Die Gruppe hat mich schon jetzt vom Schmerz - Fokus

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Solrun Jürgensen
„Die Gruppe hat mich schon jetzt vom Schmerz befreit!“
Sexualisierte Gewalt an Mädchen und Frauen mit geistiger BehinderungErfahrungen aus Einzelberatung und Gruppenarbeit bei Schattenriss
Sexualisierte Gewalterfahrungen in der Kindheit, aber auch im Jugendlichen- und
Erwachsenenalter gehören, vor allem bei Mädchen und Frauen, zu den häufigsten
Traumatisierungen überhaupt.
Ich gehe davon aus, dass es hier für niemanden überraschend sein wird, dass
Mädchen und Frauen mit geistiger Behinderung weit häufiger Opfer sexualisierter
Gewalt werden, als nicht behinderte Mädchen und Frauen.
Die Einordnung in die Kategorie „ geistige Behinderung“ ist, wie überhaupt, auch bei
Frauen aus dem betreuten Wohnen, problematisch.
Sie bezeichnen sich i.d.R. nicht als geistig behindert, sondern als beeinträchtigt, als
Frauen, die in bestimmten Bereichen ihres Lebens Unterstützung brauchen.
Deshalb werde ich beide Begriffe in meinem Vortrag verwenden, je nach dem, wie es
mir stimmig erscheint.
Die Frauen, mit denen ich bei Schattenriss arbeite, wissen, dass ich heute diesen
Vortrag halte und worum es dabei geht.
Von jeder Frau, über die ich berichten werde, habe ich das Einverständnis dafür.
Den Frauen ist bewusst, dass sie evtl. von der einen oder dem anderen hier erkannt
werden könnten.
Sie nehmen das in Kauf, weil sie es wichtig finden, dass ich über ihr erfahrenes Leid,
aber auch über ihre Stärken und vielfältigen Kompetenzen, mit denen sie ihr Leben
bewältigen, berichte.
Ich möchte meinen eigenen Erfahrungen in der Beratungsstelle einige
Forschungsergebnisse voranstellen, die verdeutlichen, dass Beeinträchtigungen,
insbesondere geistige Behinderungen, die Möglichkeit, Opfer sexualisierter Gewalt
zu werden, deutlich erhöhen.
Ich beziehe mich dabei vor allem auf großangelegte US-amerikanische und
kanadische Untersuchungen. In der Bundesrepublik gibt es bisher nur kleinere
Studien zu dieser Thematik.
Die Untersuchungen beschäftigen sich vor allem mit der Häufigkeit sexualisierter
Gewalt an Menschen mit Behinderung, mit speziellen Risikofaktoren sowie mit der
Wahrnehmung sexualisierter Gewalt und den Umgang damit in Institutionen.
Senn kam 1993 zu dem Ergebnis, dass schätzungsweise zwischen 39% und 68%
der Mädchen und zwischen 16% und 30% der Jungen mit besonderem Förderbedarf
vor Vollendung ihres 18. Lebensjahres sexualisierte Gewalt erfahren
Geistig behinderte Mädchen werden also 2-3x häufiger Opfer als geistig behinderte
Jungen.
Bei einer deutschen Untersuchung von Zemp im Jahre 2002 gaben nahezu alle
befragten, in Wohnheimen lebenden Frauen und Männer an, sexuelle Belästigung
erfahren zu haben.
Von den 16 Frauen aus dem Betreuten Wohnen, die in den vergangenen zwei
Jahren an meinen Gruppen teilgenommen haben, berichteten 12 Frauen von
sexuellen Übergriffen, fünf von ihnen wurden vergewaltigt.
Solrun Jürgensen Schattenriss Bremen Oktober 2006
Sobsey kommt in seiner kanadischen Untersuchung allerdings zu dem Ergebnis,
dass sich kein direkter Zusammenhang zwischen Behinderung und sexuellen
Gewalterlebnissen herstellen lässt, wohl aber zwischen Sexuellem Missbrauch und
der besonderen Abhängigkeit von anderen, nicht behinderten Menschen sowie den
gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Menschen mit geistiger Behinderung
leben.
Wir können also konstatieren, dass nicht die Behinderung an sich als Risikofaktor zu
werten ist, sondern die Lebensbedingungen von Menschen mit Beeinträchtigung und
ich möchte hinzufügen, die Bereitschaft, sie als Opfer sexualisierter Gewalt
überhaupt wahrzunehmen und ihnen angemessene Hilfe und Unterstützung
anzubieten.
In unserer täglichen Arbeit bei Schattenriss erleben wir, dass die Beschäftigung mit
sexualisierter Gewalt trotz regelmäßiger Präsenz in den Medien und öffentlicher
Diskussion noch immer Widerstände hervorruft.
Selbst erfahrene kompetente Pädagoginnen und Pädagogen werden beim Thema
Sexueller Missbrauch unsicher, trauen ihrer Wahrnehmung nicht, stellen die
Betroffenen und sich selbst in Frage und fühlen sich unfähig Entscheidungen zu
treffen und zu handeln.
Die gesellschaftliche Leugnung des Themas ist noch lange nicht aufgehoben.
Dies gilt in besonderem Maße für sexualisierte Gewalt an Menschen mit geistiger
Behinderung.
Ungleiche Machtverhältnisse in Institutionen begünstigen sexualisierte Gewalt und
deren Kaschierung und Geheimhaltung. Hierzu gehören u.a. die Abhängigkeit von
Betreuungs- und Pflegepersonal und das fehlende Wahlrecht in Bezug auf
Betreuungspersonen.
Die Kontakte zu Menschen außerhalb der Einrichtung sind oft eingeschränkt, wenn
überhaupt vorhanden.
