Eine gemeinsame Hoffnung von Juden und Christen?

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Eine gemeinsame Hoffnung
von Juden und Christen?*
Gerhard Sauter
Dr. Peter Ochs (Professor of Modern Judaic Studies an der
University of Virginia in Charlottesville, USA) gewidmet
Was für eine Frage!
Sind Juden und Christen durch eine gemeinsame Hoffnung miteinander verbunden –
vielleicht eher als durch einen gemeinsamen Glauben? Diese Frage wird heute oft
spontan mit »Ja« beantwortet. Das scheint auch nahezuliegen, wenn man traditionsgeschichtlich denkt: Die frühen Schriften des Christentums berufen sich häufig auf
Erwartungen aus prophetischen und apokalyptischen Texten und halten viele dieser
Erwartungen aufrecht, andere Erwartungen sehen sie hingegen als überholt an. Sind
letztere durch die Christusgeschichte »erfüllt«? Ein höchst interpretationsbedürftiges Wort! 1 Wie verhält es sich zur Erwartung Jesu Christi, des von Gott Gekommenen, der als »der Kommende« 2 erwartet wird? Dass er als Weltenrichter am
Jüngsten Tage kommen wird: darin stimmen Juden nicht mit Christen überein, abgesehen von der kleinen, wenngleich bemerkenswerten Gruppe der »messianischen Juden« in Israel. Also doch keine gemeinsame Hoffnung von Juden und Christen?
Oder eine aufgespaltene Hoffnung, von der ein Teil, etwa die Erwartung des Weltendes, Juden und Christen gemeinsam wäre, während Christus trennend zwischen
Juden und Christen stünde? Dies würde zumindest bis zum Ende der Welt gelten,
und das wäre dann lange genug! Christen hoffen darauf, dass Jesus Christus »wiederkommt« und vollendet, wozu er einst gekommen ist – für Juden dagegen steht der
Erlöser noch aus, und darum auch ihre Erlösung.
Ungefähr so lautet die Gegenüberstellung, wie sie die wechselseitige Wahrnehmung von Judentum und Christentum lange Zeit bestimmt hat. Es ist eine etwas
subtilere Sicht, als wir sie aus manchen bildlichen Darstellungen vor allem aus dem
Mittelalter und der frühen Neuzeit kennen. Hatten die Juden die Sorge vor einem
falschen Messias 3 parat, um fremde Hoffnungsvorstellungen – auch in den eigenen
*
1.
2.
3.
Erweiterter Beitrag zu einer Vorlesungsreihe des Sonderforschungsbereiches »Judentum – Christentum. Konstituierung und Differenzierung in Geschichte und Gegenwart« der Rheinischen
Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn am 18. Juni 2001. Die Teile 1–4 wurden auch am 16. Oktober 2001 als Gastvorlesung an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Karls-Universität
Prag vorgetragen. – Der Sonderforschungsbereich bestand 1999–2002.
Berechtigte Einwände nennt G. Saß, Leben aus den Verheißungen (FRLANT 164), Göttingen
1995, 267 f.
Zu diesem Prädikat s. G. Sauter, Einführung in die Eschatologie, Darmstadt 1995, 45–54.
Eine Schlüsselrolle spielte Sabbatai Zwi (1626–1676); vgl. die Darstellung seiner messianischen
Krönung (in diesem Falle eine positive Zeichnung) in: Sharon R. Keller (Hg.), Judentum in Kunst
und Literatur, Köln 1995, 137.
Evang. Theol. 63. Jg., Heft 5, S. 346–361
ISSN 0014-3502 © Chr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus, 2003
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Reihen – zu personalisieren, zu demaskieren und damit auszuschließen, so wurde auf
christlicher Seite der Antichrist oft mit jüdischen Zügen versehen 4 . In der Abwehr
jüdischer Zukunftsvorstellungen spielten die Stereotypen »Diesseitigkeit«, »Gegenbilder zur sozialen Wirklichkeit« (heute würden wir sagen: Utopien) und »Wunschbilder« oder gar Phantasmagorien eine hervorstechende Rolle; beispielsweise rührt
Martin Luthers Abneigung gegen die »Apokalypse« auch von seinem Unbehagen an
der Bilderflut dieses letzten Buches der Bibel her. 5 Der jeweilige Widerpart wurde
allzu oft polemisch verzeichnet, und dies wirkte sich auch unheilvoll auf die Selbstwahrnehmung aus: die Selbsteinschätzung profilierte sich durch Abgrenzungen. So
wurden auf christlicher Seite schon früh das »Geistlich/Spirituelle« im Gegensatz
zum »Fleischlich/Materiellen« 6 , später das Jenseits als Überbietung des Diesseits
und das Individuelle im Gegenüber zum Sozialen herausgestellt. In den Arbeiten,
die ich im Rahmen des Sonderforschungsbereiches »Judentum – Christentum« zu
betreuen habe, bemühen wir uns, solche Wahrnehmungsmuster oder Konstruktionsraster aufzuspüren und zu entkräften, falls sie sich als optische Verzerrungen oder
gar als Täuschungen herausstellen. 7
I. Das Kontrastschema »Schon jetzt/Noch nicht«
Handelt es sich bei dem Geschichtsbild, das ich eingangs skizzierte, auch um ein
solches Wahrnehmungsmuster? In ihm stellt sich das Verhältnis von Judentum und
Christentum etwa so dar: Juden sind aufs intensivste der Hoffnung verschworen,
während Hoffnung für Christen eine Perspektive ihres Glaubens bildet. Ihr Blick ist
hauptsächlich auf die Geschichte Jesu Christi gerichtet und damit in erster Linie auf
etwas, das ein für alle Mal geschehen ist: »Es ist vollbracht!«, ruft Jesus am Kreuz
aus (Joh 19,30). 8
4.
5.
6.
7.
8.
Beispiele: Der Antichrist und die fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht. Faksimile der ersten
typographischen Ausgabe [Straßburg 1480]. Inkunabel der Stadt- und Universitätsbibliothek
Frankfurt am Main Inc. fol. 116 I/II, mit Beiträgen von K. Boveland/C. P. Burger/R. Steffen, Hamburg/Amsterdam 1979.
Zur Apokalypse als »Bilderbuch«: J. Frey, Die Bildersprache der Johannesapokalypse, in: ZThK
98 (2001), 161–185.
Der Kirchenvater Hieronymus statuiert: »Ein weiser christlicher Leser sollte bei den prophetischen
Verheißungen dieser Regel folgen: Wir lehren, daß das, was die Juden und die, die jüdisch denken
bei den Unsrigen – vielmehr bei denen, die nicht zu uns gehören –, in fleischlicher Weise als zukünftig beanspruchen, in geistlicher Weise schon eingetroffen ist, damit wir nicht angesichts derartiger Erzählungen oder schier unbeantwortbarer apostolischer Fragestellungen gezwungen sind,
jüdisch zu denken.« – »Prudens et christianus lector hanc habeat repromissionum prophetalium
regulam, ut quae Judaei et nostri, immo non nostri Iudaizantes, carnaliter futura contendunt, nos
spiritaliter iam transacta doceamus, ne per occasionem istiusmodi fabularum et inextricabilium
iuxta apostolorum quaestionum iudaizare cogamur.« Commentarius in Esaiam IV [407/408], zu
Jes 11,15 f.: CChr.SL 73, Turnhout 1963, 157, 43–48.
Meinen Mitarbeitern Dr. Caroline Schröder-Field, Stefan Kläs und Henning Theißen danke ich für
Anregungen zur Überarbeitung meines Vortrages und für Literaturhinweise.
Karl Barth versteht das Eschaton und damit »Erlösung« und »Hoffnung« von Joh 19,30 her, so in
einem Brief an Helmut Gollwitzer vom 7. November 1967, in: K. Barth, Briefe 1961–1968, hg.
von J. Fangmeier/H. Stoevesandt, Zürich 1975, 445. In seiner »Kirchlichen Dogmatik« beruft sich
Barth weniger auf Joh 19,30; dort hebt er hervor, dass die Versöhnung Gottes »ein für allemal«
(Röm 6,10; Hebr 7,27; 9,12) für alle Menschen aller Zeiten geschehen sei. Vgl. G. Oblau, Gotteszeit und Menschenzeit. Eschatologie in der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth (NBST 6), Neukirchen-Vluyn 1988, bes. 178–195.
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Dieses Kontrastschema wurde populär, es geistert durch Selbst- und Fremdbilder
in Judentum und Christentum, durch Bilder von sich selber und vom Anderen, auch
durch Bilder, die differenzierter ausfallen. Mit diesem Schema möchte ich mich in
einem ersten Durchgang auseinandersetzen.
