das Volkslied ausgeblendet zugunsten einer idealistischen Konstruktion von Liedern aus ländlichen Idyllen, in deren ›Natürlichkeit‹ und ›Ursprünglichkeit‹ man die Grundlage nationaler Zusammengehörigkeit sah. 1794
wurden sie z. B. im Journal des Luxus und der Moden »Bild und Stempel des
Volksgeistes« und »kostbare Aktenstücke des Geistes der Nation« genannt.35
Nun passten aber die Lieder, die man fand, nicht unbedingt in das Bild des
»Volksgeistes«, den man sich für »Teutschland« vorstellte.36 Daraufhin legten
33 Bei Herder beginnt eine Begriffsentwicklung, bei der er »das Volksartige/Populäre zur
wichtigsten konzeptionellen Grundlage des kulturellen, moralischen und künstlerischen
Reichtums einer Nation werden läßt.« Herlinghaus, Hermann: Populär/volkstümlich/
Popularkultur, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in 7 Bänden. Hg. von
Karlheinz Barck, Martin Fontius u. a., Band 4. Stuttgart und Weimar 2002, S. 832–884, hier:
S. 842. Herders aufklärerische Begeisterung für das Volkslied fällt damit in die Zeit, als
Deutsch als Schriftsprache in der bürgerlichen Gesellschaft an Gewicht gewann und Latein
als Gelehrtensprache verdrängte.
34 Vgl. Herder, Johann Gottfried: Von Deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter,
Hamburg 1773. Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker, in:
Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1891,
Band 5. Hildesheim 1967, S. 159–203, hier: S. 174.
35 Friedrich Justin Bertuch im Zusammenhang mit der Publikation von »Zwey teutsche[n]
Kriegslieder[n]«, S. 113–119, hier: S. 113, zitiert nach Pulikowski, Julian von: Geschichte des
Begriffs Volkslied im musikalischen Schrifttum. Ein Stück deiner Geistesgeschichte, Heidelberg 1933. Nachdruck: Wiesbaden 1970, S. 31.
36 So wurde in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung 1800 beklagt, dass man keine Ȋchten
Nationallieder« besitze, »die nur angestimmt werden dürfen, um sogleich Herz und Sinn
jedes Deutschen anzuregen«. Darauf folgten ideale Vorstellungen von Liedern, deren Inhalt
Musik und Popularität
15
Künstler, Dichter und Musiker selbst Hand ans Werk. Johann Abraham Peter
Schulz äußerte sich programmatisch in der Vorrede zu den Liedern im Volkston
bey dem Clavier zu singen, die 1782 in Berlin im Druck erschienen. Es handelt
sich um jene Reihe, in der 1790 seine Vertonung von Matthias Claudius’ Gedicht
Der Mond ist aufgegangen erschien, die noch heute zum Kanon deutschen Volksliedrepertoires gehört. Schulz schreibt, er habe sich »in den Melodien selbst der
höchsten Simplizität und Faßlichkeit beflissen, ja auf alle Weise den Schein des
Bekannten darinzubringen gesucht.« »In diesem Schein des Bekannten« sieht
Schulz »das ganze Geheimnis des Volkstones« liegen, und er warnt davor, es
nicht mit dem Bekannten selbst zu verwechseln. Denn »[d]ieses erweck[e] in allen Künsten Ueberdruß«.37 Die »echten Volkslieder« – und das waren also nicht
Lieder aus dem Volk, sondern für das Volk, die man daraufhin verfasste – sollten
gleichwohl den Anschein haben, aus dem Volk heraus entstanden zu sein.