Dies führt zu Isolation und zur Verstärkung der Abhängigkeit von Bezugspersonen
innerhalb der Einrichtung.
Dadurch ergeben sich in Institutionen viele Möglichkeiten für sexuelle Übergriffe
gegen Menschen mit Behinderung, die von Nichtbehinderten ausgenutzt werden
können. Allerdings gibt es auch eine hohe Zahl von Übergriffen der Bewohner und
Bewohnerinnen untereinander.
Zemp und Pircher kamen in ihrer österreichischen Studie, in der sie der Frage
nachgingen, welche Faktoren sexuelle Gewalt an Mädchen und Frauen mit geistiger
Behinderung begünstigen, zu dem Ergebnis, dass Frauen, die in Einrichtungen
aufgewachsen waren deutlich mehr Gewalterfahrungen gemacht hatten als andere.
Die Opfer selbst schweigen aus Scham- und Schuldgefühlen sowie
Loyalitätskonflikten gegenüber der Täterin, aus Angst vor dem Täter und weil sie
befürchten, dass ihnen nicht geglaubt wird.
Sie sind verwirrt, weil sie das Geschehene aufgrund unzureichender
Sexualerziehung oft nicht einordnen können. Manchen fehlen außerdem die
sprachlichen Fähigkeiten, das Erlebte auszudrücken.
In der Fachliteratur werden eine Vielzahl weiterer Risikofaktoren beschrieben, die
sexualisierte Gewalt an Menschen mit Behinderung begünstigen.
Solrun Jürgensen Schattenriss Bremen Oktober 2006
Ich werde mich im Folgenden auf die Darstellung einiger Faktoren beschränken, die
vor allem Mädchen und Frauen mit geistigen Beeinträchtigungen gefährden.
An erster Stelle steht dabei die geschlechtsspezifische Sozialisation.
Sie fördert bei Mädchen nach wie vor angepasstes, unauffälliges Verhalten.
Mädchen sollen hilfsbereit und für andere da sein und ihre eigenen Bedürfnisse
zurückstellen.
In einer Sammlung von Präventionsmaterialien für Kinder mit besonderem
Förderbedarf heißt es dazu:
„ Mädchen und Jungen mit besonderem Förderbedarf erfahren im häuslichen und
schulischen Bereich oftmals eine sehr geschlechtstypische Rollenerziehung und
Sozialisation. Gleichzeitig werden sie mit den, in den Medien vermittelten,
gesellschaftlichen Rollenklischees konfrontiert. Hier werden tendenziell Bilder von
angepassten oder sogar unterwürfigen Mädchen und Frauen, sowie von starken oder
dominierenden Jungen und Männern transportiert.“ ( Zitat)
Aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisation haben Mädchen mit geistiger
Behinderung ohnehin ein eher negatives Selbstkonzept.
Durch ihre stärkere Abhängigkeit von anderen können sie zudem kaum ein Gefühl
von Selbstwirksamkeit und damit von Eigenmächtigkeit im positiven Sinne
entwickeln.
Sie haben weniger Erfolgserlebnisse und bekommen seltener positive
Rückmeldungen als nicht behinderte Gleichaltrige. Sie werden dazu erzogen,
möglichst wenig aufzufallen und von der Norm ab zu weichen.
Wir wissen seit langem, dass angepasste, unsichere, isolierte Kinder eher Opfer
sexualisierter Gewalt werden als selbstbewusste, sozial integrierte Kinder, die ihre
Rechte kennen und vertreten.
Nach Finkelohr gilt das Gefühl sozialer Machtlosigkeit als einer der Risikofaktoren für
das Erleben sexueller Gewalt. Mädchen und Frauen mit geistiger Beeinträchtigung
gehören aufgrund der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht und zusätzlich
aufgrund ihrer Beeinträchtigung zu den Machtlosesten in unserer Gesellschaft und
sind daher ideale Opfer!
Bei der Entwicklung eines positiven Selbstwertgefühls, dass für den Schutz vor
sexualisierter Gewalt von großer Bedeutung ist, spielt das Körpergefühl eine
entscheidende Rolle.
Hierbei steht die Bewertung des Aussehens in engem Zusammenhang mit der
Bewertung des Selbst.
Wie alle Frauen werden auch Frauen mit Beeinträchtigungen täglich, auf den
Titelseiten von Illustrierten und in Filmen mit vor allem männlich geprägten
Idealbildern vom weiblichen Körper konfrontiert.
Bewusst oder unbewusst vergleichen sie sich mit dieser vermeintlichen Norm.
Mädchen und Frauen mit geistiger Behinderung finden sich nur selten attraktiv und
werden von ihrer Umgebung ebenfalls eher als asexuell und unattraktiv eingestuft.
Diese Einschätzung führt leider oft zu dem Vorurteil, dass sie als Opfer sexueller
Gewalt nicht in Frage kommen.
Für die Entwicklung eines positiven Körpergefühls sind außerdem das Wissen über
den Körper und seine Funktionen sowie vielfältige Möglichkeiten der Körpererfahrung
bedeutsam.
Solrun Jürgensen Schattenriss Bremen Oktober 2006
Eine vollkommen unzureichende Sexualerziehung von Kindern mit besonderem
Förderbedarf führt dazu, dass sie ihren Körper kaum kennen und wenig über
Sexualität wissen.
Mädchen und Frauen mit geistiger Behinderung haben zudem äußerst
eingeschränkte Möglichkeiten, positive Körpererfahrungen zu sammeln.
Ist der Bewegungsradius von Mädchen im allgemeinen schon eingeschränkt, so trifft
dies für Mädchen mit geistiger Behinderung in besonderem Maße zu.
