Jesus, unser mit uns mitfühlender Hohepriester und Seelsorger

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P. i. R. Dr. Albrecht Weber (evangelisch)
über: Hebräer 4, 14-16
Delmenhorst, am 21.02.2010
Invokavit/1. Sonntag der Passionszeit
I. DIE LIEBE GOTTES ANGESICHTS DER LEIDEN DIESER WELT
Liebe Gemeinde!
Zu den Folgen des verheerenden Erdbebens am 12. Januar auf Haiti gehören zwei Millionen
Obdachlose, rund 300.000 Verletzte und über 200.000 Tote, darunter auch viele Kinder, arme
Slumbewohner, UNO-Helfer und der Erzbischof des Landes. Dies kann unseren Glauben an Gott
in der Tiefe erschüttern! So wurde ein Christ verständlicherweise von einem Journalisten nach
dem Sinn dieser Katastrophe gefragt. Die Antwort dieses Christen war ebenso einfach wie genial:
"Ich weiß es nicht, Gott weiß es!"
Der Christ hätte freilich auch antworten können: "Früher glaubte ich an einen liebenden Gott.
Aber nach dieser Katastrophe habe ich diesen Glauben verloren."
Er wäre dann nur dem irritierten und zweifelnden Petrus gefolgt, der auf Jesu Ankündigung, er
werde viel leiden müssen, getötet und am dritten Tage auferweckt werden, Jesus zur Seite nahm,
ihn empört anfuhr und ausrief: "Das widerfahre dir nur ja nicht!"
Aber Jesus widerstand Petrus mit den entschiedenen Worten: "Geh weg von mir, Satan! Du bist
mir ein Ärgernis; denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist!" (Matthäus 16,
21f.)
Ja, unsere menschliche Weise über das zu denken, was Gott uns Menschen an Leid zumuten
darf, ist in keiner Weise dazu geeignet, die Wege Gottes zu ergründen.
Darum bleibt uns wie Petrus und allen anderen Jüngern die Anfechtung des Glaubens nicht
erspart, schwere Schicksalsschläge mit unserem Glauben an einen uns und alle Menschen
liebenden Gott zu vereinbaren. Aber vier Hinweise können uns vielleicht helfen, trotz dieser
Anfechtung unser Vertrauen auf Gott nicht aufzugeben.
1. Gott mutet nicht nur uns Menschen, sondern sich selbst Leiden im Übermaß zu. Erst neulich
sagte ein namhafter Theologe (Hans Küng) im Fernsehen (ANM. 1), nicht Gott Vater habe
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gelitten, lediglich Gott der Sohn. Das stimmt im Blick auf physische Schmerzen. Aber die
seelischen Schmerzen, die Eltern mit einem kranken Kind erleiden, können möglicherweise
schlimmer sein als die leiblichen Schmerzen ihres Kindes. So ist es auch mit den Schmerzen in
der Tiefe des göttlichen Herzens im Mitleiden mit seinem geliebten Sohn. Also, noch einmal: Gott
mutet nicht nur uns Menschen, sondern sich selbst Leiden im Übermaß zu.
2. Angesichts einer Katastrophe mit so vielen Toten reicht ein Christentum nicht aus, das seinen
Hauptsinn darin sieht, etwas zur "Hebung der gesellschaftlichen Moral" oder zur Verbesserung
sozialer Umstände beizutragen, wenn nicht die durch Ostern begründete Hoffnung auf eine neue
Welt ohne Leid, Schmerz und Geschrei, ja auch ohne den Tod (Offenbarung Johannes 21, 1 - 7)
der alle prägende und bestimmende Horizont unseres Lebens ist (siehe auch 1. Korinther 15,
bes. Vers 19).
3. Wenn das aber so ist, so dürfen wir uns freuen über jede großzügige geldliche, persönliche
und sonstige Hilfe, die von uns den geplagten Menschen in Haiti zuteil wird, gemäß dem Wort
Jesu: "Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan."
(Matthäus 25, 40)
4. Martin Luther hat immer wieder davor gewarnt, in der Geschichte Gott erkennen zu wollen. In
dem, was sich in der Geschichte vor unseren Augen abspielt, sah Luther lediglich den
"verborgenen Gott", den niemand erkennen könne. Luther lehrt uns vielmehr, mit Blick auf Jesus,
der für uns freiwillig den Kreuzestod erleidet, "Gott ins Herz zu sehen". Da können wir, so Luther,
den "offenbaren Gott" erkennen, der nichts als Liebe zu uns ist, allen unerklärlichen
Geheimnissen in seinem Geschichtswalten zum Trotz.
