Sport und Gesellschaft – Sport and Society, Jahrgang 1 (2004), Heft 3, S. 197-218 © Lucius & Lucius Verlag Stuttgart Michael Meuser Zwischen „Leibvergessenheit“ und „Körperboom“. Die Soziologie und der Körper Between “Body Oblivion” and “Body Boom”: Sociology and the Body Zusammenfassung Der Beitrag rekapituliert die Entwicklung der Körpersoziologie in den letzten 20 Jahren, fragt nach dem Stellenwert des Körpers in der soziologischen Theorietradition und unterscheidet drei thematische Schwerpunkte körpersoziologischer Forschung und Theoriebildung: die kulturelle Formung des Körpers, der Körper als Zeichenträger und der Körper als agens. Das soziologische Interesse am Körper betrifft bislang vornehmlich die beiden ersten Fragestellungen. Demgegenüber bleibt die Praxis des Körpers eigentümlich unterbelichtet. Die Entwicklung einer praxeologischen Analyse des Körpers wird als die zentrale Herausforderung für eine Soziologie des Körpers gesehen. Abschließend werden zwei Forschungsdesiderate skizziert: die soziale Genese einer vorreflexiven, verkörperten Intentionalität und die Materialität des Körpers. Summary This paper recapitulates the development of the sociology of the body over the past 20 years. It asks for the body’s place in sociological theory and distinguishes between three main ideas of bodysociological research and theory: a) the cultural shaping of the body, b) the body‘s function to symbolize social affiliations, and c) the acting body. The sociological interest in the body refers mainly to the first two areas. In comparison, research concerning the practice of the body has been neglected. The development of a praxeological analysis of the body is seen as the main challenge for the sociology of the body. Finally, two future research ideas are outlined: the social genesis of a pre-reflexive, embodied intention and the materiality of the body. Als vor mehr als zwanzig Jahren Kamper und Wulf (1982) eine „Wiederkehr des Körpers“ diagnostizierten, nahm die Soziologie davon kaum Notiz. Noch zehn Jahre später monierte Joas (1992, S. 245) zu Recht, das Verhältnis der soziologischen Handlungstheorie zum Körper gleiche einer „Art theoretischer Prüderie“. Wiederum zehn Jahre später ist der Körper zu einem prominenten Forschungsgegenstand avanciert. Mit „Body and Society“ wurde 1995 eine einschlägige Zeitschrift gegründet, die Deutsche Forschungsgemeinschaft richtete Mitte der neunziger Jahre einen interdisziplinären Forschungsschwerpunkt „Theatralität“ ein, dessen Prämisse lautete, dass sich die Gegenwartskultur zunehmend „in theatralen Prozessen der Inszenierung und Darstellung“ (DFG, 1995, S. 2) konstituiere. Theatralität wird als „historisch und kulturell bedingte Art der Körperverwendung in kommunikativen Prozessen“ begriffen (S. 9). Seit Anfang des 21. Jahrhunderts steigt die Zahl 198 Michael Meuser körpersoziologischer Publikationen deutlich an.1 Auf dem diesjährigen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie war der Körper erstmals Gegenstand einer Plenarveranstaltung. Der Körper, so scheint es, hat gegenwärtig Konjunktur in der Soziologie (und darüber hinaus in dem breiten Feld der Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften). Er ist nicht nur zum Gegenstand einer Vielzahl aktueller Forschungen geworden, zugleich erfahren die Werke soziologischer Klassiker der ersten und zweiten Generation eine neue Rezeption, die nach „Spuren“ einer Soziologie des Körpers in der soziologischen Theorietradition sucht.2 Stellt sich mithin die Situation heute gründlich anders dar als noch vor zehn Jahren? Ist die „theoretische Prüderie“ einem ‘Körperboom’ gewichen? Um diese Frage zu beantworten, bedarf es einer differenzierten Betrachtung, die unterscheidet, in welchen Aspekten oder Dimensionen der Körper thematisch wird. Die Fragen, welche die Soziologie des Körpers stellt, lassen sich grob in drei Kategorien unterteilen: (1) Was geschieht mit dem Körper? Welche kulturelle