Oder wann haben sie zuletzt ein Mädchen mit geistiger Behinderung mit anderen
Kindern auf dem Spielplatz oder dem Bolzplatz toben sehen?
Mädchen und Frauen mit Beeinträchtigungen machen wenig selbstbestimmte,
lustvolle, kraftvolle Körpererfahrung und erleben ihren Körper deshalb eher als Last,
als Ort für Beschwerden und Krankheiten, der behandelt werden muß.
Aufgrund von körperlichen Einschränkungen wird bei Krankenhausaufenthalten,
Operationen, und Therapien oft auch ihre Intimsphäre verletzt.
So wachsen sie mit dem Gefühl auf, dass jeder sie anfassen darf.
Wie Ahia Zemp es ausdrückt wird „Ihnen (...)das Gefühl suggeriert „ meine Würde ist
antastbar“, „ jeder darf über meine Grenzen treten, darf mich „ behandeln“. Sie lernen
somit schon sehr früh, dass sie nicht über ihren Körper und ihre Grenzen bestimmen
können.“( vg. Ahia Zemp 1994)
Vor allem Menschen mit geistiger Behinderung fällt es dadurch schwer, zwischen
angemessenem Verhalten und sexuellen Übergriffen zu unterscheiden.
Das ist insbesondere dann der Fall, wenn zwischen der geistig behinderten Frau und
dem Täter oder der Täterin ein besonderes Vertauensverhältnis und damit
Abhängigkeitsverhältnis besteht.
Dies ermöglicht Täterinnen und Tätern distanzloses Verhalten, gezielte
Grenzverletzung und sexualisierte Gewalt.
Sexuelle Übergriffe können als Pflegehandlungen legitimiert oder als medizinisch
oder therapeutisch notwendig begründet werden.
Der wichtigste Grundsatz präventiver Arbeit „ Mein Körper gehört mir“ entspricht also
nur sehr selten der Lebenswirklichkeit von Frauen mit Behinderung.
Ich komme zu einem weiteren Risikofaktor, der vor allem sexualisierte Gewalt an
Mädchen und Frauen mit geistiger Behinderung begünstigt, dem Anzweifeln ihrer
Glaubwürdigkeit.
Hard untersuchte 1987 die Glaubwürdigkeit von sexuell missbrauchten Jugendlichen
mit intellektueller Beeinträchtigung.
Laut dieser Untersuchung
erzählten 64 % der befragten Frauen einer anderen Person von den erlebten
sexuellen Übergriffen
29% dieser Frauen berichteten, dass ihnen geglaubt wurde
während 35% der Frauen nicht geglaubt wurde
Bei den befragten Männern erzählten 40% anderen von den sexuellen
Übergriffen. Alle Männer berichteten, dass ihnen geglaubt wurde.
Mädchen und Frauen mit geistiger Behinderung müssen also noch wesentlich
häufiger als nicht behinderte Opfer oder behinderte Männer damit rechnen, dass
ihnen nicht geglaubt wird.
Solrun Jürgensen Schattenriss Bremen Oktober 2006
Ihnen wird unterstellt, sie hätten sich die Übergriffe nur ausgedacht, um
Aufmerksamkeit zu bekommen oder es handele sich um Phantasien, um
Wunschvorstellungen der Frauen.
Besonders dann, wenn ein Kollege oder eine Kollegin beschuldigt wird, geraten
MitarbeiterInnen aus Einrichtungen in große Konflikte.
Die Leitungen von Einrichtungen sind nur selten mit Interventionskonzepten zum
Umgang mit sexuellen Übergriffen innerhalb der Einrichtung vertraut.
Polizistinnen und Polizisten fühlen sich häufig überfordert, diese Personengruppe,
bei denen nicht selten Artikulationsprobleme hinzukommen, zu sexualisierter Gewalt
zu befragen und ihre Aussagen zu bewerten.
Aus meiner Arbeit in der Beratungsstelle weiß ich, dass in vielen Fällen, in denen
Frauen mit geistiger Behinderung sexuelle Gewalt erlebten, von einer Anzeige
abgesehen wurde, da davon ausgegangen wurde, dass die Glaubwürdigkeit der Frau
ohnehin vor Gericht in Frage gestellt werden würde.
Natürlich muß in jedem Einzelfall geprüft werden, ob es sinnvoll ist, eine Anzeige zu
erstatten.
Dies sollte grundsätzlich nicht gegen den Willen der betroffenen Frau geschehen.
Allerdings sollte sie auf jeden Fall in einer für sie verständlichen Form darüber
aufgeklärt werden, dass es sich bei sexuellen Übergriffen, um Straftaten handelt.
Sie muss über die Möglichkeit einer Anzeige und den Verlauf des Verfahrens
informiert werden.
Bei der Entscheidungsfindung braucht sie, und nicht selten auch die Einrichtung,
professionelle Begleitung .
Soweit zu den Risikofaktoren.
Betrachten wir nun die Folgen der erlebten sexualisierten Gewalt für Frauen mit
geistigen Beeinträchtigungen.
Trotz des hohen Aufkommens von sexualisierter Gewalt gegen Menschen mit
Beeinträchtigungen gibt es bisher keine Untersuchungen über Häufigkeit psychischer
Reaktionen bei Menschen mit geistiger Behinderung nach erlebter Gewalt.
Nach Hennicke ist es jedoch internationaler Konsens, dass alle psychischen
Störungen im vollen Umfang auch bei Menschen mit geistiger Behinderung
vorkommen und zwar unabhängig vom Schweregrad der Behinderung.