1. Zuteil gewordene Erlösung – ein Trennungszeichen?
Drei repräsentative Zitate mögen das Schema erläutern. Die ersten beiden stammen
aus dem denkwürdigen Zwiegespräch Martin Bubers mit dem Bonner Neutestamentler Karl Ludwig Schmidt im Jüdischen Lehrhaus in Stuttgart am 14. Januar
1933. Buber zeichnet sein Bild von der christlichen Kirche so:
»Die Kirche steht auf dem Glauben an das Gekommensein Christi, als an die der Menschheit
durch Gott zuteil gewordene Erlösung. Wir Israel vermögen das nicht zu glauben. […] Wir
spüren die Unerlöstheit der Welt. Eben dieses unser Spüren kann oder muß die Kirche als das
Bewußtsein unserer Unerlöstheit verstehen. Aber wir wissen es anders.
Erlösung der Welt ist unverbrüchlich eins mit der Vollendung der Schöpfung, mit der Aufrichtung der durch nichts mehr behinderten, keinen Widerspruch mehr erleidenden, in all der
Vielfältigkeit der Welt verwirklichten Einheit, eins mit dem erfüllten Königtum Gottes. Eine
Vorwegnahme der vollzogenen Welterlösung zu irgend einem Teil, etwa ein Schonerlöstsein
der Seele, vermögen wir nicht zu fassen, wiewohl sich auch uns, in unsern sterblichen Stunden, Erlösen und Erlöstwerden kundtut. Eine Zäsur nehmen wir in der Geschichte nicht wahr.
Wir kennen [in] ihr keine Mitte, sondern nur ein Ziel, das Ziel des Weges Gottes, der nicht
innehält auf seinem Weg.« 9
Buber rückt diese Unterscheidung in den Mittelpunkt, obwohl dies mit den Kennworten des Dialogs »Kirche, Staat, Volk, Judentum« nicht vorgesehen war.
Schmidt antwortete: Auch wir Christen sehen
»wie die Juden auf das Ende. Aber wir wagen das nur auf Grund der Tatsache, daß Gott in
Jesus Christus das Ende schon heraufgeführt hat. Von der Ankunft Jesu Christi am Ende der
Tage sprechen wir nur als von einer zweiten Ankunft, seiner Wiederkunft.« 10
Schmidt beschränkt sich hier auf ein Geschichtsbild: Jesus Christus als Ende oder
Wende der Geschichte. Dies ist eine Redeweise, die in neuzeitlicher christlicher
Theologie geläufig geworden ist. 11
Die Auffassung, Jesus Christus sei das Ende der Geschichte, bezieht sich dagegen
in der Heilsgeschichtlichen Theologie des 19. Jahrhunderts (J. C. K. von Hofmann,
C. E. Luthardt, J. T. Beck, C. A. Auberlen u. a.) grundsätzlich auf die erwartete Parusie Christi; faktisch herrscht allerdings auch dort die Anschauung vor, die gesamte
Zeitspanne seit dem Kommen Christi in die Welt und vor seiner Wiederkunft sei als
»Zeit der Kirche« die Endzeit. Mit diesem Zeit- und Geschichtsverständnis wenden
sich eine Generation später namhafte Dogmatiker verschiedener theologischer Richtungen (z. B. I. A. Dorner, A. E. Biedermann, J. Kaftan) ausdrücklich gegen das (alttestamentliche) Judentum.
9. Kirche, Staat, Volk, Judentum, in: K. L. Schmidt, Neues Testament – Judentum – Kirche. Kleine
Schriften, hg. von G. Sauter (TB 69), München 1981, 149–165, Zitate: 158 f.
10. Schmidt, 164.
11. Zum Beispiel: R. Bultmann, Geschichte und Eschatologie, Tübingen 1958, 49: «… die Geschichte
hat ihr Ende erreicht, weil Christus das Ende des Gesetzes ist (Röm. 10,4).« – F. Gogarten, Jesus
Christus Wende der Welt. Grundfragen zur Christologie, Tübingen 1966.
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Was bedeutet die Rede von Christus als »Ende der Geschichte« für die Auffassung
vom Fortgang der Geschichte? Wie kann überhaupt rückblickend von einem »Ende«
gesprochen werden? Was ist danach geschehen, das dieses Ende nicht hinter sich
gelassen hätte? Oder handelt es sich gar nicht nur um einen Rückblick? Doch wenn
nicht – um welche Blickrichtung dann? Jedenfalls tritt infolge dieser Redeweise die
Erwartung Jesu Christi als des »Kommenden« merkwürdig zurück. Und dies wirft
die Frage auf, wie lebendig diese Hoffnung in Kirche und Theologie wirklich ist.
Lediglich eine Aussicht dürfte sie ja doch nicht sein! Oder wird die Erwartung des
Kommens Christi etwa nur rezitiert, im Anschluss an die Formulierung im sog.
Apostolischen Glaubensbekenntnis? Dort wird im zweiten Artikel von dem auferstandenen Jesus Christus gesagt, er sitze an Gottes rechter Seite als Mitregent,
»von dort wird er kommen zu richten die Lebendigen und die Toten«. Gemeint ist
damit, dass Christus seit seiner Auferstehung herrscht und dass diese Herrschaft
über alle Welt offenbar werden wird. Im Blick auf das, was in Kirche und Theologie
heute gang und gäbe ist, stellt sich jedoch die Frage: Ist diese Gewissheit wirklich das
primum movens des christlichen Bekenntnisses zur Hoffnung?
Unvergesslich bleibt mir ein Gespräch mit dem Philosophen Ernst Bloch, der mich
1963 fragte, warum jüngere Theologen (er erwähnte Jürgen Moltmann und Wolfhart Pannenberg) sich so sehr mit der Auferstehung Jesu beschäftigten und sich darum kümmerten, wie das Ostergeschehen wirkungsgeschichtlich nachgewiesen werden könne. Zu seiner Studienzeit hätten die führenden Theologen (Bloch dachte vor
allem an Adolf von Harnack und Ernst Troeltsch) viel eher die Frage nach dem historischen Jesus im Visier gehabt. Beides aber – so fuhr Bloch fort – überzeuge ihn
überhaupt nicht. Viel entscheidender sei doch, ob Jesus von Nazareth als der Kommende erwartet würde und wie sich diese Hoffnung zeige. Hoffnung könne allein
messianisch verstanden und nur so auch wahrhaft gelebt werden.
Seit zwei, drei Jahrzehnten hat sich in dieser Hinsicht manches in der christlichen
Theologie verändert, zwar nicht gerade für die Erwartung Jesu Christi, aber in einer
Annäherung von Christologie und Messianismus: in der Hoffnung auf eine künftige
Erlösung, mit oder ohne Erlösergestalt; diese Annäherung ist allerdings oft nur vordergründig. 12 Dem Kreuzesruf Jesu entgegen – »entgegen« im Widerspruch oder auf
ihn hin? – heißt es auf dem Kreuzweg von Menschen: »Es ist noch nicht vollbracht.« 13 Darauf müssen wir zurückkommen.
Lassen wir uns von Martin Buber daran erinnern, dass sich an dem Kennwort
»Erlösung« Juden und Christen scheiden, und zwar nicht nur in ihrer Sicht der Geschichte, sondern in ihrer Hoffnung auf die Vollendung der Schöpfung. 14 Auf diese
Beobachtung geht Schmidt nicht ein, obwohl er zweifellos viel dazu zu sagen gehabt
hätte. Dies könnte symptomatisch sein: Dass Buber im Zusammenhang von »Kirche, Staat, Volk, Judentum« so zentral auf »Erlösung« zu sprechen kommt, während
Schmidt das Thema nicht einmal streift, lässt vermuten, dass für Schmidt »Erlösung« in einer anderen Dimension zu suchen ist und sich in anderer Gestalt zeigt
12. Bei J. Moltmann, Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen, München
1989, fehlt jeder Hinweis auf Joh 19,30. – Moltmann möchte lieber von der »Wiedergeburt des
messianischen Denkens im Judentum« ausgehen, das auch in der Messiasgewissheit Jesu zum Ausdruck komme: Ders., Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh 1995, 47–64.
13. Zum Beispiel: P. Bleeser/U. Seidel/H.-G. Ziebertz (Hg.), Es ist noch nicht vollbracht. Werkbuch
zum Jugendkreuzweg, Düsseldorf 1987.