Formung erfährt er? (2) Wie werden über den Körper soziale Zugehörigkeiten zum Ausdruck gebracht? (3) Was tut der Körper? Wie ist die Praxis des Körpers beschaffen? Der soziologische ‘Körperboom’ betrifft bislang vornehmlich die beiden ersten Fragestellungen, den Aspekt der kulturellen Formung des Körpers und den des Körpers als Zeichenträger. In diesen Kontexten erfolgt u.a. die Rezeption von Klassikern wie Elias und Foucault sowie die Diskussion über die Bedeutung des Körpers in der „Inszenierungsgesellschaft“ (Willems & Jurga, 1998). Demgegenüber bleibt die Frage, in welcher Hinsicht der Körper als agens zu begreifen ist, bleibt also die Praxis des Körpers eigentümlich unterbelichtet. Diese Dimension einer Soziologie des Körpers kommt vor allem in der Diskussion des Werkes von Bourdieu zum Tragen. Die „praktische, nicht thetische Intentionalität”, die Bourdieu (2001, S. 184) zufolge den Habitus kennzeichnet, ist eine fundamental körpergebundene. Ich werde im Folgenden zunächst skizzieren, welche wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Diskurse den Körper zu einem Thema gemacht haben, das die Soziologie nicht mehr ignorieren konnte, sodann darlegen, in welchen soziologischen Theorietraditionen dem Körper Aufmerksamkeit geschenkt wird, und schließlich entlang der drei analytisch unterschiedenen grundlegenden Fragestellungen den Stand der Soziologie des Körpers zu umreißen und dabei zu zeigen versuchen, dass die Soziologie sich einerseits des Körpers als Untersuchungsgegenstand bemächtigt, andererseits aber eine handlungstheoretische Fundierung der Körpersoziologie noch kaum geleistet hat. Folgt man Max Webers Diktum, dass der Gegenstand der Soziologie soziales Handeln ist, dann kommt der Praxis des Körpers mindestens der gleiche Stellenwert zu wie dessen kultureller Formung und seinen theatralen Präsentationsformen. In der Entwicklung einer praxeologischen Analyse 1 2 Vgl. für Deutschland z.B. Alkemeyer, Boschert, Schmidt und Gebauer (2003a), Gugutzer, (2002a), Jäger (2004), Koppetsch (2000), Hahn und Meuser (2002a). Ein sicherlich nicht zu überschätzender, gleichwohl informativer Indikator ist die Anzahl der Einträge, die die sozialwissenschaftliche Literaturdatenbank „SOLIS“ für das Schlagwort „Körper“ für die letzten 24 Jahre ausweist. Mit gewissen Schwankungen steigt die Zahl der Einträge stetig – von drei im Jahr 1980 auf 94 im Jahr 2003. Beispielhaft hierfür ist nach wie vor Shilling (1993). Zwischen „Leibvergessenheit“ und „Körperboom“. Die Soziologie und der Körper 199 des Körpers, in deren Formulierung die beiden anderen Dimensionen einzuschließen sind, liegt m.E. die zentrale Herausforderung für eine Soziologie des Körpers. Zugleich stellt eine solche Analyse eine wichtige Erweiterung der soziologischen Handlungstheorie in Aussicht. 1 Zur Entwicklung der Körpersoziologie Die Feststellung, der Körper sei erst im Laufe der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zu einem Thema der Soziologie geworden, ist insofern nicht korrekt, als es zwei bereits länger etablierte spezielle Soziologien gibt, in denen der Körper gewissermaßen ressortspezifisch ‘verwaltet’ wird: die Sportsoziologie und die Medizinsoziologie. Diese Subdisziplinen sind geradezu auf den Körper verwiesen, wollen sie ihr Geschäft betreiben. Sport und Medizin sind soziale Systeme, deren jeweiliger Zweck ganz entscheidend über den Einsatz von Körpern bzw. durch Eingriffe in den Körper erreicht wird. In der Medizinsoziologie gerät der Körper des Patienten als Objekt ärztlichen Handelns und medizinischer Eingriffe in den Blick; hier erscheint der Körper überwiegend als passiv. Die Sportsoziologie hat es hingegen sowohl mit dem Körper als Objekt der Gestaltung als auch mit dem agierenden Körper des Sportlers bzw. der Sportlerin zu tun. Der ‘Körpereinsatz’, der für die Mitgliedschaft im jeweiligen sozialen Feld erforderlich ist, unterscheidet sich deutlich. Während die ‘Mitgliedschaft’ des