Ich kann diese Einschätzung durch meine Erfahrungen in der Einzel- und
Gruppenarbeit mit Mädchen und Frauen mit geistigen Beeinträchtigungen bestätigen.
Die Frauen, mit denen ich arbeite haben in der Regel mehrfach in ihrem Leben
sexualisierte Gewalt von unterschiedlichen Personen erfahren.
Von der Symptomatik her unterscheiden sie sich nicht von Mädchen und Frauen
ohne Beeinträchtigungen.
Sie erleben häufig Panikattacken, Flashbacks, haben Schlafstörungen, leiden unter
Depressionen, manifesten Ess-Störungen und einer Vielzahl psychsomatischer
Symptome.
Sie verletzen sich selbst und haben Suizidgedanken, bzw. haben schon ein oder
mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen.
Hinzu kommen dissoziative Phänomene.
Ein Großteil von ihnen weist das volle Symptombild einer chronischen
Posttraumatischen Belastungsstörung auf.
Solrun Jürgensen Schattenriss Bremen Oktober 2006
In den meisten Fällen hat das Erleben sexualisierter Gewalt ein Gefühl von
Hilflosigkeit sowie die Erschütterung des Selbst- und Weltbildes zur Folge.
Das wirkt sich bei Frauen mit geistigen Beeinträchtigungen in besonderem Maße
aus, da sie ja, wie wir gesehen haben, ohnehin über ein eher labiles Selbstwertgefühl
verfügen.
Die Erfahrung, sexuell ausgebeutet und missbraucht worden zu sein, bedeutet einen
tiefen Vertrauensverlust.
Das Vertrauen in sich selbst und die eigene Wehrhaftigkeit wird erschüttert.
Die Erfahrung mit dem Missbraucher, der das Vertrauen der Mädchen und Frauen
missbraucht hat, wird auf andere Menschen übertragen.
In der Folge werden andere als bedrohlich und unberechenbar eingeschätzt. Soziale
Beziehungen sind daher eher von Misstrauen als von Vertrauen geprägt.
Das gilt auch für Liebesbeziehungen.
Sexualität kann von Frauen nach sexualisierten Gewalterlebnissen nur sehr selten
unbelastet erlebt werden.
Oft kommt es zu einer völligen Ablehnung von Sexualität oder allenfalls zu einer
Duldung.
Hennike hat festgestellt, dass sich bei Menschen mit geistiger Behinderung ein
äußerst vielgestaltiges Bild auffälliger Verhaltensweisen entwickelt, die erst beim
genauen Hinsehen und nach Erhebung der Vorgeschichte von Verhaltensweisen
unterschieden werden können, die sonst oft als „behindertentypisches Verhalten“
missgedeutet werden.
Bei Frauen mit geistiger Beeinträchtigung, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, trifft
dies z.B. auf sexualisiertes Verhalten zu, das häufig als typisches distanzloses
Verhalten geistig Behinderter gewertet wird.
Auch Zwänge, wie z.B. zwanghaftes Waschen oder Entkleiden können Hinweise auf
sexualisierte Gewalterlebnisse sein.
Selbstverletzendes Verhalten wird bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung
allgemein als Autoaggression oder Autostimulation gedeutet oder als ein Versuch
Aufmerksamkeit zu erhalten.
Dass selbstverletzendes Verhalten bei Frauen auch eine Überlebensstrategie sein
kann, um unerträgliche Gefühlszustände zu bewältigen, wird kaum in Betracht
gezogen.
Trotz meiner langjährigen Beschäftigung mit sexualisierter Gewalt bin ich immer
wieder erschüttert darüber, was die Frauen mit geistiger Beeinträchtigung erlebt
haben und vor allem, wie wenig ihre Verhaltensauffälligkeiten oder Symptome von
ihrer Umgebung wahrgenommen, beachtet und verstanden wurden.
Die meisten von ihnen haben eine Vielzahl von Demütigungen, Traumatisierungen
und sexualisierten Gewalterlebnissen ihr Leben lang für sich behalten oder nur
ansatzweise mit anderen darüber gesprochen.
Oft konnten sie die sexuellen Gewalterlebnisse bis ins Jugendlichen- oder
Erwachsenenalter nicht einordnen.
Andere haben Bezugspersonen von den Gewalterlebnissen erzählt.
Entweder wurde ihnen nicht geglaubt oder es erfolgten keine Reaktionen. Die
wenigsten haben jemals ein Angebot für die Verarbeitung dieser entsetzlichen
Erlebnisse erhalten.
Solrun Jürgensen Schattenriss Bremen Oktober 2006
Eines der erschütterndsten Beispiele ist für mich die Geschichte einer Frau, die im
Alter von etwa dreizehn Jahren für zwei Tage von einer Verwandten zu einem ihr
unbekannten Polizisten gebracht wurde.
Wie es dazu kam, ist ihr bis heute nicht klar.
Sie beschrieb mir, dass in der Nacht etwas auf ihr gelegen habe. Jemand habe
gesagt, sie solle ganz ruhig sein, es sei gleich vorbei.
Es habe furchtbar weh getan im Bauch.
Danach habe die Stimme gesagt, sie solle es nur nicht erzählen, es würde ihr
sowieso niemand glauben.
In den folgenden Wochen habe sie ihre Regel nicht bekommen und ihr sei übel
gewesen.
Eine Freundin der Mutter habe sie gefragt, ob sie schwanger sei. Ihre Mutter habe
daraufhin nur gesagt, wenn sie schwanger sei, müsse sie aufhören, Kaffee zu
trinken.
Die Frau hat erst jetzt, nach über dreißig Jahren in der Beratung darüber sprechen
und verstehen können, dass sie vermutlich vergewaltigt wurde.