II. DIE EINMALIGKEIT JESU CHRISTI
Liebe Gemeinde!
Es gibt zwei Gefahren beim Denken über Jesus Christus:
Die EINE GEFAHR besteht darin, zu niedrig über Jesus Christus zu denken. Danach wird Jesus
lediglich als Vorbild, als edler Mensch oder bestenfalls als großer Prophet gesehen. Es heißt
jedoch im 1. Kapitel des Hebräerbriefes (Vers 3): "Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das
Ebenbild seines Wesens und trägt alle Dinge mit seinem kräftigen Wort ... und hat sich gesetzt
zur Rechten der Majestät in der Höhe."
Die ZWEITE GEFAHR besteht darin, Jesus von einem normalen Menschenleben deutlich
abzugrenzen. Das ist gleichfalls verkehrt. Denn die Menschwerdung des Gottessohnes hatte zur
Folge, dass Jesus unter den gleichen Nöten gelitten hat, die jedes Menschenleben belasten,
einengen und herausfordern.
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Wenn wir das Wort HOHEPRISTER hören, denken wir leicht an den Hohepriester, der Jesus
verhörte und ihn der Gotteslästerung beschuldigte.
Aber der Hebräerbrief widmet ein ganzes Kapitel seines Briefes (Kapitel 7) dem Nachweis, dass
Jesus nicht einer unter vielen Hohepriestern ist und auch nicht der Ordnung der Hohepriester
angehörte, die im Tempel zu Jerusalem Dienst taten. Diese Hohepriester mussten Nachfahren
des Aaron, des Bruders von Mose, sein, was für Jesus nicht zutraf. Auch dass der kultische
Hohepriester Israels beim einsamen, von niemandem sonst begleiteten Gang in das Allerheiligste
des Tempels erst für die persönliche Reinigung von seinen eigenen Sünden opfern musste, bevor
er ein Opfer für das Volk darbrachte, trifft auf Jesus nicht zu. Denn der sündlose Hohepriester
Jesus hat es nicht nötig, für eigene Sünden etwas zu opfern. Vielmehr bewirkt seine bloße
Existenz vor dem Thron Gottes nachdrücklich Gottes Erbarmen für uns, die wir immer wieder in
die Irre gehen!
Jesus findet nach Meinung des Hebräerbriefes sein alttestamentliches Vorbild vielmehr in einem
geheimnisvollen Mann, der lange vor der Stiftung des Sinaibundes zur Zeit Abrahams lebte,
Königtum und Priestertum in sich vereinigte und den Glaubensvater Abraham segnete (1. Mose
14, 18 - 20)! Dieser Mann heißt Melchisedek ("mein König ist Gerechtigkeit").
Dadurch, dass Abraham ihm den Zehnten seines Einkommens übergab und sich von ihm segnen
ließ, erkannte er den höheren und einmaligen Rang Melchisedeks an (Hebräer 7, 6f.). Hinzu kam,
dass Melchisedeks Leben geheimnisumwittert war. Man kannte weder irdische Eltern oder
Vorfahren von ihm, noch ist etwas von seinem Tod oder seiner Beerdigung bekannt geworden.
Daher nahm man an, er stamme in besonderer Weise von Gott und nehme an Gottes Ewigkeit
teil (Hebräer 7, 3). (ANM. 2)
So war Melchisedek als alttestamentliche "Voranzeige" (als Schatten der Wirklichkeit des Neuen
Bundes) gut geeignet dafür, in Jesus einen einmaligen HOHEPRIESTER zu sehen, der in Gottes
Vollmacht Königtum und Priestertum Gottes in sich vereinigt, in Ewigkeit vor Gott Dienst tut und
durch seine Herrschaft wirkliche Gerechtigkeit zur Geltung bringen wird.
III. DURCH JESUS, DEN HOHEPRIESTER, HABEN WIR ZUGANG ZUM ALLERHEILIGSTEN,
ZUM HERZEN GOTTES, UNSERES VATERS
Wer hat schon einmal die Möglichkeit, mit der Königin von Großbritannien zu sprechen? Ein
deutscher Auslandspastor mit Sitz in London hatte mit seiner Frau einmal dieses Privileg. Es
geschah anlässlich eines Empfangs im herrschaftlichen Sitz des Erzbischofs von Canterbury, im
Lambeth Palace. Aber das alles hatte eine genaue Ordnung. Erst stellte ein "Canon", ein
"Domkapitular" der Bischofskirche St. Paul's (London), die Betreffenden dem Erzbischof von
Canterbury vor, und dann stellte dieser die ausgesuchten Gäste der Königin bzw. Prinz Philipp
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vor. Die Etikette sah und sieht vor, dass die Königin und der Prinz die Themen des Gesprächs
bestimmen und nicht der vorgestellte Gast. Manch einer unter den 200 Gästen mag enttäuscht
gewesen sein, dass nicht sie oder er die Chance hatte, mit der Königin und ihrem Gatten zu
sprechen.