Es hängt mit dem verheerenden Verlauf der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert zusammen, dass wir heute in der deutschen Sprache den Begriff des
Volksliedes im wissenschaftlichen Kontext mit Vorsicht gebrauchen sollten, was
genauso für das Adjektiv ›volkstümlich‹ gilt, das aufgrund seiner missbräuchlichen Verwendung zur Zeit des Nationalsozialismus besser durch ›volksläufig‹ zu
ersetzen ist. Das Volkslied spielte schon nach der einschneidenden Niederlage
und den enormen Verlusten des Ersten Weltkrieges und verstärkt in den 1920er
Jahren eine wichtige Rolle in den nationalen Erneuerungsbewegungen, an die
sich die nationalsozialistische Strategie einer völkischen Erziehung durch das gemeinschaftliche Singen programmatischer Volkslieder gut anschließen ließ:38 Ein
Beispiel dafür, wie die Volksliedpraxis selbst durch die politischen Umbrüche
verändert wurde, dokumentiert die nationalsozialistische Textbearbeitung von Es
ist ein Ros entsprungen aus dem Liederbuch zum Kriegsweihnachten 1943. Die
religiöse Dimension des Liedes, die christliche Metaphorik des Rosenwunders
von Christi Geburt, für das hier die Rose steht, ist der profanen Rhetorik der
»verständlich, popular, voll natürlicher, ungekünstelter Empfindung« und deren »Bilder
und Gleichnisse […] aus dem Kreise […] des menschlichen] Lebens und Unterrichts, seiner Wünsche und Meinungen hergenommen seyn« müssten. Spazier, Johann Gottlieb Carl
(Pseud. Filarmonico): Worte über den deutschen Volksgesang, in: Allgemeine Musikalische
Zeitung 2 (1800), Heft 5 (29. Oct.), Sp. 73–81, hier: Sp. 73.
37 Aus dem »Vorbericht«, in: Schulz, Johann Abraham Peter: Lieder im Volkston, bey dem
Clavier zu singen, Erster Theil, Zweyte verbesserte Auflage Berlin 1785. Nachdruck Hildesheim 2005 (Dokumentation des deutschen Liedes 12), o. S.
38 Dies zeigt z. B. der Vergleich von Maximen schulischer Musikerziehung 1927 und 1940, in:
Klusen, Ernst: Volkslied. Fund und Erfindung. Köln 1969, S. 174. Interessante Untersuchungsobjekte sind in dieser Hinsicht auch Wiora, Walter: Das echte Volkslied. Heidelberg
1950 (Musikalische Gegenwartsfragen 2); Böckel, Otto: Handbuch des Deutschen Volksliedes, Marburg 1908. Faksimile Darmstadt 1967 und Scharnberg, Rudolf: Volkslied und
Volksbildung. Der pädagogische Gehalt der deutschen Volksliedbewegung. Hamburg 1939
(Volkstum und Erziehung 2); Mersmann, Hans: Volkslied und Gegenwart. Potsdam 1937.
16
Sabine Meine und Nina Noeske
fruchtbaren, wachsenden völkischen Gemeinschaft gewichen: Da »blüht« »aller
Mütter Traum« in »lichten Kerzen«, »grünt jung« des »Lebens Baum«, regen sich
»bald«»viel hundert Keime[n]«, »im weiten Land«, und sind »viel tausend Kinderlein »unsres Volkes Morgen«.39
Zweifellos hat der politische Missbrauch der emotionalen Wirkung populärer
Musik in den Ideologien des 20. Jahrhunderts dazu beigetragen, dass man noch
Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs besonders in der deutschen Musikforschung Berührungsängste hatte, sich dem Phänomen der Popularität von Musik wissenschaftlich zu widmen, was u. a. die ebenso polemischen wie scharfsichtigen musiksoziologischen Analysen Adornos von unterhaltsamer und breitenwirksamer Musik dokumentieren.40 Aus heutiger Sicht wird dabei zugleich
deutlich, wie tief Adorno und andere Musikwissenschaftler und Komponisten
Kinder einer national denkenden Zeit und einem deutsch-zentristischen Denken
verhaftet waren. Nicht nur Arnold Schönberg war überzeugt von der angeblichen
»Vorherrschaft der deutschen Musik«, wie er es 1921 in einem legendären Gespräch bekundet hat.41 So erstaunt die Musikgeschichtsschreibung noch heute,
nicht nur in Deutschland, durch die Dominanz deutsch geprägter Musik, die oft
einher geht mit der Kanonisierung herausgehobener Kunstwerke von männlichen Komponisten deutscher Herkunft von Bach bis zur Moderne des 20. Jahrhunderts.42 Bezeichnend ist in dieser Hinsicht der Blick in das Alterswerk des
Freiburger Musikhistorikers Hans Heinrich Eggebrecht, Musik im Abendland aus
dem Jahr 1991, selbst unter der zweifellos berechtigten Vorgabe, dass der Autor
hier nur bewusst »dasjenige« aus der Musikgeschichte einbringen wollte, »was
man selbst erfahren, was man erlebt hat«.43 In der Inhaltsübersicht für die Musikgeschichte vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart kommt er aus, ohne einen
39 Deutsche Kriegsweihnacht. Sonderdruck zur Ergänzung des Parteiarchivs für nationalsozialistische Feier- und Freizeitgestaltung »Die neue Gemeinschaft«. Hg. vom Hauptkulturamt in
der Reichspropagandaleitung der NSDAP. Zusammenstellung und für den Inhalt verantwortlich: Hermann Liese. München 31943, S. 135. Vgl. die Quelle DVA: V 7/1140 innerhalb
der ausführliche Liedanalyse im historisch-kritischen Liederlexikon des Deutschen Volksliedarchivs Freiburg. Fischer, Michael: Es ist ein Ros entsprungen (2007), in: Populäre und
traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. http://www.liederlexikon.de/lieder/
es_ist_ein_ros_entsprungen/editiong (Zugriff: 21.04.2010).