Ich habe den Satz einer Frau, nämlich “Die Gruppe hat mich schon jetzt vom
Schmerz befreit!“ als Titel für meinen Vortrags gewählt :
Ich glaube, dass der Schmerz der Frauen vor allem darin besteht, mit der erlebten
Gewalt alleingelassen worden zu sein.
Die unzureichenden therapeutischen und beraterischen Angebote für Menschen mit
geistiger Behinderung sind ein viel diskutiertes Thema.
Neben der mangelnden Bereitschaft und der unzureichenden Ausbildung von
Therapeutinnen oder MitarbeiterInnen in Beratungsstellen liegt ein weiterer Grund
darin, dass vorhandene Beratungsangebote von den Einrichtungen oft nur dann in
Betracht gezogen werden, wenn sie explizit Hilfen für Menschen mit geistiger
Behinderung anbieten.
Fegert stellte fest, dass eher einrichtungsinterne Beratungsdienste oder aber
Angebote im medizinisch- psychiatrischen Bereich hinzugezogen werden als
beispielsweise auf sexualisierte Gewalt spezialisierte Beratungsstellen.
Ich kann das für Schattenriss bestätigen.
Wir fühlten uns zwar immer auch zuständig für Mädchen und Frauen mit geistiger
Behinderung.
Jedoch wurden in den Jahren, bevor ich die Gruppe für Frauen zum betreuten
Wohne angeboten habe, nur vereinzelt Mädchen und Frauen mit Beeinträchtigungen
zur Beratung bei uns angemeldet.
Seit es die Gruppe gibt, hat auch die Anzahl der Mädchen und Frauen mit geistigen
Beeinträchtigungen in der Einzelberatung deutlich zugenommen.
In Bezug auf die Zugänglichkeit von Beratungsstellen kommt den Betreuerinnen und
Betreuern eine wichtige Mittlerfunktion zu. Oft sind sie Vertrauenspersonen, denen
die Frauen von ihren Gewalterlebnissen erzählen.
In der Regel sind sie auch diejenigen, die die Frauen über das Beratungsangebot bei
uns informieren und den Kontakt zu uns herstellen.
Auch in Bezug auf Beratung ist das Selbstbestimmungsrecht der Frauen zu
berücksichtigen.
Häufig haben sie Angst vor einer Beratung, die in der Regel eine ungewohnte
Situation für sie darstellt.
Wir begegnen dieser Schwellenangst mit einem möglichst flexiblen setting.
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Wünscht eine Frau beispielsweise, dass ihre Betreuerin nicht nur beim ersten
Gespräch, sondern auch weiterhin an der Beratung teilnimmt, so ist dies durchaus
möglich und in einigen Fällen auch sinnvoll.
In anderen Fällen vereinbaren wir in regelmäßigen Abständen Gespräche zu dritt.
Wieder andere Frauen bewältigen den gesamten Beratungsverlauf ohne
Einbeziehung der Betreuerin.
Im gleichen Maße, wie mich das Ausmaß und das Ignorieren der sexualisierten
Gewalt an Frauen mit Beeinträchtigungen erschüttert, berührt und beeindruckt mich
andererseits die Kreativität, mit der sie die sexualisierten Gewalterlebnisse und die
psychischen Folgen überleben.
Leider werden ihre Überlebensstrategien häufig nicht als solche erkannt.
Sie werden als von der Norm abweichende Verhaltensweisen gewertet, die die
Frauen sich abgewöhnen sollen.
Ich möchte von einer Frau berichten, die als einen Persönlichkeitsanteil eine Katze
entwickelt hat.
Einige von ihnen werden sie vielleicht erkennen.
Sie hat gesagt das würde ihr nichts ausmachen, vielleicht würden einige sie dann
besser verstehen.
Sie schnurrt und bewegt sich oft spontan wie eine Katze und miaut und putzt sich.
Wir haben herausgefunden, dass sie als kleines Mädchen einmal eine Katze
beobachtet hatte, die in der Sonne gelegen hat.
Das habe ihr sehr gefallen.
Wenn es dann zu Hause Streit zwischen den Eltern gab und sie furchtbare Angst
hatte, habe sie sich wie die Katze verhalten. Das habe sie beruhigt. Und sie stellte
fest, dass auch andere Menschen ruhiger auf sie reagierten, wenn sie die Katze
herausholt.
Wir haben es hier also mit einer sehr effektiven Form der Selbstberuhigung zu tun
und mit einer Methode, spannungsgeladene Situationen zu entschärfen.
Wir nutzen diese Fähigkeit mittlerweile auch in der Therapie zur Stressreduktion, z.B.
wenn Traumamaterial auftaucht.
In der Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie, die vor allem von Luise
Reddemann entwickelt wurde, arbeitet man zur Stabilisierung und zum Stoppen von
belastenden Bildern und Gefühlszuständen mit der Vorstellung von inneren sicheren
Orten und inneren Helfern.
In den meisten Beratungen verwenden wir viel Zeit darauf, diese Orte und Wesen mit
den Klientinnen zu entwickeln, um sie in und außerhalb der Therapie zur
Stabilisierung nutzen zu können.
Bei einer Klientin aus einem Wohntraining, die mit 24 zu mir in die Beratung kam, um
die Folgen von Vergewaltigungen durch den Bruder zu bearbeiten, war das nicht
notwendig.
Sie hatte sich bereits selbst ein komplettes System von sicheren Orten und Inneren
Helferwesen geschaffen. Als ich begeistert auf den Schatz reagierte, der sich da für
unsere Arbeit auftat, war sie sehr erstaunt.