Patienten im sozialen Feld der Medizin dadurch hergestellt wird, dass er seinen Körper für medizinische Eingriffe gleichsam zur Verfügung stellt, indem er sich behandeln lässt, erlangt der Sportler Mitgliedschaft im sozialen Feld des Sports dadurch, dass er seinen Körper in spezifischer Weise aktiv einsetzt. Die Bedeutung, die dem agierenden Körper im Feld des Sports zukommt, zwingt die Sportsoziologie nachgerade dazu, diese Dimension von Körperlichkeit in den Blick zu nehmen. Möglicherweise ist die Mehrdimensionalität, in der der Körper in der Sportsoziologie thematisch ist, ein Grund dafür, dass Arbeiten aus der Sportsoziologie von Einfluss auf die Entwicklung einer allgemeinen Soziologie des Körpers sind (vgl. z.B. Bette, 1989; Klein, 1984; Klein, 1992; Rittner, 1994), wohingegen entsprechende Impulse aus der Medizinsoziologie kaum festzustellen sind.3 Eine spezielle Soziologie, die ebenfalls ohne eine Fokussierung auf den Körper (eigentlich4) nicht vorstellbar ist, ist die Sexualsoziologie. Wie Lautmann betont, stellt sich für die Sexualsoziologie unabweisbar die Aufgabe, ein Konzept des (sexuell) handelnden Körpers zu entwickeln. „Das Sexuelle ist wohl derjenige Bereich unseres Sozialverhaltens, in dem die Handlungsqualität des Körpers am stärksten ausgebildet ist“ (Lautmann, 2002, S. 28). Wenn die Sexualsoziologie in der sich entwickelnden allgemeinen Soziologie des Körpers einen eher geringen Stellenwert hat, dann wird man dies als Ausdruck der institutionellen 3 4 Da der Gegenstand dieses Beitrages die Entwicklung einer allgemeinen Soziologie des Körpers ist, werde ich auf den spezifischen sportsoziologische Körperdiskurs nicht en détail eingehen. Dass man Sexualsoziologie (und Sexualforschung generell) ohne eine Berücksichtigung der Körperlichkeit von Sexualität betreiben kann, zeigen die zahlreichen sexualwissenschaftlichen Umfragestudien, wie sie in der Nachfolge des Kinsey-Reports durchgeführt worden sind. 200 Michael Meuser Randständigkeit dieser speziellen Soziologie sehen müssen, die anders als die Medizin- und die Sportsoziologie nicht in Gestalt einer Sektion in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie etabliert ist.5 Es mag aber auch Ausdruck dessen sein, dass die soziologische Erforschung der Sexualität lange Zeit ohne eine Berücksichtigung der Körperlichkeit von Sexualität betrieben worden ist. Aber dies ist kein Einzelfall, sondern spiegelt die weitgehende Vernachlässigung der Dimension des Körperlichen in der Soziologie bis Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Selbst die Soziologie der Gewalt, die ein soziales Handeln thematisiert, dessen Kern die handgreifliche Interaktion von Körpern ist, muss daran erinnert werden, dass eine soziologische Gewaltforschung ohne ein körpersoziologisches Fundament ihren Gegenstand zu verfehlen droht (vgl. von Trotha, 1997). Zu einem Gegenstand der allgemeinen Soziologie ist der Körper aber nicht in Gestalt einer Bündelung der skizzierten spezialsoziologischen Fragestellungen geworden. Hierzu bedurfte es einer Reihe von außerdisziplinären Entwicklungen. Die in den 1990er Jahren einsetzende Fokussierung des Körpers geschah zunächst zu großen Teilen im Rahmen des Diskurses der Postmoderne. Dieser Diskurs hat wesentlich dazu beigetragen, die körperliche Dimension des sozialen Handeln in Erinnerung zu rufen. Die postmoderne Rationalitätskritik bestreitet, dass es eine singuläre Autorität gibt, durch die wir die Welt begreifen können (Turner, 1996, S. 17). Das cartesianische „cogito, ergo sum“ wird attackiert und damit der Dualismus von Körper und Geist. Joas (1992, S. 365) sieht die „grundlagentheoretische Provokation der ‘Postmoderne’-Diskussion“ darin, dass sie die selbstverständliche Fortführung der rationalistischen Tradition in der soziologischen Handlungstheorie unmöglich macht. Der postmoderne Diskurs bezeichnet den intellektuellen Rahmen der neuen Aufmerksamkeit auf den Körper, die Popularität des