40 Vgl. etwa Adorno, Thedor W.: Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression
des Hörens, in: Einleitung in die Musiksoziologie, hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M.
1973 (Gesammelte Schriften 14), S. 14–50, oder ders.: Thesen gegen die musikpädagogische
Musik, in: ebd., S. 437–440.
41 Vgl. Rufer, Josef: Das Werk Arnold Schönbergs. Kassel u. a. 1959, S. 26.
42 Diese Tendenz findet sich u. a. noch in dem Buch Meisterwerke neu gehört. Ein kleiner Kanon der Musik. 14 Werkporträts. Hg. von Hans-Joachim Hinrichsen und Laurenz Lütteken.
Kassel, Basel und London u. a. 2004.
43 Eggebrecht, Hans Heinrich: Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter
bis zur Gegenwart. München 1991, S. 9.
Musik und Popularität
17
nicht-deutschen Namen zu bemühen – eine Auswahl, die besonders für die Zeit
vor 1800 frappiert, da das Musikleben nur über den europäischen Austausch
funktionierte.44 Versuche seitens der historischen Musikwissenschaft, sich populärer Musik oder Popmusik im engeren Verständnis zu widmen, sind entsprechend noch immer selten.
Sinnlichkeit und Sittlichkeit
In der Distanzierung gegenüber populärer Musik schwingt zuweilen unausgesprochen das Bedürfnis nach der Abgrenzung gegenüber bestimmten gesellschaftlichen Schichten mit. Hier verstärkt sich ein Unbehagen gegenüber der
sinnlichen, unkontrollierbaren Wirkung von Musik, die seit Platon für kontroverse Diskussionen sorgte und moralische Wertungen nach sich zog. Im Symposium oder von der Liebe etwa unterschied Platon nützliche von schädlicher Musik, indem er »ernste und gemessene« Musik von »weicher und sinnlicher« abhob
bzw. das »[genus] grave et constans« dem genus »molle et lascivum« gegenüber
stellte.45 Weit zurück reicht auch die soziale Diskriminierung, die mit der Abwertung von emotional besonders wirkungsvoller Musik einher geht. So warnte der
Philosoph Boethius in der Spätantike vor der ambivalenten sittlichen Wirkung
von Musik, die es vermöge, »die Sitten sowohl zu veredeln, als auch zu verderben«. Er fand für seine Bewertungen Kontrastbilder, die dokumentieren, wie sehr
Ansehen in der Gesellschaft ebenso wie das Nachdenken über Musik seit der Antike daran gebunden war, ob man als Mann oder Frau geboren war. Bereits bei
Boethius wurde die sinnliche Wirkung von Musik zu einem Synonym für Weiblichkeit, der man eine ähnlich ambivalente erotische Anziehungskraft wie der
Musik selbst zusprach. Boethius forderte, dass Musik »in der würdigsten Weise
komponiert« werden müsste, »so dass sie züchtig, einfach und männlich, nicht
aber weiblich, wild und unstet sei«.46 Die Gegenüberstellung von beherrscht, klar
und männlich einerseits, sowie wild, schillernd und weiblich andererseits bestimmte das Urteilen über Musik durch die Jahrhunderte.