Bisher war ihr immer gesagt worden, sie solle sich nicht so viel ausdenken. Das sei
nicht gut für sie.
Ich möchte betonen, dass diese junge Frau ihre inneren Welten sehr wohl als
Innenwelt erlebte und von der äußeren Realität unterscheiden konnte.
Solrun Jürgensen Schattenriss Bremen Oktober 2006
Ziel der Einzelberatung ist es, den Frauen zu ermöglichen, das Geschehene
einzuordnen und ihnen zu vermitteln, dass sie nicht Schuld an dem sind, was ihnen
angetan wurde.
Sie erlernen außerdem Stabilisierungstechniken, mit deren Hilfe sie selbst Kontrolle
über belastende Gefühlszustände, wie z.B. Panikattacken erlangen können.
Dadurch wird ihr Vertrauen in sich selbst und in andere wieder aufgebaut.
Mit Hilfe von imaginativen Verfahren, aber auch durch das Aufspüren der
Überlebensstrategien und Ressourcen, können mit den Klientinnen gemeinsam
vielfältige und kreative Wege der Bearbeitung traumatischer Erlebnisse entwickelt
werden.
Wie können erwachsene Frauen mit geistiger Beeinträchtigung nun darin
unterstütz werden, nicht erneut Opfer sexualisierter Gewalt zu werden?
Die wichtigste Voraussetzung für den Schutz von Menschen mit Behinderung vor
sexualisierter Gewalt ist, neben dem Wissen über die Existenz des Phänomens, die
Bereitschaft und Sensibilität sexualisierte Gewalt wahrzunehmen, ernst zu nehmen
und aufzudecken. Dazu fehlt in vielen Einrichtungen nach wie vor das nötige Knowhow, auch auf Leitungsebene.
Aufgrund der Kürze der Zeit werde ich darauf heute nicht näher eingehen können,
sondern im folgenden über die präventiven Frauengruppen bei Schattenriss
berichten.
Es handelt sich dabei um meinen ganz persönlichen Ansatz, den ich in den
vergangenen zwei Jahren entwickelt habe.
Er basiert auf meiner Berufserfahrung auch in der Präventionsarbeit zu sexualisierter
Gewalt, meinen unterschiedlichen therapeutischen Zugängen, wie Gestalt- Körper
und Traumatherapie, aber auch auf meinen spirituellen Überzeugungen.
Auf Initiative der Träger des betreuten Wohnens findet seit November 2004 bereits
die fünfte Gruppe für Frauen bei Schattenriss statt.
Sascha Höhne-Müller von der Fachstelle für Gewaltprävention hat ein
Parallelangebot für Männer aus dem Betreuten Wohnen entwickelt.
Finanziert werden die Gruppen nach wie vor durch die Träger des Betreuten
Wohnens.
Die Gruppendurchgänge umfassen jeweils 10 Terminen von knapp zwei Stunden
Dauer.
An den Gruppen, die aus 5-7 Frauen bestehen, haben in den vergangenen zwei
Jahren insgesamt 16 Frauen im Alter von 19-48 Jahren teilgenommen.
Einige Frauen waren bereits bei mehreren Gruppendurchgängen dabei.
Die Frauen werden in der eigenen Wohnung oder in einer Wohngemeinschaft
betreut.
Einige von ihnen leben seit längerem in festen Beziehungen und fühlen sich
überwiegend wohl.
Trotzdem haben alle Frauen unangenehme Erfahrungen in Beziehungen gemacht.
Das bezieht sich sehr häufig auch auf sexuelle Erlebnisse.
Selbstbestimmte, lustvolle Sexualität scheint ihnen in der Regel unbekannt zu sein
oder durch sexuelle Gewalterlebnisse verleidet..
Alle haben Traumatisierungen in irgendeiner Form erlebt, fast alle sexualisierte
Gewalt.
Solrun Jürgensen Schattenriss Bremen Oktober 2006
Sie kommen also mit der ganzen Palette von Traumafolgesymptomen in die Gruppe.
Beziehungen zu anderen Menschen sind oft angstbesetzt, so auch die Teilnahme an
der Gruppe.
Im Gruppengeschehen beziehen sich die Frauen spontan nur wenig aufeinander.
Sie sind es gewohnt, über Dritte zu kommunizieren.
Vor Konflikten scheuen sie sich grundsätzlich.
Streits und Auseinandersetzungen haben sie im Elternhaus oder am Arbeitsplatz oft
als bedrohlich oder sogar zerstörerisch erlebt.
Formen konstruktiver Auseinandersetzung sind ihnen selten vermittelt worden.
Sie sind es gewohnt, die Professionellen in ihrem Umfeld als Experten zur
Konfliktschlichtung in Anspruch zu nehmen.
Die Frauen, die trotz innerer und äußerer Hürden in die Gruppe kommen, sind
mutige Frauen.
Sie lassen sich auf neue Erfahrungen ein und nehmen die Angebote, die ich ihnen
mache gern an.
Sie nehmen die Gruppe ernst, halten sich überwiegend an die Regeln und bringen
ihre Lebenserfahrungen in die Gruppe ein.
Die Würze der Gruppe liegt für mich in der Individualität und erkennbaren
Persönlichkeit jeder einzelnen Frau.
Die Ressourcen der Frauen bilden die Basis für die präventive Gruppenarbeit, in der
es darum geht, ihrer tiefen Verunsicherung auf allen Ebenen entgegenzuwirken.
Ziel der Gruppe ist nicht die Bearbeitung sexualisierter Gewalterlebnisse,
sondern die Stärkung der Frauen in ihrem Körper- und Selbstwertgefühl.