Themas ist freilich kein bloß diskursiver Effekt. Turner (1996), dessen Buch „The Body and Society“ eine der am häufigsten genannten Referenzquellen des rezenten sozial- und kulturwissenschaftlichen Körperdiskurses ist, hat in diesem Zusammenhang den Begriff der „somatischen Gesellschaft“ („somatic society“) geprägt. Dies sei eine Gesellschaft, in der die zentralen politischen und persönlichen Probleme durch den Körper sowohl problematisiert als auch ausgedrückt werden. Diese nicht sehr klare Formulierung und der Begriff der „somatischen Gesellschaft“ bezeichnen in etwa den Rahmen, in dem sich der sozial- und kulturwissenschaftliche Diskurs über den Körper gegenwärtig bewegt. Dieser Diskurs verdankt seine wesentlichen Impulse zum einen der wissenschaftlichen Reflexion der unter dem Stichwort ‘Konsumkultur’ zusammengefassten Entwicklungen, zum anderen der in enger Verbindung zur feministischen Bewegung entstandenen Frauen- und Geschlechterforschung und deren Diskussionen über den Geschlechtskörper.6 5 6 Obwohl mit Helmut Schelsky (1955) ein durchaus prominenter Soziologe bereits vor ca. 50 Jahren eine Monographie zur „Soziologie der Sexualität“ vorgelegt hat, ist die Sexualität ein marginales Thema in der Soziologie geblieben. Zu weiteren bedeutsamen Entwicklungen vgl. Hahn und Meuser (2002b). Zwischen „Leibvergessenheit“ und „Körperboom“. Die Soziologie und der Körper 201 Turners These, dass wir gegenwärtig in einer „somatischen Gesellschaft“ leben, bezieht sich vor allem auf die mit dem Begriff der ‘Konsumkultur’ bezeichneten Entwicklungen. Mit diesem insbesondere in der amerikanischen Soziologie populären Begriff werden Veränderungen der Struktur fortgeschrittener westlicher kapitalistischer Gesellschaften in der zweiten Hälfte und insbesondere im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts umschrieben. Der Körper ist in diese Entwicklungen dergestalt involviert, als dass seine Funktion sich grundlegend ändert: Er wird vom zu disziplinierenden Instrument der industriellen Produktion (‘harte’ körperliche Arbeit) zum Objekt kultureller Inszenierungen bzw. zum gezielt genutzten Ausdrucksmedium (vermeintlich) frei gewählter Zugehörigkeiten zu subkulturellen Milieus und Szenen.7 Fitness und körperliches Wohlbefinden („feeling good“) erscheinen als neue zentrale gesellschaftliche Werte (Baumann, 1995). Der junge, attraktive Körper wird zum Ideal, um den sich eine ‘Industrie’ bemüht, die von der Kommerzialisierung des Körpers lebt und sie zugleich vorantreibt. Die körperliche Selbstdarstellung und ein adäquates KörperImage werden in wachsendem Maße identitätsrelevant, eine vorteilhafte Performance verspricht Distinktionsgewinne. Hierdurch wird ein Markt befördert, auf dem reflexives Körperwissen feilgeboten und nachgefragt wird (Meuser, 2003). In der „Inszenierungsgesellschaft“ (Willems & Jurga, 1998) wird den Akteuren der Tendenz nach eine hoch aufmerksame, reflexive Zuwendung auf den eigenen Körper abgefordert. Die Individuen werden für den Zustand ihres Körpers verantwortlich gemacht. Um ein vorteilhaftes Image zu erzielen, werden Investitionen in den Körper bzw. in dessen Erscheinung notwendig. Gemäß der (Illusion der) Optionalität von Lebensstilen erscheint der Körper als Projektionsfläche (post)moderner Bastelexistenzen (Hitzler, 2002). Der Körper wird zu einer zentralen Sinnressource, welche inzwischen durch zahlreiche mediale Sinnofferten der Kulturindustrie erschlossen ist.8 Angesichts der Ambivalenzen der Moderne erscheint vielen der Körper – wegen seiner Materialität – als letzte verbleibende Identitätsressource, die Dekonstruktionsbemühungen nicht zugänglich ist (Shilling, 1993, S. 182). Das zeigt sich gegenwärtig besonders deutlich im Feld der Geschlechterbeziehungen (Meuser, 2003). In die Tendenz zu einer theatralen Inszenierung des Körpers und einer individuellen Selbstvergewisserung durch eine erfolgreiche Arbeit am eigenen Körper ist in wachsendem Maße auch der