Besonders zugespitzt wurde sie in Kontexten, in denen eine starke moralische
Kontrolle waltete. Dies trifft z. B. auf das spätere 16. Jahrhundert in Italien zu, in
44 Ebd., S. 7f. Die national verengte Perspektive Eggebrechts erscheint durch die jüngsten Debatten um seine Vergangenheit in der nationalsozialistischen Wehrmacht in einem unerwarteten, veränderten Licht. Vgl. Volker Hagedorn: Unheimliches Abendland, in: Die Zeit
Nr. 52 (2010), S. 61.
45 Vgl. Platons Übersetzung und Deutung durch Marsilio Ficino: Über die Liebe oder Platons
Gastmahl, lateinisch-deutsch, übersetzt von Karl Paul Hasse. Hg. und eingeleitet von Paul
Richard Blum. Hamburg 2004, III. Buch, 3. Kapitel, S. 88f.
46 Boethius: Fünf Bücher über die Musik, 2. Nachdruck der Ausgabe von Oskar Paul, Leipzig
1872, Hildesheim u. a. 1985, S. 1 und 3.
18
Sabine Meine und Nina Noeske
der die Wirkungen des beliebten, ausdrucksvollen Madrigalstils seitens der Musiktheorie mit einer Angst und Sorge betrachtet wurde, die mit einem misogynen
Gendering der Musikästhetik einher ging. Der Musiktheoretiker und ZarlinoSchüler Vincenzo Galilei bezeichnete die damals beliebten Madrigale in seinem
Dialogo della Musica antica e moderna (1581) als »lächerliche, verweiblichte und
veränderliche Unbeständigkeit« und forderte dagegen eine Rückbesinnung auf
eine »der Natur gemäße, gravitätische, männliche und beständige Einfachheit«.47
Es ist anzunehmen, dass Galilei dabei nicht nur durch die Chromatik, sondern
auch die homophone Klangfülle zeitgenössischer Madrigale irritiert wurde, die in
ihrem ebenso dramatischen wie populären Ton einerseits dem monodischen Sologesang, andererseits den populären Gattungen der Canzonetta und Villanella
ähnelten, so dass sie nicht mehr in erster Linie durch polyphone Kunstfertigkeit
und einen »gelehrten« Ausdruck wirkten. Erstaunlich homophon beginnt z. B.
Giaches de Werts Madrigal Occhi, de l’alma mia (1589).
Notenbeispiel 1: Homophoner Beginn von Giaches de Werts Madrigal Occhi, de l’alma mia vivaci e soli48
Im Hintergrund von Galileis Kritik am zeitgenössischen Madrigal ist ebenso der
im späten 16. Jahrhundert fortgeschrittene Liebesdiskurs zu sehen, der mit dem
Diskurs über weltliche Musik eng verbunden war.49 Die Angst vor der nicht beherrschbaren, oft weiblich besetzten Sinnlichkeit von Kunst ist ebenso eine Angst
vor der durch sie freigesetzten Körperlichkeit, die dabei ebenso populär wie ge47 Galilei, Vincenzo: Dialogo della Musica Antica et Moderna, Firenze 1581. FaksimileAusgabe Rom 1934, S. 83.
48 Aus: Giaches de Wert: Il Primo Libro delle Canzonette Villanelle a cinque voci 1589, Additional Madrigals (1564–1616), in: Ders.: Opera Omnia XIV. Hg. von Carol Mac Clintock.
[Rome] American Institute of Musicology 1973 (Corpus Mensurabilis Musicae 24, 14), Nr.
11.