14. Buber in: Schmidt, 158.
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als für Buber. Diese Divergenz geht allerdings nicht auf unterschiedlich ausgeprägtes
Interesse an Politik zurück. Politisch engagiert war Schmidt eher noch stärker als
Buber; als Sozialdemokrat verlor er als erster Bonner Theologe bereits 1933 seinen
Lehrstuhl.
Hier sei nur festgehalten, dass Buber das Schema »Schon Jetzt/Noch Nicht« benutzt, gleichbedeutend mit »Mitte/Ziel der Geschichte«, verbunden mit einem anderen Gegensatzpaar: »Schonerlöstsein der Seele/Welterlösung«.
2. Eine Rekonstruktion der »messianischen Idee im Judentum«
Ein Vierteljahrhundert später rückt Gershom Scholem das Verständnis von »Erlösung« als Trennungselement in den Vordergrund:
»Das Judentum hat, in allen seinen Formen und Gestaltungen, stets an einem Begriff von Erlösung festgehalten, der sie als einen Vorgang auffaßte, welcher sich in der Öffentlichkeit vollzieht, auf dem Schauplatz der Geschichte und im Medium der Gemeinschaft, kurz, der sich
entscheidend in der Welt des Sichtbaren vollzieht und ohne solche Erscheinung im Sichtbaren
nicht gedacht werden kann. Demgegenüber steht im Christentum eine Auffassung, welche die
Erlösung als einen Vorgang im geistigen 15 Bereich und im Unsichtbaren ergreift, der sich in der
Seele, in der Welt jedes einzelnen, abspielt, und der eine geheime Verwandlung bewirkt, der
nichts Äußeres in der Welt entsprechen muß.« 16
Dies dürfte ein typisches Beispiel für ein Selbstbild sein, das als Gegenbild des Fremden seine Kontur erhält. Doch auf welche Phänomene bezieht sich das Bild des Anderen? Inwiefern wird aus der Selbstwahrnehmung das, was in ihr verneint und aus
ihr ausgegrenzt werden soll, nur auf den Anderen projiziert? Oder umgekehrt: Was
am Anderen gesehen wird, kann derart anziehend erscheinen, dass es zu einer neuen
Selbstbestimmung herangezogen wird. So wird heute die messianische Auffassung
der »Erlösung auf dem Schauplatz der Geschichte und im Medium der Gemeinschaft« von vielen Theologen und Theologinnen im christlich-jüdischen Gespräch
der eigenen Eschatologie einverleibt, um sich auf eine gemeinsame Basis der Hoffnung zu stützen. Zugleich soll dies von dem Vorwurf befreien, gegen die Hoffnung
auf Welterlösung geglaubt und dadurch der Unterdrückung und sogar der Vernichtung von Juden Vorschub geleistet zu haben.
Eine Selbstwahrnehmung, die sich mit Hilfe von Fremdwahrnehmungen und Gegenbildern reinigen oder sich mit deren Hilfe stabilisieren will, führt jedoch zwangsläufig zu Zerrbildern, die gefährliche Nebenwirkungen haben können, für andere
und für den Betrachter selbst.
Ich kehre zu Scholems Kontrastbild zurück: Auf jüdischer Seite ein Leben in der
Hoffnung und aus Hoffnung allein, ein Leben, das alles Entscheidende von der Zukunft erwartet und deshalb sich mit nichts zufriedengibt, was nur den einzelnen
befriedigen könnte – dort, im Christentum, das Gefühl, bereits erlöst zu sein, aber
um den Preis einer Verinnerlichung und Subjektivierung. Der jüdische Religionssoziologe sieht den wesenhaften Unterschied im Verhältnis von Individuum und Ge15. In einem Wiederabdruck seines Aufsatzes »Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum« (s. u. Anm. 16) in: G. Scholem, Über einige Grundbegriffe des Judentums (stw 414), Frankfurt/M. 1970, 121 ändert Scholem »geistig« in »geistlich«, versteht dies allerdings als Phrase.
16. Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, in: Ders., Judaica I, Frankfurt/M. 1963,
7–74, Zitat: 7 f.
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meinschaft, dem diametral unterschiedliche Verhaltensweisen entsprechen: Der
Christ brauche sich letztlich um nichts mehr zu kümmern, was in der sozialen Welt
vor sich geht, jedenfalls betreffe dies nichts, was seine Erlösung angeht – die jüdische
Erwartung kenne dagegen keine individuelle Rettung bei Fortbestand einer verkehrten Welt, und das bedeutet: solange das jüdische Volk noch leiden muss, noch kein
endgültiges Heimatrecht gefunden hat, noch immer nicht sein soziales Leben ungestört, allein von Gott her, ordnen kann. Das Schema lautet jetzt: Öffentlich-VolkSichtbar versus Geistig (geistlich)-Individuum (Seele)-Unsichtbar.
Zwischen den erstgenannten beiden Äußerungen aus dem Zwiegespräch zwischen
Martin Buber und Karl Ludwig Schmidt und dem Diktum Gershom Scholems sind
nur 26 Jahre vergangen, doch der Tonfall hat sich entscheidend verändert. 17
Scholem blickt auf die Gründung des Staates Israel zurück, die von vielen Juden
und Jüdinnen als Erlösung erlebt und auch so zur Sprache gebracht wurde: Die Zeit
der Zerstreuung des jüdischen Volkes, der Diaspora, ist zu Ende. Arnold Schönberg
hat in seiner Vertonung von Ps 130 (De Profundis, op. 50b) den Schlussvers: »Ja, er
wird Israel erlösen von allen seinen Sünden« (V. 8) nicht mehr als Verheißung verstanden (eine Verheißung, die auch in der Ankündigung der Geburt Jesu bei Mt 1, 21
aufgenommen wird). Bei Schönberg erscheint die Verheißung in der Gründung des
Staates Israel bereits als erfüllt. Hier ist Erlösung geschehen, und nun kann sie geradezu triumphal erklingen. Damit wird evident, wie »Erlösung« aufgefasst werden
soll: gehört mit einem Jubelton darüber, dass ein jahrhundertelanges Leben in der
Hoffnung zum Ziel gekommen und damit ein neuer Anfang geschaffen worden ist.
Scholem deutet allerdings auch an, »daß die Bereitschaft zum unwiderruflichen Einsatz aufs Konkrete, das sich nicht mehr vertrösten will, eine aus Grauen und Untergang geborene Bereitschaft, die die jüdische Geschichte erst in unserer Generation
gefunden hat« 18 , ein gefährliches Risiko auf sich nehmen musste: Nun gilt es, nicht
mehr nur in der Hoffnung zu leben, sondern den Anspruch auf das eigene Land, auf
den eigenen Staat als realisierte Erwartung einzulösen.
Was wird dies fortan für den Charakter jüdischer Hoffnung bedeuten: mehr und
anderes als das Beharren auf einem staatspolitischen status quo? Dies ist ein Problem,
welches die christlichen Kirchen im Verhältnis zur politischen Verfassung ihrer Umwelt immer wieder bedrängt hat. Ich erinnere nur an die Idee des christlichen Staates
im 19. Jahrhundert 19 und an Hegels Staats- und Religionsphilosophie. Es dürfte kein
Zufall sein, wie Hegel hier das Judentum verzeichnete: »Das jüdische Volk ist es, das
sich Gott als den alten Schmerz der Welt aufbewahrt hat« 20 . Hegel hielt dem Judentum vor, in einem unversöhnten Status der Welt verblieben zu sein, indem es annahm,
dass Gott in Distanz zur Welt verharre. Dagegen verstehe sich das Christentum aus der
Versöhnung Gottes mit der Welt in Jesus Christus. Den »alten Schmerz der Welt« habe
die Versöhnung ein für alle Mal überwunden, und dieser überwundene Schmerz
konnte in der christlich geprägten Geistesgeschichte zum Zuge kommen. Diese Ge17. Zu weiteren Differenzen zwischen Buber und Scholem vgl. dazu K. S. Davidowicz, Gershom
Scholem und Martin Buber. Die Geschichte eines Mißverständnisses (NTDH 5), Neukirchen-Vluyn 1993.
18. Scholem, 74.
19. Vertreten vor allem von F. J. Stahl, Philosophie des Rechts, 3 Bde., Heidelberg 1830–1837, 3 1878
= Darmstadt 1963.
20. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, in: Ders., Werke, hg. von
E. Moldenhauer/K. M. Michel, Bd. 17, 184.
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schichte sei ein Kampf um die Erhaltung der Versöhnung in allen Lebensbereichen. 21
Hegel leitet daraus in seiner Religions-, Rechts- und Staatsphilosophie die Aufgaben
ab, die geistesgeschichtlich, ethisch und politisch erfüllt werden müssten. In seinen
Frühschriften hatte Hegel – der junge Johann Gottlieb Fichte dachte ähnlich – als Gegenbild die jüdische Religion als Typus eines falschen, weil unversöhnten Bewusstseins geschildert, das auf die Verkehrtheit der Welt starrt. 22 Dies ist ein weiteres Wahrnehmungsmuster, das wir kritisch durchleuchten müssen. Es hat dazu beigetragen,
das Judentum zur Vorstufe zum Christentum herabzusetzen.
Doch – was ist seither geschehen! Das christliche Selbstbewusstsein, wie es sich bei
Hegel und denen, die ihm gleich gesinnt waren, aussprach, ist weithin einer Resignation oder zumindest der Skepsis gewichen. Was im letzten Jahrhundert Juden angetan wurde, himmelschreiend in Auschwitz und an anderen Orten, erscheint als
unüberhörbarer Widerspruch gegen eine bereits geschehene Erlösung, auch gegen
eine geschichtsbestimmende Versöhnung, und Christen haben diesen Widerspruch
zumindest nicht verhindert, wenn sie ihn nicht gar beförderten.
Die Fronten erscheinen nun vertauscht: Das Judentum blickt auf eine Wende zurück, auf das Ende einer unheilvollen Epoche seiner Volksgeschichte. Nunmehr kann
»Israel« zum eschatologischen Licht für die Völker werden, weil sein Staatswesen
die Erfahrungen vieler, vieler leidgeprüfter Generationen in Solidarität, Toleranz und
kulturelle Vielfalt umzuprägen vermag. Der Christenheit wird vorgehalten, ein politisch mangelhaftes oder zumindest wirkungsloses Erlösungsverständnis zu pflegen,
womöglich sich in eine Innerlichkeit zu verkriechen, die sich mit Hass auf alles Andersartige verbünden kann oder die Ausgrenzung Anderer in mitschuldigem Verschweigen hinnimmt. Der Anspruch, bereits erlöst zu sein, habe sich – so heißt es
dann – mit dem geschichtlichen Versagen des Christentums von selber erledigt.
Darauf haben viele Christinnen und Christen mit wachsender Empfindlichkeit für
die Schwächen einer verinnerlichten Erlösung reagiert. Die Einsicht in eigene Mitschuld an menschheitsgeschichtlichen Katastrophen löste ein Umdenken aus, das
weiteres Fehlverhalten vermeiden sollte. Beispielsweise trat Helmut Gollwitzer unermüdlich dafür ein, die vielberufene und vielgescholtene »christliche Innerlichkeit«
zugunsten der tätigen Hoffnung auf Welterlösung abzuschütteln. Und weil er diese
Umorientierung in evangelischer Kirche und Theologie auf dem Vormarsch sah,
nannte er Scholems Zeichnung christlicher Theologie ein Zerrbild, das jedenfalls
heute nicht mehr zutreffe. Scholem erwidert ihm, das Schon-Erlöstsein der Seele sei
jahrhundertelang den Juden von Christen als Trennungszeichen vorgehalten worden. Diese Auffassung habe nachweislich christliches Denken geprägt, zumal das
anmaßende Verhalten gegenüber Juden, wie es gerade auch in der Theologie verbreitet gewesen sei. Wenn christliche Theologen dies nun nicht mehr so sehen wollten
und sogar die jüdische Auffassung von Erlösung übernähmen, sei dies – so fährt
Scholem fort – zwar schön und gut. Seien sich christliche Theologen aber über die
Konsequenzen wirklich im Klaren? Die »Formeln und Sentenzen, mit denen man
den Juden so lange auf den Leib gerückt ist«, würden »an ihrer eigenen Dialektik
21. Weiteres dazu bei P. Cornehl, Die Zukunft der Versöhnung. Eschatologie und Emanzipation in der
Aufklärung, bei Hegel und in der Hegelschen Schule, Göttingen 1971. – J. Gebhardt, Politik und
Eschatologie, 1963. Studien zur Geschichte der Hegelschen Schule in den Jahren 1830–1840,
München 1963.
22. Vgl. H. J. Zeller, Religionsphilosophische Studien zur Kontinuität des Problems der Negativität als
geschichtliche Erfahrung, philosophische Dissertation Köln 1975.
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zerplatzen« 23 . – Wie dies zu verstehen ist, führt Scholem nicht weiter aus. Aus seiner
Bewertung lässt sich schließen, dass die Selbstbehauptung einer »wesentlich innerlichen ›geistlichen‹ Natur der Erlösung« 24 an der historischen Realität scheitern muss.
Auch die Dialektische Theologie, die jeden Stolz auf menschliches Erlöstsein radikal
ablehnt, werde unter ihren eigenen Widersprüchen zusammenbrechen, weil sie der
Erlösungsbedürftigkeit der Welt nicht Rechnung trage. 25
Bultmanns doppelbödiger Geschichtsbegriff dürfte ein Musterbeispiel für eine
Selbstwahrnehmung sein, die durch das Fremdbild der Auffassung eines Eschaton,
das historisch festgestellt werden könnte, mitgeprägt ist. Denn sie verzichtet darauf,
sich auf Gedeih und Verderb für die Erlösung einzusetzen, die nur gemeinschaftlich
und geschichtlich erreicht werden könne.
II. Wandlungen in der Auffassung von »Erlösung«
Dieser status quaestionis ist zu bedenken, wenn nun – in einem zweiten Durchgang –
notiert werden soll, wie tiefgreifend die Auffassung von »Erlösung« sich zu wandeln
beginnt. Dies geschieht, wenn ich recht sehe, vor allem auf christlicher Seite, und hier
vergleichsweise stärker im Protestantismus als im Katholizismus. Das christlich-jüdische Gespräch spielt dabei eine wichtige Rolle, für viele ist es sogar ausschlaggebend. Es müssen jedoch auch andere Faktoren in Rechnung gestellt werden, auf
evangelischer Seite vor allem die Abkehr von der Religionsphilosophie des Deutschen Idealismus und seinem sublimierten Erlösungsverständnis.
Ist es ein Wandel durch Annäherung? Es wäre eine Annäherung, die dadurch erreicht wird, dass die Konnotation »Hoffnung auf Erlösung verwirklicht durch Aufhebung der unerlösten Welt« zusammenführt, weil sie eine gemeinsame Handlungsmotivation ergibt.
Für die Mutation im Reden von »Erlösung« seien zwei bezeichnende Belege genannt.
1. Hoffnung auf Weltvollendung
Die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland erweiterte am 10. Januar
1996 ihre Kirchenordnung um den Satz:
23. G. Scholem, Nachbemerkung. Aus einem Brief an einen protestantischen Theologen, in: Über einige Grundbegriffe des Judentums, 169–170, Zitat: 170. H. Gollwitzer wird zwar nicht genannt,
meine Vermutung, dass er gemeint gewesen sei, ist mir aber von Gollwitzer bestätigt worden. –
Vgl. dazu auch F.-W. Marquardt, Hermeneutik des christlich-jüdischen Verständnisses. Über Helmut Gollwitzers Arbeit an der »Judenfrage«, in: A. Baudis/D. Clausert/V. Schliski/B. Wegener
(Hg.), Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens. FS H. Gollwitzer, München 1979, 138–154,
hier: 143 mit Anm. 15.
24. Scholem, 169.
25. Als ein Beleg könnte genannt werden: Bultmann (s. Anm. 11), 180 f.: »Es ist die Paradoxie der
christlichen Verkündigung bzw. des christlichen Glaubens, daß das eschatologische Geschehen
nicht echt in seinem eigentlichen Sinne verstanden ist […], wenn es als ein Geschehen aufgefaßt
wird, das der sichtbaren Welt ihr Ende setzt in einer kosmischen Katastrophe, sondern daß es ein
Geschehen innerhalb der Geschichte ist, anhebend mit dem Auftreten Jesu von Nazareth, sich
weiter vollziehend im Laufe der Geschichte, – aber nicht als eine historisch festzustellende Entwicklung, sondern jeweils Ereignis werdend in Verkündigung und Glaube.«
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»Sie [die Evangelische Kirche im Rheinland] bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung
seines Volkes Israel festhält. Mit Israel hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde.« 26
Dieser Zusatz sollte die geltende Kirchenordnung erweitern; er versteht sich als Bestandteil des Bekenntnisses »zu Jesus Christus, dem Fleisch gewordenen Wort Gottes, dem für uns gekreuzigten, auferstandenen und zur Rechten [Gottes] erhöhten
Herrn, auf den sie wartet«. Nur daraufhin kann sich die Kirche auch zur Treue Gottes bekennen und von ihrer Hoffnung sprechen.