Auch, wenn die Gruppe nicht therapeutisch, sondern präventiv ausgerichtet ist, so ist
es mir dennoch ein Anliegen, einen heilsamen Raum für die Frauen zu schaffen.
Denn alle von ihnen haben in irgendeiner Form Gewalt und Demütigung erlebt.
In der Gruppenarbeit haben sich für mich fünf Arbeitsprinzipien herauskristallisiert:
1. Verlässliche Gruppenstruktur und Gruppenleitung
In einem Vorgespräch können die Frauen mich in den Räumen der Beratungsstelle
kennenlernen. Sie erhalten Informationen über die Gruppe und wir sprechen über
ihre Vorstellungen und Ängste in Bezug auf die Gruppe. Erst nach dem ersten
Gruppenabend entscheiden sie sich endgültig für oder gegen die Teilnahme.
Jeder Gruppenabend läuft ritualisiert ab und besteht aus den gleichen Elementen.
Das gibt den Frauen Sicherheit, weil sie in Bezug auf die Struktur wissen, was auf sie
zukommt.
Jeder Gruppenabend besteht aus folgenden Elementen
• Begrüßung/ Präsentation
• Körperarbeit
• Gesprächsrunde zu aktueller Befindlichkeit und aktuellen Themen
• Pause, ohne Leitung ( bietet den Frauen Möglichkeit zum Austausch
und evtl. auch für Verabredungen außerhalb der Gruppe)
• Bearbeitung eines Themas
• Abschlussrunde, in der das Thema des nächsten Gruppenabends
angekündigt wird
• Abschlusstanz
Die Frauen können sich darauf verlassen, dass ich als Leiterin die Zeiten einhalte
und auch sonst auf die Einhaltung von Grenzen achte.
Solrun Jürgensen Schattenriss Bremen Oktober 2006
Sie wissen auch, dass ich sie in Konflikten mit anderen Frauen in der Gruppe
begleite.
Dabei beschränke ich mich darauf, die Frauen untereinander ins Gespräch zu
bringen und sie darin zu unterstützen, gemeinsam zu einer Lösung zu finden.
Die klare Struktur und die Verlässlichkeit der Leitung gewährleistet einen sicheren
Rahmen für die Frauen.
2. Wertschätzung
Eine wertschätzende Haltung gegenüber dem Klientel sollte Grundlage jedes
pädagogischen und therapeutischen Handelns sein, ist damit also eigentlich nichts
Erwähnenswertes.
Meiner Ansicht nach ist es aber in der Arbeit mit geistig behinderten Frauen aufgrund
der Defizitsicht, mit der ihnen oft begegnet wird, besonders wichtig , ihnen mit echter
Wertschätzung und Anteilnahme, mit Neugier und Offenheit für ihre Person sowie
ihre Lebensgeschichte zu begegnen.
Die Anerkennung ihrer Kraft und Stärke, mit der sie ihr oft schweres Leben
bewältigen und das Aufspüren von schönen Situationen und
Unterstützungspersonen in ihrem Leben, sind wichtige Bestandteile der Arbeit.
Diese innere Haltung bringe ich oft zum Ausdruck, indem ich den Frauen bewusst
sehr viel positive Rückmeldungen gebe, z.B. auf ihr Aussehen, ihre Redebeiträge
und die Fortschritte, die ich wahrnehme.
Schließlich wissen wir alle, wie gut es tut, von jemandem zu hören: „ Ich freue mich,
Dich zu sehen!“ oder „Schön, dass es Dich gibt!“ oder „Gut siehst Du heute aus!“
Solche Sätze hören die Frauen sicher nicht oft!
Ich beginne die erste Gruppenstunde immer damit, dass jede von mir eine Blume für
ihre innere Schönheit und ein Teelicht für ihr inneres Leuchten bekommt.
Eine Frau fragte mich daraufhin „ Solrun, glaubst Du das wir so etwas überhaupt
haben, innere Schönheit?“
Meine Antwort, dass ich sicher sei, dass jeder Mensch, jede Frau an sich
vollkommen und schön ist, überraschte und irritierte sie.
Eine gute Voraussetzung für das Auflösen alter Denkgewohnheiten und die
Entwicklung neuer positiver Einstellungen zu sich selbst.
3. Förderung der Präsenz
Um sich selbst zu behaupten, muss frau überhaupt erst einmal wahrgenommen
werden.
Die Frauen in meinen Gruppen scheinen oft das Gefühl zu haben, dass es besser ist,
gar nicht aufzufallen.
Beispielsweise sitzen sie oft schon vor Ende der Pause wieder im Gruppenraum und
sind mucksmäuschen still, so dass ich mich frage, ob sie überhaupt noch da sind.
Um die Präsenz der Frauen zu fördern, habe ich zu Beginn jedes Gruppenabends
eine Präsentation eingeführt.
Wir kommen im Kreis zusammen, in der Mitte stehen die Blumen für die innere
Schönheit und die Teelichter die die Frauen für ihre innere Kraft angezündet haben.
Nacheinander hat jede Frau die Aufgabe, einen Schritt in den Kreis zu tun, sich mit
ihrem vollständigen Namen vor zu stellen und beispielsweise zu sagen, wie es ihr
heute geht, was sie besonders gut kann oder was ihr Lieblingsessen ist.
Das fördert zum einen die Selbstwahrnehmung der Frauen und das differenzierte
Ausdrücken von Gefühlen.
Solrun Jürgensen Schattenriss Bremen Oktober 2006
Zum anderen ist dies auch eine Möglichkeit, die eigene Stimme zu erheben und zu
lernen, sich durch lautes Sprechen Gehör zu verschaffen.