Anders ist es bei der Höchsten Majestät, die es gibt, bei GOTT SELBST. Nicht einige wenige
Bevorzugte haben das Privileg, mit ihm zu sprechen, vielmehr alle Menschen, die nach seinem
Bild geschaffen sind, und besonders alle, die Christen sind. Mit Jesus haben wir immer und
jederzeit das unbeschreiblich große Vorrecht, ohne Voranmeldung und Zwischeninstanzen mit
Gott zu sprechen. ER hat keinen Terminkalender und keine Wartezeiten! Durch den Hohepriester
Jesus Christus haben wir stets direkten Zugang zum Herzen Gottes, zu seinem Erbarmen und
seiner Liebe!
Wie war das in der Todesstunde Jesu? Der Vorhang im Tempel zerriss. Ein sprechendes
Geschehen: Der Weg zum Allerheiligsten, zum Herzen Gottes, war gebahnt!
Seit Karfreitag, Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten darf nicht nur der Hohepriester einmal im Jahr
ins Allerheiligste eintreten, sondern jeder von uns darf jederzeit durch den Hohepriester Jesus
Christus zu Gott kommen. Wir brauchen keine Türme mehr zu bauen mit dem vergeblichen Ziel,
damit den Himmel zu erreichen. Eine von Gott für uns alle errichtete "Himmelsleiter" steht uns zur
Verfügung. Ihr Name heißt Jesus, der für unsere Verschuldungen in den Tod gegangen ist (siehe
Johannes 1, 51).
Dieser Hohepriester ist zugleich der ANWALT, der uns vor Gott vertritt, kostenlos und mit
Vollmacht (Hebräer 7, 25; Römer 8, 34; 1. Johannes 2, 1). Dieser Hohepriester ist es, der uns
das ergreifende Gleichnis vom barmherzigen Vater und dem neu an- und aufgenommenen
verlorenen Sohn erzählt hat (Lukas 15, 11 - 32). ER ist es, der uns zuruft: "Kommt her zu mir alle,
die ihr mühselig und beladen seid, ICH will euch erquicken." (Matthäus 11, 26)
IV. JESUS, DER UNS VERSTEHT WIE NIEMAND SONST
Dietrich Bonhoeffer schreibt 1935 zu unserem Briefabschnitt:
"Wird dir deine Armut zur Versuchung - Christus war ärmer. Wird dir deine gottlose Umgebung
zur Versuchung - Christus hat tiefer in dieser Umgebung gestanden. Wird dir der Wille des
Fleisches zur Versuchung - Christus hat mehr an der Marter des Fleisches gelitten. Wird dir die
Einsamkeit zur Anfechtung - Christus war einsamer. Wirst du traurig über den Unglauben Christus war trauriger. Verzweifelst du an der Gottesferne - Christus ist mit dem
Verzweiflungsschrei dieser Ferne gestorben. Er war versucht wie wir, er kann wahrhaft Mitleid
haben." (ANM. 3)
So können wir vor IHM, dem mit uns fühlenden, leidenden und für uns eintretenden Hohepriester
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alles abladen, was uns bedrückt, unsere kleinen und großen Sorgen um uns selbst, unsere
Familienmitglieder und um die ganze Welt, in diesen Tagen ganz besonders um Haiti und seine
Bewohner, die Trauernden, die Verletzten und die Helfer.
Wir können mit ihm auch über die Last des Älterwerdens sprechen, ferner über die Zweifel und
Fragen des Glaubens. IHM können wir auch Augenblicke und Stunden unseres Lebens erzählen,
die wir niemandem sonst berichten und am liebsten vergessen würden. Alles, alles, ja wirklich
alles können wir IHM anvertrauen.
V. JESUS, UNSER BEISTAND IN DEN TESTS, DIE UNS GOTT IN UNSEREM LEBEN
ZUMUTET
Liebe Gemeinde!