In den Diskussionen, die diesem Synodalbeschluss vorangingen, spielte jedoch die
Christuserwartung keine maßgebende Rolle mehr. Es hat fast den Anschein, als sei
sie nur noch ein Stück christlicher Tradition, die bekenntnistreu rezitiert wird. Doch
sie prägt die Hoffnung von Christen nicht mehr, jedenfalls nicht mehr so, dass sie
einer Vereinigung von Juden und Christen in der Hoffnung im Wege stehen müsste.
»Mit Israel hoffen« bedeutet nunmehr: zusammen gehen im Blick auf die Weltvollendung. Diese soll den perspektivischen Fluchtpunkt gemeinsamer Hoffnung bilden.
Doch gerade hier müssen wir genauer hinsehen. In der Christenheit hat sich weitgehend ein geschichtlich-prozessuales Verständnis von »Heil« und »Erlösung«
durchgesetzt 27 , das sich im Gleichschritt oder zumindest Gleichklang mit Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung versteht: diese gelten als universale
Handlungsziele. Doch gerade dafür sollte sich niemand auf jüdisches Hoffnungserbe
berufen. Wie sollte er denn vermeiden, dass alte Vorurteile gegen Juden wieder aufgewärmt werden? Ein solches Vorurteil dürfte unvermeidlich auftauchen, wenn die
jüdische Auffassung von Erlösung nur als eine diesseitig-geschichtliche eingeschätzt
und gerade deshalb als maßgebend betrachtet wird. Dies aber entspricht nicht der
Tiefe und Spannweite jüdischer Erwartung des Redens und Handelns Gottes, der
Heimsuchung seines Volkes in all seiner Anstrengung für ein Leben in Gerechtigkeit
und im Gehorsam gegenüber Gottes ausgesprochenem Willen.
2. Die Unerlöstheit der Welt
Eingeprägt hat sich der Eindruck der Unerlöstheit der Welt. Dazu haben sich vier
prominente jüdische Historiker und Theologen aus den USA und Kanada geäußert.
In ihrem »Statement on Christians and Christianity« Dabru Emet (Redet Wahrheit),
veröffentlicht im September 2000, lautet der letzte Gesichtspunkt28 :
26. Verhandlungen der 45. ordentlichen rheinischen Landessynode, Tagung vom 7. bis 11. Januar
1996 in Bad Neuenahr, statt Handschrift gedruckt, o. O. o. J. [Büro der Landessynode, 1996],
88–94. – Wieder abgedruckt in: K. Kriener/J. Michael Schmidt (Hg.), Gottes Treue – Hoffnung
von Christen und Juden. Die Auseinandersetzung um die Ergänzung des Grundartikels der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland, Neukirchen-Vluyn 1998, 81.
27. M. Seils, Artikel »Heil und Erlösung IV. Dogmatisch«, in: TRE 14, Berlin/New York 1985, 622–
637, bes. 634 f.
28. »Jews and Christians must work together for justice and peace. Jews and Christians, each in their
own way, recognize the unredeemed state of the world as reflected in the persistence of persecution, poverty, and human degradation and misery. Although justice and peace are finally God’s, our
joint efforts, together with those of other faith communities, will help bring the kingdom of God
for which we hope and long. Separately and together, we must work to bring justice and peace to
our world. In this enterprise, we ware guided by the vision of the prophets of Israel:
It shall come to pass in the end of days that the mountain of the Lord’s house shall be established at
the top of the mountains and be exalted above the hills, and the nations shall flow unto it … and
many peoples shall go and say, ›Come ye and let us go up to the mountain of the Lord to the house of
the God of Jacob and He will teach us of His ways and we will walk in his paths.‹ (Isaiah 2:2–3)«
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Eine gemeinsame Hoffnung von Juden und Christen?
355
»Juden und Christen müssen für Gerechtigkeit und Frieden zusammenarbeiten. Juden und
Christen erkennen, jede auf ihre Weise, die Unerlöstheit der Welt, wie sie sich in fortdauernder Verfolgung, Armut, Erniedrigung und Verelendung von Menschen zeigt. Obwohl Gerechtigkeit und Frieden letzten Endes Gottes Sache sind, werden unsere gemeinsamen Anstrengungen, zusammen mit denen anderer Glaubensgemeinschaften, dazu verhelfen, das Reich
Gottes herbeizuführen, das wir erhoffen und ersehnen. Jeder für sich und gemeinsam müssen
wir daran arbeiten, Gerechtigkeit und Frieden in unsere Welt zu bringen. In dieser Aufgabe
werden wir durch die Vision der israelischen Propheten geleitet:
›Es wird geschehen in den letzten Tagen, da wird der Berg mit dem Hause des Herrn festgegründet stehen an der Spitze der Berge und die Hügel überragen; und alle Völker werden zu
ihm hinströmen, und viele Nationen werden sich aufmachen und sprechen: Kommt, laßt uns
hinaufziehen zum Berge des Herrn, zu dem Hause des Gottes Jakobs, daß er uns seine Wege
lehre und wir wandeln auf seinen Pfaden.‹ (Jes 2,2–3).« 29
Die Zionsverheißung begründet also die gemeinsame Hoffnung von Juden und
Christen, bezogen darauf, dass beide Religionsgemeinschaften, »jede auf ihre Weise«, die Unerlöstheit der Welt erkennen und sich ihr stellen.
Die Unerlöstheit der Welt in Unterdrückung von Menschlichkeit, in Ausgrenzung
von Anderen, in Missachtung elementarer Lebensbedürfnisse und in mannigfachen
Formen von Unversöhnlichkeit: dies ist heutzutage eine weitverbreitete Sicht, nicht
nur für Juden und Christen. Es dürfte auch weitgehendes Einverständnis darüber
bestehen, dass diese Verfehlungen mit allen Kräften überwunden werden müssen.
Und diese moralische Verpflichtung sollte hinreichen, um gemeinsam auf dieses Ziel
hin zu wirken. Wie viel wiegen – so mag mancher fragen – dann noch die Motivationen, die auf jüdischer und christlicher Seite verschieden lauten und notfalls auch
unterschiedlich geprägt sind, wenn doch die Handlungen auf ein und dasselbe Hoffnungsziel hinauslaufen?
Dies sind jedoch nicht die Fragen, die – wenn ich recht sehe – zum Gespräch von
Juden und Christen anstehen. Vielmehr sind dies Fragen wie: Was heißt »Erlösung«?
Was bedeutet, ihrer gewärtig zu sein? Vor allem: Wer kann erlösen?
Ich kann hier nur versuchen, einige Gesichtspunkte zu nennen, die für christliche
Theologie maßgebend sind und entscheidend bleiben sollten.
Von »Erlösung« kann sie nicht sprechen, ohne auf Jesus Christus als den Erlöser
zu blicken. In seiner Gestalt werden wir »Erlösung« gewahr: sie zeigt sein Gesicht.
29. Die Zeitschrift Zeitzeichen hat unter der Rubrik »Dokumentation« eine Übersetzung von
C. Münz abgedruckt, welche die Erklärung Dabru Emet verkürzt . Der letzte Vergleichspunkt liest
sich dort so:
»Juden und Christen müssen sich gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen. Getrennt
und vereint müssen wir daran arbeiten, unserer Welt Gerechtigkeit und Frieden zu bringen. In
dieser Bemühung leitet uns die Vision der Propheten Israels [folgt Jes 2,2 f.].« (Eine jüdische Stellungnahme zu Christen und Christentum: Zeitzeichen 2 [7/2001], 43)
Obwohl andere Auslassungen in der Übersetzung an sechs Stellen markiert sind, wird die Auslassung des zweiten und dritten Satzes des letzten Punktes der Erklärung nicht markiert.
Selbst wenn man editorische Zwänge veranschlagt (der Text sollte offensichtlich die Länge einer
Druckseite nicht überschreiten), ist diese unausgewiesene Kürzung doch Anlass, nicht nur ein Versehen zu vermuten, das allerdings signifikant genug wäre. Auch eine inhaltliche Rückfrage gilt es
zu stellen: Ist das Erfordernis zur Zusammenarbeit so evident, dass der Hinweis auf die je eigene
Wahrnehmung der Unerlöstheit der Welt bzw. auf die cooperatio Gottes und der Menschen überflüssig erscheint, ja vielleicht sogar stören könnte? Welche Funktion erhält der biblische Text in
diesem neu geschaffenen Zusammenhang, in dem von Erlösung, von Gott und Gottes Handeln
aber überhaupt nicht mehr gesprochen wird?