49 Vgl. den Beitrag von Sabine Meine in diesem Band.
Musik und Popularität
19
fürchtet sein konnte. Greifbar wird dieser Mechanismus an so unterschiedlichen
Beispielen wie der Strauss’schen Operngestalt der Salomé oder der betörenden
stimmlichen Virtuosität von Sängerinnen und Sängern. Angefangen mit der Faszination, die das erste, bereits zu Lebzeiten legendäre weibliche Gesangsensemble,
das Concerto delle dame in Ferrara in den 1580er Jahren ausgelöst hat, bis hin zu
Jacques Offenbachs Hoffmanns Erzählungen, in denen die Magie einer virtuosen
Sopranistin der Lächerlichkeit preis gegeben wird, berühren die Urteile über die
faszinierende Präsenz von Stimmen auch den Diskurs über die Aura des Mechanischen, Maschinellen und Technischen. Die mediale Sinnlichkeit des »Crooner«
ist ein unbekannteres medienhistorisches Beispiel hierfür, für die heute die Namen Frank Sinatra oder Dean Martin stehen.50
Im 19. Jahrhundert war insbesondere der »Gänsehautfaktor« ein wesentlicher
Grund dafür, dass man sich massenweise in den Konzertsaal begab, um so berühmt-berüchtigte Virtuosen wie Paganini oder Franz Liszt zu hören, vor allem
aber auch zu sehen. Die im weitesten Sinne ›erotische‹ Komponente muss also
mit berücksichtigt werden, wenn vom Phänomen der Virtuosität – die nicht nur
für das ›Bildungsbürgertum‹, sondern auch für Arbeiter und ›Kleinbürger‹ von
enormer politisch-kultureller Bedeutung war – die Rede ist. Musik lässt sich von
Körperlichkeit kaum trennen. In Pierre Bourdieus Die feinen Unterschiede heißt
es entsprechend: »Kunst ist auch etwas ›Körperliches‹ und Musik, die ›reinste‹
und ›spirituellste‹ aller Künste, ist vielleicht die körperlichste überhaupt. […]
[S]ie ist weniger jenseits als diesseits des Sagbaren aufzufinden, in jenen körperlichen Gesten und Bewegungen, in jenen Rhythmen des Körpers, von denen Piaget
irgendwo sagt, daß sie jene Funktionen charakterisieren, die dort sitzen, wo über
den Geschmack entschieden wird, dort, wo Organisches und Psychisches ineinander übergehen: Bewegung und Erschlaffung, Crescendo und Decrescendo.«51
Liszt spielte, ebenso wie Paganini, in diesem Sinne ganz bewusst mit seiner Ausstrahlung; insbesondere in der Zeit des ›Vormärz‹ nahm eine nach Autonomie
und nationaler Einheit strebende Bevölkerung die körperlich-sinnliche, ›souveräne‹ Präsenz des Virtuosen unmittelbar als Politikum wahr.52
Virtuosität ist aber auch ein Phänomen, dem im 20. Jahrhundert auch für die
Popmusik eine große Bedeutung zukommt: So setzt etwa das virtuose Spiel auf
der E-Gitarre ebenfalls den (meist: männlichen) Körper sehr bewusst in Szene.
50 Vgl. den Beitrag von Knut Holtsträter in diesem Band.
51 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt
von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt am Main 1987, S. 142. Vgl. auch Wicke,
Peter: »Move Your Body«. Über den Zusammenhang von Klang und Körper, in: Das Populäre in der Musik des 20. Jahrhunderts. Wesenszüge und Erscheinungsformen. Hg. von Claudia
Bullerjahn und Hans-Joachim Erwe. Hildesheim, Zürich und New York 2001 (Musik –
Kultur – Wissenschaft 1), S. 61–83.
52 Vgl. hierzu den Beitrag von Nina Noeske in diesem Band.
20
Sabine Meine und Nina Noeske
Doch auch der bewusste Einsatz der Stimme, im Heavy Metal: das ›Growling‹,
zeugt von Körperlichkeit, die – wie auch die Körperlichkeit des häufig ›langhaarigen‹ und nicht zuletzt damit feminin besetzten Virtuosen53 – Geschlechtergrenzen zu überschreiten vermag. Nicht aus dem Blick verloren werden darf schließlich, dass die Körperlichkeit populärer Musik auch durch die zentrale Eigenschaft
der ›Tanzbarkeit‹ gegeben ist: Kaum ein Rockkonzert, auf dem sich die Fans nicht
zumindest andeutungsweise rhythmisch bewegen – und dass die Wiener Klassik
wirklich in einem populären Sinne ›klassisch‹ werden konnte, liegt wohl nicht zuletzt daran, dass ein Großteil ihrer Werke sich aus der höfischen, städtischen und
bäuerlichen Tanzmusik herleiten lässt. Umgekehrt sei hier nur als Frage in den
Raum gestellt, ob Schönberg, Karlheinz Stockhausen und Helmut Lachenmann
möglicherweise nicht zuletzt deshalb niemals wirklich ›populär‹ werden können,
weil sich deren Musik nicht ohne weiteres und unmittelbar in Tanz-Gesten übersetzen lässt.