Am Anfang war das für alle Frauen eine große Herausforderung.
Zu Beginn der letzten Gruppe war ich dann sehr erstaunt, wie kraftvoll die Frauen,
die zum wiederholten Male teilnahmen, sich präsentierten. Als wollten sie es den
Neuen zeigen. Gut so!
4. Körperarbeit
Aus dem was wir im ersten Teil über die Entwicklung des Körpergefühls von Frauen
mit geistiger Beeinträchtigung gehört haben, ergibt sich, dass die Förderung der
Körperwahrnehmung und Körpererfahrung entscheidend sind für die Entwicklung
eines gesunden Selbstbewusstseins.
Die Frauen müssen erleben, dass sie als erwachsene sexuelle Wesen wahr- und
ernstgenommen werden.
Dazu gehören Wissensvermittlung u. Gespräche über den Frauenkörper,
Menstruation, Wechseljahre, Verhütung, Sterilisation, Kinderwunsch und
Geburtserlebnisse, sexuelle Erlebnisse, unterschiedliche sexuelle Orientierungen
und Lebensformen.
Die Frauen erleben so, dass über Sexualität gesprochen werden kann.
Auch sexuelle Übergriffe werden thematisiert.
Ihnen wird vermittelt, wie Täter und Täterinnen vorgehen, dass diese meistens aus
ihrem sozialen Umfeld stammen, dass es sich bei sexualisierter Gewalt um Straftaten
handelt und dass sie als Opfer ein Recht auf Unterstützung haben.
Weiterhin ist es von großer Bedeutung, dass die Frauen ihren Körper nicht nur als
defekt und leidbringend erleben, sondern auch als Quelle von Freude, Stärke und
Lust.
Dazu biete ich einfache unkomplizierte Übungen an, die die Körperwahrnehmung
und den Energiefluß fördern.
Dazu gehören leichte Quigong Übungen oder das sog. Fliegen aus der
hawaianischen Körperarbeit, das Lebensfreude weckt.
Kraftvolle Kreistänze und Übungen zur Selbstbehauptung und-verteidung gehören
ebenfalls zum Repertoire.
Besonders beliebt sind auch die gegenseitige Igelballmassage nach Musik und
Phantasiereisen zum inneren sicheren Ort.
5. Nutzen der Gruppe als Übungsfeld für soziale Kompetenz
Die Gesprächsrunden zu Beginn des Gruppenabends werden von mir genutzt, um
die Frauen miteinander ins Gespräch zu bringen.
Berichtet eine Frau von einem Problem, beispielsweise, dass sie Alpträume habe,
seitdem sie in eine eigene Wohnung gezogen sei, dann bitte ich der Reihe nach alle
Frauen, ihre Erfahrungen, z.B. im Umgang mit Alpträumen zu berichten oder sich zu
überlegen, was der Frau helfen könnte.
Bei einigen Themen arbeiten die Frauen in Arbeitsgruppen, damit sie sich stärker
aufeinander beziehen.
Auf diese Weise bietet sich den Frauen außerhalb des alltäglichen Umfeldes einen
Raum, indem sie sich über Probleme mit dem Freund, mit Mitbewohnerinnen oder
am Arbeitsplatz austauschen können.
Solrun Jürgensen Schattenriss Bremen Oktober 2006
Sie können sich gegenseitig beraten und erleben, dass ihre Meinung und
Lebenserfahrungen auch für andere von Bedeutung sind.
Sie sind mit ihren Erfahrungen nicht allein.
Anderen ergeht es ähnlich.
Im Rollenspiel können die Frauen neue Reaktions- und Handlungsmöglichkeiten
erproben.
So lernen sie, ihre Interessen zu vertreten und Grenzen zu setzen und erleben, dass
sie nicht wehrlos sind !
Von einigen Frauen habe ich die Rückmeldung erhalten, dass sie durch die
Teilnahme an der Gruppe mutiger geworden sind, sich abzugrenzen, aber auch mit
anderen in Kontakt zu treten.
Einmal rief mich eine Frau an, nachdem sie in einem Imbiss einen lästigen Mann mit
Erfolg abgewehrt hatte.
Sie hatte ihm einfach gesagt, er solle sie gefälligst in Ruhe lassen.
Im Telefonat berichtete sie stolz, sie hätte sich vorgestellt, dass die Frauengruppe
hinter ihr gestanden hätte, genau wie wir es am Montag geübt hätten.
Die Frauen, die zur Gruppe kommen profitieren erkennbar von der Gruppe. Vor allem
Frauen, die an mehreren Gruppendurchgängen teilnehmen.
Ich finde es wichtig, dass sie die Möglichkeit dazu haben, denn die Verunsicherung
sitzt ihnen in allen Zellen.
Es braucht Zeit und Geduld damit sich Veränderungen im Selbstbild und in
Verhaltensweisen festigen können.
Mit der beschriebenen wertschätzenden Haltung, mit den Methoden, die für die
Frauen z.T. neu sind und damit auch eine Herausforderung für sie darstellen sowie
mit dem Nutzen der Gruppe als Übungsfeld für soziale Kompetenz, hoffe ich einen
Beitrag dazu leisten zu können, dass Frauen mit geistiger Beeinträchtigung
selbstbewusster werden, ihre Grenzen und Rechte besser kennen lernen und sich
letztendlich besser vor sexuellen Übergriffen schützten können.
Dafür brauchen sie allerdings Menschen in ihrer Umgebung, die sie ernst nehmen,
ihnen glauben und sie unterstützen.
Solrun Jürgensen Schattenriss Bremen Oktober 2006
Solrun Jürgensen Schattenriss Bremen Oktober 2006
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