Eine vollständige Übersetzung wurde in EvTh 61 (2001), 334–336 veröffentlicht.
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356
Gerhard Sauter
Wir kennen keine »Gestalten«, keine Konfigurationen, der Erlösung abgesehen von
seiner Gestalt: anders als im Gedenken an das, was er vollbracht hat, und in der Erwartung dessen, was er zu vollbringen verheißen hat. Insofern dürfen wir – jedenfalls
als Christen – unter keinen Umständen »Erlösung« vom »Erlöser« trennen. Denn dies
würde bedeuten, das Handeln Christi von ihm als Person ablösen zu wollen.
Wenn Jesus ausruft: »Es ist vollbracht!«, dann ist dies sein letzter Ruf auf dem Wege
seines Gehorsams. Damit zieht er nicht die Summe seiner Lebenswerkes. Denn was
hat Jesus eigentlich »geschafft«? Er hat »durch Leiden Gehorsam gelernt« (Hebr 5,8),
er hat Gehorsam vollbracht. Der Weg des Gehorsams war es, Gottes Willen geschehen
zu lassen, ihm Raum zu lassen, und zwar entgegen menschlichem Eigensinn, und sei
dieser noch so fromm und seiner religiösen Ziele gewiss. Solch menschlicher Eigenwille, der zu wissen meint, was Gott im Sinn hat und was demzufolge auszuführen ist,
bringt Jesus von Nazareth ans Kreuz. Jesus Christus hat die Unterscheidung (nicht die
Trennung!) von Gottes Willen und menschlichem Wollen vollbracht. Sein Gehorsam
hat keinen göttlich gegebenen Handlungsplan ausgeführt. Erlösung am Kreuz auf
Golgatha heißt: sich Gottes Handeln »gefallen lassen«.
Dies kann sich weiter aussprechen in der Befreiung von der Selbstgerechtigkeit, in
der Erkenntnis des unfreien Willens und in der gewährten Unterscheidung zwischen
dem, was Gott sich zu tun vorbehält, und dem, was er uns zu tun gibt.
Die Geschichte der Kirche ist ein unaufhörliches – und oft gescheitertes – Bemühen darum, sich an Jesus Christus als Erlöser in allen Lebenssituationen zu halten,
sich von der Erlösung, die er vollbracht hat, umfangen zu lassen und ihm auf dem
Weg seines Gehorsams zu folgen. Das Leben in der Kraft des Erlösers und mit ihm
bleibt aber Hoffnung auf die »Erlösung des Leibes«, wie Paulus sagt (Röm 8,23):
nicht die Erlösung vom Leibe, von den körperlichen Daseinsbedingungen, sondern
die Verwandlung der Leiblichkeit in Gottes Doxa, die Strahlkraft seines himmlischen Glanzes hinein.
Für dieses Leben »zwischen den Zeiten« (oder, wie Paulus formuliert: »im Geist«
Gottes, dem Unterpfand der erhofften Erlösung) hat sich in der christlichen Theologie
die Bezeichnung »Versöhnung« eingebürgert. Auch »Versöhnung« ist kein innerer
oder äußerer Zustand, sondern Gottes Werk in Jesus Christus (2. Kor 5,19). Mit ihm
hat Gott ein durch Menschen heillos zerstörtes Verhältnis wieder aufgerichtet: und
zwar so, dass Menschen im Namen Christi gebeten werden, sich mit Gott versöhnen
zu lassen (2. Kor 5,20) und daraufhin auch miteinander versöhnt werden. Versöhnung ist auf die eschatologische Erlösung ausgerichtet. Als Versöhner steht Jesus
Christus zwischen Juden und Christen – aber nicht, um sie voneinander zu trennen.
Wie werden Juden der Erlösung gewahr bzw. wie sprechen sie davon, wie – so
deutete Martin Buber es an – sie sich ihnen kundtut? Aus seiner Skizze können wir
ersehen, dass das Königtum Gottes, sein Reich, sich bereits Bahn bricht, wohl nicht,
um die Entwicklung zu einer besseren Welt anzubahnen, sondern indem Menschen
einwilligen in Gottes Gerechtigkeit und den Frieden, der Gottes Sache ist und bleibt.
In Gottes Willen einzuwilligen: dies ist es doch, was Juden und Christen zusammenführt, und zwar mit der Frage, wie diese Einwilligung ermöglicht wird und worauf
sie sich richtet.
Erkenntnis der Unerlöstheit der Welt: Wenn dies mehr und etwas anderes sein
soll, als die Misere zu konstatieren, die uns tagtäglich in die Augen springt, dann
müssen wir fragen, wie diese Erkenntnis beschaffen ist und aus welchen Quellen sie
stammt. Sonst brauchten wir jüdische und christliche Theologie gar nicht mehr mitUnauthenticated
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Eine gemeinsame Hoffnung von Juden und Christen?
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einander ins Gespräch zu bringen, sondern könnten gleich zu einer universalen Sozialethik übergehen. Dies würde aber die Erkenntnis der Wirklichkeit verkürzen statt
sie auf den Weg zu bringen.
III. Resümee
In einem dritten Durchgang möchte ich einige Zwischenergebnisse unserer bisherigen Arbeit an diesen Fragen skizzieren. Dabei unterscheide ich den Anspruch, den
die bisher vorherrschende Diskussionslage erhebt – nämlich einen weitgehenden
Konsens von Juden und Christen zu erreichen –, von dem tatsächlichen Stand dieses
Gespräches oder wenigstens von Ansätzen dazu.
1. Keine falschen Alternativen!
Die oben genannten Wahrnehmungsmuster und Konstruktionsschemata erweisen
sich bei näherer Überprüfung als äußerst fadenscheinig – ganz abgesehen davon,
dass sie Abstraktionen sind mit unkontrollierbaren Nebenwirkungen.
Diese Schemata beschäftigen das Judentum in der Gegenwart, z. B. angesichts der
Versuche, aufgrund der »großen Uneinigkeit in der Messiasfrage […] die Grundzüge
eines feststellbaren Konsens überlieferter und vertretener Auffassungen mit all seinen
Dichotomien des Entweder – Oder oder Sowohl – Als-auch« 30 zusammenzufassen.
»Die Dichotomie von ›Hier und Jetzt‹ einerseits und ›Zukünftig‹ oder am ›Ende der Tage‹
andererseits muß durchbrochen werden.« 31
Dem entspricht die Einsicht:
»Die Grunddifferenz zwischen Judentum und Christentum kann nicht durch die Dominanz
des Noch-nicht-da und des Schon-jetzt bezeichnet werden, im Sinne von: dort die erwartete
Zukunft, hier die erfüllte Gegenwart.« 32
Von einem »Schon-Erlöstsein der Seele« darf in christlicher Theologie rechtens die
Rede nicht sein. Vielmehr dürfen Christen Gott dafür danken, dass er sie aus ihrer
Selbstgerechtigkeit erlöst, damit sie mit dem »inneren Menschen« Gott zustimmen
und in seinen Willen einwilligen: mit dem Gebet »Dein Wille geschehe« und »Erlöse
uns von dem Bösen«.
Allerdings erweisen sich Schemata wie »Schon jetzt/Noch nicht«, »Erlöste Seele/
Unerlöste Welt« 33 oder »Diesseits/Jenseits« 34 als äußerst zählebig, weil sie handliche
30. N. P. Levinson, Der Messias, Stuttgart 1994, 168.
31. Levinson, 169.
32. E. Vály-Nagy, Die messianische Idee in christlichen Theologien des 20. Jahrhunderts, in: E. Stegemann (Hg.), Messias-Vorstellungen bei Juden und Christen, Stuttgart/Berlin/Köln 1993, 121–128,
Zitat: 124.