Mehrfach wurde in der Literatur darauf hingewiesen, dass die klassische ›Hochkultur‹ traditionell mit ›Männlichkeit‹, die Populärkultur hingegen tendenziell
mit ›Weiblichkeit‹ codiert ist; so sind etwa die ›Massen‹ in Gustave le Bons
grundlegender Abhandlung La psychologie des foules von 1895 explizit ›weiblich‹.54 Peter Wicke wiederum geht von der »nahezu ausschließlichen« Konstitution der ›populären Musik‹ durch einen »männlichen Diskurs« aus und meint
damit in erster Linie die tatsächlichen Protagonisten jener Sphäre des Musiklebens.55 Während also die Autonomie des »modernist art work« als »result of a resistance, an abstention, and a suppression« nach Andreas Huyssen für ›Hochkultur‹ steht, steht die Verführung, die vom ›Kitsch‹ ausgeht, für nicht kontrollierbare Bedürfnisse, die auf unmittelbare Befriedigung sinnlicher Triebe zielt, mithin
für Massenkultur: »The lure of mass culture, after all, has traditionally been described as the threat of losing oneself in dreams and delusions and of merely con-
53 Vgl. Weissmann, Adolf: Der Virtuose. Berlin 1920, S. 34: »Das Weibische an ihm [dem Virtuosen] wird durch den Haarschmuck betont, der gegen jede bürgerliche Ordnung geht.
Aber als Mann, der gesellschaftliche Sitte mißachtet, als einer der zu den Sinnen spricht
und kupplerische Klänge ausmünzt, lockt er die Frauen.«
54 Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen (1895). Übersetzung von Rudolf Eisler, Nachdruck der Ausgabe von 1911. Hamburg 2009, S. 43. Vgl. hierzu auch Huyssen, Andreas:
Mass Culture as Woman. Modernism’s Other, in: Ders.: After the Great Divide. Modernism,
Mass Culture, Postmodernism. Bloomington und Indianapolis 1986, S. 44–62, hier: S. 47: »It
is indeed striking to observe how the political, psychological, and aesthetic discourse
around the turn of the century consistently and obsessively genders mass culture and the
masses as feminine, while high culture, whether traditional or modern, clearly remains the
privileged realm of male activities.«
55 Wicke, Peter: »Heroes and Villains«. Anmerkungen zum Verhältnis von Popmusik und Musikgeschichtsschreibung, in: Zu Problemen der ›Heroen‹- und der ›Genie‹-Musikgeschichtsschreibung. Hg. von Nico Schüler. Hamburg 1998, S. 147–160, hier: S. 156.
Musik und Popularität
21
suming rather than producing.«56 Die Grenze zwischen Kitsch und Kunst ist bekanntlich oftmals nicht leicht zu ziehen; brisant wird es vor allem dann, wenn
Kitsch, wie in der Postmoderne der 1960er bis 1990er Jahre gang und gäbe, ironisch eingesetzt wird, d. h. wieder zu Kunst wird.57 Dennoch: Es war vor allem die
Tatsache, dass Musik, bildende Kunst und Literatur – nach einer langen Durststrecke – mit einem Mal wieder ›populär‹ wurde, welche die geballte Skepsis der
Kulturkritik auf den Plan rief. Auch in der Musik gab es nunmehr wieder Kompositionen der sogenannten ›E-Musik‹, die von breiten Hörerschichten gekauft
und konsumiert wurde. Zu denken wäre an Krzysztof Pendereckis Lukas-Passion
(1965/66), an zahlreiche Werke Alfred Schnittkes, an Arvo Pärt, an Wolfgang
Rihm, aber auch an die Minimal Music eines Steve Reich oder Philipp Glass. Paul
McCartney versuchte sich, umgekehrt, im Schreiben von Symphonien58 und György Ligeti fand seine Musik unversehens in so erfolgreichen Filmen wie Stanley
Kubricks 2001 – A Space Odyssey (1968) wieder. Ist die Komposition Atmosphères
mithin populäre Musik?
Spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann davon ausgegangen
werden, dass die Grenzen zwischen Kunst und Unterhaltung durchlässig wurden.