moderne Sport einbezogen (Rittner, 1994). Das gilt vor allem für all die neuen Sportarten wie Streetball, Mountainbiking, Inlineskating, Freeclimbing usw., die weitgehend außerhalb der traditionellen Institutionen des Sports, der Vereine, betrieben werden. Und auch dort, wo die sportliche Aktivität eines institutionellen Rahmens bedarf, 7 8 Alkemeyer et al. (2003b, S. 10) begreifen die Entwicklung von einer Disziplinierung des Körpers, wie sie insbesondere Foucault beschrieben hat, zu dessen Selbstgestaltung als Ausdruck der Veränderungen in der Erwerbsarbeit. Insbesondere hat sich ein auf die Vermittlung von Körperwissen spezialisierter Zeitschriftenmarkt etabliert, dessen Produkte sowohl an ein allgemeines Publikum (z.B. „Fit for Fun“) als auch an Teilpublika adressiert sind (z.B. „Men’s Health“). 202 Michael Meuser ersetzt z.B. die fashionable Atmosphäre des Fitness-Centers den Mief der Turnhalle. In Extremsportarten werden die Grenzen des Körpers ausgelotet, und dies gilt den Akteuren als Element der Selbsterfahrung. Das Riskieren des eigenen Körpers lässt sich als spielerischer Umgang mit dem Selbst (Alkemeyer, 2003) bzw. als Akt der „Selbstermächtigung des modernen Subjekts“ (Bette, 2003, S. 21) begreifen. Im Kontext des Diskurses zur ‘Konsumkultur’ hat die Körpersoziologie in gegenwartsdiagnostischer Absicht das Konzept der Theatralität aufgegriffen, das den Körper als das zentrale Medium der Selbstpräsentation und der Symbolisierung sozialer Zugehörigkeiten in einer Inszenierungsgesellschaft bestimmt. Wichtige Impulse für die grundlegende Diskussion darüber, welche konzeptuellen Kategorien einer Soziologie des Körpers angemessen sind, wie also der Körper überhaupt als ein soziologischer Gegenstand konstituiert werden kann, kommen aus der Geschlechterforschung. Der Feminismus hat den weiblichen Körper erfolgreich zum Gegenstand sowohl politischer Auseinandersetzungen als auch wissenschaftlicher Diskussionen gemacht. In den feministischen Emanzipationsdebatten hatte der weibliche Körper von Beginn an eine ‘exponierte Stellung’ in zweifacher Hinsicht: als primäres Objekt patriarchaler Unterdrückung wie als Ort von Befreiungshoffnungen (Rose, 1992, S. 113). Er wurde „zum politischen ‘Kampfplatz’ um die Autonomie des (weiblichen) Selbst“ (Villa, 2000, S. 53). Ziel feministischer Körperpolitik ist es, den weiblichen Körper männlicher Kontrolle zu entziehen (Davis, 1996). Die im frühen Feminismus der siebziger und achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zwar nicht unbedingt dominante, aber doch prominente Perspektive, eine (vermeintliche) weibliche Körpernähe der instrumentellen Vernunft des Mannes entgegenzusetzen, hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, die Kritik am cartesianischen Dualismus zu befördern. Das cartesianische Axiom wurde als eine typisch männliche Konstruktion beschrieben. Von Einfluss auf die körpersoziologische Theoriediskussion ist freilich die in der rezenten Geschlechtersoziologie vorherrschende konstruktivistische Perspektive, derzufolge nicht nur das Geschlecht, sondern auch der (geschlechtliche) Körper als sozial konstruiert begriffen wird. Der sozialwissenschaftliche Körperdiskurs wird gleichsam entnaturalisiert. Der Körper wird als ein in Diskursen und Interaktionen hergestellter Sinnkörper konzipiert, der – zumindest in der radikal-konstruktivistischen Perspektive – kein materiales Eigenleben außerhalb seiner kulturellen und sozialen Konstruktion hat (Butler, 1991; Hirschauer, 1993). In diesem Verständnis ist es nicht möglich, einen materialen Körper von einem Sinnkörper zu unterscheiden, da der Körper nicht anders denn als kultureller Körper gegeben ist. Dieser körpertheoretische Ansatz ist in der Geschlechterforschung alles andere als unumstritten (Meuser, 2004a). Aber auch dann, wenn man den Körper als eine gleichermaßen materiale und symbolische Realität begreift, wird man konzedieren müssen, dass der radikal-konstruktivistische