Der Satz "er wurde versucht in allem wie wir" wird von einer englischen Bibelübersetzung so
übersetzt: "He has been testet every way". Wir kennen einen Dauer- und Härtetest bei der
Entwicklung neuer Autos. Jesus hat sich als Mensch einem solchen Dauer- und Härtetest
unterworfen. So können wir mit seiner Hilfe unsere Tests bestehen.
Ja, unsere Tests. Denn Christsein ist keine Idylle. "Wen Gott liebt, den züchtigt er", sagt der
Hebräerbrief (12, 6). Wir könnten auch sagen: Wen Gott liebt, den testet er. Aber mit Jesus,
unserem mitfühlenden Seelsorger, Anwalt und Freund können wir allen Tests gelassen
entgegensehen. Wir sind ja nicht allein.
VI. MIT FREIMUT GOTT BEGEGNEN
"Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade." Das hier mit "Zuversicht"
übersetzte Wort können wir auch als FREIMUT bezeichnen. Solch ein Freimut darf uns Christen
auszeichnen. Offenbar meint der inspirierte Schreiber des Hebräerbriefes, dass uns Christen
nicht gequälter Ernst und ängstliche Zaghaftigkeit erfüllen müssen, wenn wir in Kontakt mit Gott
treten, sondern bei aller geziemenden Ehrerbietung vielmehr zugleich getroster Mut, gelöste
Freiheit und Freude.
Dazu haben wir ja nun auch allen Grund. Denn durch Jesus haben wir Zugang zur letzten
Instanz, zum Ursprung und Ziel aller Dinge, zu Gott dem Vater.
Wie fröhlich und locker und zuversichtlich dürfen wir darum sein, zu jeder Stunde. Nicht einmal in
unserer letzten Stunde braucht uns die Zuversicht, der Freimut verlassen.
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VII. SCHLUSS
So heißt es ja in einem der großartigen Lieder von Paul Gerhardt:
"Mein Lebetage will ich dich aus meinem Sinn nicht lassen,
dich will ich stets, gleich wie du mich, mit Liebesarmen fassen.
Du sollst sein meines Herzens Licht, und wenn mein Herz in Stücke bricht, sollst du mein Herze
bleiben; ich will mich dir, mein höchster Ruhm, hiermit zu deinem Eigentum beständiglich
verschreiben." (EG 83, 4)
Amen (ANM. 4)
Anmerkungen:
ANM. 1:
Gespräch zwischen Reinhold Beckmann, Hans Küng und Thomas Gottschalk in der ARD (1.
Programm) am 25.01.2010
ANM. 2:
Auch wenn im 1. Buch Mose MELCHISEDEK als historische Gestalt, nämlich als König von
Salem (wahrscheinlich Jerusalem), genannt worden ist (1. Mose 14, 18), denkbar ist auch, dass
in der Gestalt des Melchisedek der ewige Gottessohn vor seiner Menschwerdung, aber in der
Verhüllung einer menschlichen Gestalt, Abraham besucht sowie mit BROT und WEIN (!)
beschenkt und gesegnet hat (1. Mose 14, 18f.). Dies wird (laut Hansjörg Bräumer, Das erste
Buch Mose, Kapitel 12 - 36, Wuppertaler Studienbibel, 2. Aufl. 1991, 91) von einigen Auslegern
der Alten Kirche so gesehen (freilich als eine kaum zu haltende "erste Fleischwerdung des
Sohnes Gottes" bzw. als eine ebenso merkwürdige "Fleischwerdung des Heiligen Geistes") und
entspräche der in der Orthodoxie gelegentlich vertretenen Vermutung, dass mit den drei Boten
Gottes, die Abraham die Geburt eines Sohnes ankündigen (1. Mose 18, 1 - 15), der Dreieinige
Gott, in menschlicher Gestalt verborgen, Abraham besucht hat.
Einige Kirchenväter (z.B. Ambrosius, Origenes, Hieronymus) sehen (nach H.-J. Bräumer, a.a.O.)
in Melchisedek (ähnlich wie manche spätjüdische Texte) einen Engel.
ANM. 3:
Dietrich Bonhoeffer, Gesammelte Schriften, hg. von E. Bethge, Band 4: Auslegungen, Predigten,
2. Aufl. München 1965, 217 (Nachschrift eines Predigtentwurfs)
ANM. 4:
Siehe zu der Frage von Leid und Gottes Liebe (THEODIZEE-FRAGE) auch die Predigten des
Verfassers anlässlich des Tsunami in Südasien am 01.01.2005 anhand der Jahreslosung Lukas
22, 32 und über Hiob 14, 1 - 5 am 12.12.2000 (zu finden unter www.predigten.de)
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© Albrecht Weber 2010
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