Und wenn wir heute mit Recht behaupten, dass ein Alltag ohne Musik vollends
undenkbar geworden ist, so hat dies trotz allem nur wenig mit der avantgardistischen Hoffnung zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu tun, Kunst, im Sinne Peter
Bürgers, in Lebenspraxis zu überführen.59 Doch eins steht fest: Mit Hilfe von (populärer) Musik können Bedürfnisse erzeugt und Identitäten gefestigt werden;
»music functions in ways that we as scholars have not even begun to fathom.«60
Grund genug, insbesondere populäre Formen von Musik und Musizieren in die
musikhistorische Betrachtung maßgeblich miteinzubeziehen.
Populäre Musik als Kommerz
Zu Recht wird immer wieder auf die tiefgreifenden Einschnitte hingewiesen, die
das 20. Jahrhundert für die Entwicklung populärer Musik bedeutet hat, vor allem
durch die expandierende Medienindustrie und die Annäherung Europas an die
amerikanische Musik: Auf der Pariser Weltausstellung 1900 feierte die Band von
Philip Sousa, als offizieller Repräsentant der USA, mit Ragtime-Bearbeitungen
spektakuläre Erfolge, und 1905 wurde in Pariser Aufnahmestudios durch erste
56 Huyssen 1986 (wie Fußnote 54), S. 55.
57 Mit dem Phänomen des Kitschs unter besonderer Berücksichtigung des ›zu schönen‹
Weihnachtsliedes Stille Nacht, das schließlich sogar Eingang in die komponierte Neue Musik fand, beschäftigt sich Beitrag von Katrin Eggers in diesem Band.
58 1997 erschien dessen Symphonie Standing Stone.
59 Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt a. M. 1974.
60 Morris 2008 (wie Fußnote 8), S. 189.
22
Sabine Meine und Nina Noeske
Grammophonaufnahmen des argentinischen Musikerpaars Flora Rodriguez und
Alfredo de Gobbi das Tangofieber ausgelöst.61 Die bis dato etablierten Orte und
Institutionen der Unterhaltungsmusik, »der Ballsaal, die Unterhaltungsbühne,
das Varieté, die Bühnen der Volkstheater, öffentliche Plätze […], gastronomische
Betriebe […], vom Gartenlokal bis zu […] Vergnügungsetablissements«62 lieferten die Infrastruktur für Musik, die sich jetzt verselbstständigte und eine Präsenz
in der Gesellschaft entwickelte, wie sie vorher nicht dagewesen war. Auf der anderen Seite ist jedoch auch Kunstmusik, die unter dem Begriff der ›Tonkunst‹
oder autonomen Musik zum Gegenbild populärer Musikkultur gemacht worden
war, nicht erst seit dem 20. Jahrhundert an Fragen der Finanzierung und Medialisierung gebunden. Angefangen mit der Erfindung des Musikdrucks im 16. Jahrhundert bis hin zu Opern- und Konzerthäusern, die ab dem 17. Jahrhundert begannen, nicht mehr ausschließlich einer höfischen Elite vorbehalten zu sein, waren es auch in der Vergangenheit Medien und Institutionen, die eine musikalische Öffentlichkeit ermöglichten. Die Gründung der venezianischen Oper 1637
war einer der Einschnitte in der Geschichte der Kommerzialisierung von Musik,
an dem die Hannoveraner Elite engagiert mitarbeitete, da sie über Jahre viel Geld
für Besuche in Venedigs Theatern ausgab.63 Spätere Fälle werfen Fragen danach
auf, ob Popularität in Zeiten ihrer »technischen Reproduzierbarkeit«64 eher ein
Zeichen einer verloren gegangenen künstlerischen Aura ist oder aber, ob die
Kommerzialisierung von Musik umgekehrt ebenso zu ihrer Mystifizierung beitragen kann, wie es für Bereiche der Popmusik des 20. und 21. Jahrhunderts
durchaus der Fall zu sein scheint.