33. Siehe die treffende Charakterisierung dieser verzerrenden Wahrnehmung durch C. Thoma, Erlösung in jüdischer Optik, in: E. Christen/W. Kirchschläger (Hg.), Erlöst durch Christus (Theologische Berichte XXIII) Freiburg (Schweiz) 2000, 13–28, hier 13: »Wir Christen sind erlöst. Die Juden aber sind nicht erlöst, weil sie damals den Erlöser abgelehnt haben und ihn auch heute noch
ablehnen. So unachtsam klangen theologische Denkmechanismen in vergangenen Feindschaftszeiten! Von der jüdischen Gegenseite her kamen spiegelverkehrt fast dieselben Aussagen: Die Christen sind nicht erlöst, weil sie Judenfeinde sind und weil der Zustand der Welt nach wie vor ungeordnet und schlecht ist.«
34. Vgl. Levinson, 168: »Es geht um die dialektische Überwindung eines alten dualistischen Prinzips,
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Gerhard Sauter
Reduktionen anbieten. Wenn aber Wissenschaft für etwas gut ist, dann dazu, dass sie
nicht Formeln nachspricht und mit ihnen genauere Beobachtungen verhindert, statt
möglichst trennscharfe Beobachtungen zu fördern. Komplexe Sachverhalte benötigen eine differenzierte Sprache, die erst, wenn sie ausgereift ist, auch wieder zu Kurzfassungen zusammengedrängt werden kann.
Erfahrungsgemäß lassen sich, auch und gerade im Gespräch, Fremdwahrnehmungen nur schwer vermeiden, und dabei schleichen sich leicht Schemata ein. Dies rührt
daher, dass oft die Sprache zur Verständigung fehlt, deren Voraussetzung sorgfältiges
Hören ist, das durch Rückfragen Klärung zu erzielen sucht und nicht sogleich auch
Übereinstimmung erzielen möchte. Dies ist eines – und etwas anderes ist es, das
Selbstbild angemessen zum Ausdruck zu bringen.
2. Wo finden sich Gesprächspartner?
Soweit bisher über die Hoffnung von Juden und Christen gesprochen und geschrieben wurde, steht für das Judentum der Messianismus im Vordergrund. Dies ist verständlich, wird aber dem Spektrum gelebter jüdischer Hoffnung schwerlich gerecht.
Berührungspunkte mit dem Zionismus geben mindestens ebenso sehr zu denken,
auch weil sie in der politischen Sphäre zu finden sind und sich literarisch niedergeschlagen haben. 35
Der Bonner Sonderforschungsbereich kann hier helfen, eine Lücke in der Forschungslandschaft zu schließen, indem er stärker als üblich auch Stimmen des sogenannten konservativen Judentums zu Wort kommen lässt, in dem innovative Forschungsarbeit geleistet wird. 36
3. Lebensformen der Hoffnung
Die Texte, die wir nach der Hoffnung für Juden und Christen befragen, können uns
verleiten, nur ideengeschichtlich zu fragen und allenfalls zusätzlich noch soziologische Erklärungen dafür heranzuziehen.
»Hoffnung« wird jedoch durch gemeinschaftliche Lebensformen überliefert und
in ihnen erweckt: für Juden und Christen im Vernehmen des biblischen Wortes 37 , im
Gottesdienst und im Gebet. Davon darf gerade bei der Frage, wie Juden und Christen der Erlösung innewerden und was sie als Erlösung erbitten, nicht abgesehen
das sich darstellt in der Gegenüberstellung von Immanenz und Transzendenz.« Grundsätzlich in
die gleiche Richtung weist E. Goodman-Thau (Hg.), Vom Jenseits. Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte, Berlin 1997.
35. Vgl. z. B. M. Stöhr (Hg.): Zionismus. Beiträge zur Diskussion (ACJD 9), München 1980.
36. Ein Beispiel ist die Gastvorlesung von Prof. Dr. Seth Schwartz vom Jewish Theological Seminary of
America in New York, der größten Ausbildungsstätte für konservative Rabbinen in den USA, am
5. Juli 2001 in Bonn. Sein Vortrag zum Thema »The End of Ancient Judaism: Iconophobia and the
Rise of the Rabbis« sieht – anders als viele Forscher in Israel – eine deutliche Zäsur zwischen dem
Pharisäismus und dem rabbinischen Judentum; die Entstehung des letzteren wird nicht im 3./4.,
sondern im 6. Jh. n. Chr. angesetzt. Insbesondere die Beachtung staatlich-legislativer Einflüsse auf
die Entstehung des rabbinischen Judentums und dessen Struktur hilft hier zu einem neuen Verständnis.
37. Wichtige jüdische Plädoyers für eine biblisch-theologische Rationalität und einen christlichen Beitrag enthält P. Ochs/N. Levene (Hg.), Textual Reasonings: Jewish Philosophy and Text Study at
the End of the Twentieth Century, Grand Rapids 2002.
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Eine gemeinsame Hoffnung von Juden und Christen?
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werden. Franz Rosenzweig wollte dies in seinem Werk »Stern der Erlösung« für das
Gespräch von Juden und Christen wieder verdeutlichen. 38 Diese Lebensformen sollten viel stärker das jüdisch-christliche Gespräch bestimmen, und zwar nicht nur
seine Inhalte, sondern auch die Begegnung selber, ohne dass bereits eine gemeinsame
Lebensform angestrebt werden kann – dass Elemente einer solchen entstehen, dürfte
erst die Frucht einer gemeinsamen Erkenntnis werden, nicht schon deren Voraussetzung sein. Peter Ochs erzählte mir, wie sehr er vor einer Debatte mit amerikanischen
liberalen Theologen davon abgestoßen worden sei, dass diese sein Tischgebet bloß
belächelten, ohne selber beten zu wollen. Dies habe einem wirklichen Dialog den
Boden entzogen, auch wenn er nur auf wissenschaftlicher Basis erfolgen sollte.
4. Woraufhin können Christen und Juden miteinander reden?
Die Ergänzung der Rheinischen Kirchenordnung antwortet mit einem Hoffnungsbild, das sich im Alten Testament (Jes 65,17) wie im Neuen (2 Petr 3,14; Offb 21,1)
findet: »neuer Himmel und neue Erde«. Insoweit ist der Wortlaut der Texte derselbe.
Ist damit aber auch ihr Hoffnungsbild deckungsgleich?
Davon kann keine Rede sein, wenn das Hoffnungsbild nicht aus dem jeweiligen
Textzusammenhang herausgeschnitten und in ein Passepartout eingefügt wird, in
einen Wechselrahmen, der so markant wirkt, dass die auswechselbaren Hoffnungsbilder ein und denselben Eindruck erzeugen.
Der Ergänzungssatz zur Kirchenordnung möchte die Gemeinsamkeit der Hoffnung von Juden und Christen direkt benennen, indem er ein griffiges Hoffnungsbild
aus jüdischer Prophetie zitiert, das dem Wortlaut nach in einer Verteidigung christlicher Parusieerwartung und in der Vision des Kommens Gottes vom Himmel auf die
Erde und seines Wohnens unter den Menschen in der neuen Gottesstadt wiederkehrt:
der neue Himmel und die neue Erde. Die Beschränkung auf diesen Bildausschnitt
kaschiert jedoch den Umstand, dass hier höchst verschiedene Leseweisen vorliegen.
Nicht nur wird das alttestamentliche Bild im Neuen Testament anders aufgenommen, sondern bereits jener prophetische Text ist eine bestimmte Lesart des Begriffspaares »Himmel und Erde« (Gen 1,1): er will mit »neuem Himmel und neue Erde«
die Wahrnehmung des schöpferischen Handelns Gottes umreißen, das in die bisherige Geschichte Gottes mit seinem Volk einschneidet, um völlig neue Verhältnisse zu
schaffen. Würden wir diese drei Leseweisen genauer verfolgen, dürften sich kaum
Übereinstimmungen ergeben, vor allem dann nicht, wenn wir noch weitere Lesearten aus der jüdischen Auslegung von Jes 65,17 in Betracht zögen. Wohl aber ergeben
sich Berührungspunkte, wenn wir darauf achten, dass sie eben Lesearten der Erwartung Gottes sind, nicht aber kongruente Ausdrucksformen einer Hoffnung, die mit
anderen geteilt werden könnte.
Die genannten biblischen Texte dürfen also nicht nur auf ihren Bildgehalt befragt
werden, um von dort aus Divergenzen und Konvergenzen einer per se – bzw. per
Traditionsgeschichte – gemeinsamen Hoffnung zu ermitteln. Die Alternative wäre
eine aufmerksame Lektüre der Texte, die dem Gefälle des sog. Literalsinnes folgt,
d. h. auch seine Redeformen berücksichtigt, ohne den Text in weitreichende ideen-
38. Vgl. dazu jetzt: H. Assel, Geheimnis und Sakrament. Die Theologie des göttlichen Namens bei
Kant, Cohen und Rosenzweig (FSÖTh 98), Göttingen 2001, bes. § 12.
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Gerhard Sauter
und konzeptgeschichtliche Überblicke einzuspannen und ihm damit sein eigenes spezifisches Gewicht zu nehmen.