Jetzt, im 21. Jahrhundert, da der Erfolg der traditionellen bürgerlichen Institutionen des Musiklebens, der Konzertsaal und das Opernhaus, ihre Selbstverständlichkeit verloren haben, wird überdeutlich, dass mit der Entwicklung der Medienindustrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch die Voraussetzung geschaffen
wurde, um das gegensätzliche Denken von Hoch- und Niedrigkultur, von sogenannter Unterhaltungs- und Ernster Musik (›U‹ und ›E‹) zu hinterfragen und neu
zu definieren. Gewiss: Der gesellschaftliche Status einer Familie wird noch immer
daran gemessen, welche Medien sie konsumiert: Im TV-Bereich ist dies offensichtlich; handelt es sich doch um eine soziale Distinktion, ob RTL oder Arte eingeschaltet wird. Doch auch wenn Angela Merkel in Bayreuth präsent zu sein und
die Nachfolge Wolfgang Wagners ein beachtetes Medienereignis wert war, ist die
61 Vgl. Wicke 2001 (wie Fußnote 14), S. 15f.
62 Ebd., S. 16.
63 Vgl. Fischer, Axel: Hannover (von den Anfängen bis 1814), in: 2MGG, Sachteil, Band 4. Kassel, Basel u. a., Sp. 24–32, hier: Sp. 26. Zur kommerziellen Seite der Operngeschichte für das
spätere 19. Jahrhundert vgl. Toelle, Jutta: Oper als Geschäft. Impresari an italienischen
Opernhäusern 1860-1900. Kassel, Basel und London 2007.
64 Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.
Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt a. M. 1963.
Musik und Popularität
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Kenntnis und Praxis klassischer Klavier- und Kammermusik längst keine Bedingung mehr für den gesellschaftlichen Aufstieg. Dieser Schwund des bürgerlichen
Musikverständnisses ist letztlich auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass die
sogenannte klassische Musik gleichermaßen von der im 20. Jahrhundert massiv
vorangetriebenen Medialisierung betroffen ist und ihre Rezeption maßgeblich
durch den CD- und MP3-Konsum verändert worden ist. Damit ist sie ebenso zu
einem Pop-Produkt geworden, was jedoch nicht, wie anzunehmen wäre, zu einer
›Verjüngung‹ der sogenannten Ernsten Musik, sondern zu ihrer Glättung geführt
hat, die sie – um im Bild zu bleiben – alters-, damit aber auch konturlos zu machen droht.
Die Diskussionsrunde »Und täglich grüßt die kleine Nachtmusik«, die im Rahmen unserer Hannoveraner Ringvorlesung mit Melanie Unseld, Raimund Vogels
und Hans Winking vom Westdeutschen Rundfunk stattfand,65 ging daher von
dem Bildungsnotstand und der Repertoireeinengung historischer Musik aus, die
heute zu beklagen sind, wenngleich bessere Möglichkeiten denn je bestehen, die
Vielfältigkeit von Musik aller Epochen zu entdecken. Es gibt eine Fülle an hervorragenden Ensembles, die oft mit größerem Eifer und Know-how als in der Musikwissenschaft selbst unbekannte Schätze aus Archiven und Bibliotheken für den
Musikmarkt erarbeiten. Im Mainstream der Medienindustrie und folglich auch
im musikalischen Ausbildungssystem von der Schule bis zur Hochschule wird
historische Musik jedoch in einem oft beklagenswerten Maß auf einen Kanon
weniger Werke der immer selben Namen reduziert. Wie anregend hingegen ist
es, statt eines Satzes aus dem vermeintlich bekannten Klavierkonzert von Ludwig
van Beethoven, die Klaviermusik der Zeitgenossen Leopold Kozeluch, Johann
Nepomuk Hummel oder Louise Farrenc kennen zu lernen, um damit letztlich
auch sensibler und bewusster mit dem eigenen Beethoven-Bild umgehen zu können. Bereits in den 1970er Jahren hat der Komponist Helmut Lachenmann mit
seiner Musik zum Nachdenken darüber angeregt, dass wir Musik, um der aufrichtigen Liebe zu ihr, aus ihrem kulturindustriellen Kokon befreien müssen, um
sie langfristig zu retten.66 Umgekehrt ist es uns ein Anliegen, mit den folgenden
Beiträgen zum weiteren, produktiven Nachdenken über das historisch umfangreiche Phänomen des Populären in der Musik beizutragen.
65 Der vorliegende Band enthält lediglich den überarbeiteten Beitrag von Melanie Unseld.
66 Vgl. Lachenmann, Helmut: Zum Problem des musikalisch Schönen heute (1976), in: Ders.:
Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966–1995. Hg. und mit einem Vorwort versehen von Josef Häusler. Wiesbaden 1996, S. 104–110.
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Sabine Meine und Nina Noeske
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