Die Erweiterung der Rheinischen Kirchenordnung behandelt die Bilder der biblischen Texte offensichtlich im Rahmen einer Signifikationshermeneutik: Bilder verweisen auf eine Referenz, sie bezeichnen nur ein Signifikat. So erklärt sich am ehesten der Eindruck, das Bild »neuer Himmel und neue Erde« bezeichne in jedem Falle,
d. h. unabhängig von seiner Verwendungsweise im vorliegenden Kontext, dieselbe
Referenz. Damit wird jedoch nicht nur der literarische Kontext, in dem das betreffende Bild verwendet wird, außer Acht gelassen, sondern auch den metaphorischen
Qualitäten von Bildern nicht Genüge getan. Die Funktionsweise der Metapher besteht aber gerade auch darin, dass sie – darin einem »Sprechakt« vergleichbar – nicht
eine einzige Referenz bezeichnet. Sie intendiert nicht (in erster Linie) ein Bedeutungsverstehen, sondern sie teilt mit, was sie abbildet, und weist zugleich den Betrachter
über sich selbst hinaus. Insofern handelt es sich bei »neuer Himmel und neue Erde«
um ein Bild, das der Hoffnung einen Raum eröffnet, indem es das – im Rahmen der
Signifikationshermeneutik – nicht Aussprechbare dennoch ansagt bzw. in eine Bewegung hineinnimmt, in der Menschen sich selbst verlassen: auf Hoffnung hin.
Der Austausch von Vorstellungen reicht nicht mehr aus, seien sie auch uralt und
immer wieder aufgewärmt worden, seien sie durch eine Synopse von Zeitdiagnose
und religiösem Ferment neu gebildet.
Darum hat die Bonner Evangelisch-Theologische Fakultät vorgeschlagen, den
zweiten Teil des Ergänzungssatzes so zu präzisieren:
»Nach alttestamentlicher Verheißung (Jes 65,17) und damit auch mit dem Volk Israel und
nach neutestamentlicher Verheißung (2 Petr 3,13) und damit durch und mit Jesus Christus
erwartet sie einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt.« 39
Diese Korrektur wurde allerdings von der Synode nicht akzeptiert.
»Auch mit dem Volk Israel« kann (und sollte m. E.) heißen: auch mit denen, die jene
Verheißung aus ihren heiligen Schriften vernehmen, die im Lesen dieser Schriften mit
ihr vertraut werden, sie im Zusammenhang der Schriften verstehen und sich so an
Gottes Verheißung halten. Das Volk Israel ist die Lese- und Hörgemeinde, für die das
Buch verbindlich ist, das auch Christen als die für sie wegweisende Weisung hören und
lesen. Beide Gemeinden werden dasselbe Buch zwar verschieden lesen, aber sie werden gleichermaßen Gottes Verheißung aus ihm vernehmen können, die ihre Hoffnung
begründet. Christen – die Kirche aus Juden und Heiden – dürfen ihre Hoffnung aus
der Verheißung in Jes 65,17 schöpfen, und zwar als »durch und mit Jesus Christus«
begründet. Daraufhin dürfen sie überhaupt das »Alte Testament« als die auch ihnen
geltende Verfügung Gottes lesen, nicht etwa bloß als ein religionsgeschichtliches Dokument und als die Fundgrube einer Hoffnung, die ihre Kreise gezogen hat.
Wie werden jene Schriften gelesen – bei Juden und Christen? Diese Frage ist noch
immer ein Forschungsdesiderat, für christliche Theologie auch deshalb, weil ihre
Exegese sich in der Regel nur mit jüdischer Auslegung beschäftigt, die der Entstehung christlicher Texte vorausgeht oder gleichzeitig mit ihr ist. Für die Frage nach
einer gemeinsamen Hoffnung sind wir aber noch mehr an das Judentum als zeitgenössische Lesegemeinschaft gewiesen. Erst im Gespräch mit dieser Gemeinschaft
und mit Rücksicht auf die Bandbreite ihrer Auslegungen können wir weiterfragen:
39. Abgedruckt bei K. Kriener/J. M. Schmidt (s. Anm. 26), 85.
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Eine gemeinsame Hoffnung von Juden und Christen?
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Woraufhin werden Hoffnungstexte gelesen? Zum Nachweis von Deutungen, z. B.
des Erlösungsverständnisses? Oder in einer Hoffnung, deren verbindende Kraft gerade darin besteht, dass die Existenz des jeweils Anderen als ein Anruf von Gott her
vernommen wird?
5. Nicht in die traditionsgeschichtliche Falle tappen!
Traditionsgeschichtliche Zuordnungen – von ihnen war ich ausgegangen – sind für
die historische Orientierung hilfreich, sie dürfen jedoch kein Geschichtsbild für das
heutige jüdisch-christliche Gespräch vorschreiben.
Aus der notwendigen Erinnerung daran, dass zur Kirche von Anfang an Judenchristen gehörten, darf die Kirche nicht schließen: Wir stammen aus derselben Wurzel wie das Judentum. Das im neueren christlich-jüdischen Gespräch viel strapazierte
Bild vom Ölbaum, in den ein Wildtrieb eingepfropft wird (Röm 11,17) 40 , ist ja keine
Metapher für Herkunftsangaben, sondern will ein unerhörtes Wunder markieren:
Gott pflanzt in den Baum, der von der Wurzel der Barmherzigkeit Gottes und seiner
Verheißungen genährt und getragen wird, gleichsam einen Fremdkörper ein, der mit
dem verwachsen darf, was aus Gottes Verheißungen hervorgeht. Zunächst bricht
Gott etwas heraus – die Rettung erfolgt durch eine Katastrophe.
Die Kirche steht also in nicht in einem geschichtlich selbstverständlichen Zusammenhang mit dem Judentum, so sehr beide einander brauchen. Wir kommen nicht
aus demselben Stamm oder sind ein Seitentrieb eines Stammes, der weiter gewachsen
ist – nein, wir hoffen und glauben, eingepflanzt zu sein in den Stamm aus der Wurzel
der Barmherzigkeit Gottes und seiner Verheißungen. Kann nicht allein dies der tragfähige Grund einer gemeinsamen Hoffnung für Juden und Christen sein – der Hoffnung für Juden und Christen, nicht: der Hoffnung von Juden und Christen, über
deren Konvergenz oder Divergenz sie befinden könnten!
Zusammenfassung
In der Vergangenheit, je und dann auch noch heute, wurden die trennenden Unterschiede
zwischen Christen und Juden im Charakter ihrer Hoffnung gesucht. Nicht selten wurde auch
behauptet, dass jüdische Hoffnung den Platz einnimmt, an dem für Christen der Glaube steht.
Damit verbanden sich schematische Fremd- und Selbstwahrnehmungen, die auf beiden Seiten
Zerrbilder mit sich brachten: »innerlich schon erlebte Erfüllung«/»Leben im Aufschub, weil
heilvolle Daseinsbedingungen noch auf sich warten lassen«, »Seelenheil«/»handgreifliche Erlösung«, »Ausrichtung aufs Jenseits«/»Haften am Diesseits«, »politische Öffentlichkeit«/»individuelle Innerlichkeit«. Diese Wahrnehmungsraster gilt es, kritisch zu analysieren und, sofern sie nur Vorurteile nähren, zu überwinden. Denn sie stehen einer Begegnung zwischen
Juden und Christen im Wege, einem offenen Gespräch, das zur Rechenschaft über die Hoffnung einlädt. Dieses Gespräch wird durch Gottes Gnadentaten hervorgerufen. Ihre Spuren in
der jüdischen Geschichte Israels und der Gesichte seit Christus zu entdecken, wird Hoffnung
für Juden und Christen wachsen lassen, gleichsam über Kreuz: also gerade dann, wenn Juden
und Christen die Zeichen der Erlösung aneinander und füreinander wahrzunehmen lernen.
40. Dieses Bild wird im gegenwärtigen jüdisch-christlichen Gespräch in Verbindung mit Röm 9,4
häufig auf den Bund Gottes mit Israel gedeutet, in den die Christen eingegliedert werden. Einen
Überblick über Ausprägungen der Bundestheologie im christlich-jüdischen Gespräch gibt – verbunden mit einer eigenen Stellungnahme – B. Klappert, Israel und die Kirche in einem Gottesbund. Umstrittenes im jüdisch-christlichen Verhältnis, in: Ders., Miterben der Verheißung. Beiträge zum jüdisch-christlichen Dialog (NBST 25), Neukirchen-Vluyn 2000, 348–370.
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