Ansatz der körpersoziologischen Theoriediskussion entscheidende Impulse gegeben hat. Körpererfahrungen lassen sich demnach nicht als vor- oder außersozial begreifen, sie werden wie andere Erfahrungen „innerhalb einer spezifischen symbolischen Ordnung gemacht“ (Maihofer, 2002, S. 69). Zwischen „Leibvergessenheit“ und „Körperboom“. Die Soziologie und der Körper 203 Ein für die körpersoziologische Theoriediskussion höchst bedeutsames Konzept ist Lindemanns (1992) Theorie einer „leiblich-affektiven Konstruktion von Geschlecht“, mit der sie das komplexe Verhältnisses von kultureller Konstruktion und körperlicher Materialität zu entschlüsseln versucht. Lindemann begreift im Anschluss an Plessners Unterscheidung von Leibsein und Körperhaben den Leib als eine Wirklichkeit sui generis, zu der es allerdings keinen unvermittelten Zugang gibt. Vielmehr strukturiert „in der Verschränkung von Leib und Körper letzterer die leibliche Erfahrung“ (Lindemann, 1993, S. 33). Wie ich meinen Leib spüre, ist durch mein Körperwissen geprägt. Gleichwohl ist „Leiblichkeit als Konstituens von Sozialität“ (S. 21) zu sehen. Der Leib agiert. Dies steht der sozialen Konstruktion der Leiberfahrung nicht entgegen. „Der Leib bildet das historisch geformte Agens geschichtlicher Prozesse“ (S. 172). 2 Spurensuche: Der Körper in soziologischen Theorien Es ist eine zumindest in den Sozial- und Geisteswissenschaften übliche Praxis, im Zuge der Etablierung eines neuen Forschungsgebietes nach Anknüpfungspunkten in den Werken solcher Wissenschaftler zu suchen, die Eingang gefunden haben in den ‘Kanon’ der für das jeweilige Fach identitätsstiftenden Wissensbestände. Die Körpersoziologie macht hier keine Ausnahme, und der Bezug auf die Klassiker sowie auf anerkannte Theorieentwürfe erfüllt nicht nur die Funktion, der neuen Forschungsrichtung Legitimität zu beschaffen, indem gezeigt wird, dass zumindest einige Klassiker und Theorietraditionen die Bedeutung des Themas für die Soziologie gesehen haben, er vermag auch Konzepte zu einer soziologischen Durchdringung des Körper-Themas bereit zu stellen. Shilling, der eine Rezeption der Klassiker in seinem Buch „The Body and Social Theory“ für die Körpersoziologie in umfassender Weise geleistet hat, spricht von einer „abwesenden Anwesenheit“ des Körpers in der klassischen Soziologie (Shilling, 1993, S. 9). Der Körper ist, so Joas (1992, S. 246), in Gestalt einer verborgenen Annahme anwesend: als implizite Unterstellung, der Körper sei ein beherrschbares Instrument, beliebig einsetzbar, um die Zwecke zu erreichen, die ein rationaler Akteur seinem Handeln setzt. Das Zweck-Mittel-Schema und das teleologische Verständnis von Intentionalität haben ihren Ursprung in Max Webers „Grundbegriffen“, die das soziologische Verständnis sozialen Handelns weitgehend geprägt haben. Deren „rationalistischer Bias“ (Gerhards, 1989, S. 337) hat für den Körper keinen Platz. Zwar benennt Weber als einen von vier Typen sozialen Handelns auch das „affektuelle“ Handeln – und hier könnte die Körperlichkeit ihren theoriesystematischen Ort haben –, doch formuliert er keine Soziologie des Affektuellen. Im Sinne der typenbildenden Betrachtung werden hingegen „alle irrationalen, affektuell bedingten, Sinnzusammenhänge des Sichverhaltens, die das Handeln beeinflussen, am übersehbarsten als ‘Ablenkungen’ von einem konstruierten rein zweckrationalen Verlauf desselben erforscht und dargestellt“ (Weber, 1980, S. 2). Als eine Dimension des „Sichverhaltens“, mithin nicht des Handelns, kommen (in leibgebundenen Expressionen sich äußernde) Affekte als „Störfaktoren“ in den Blick und können deshalb nicht im Rahmen einer soziologischen Handlungstheorie thematisiert werden. Sie erscheinen als Randbedingungen des Handelns, nicht als soziales Handeln selbst. 204 Michael Meuser Der Mainstream der ‘klassischen Soziologie’ ist nicht minder als die gesamte Geistesgeschichte der okzidentalen Moderne vom cartesianischen Dualismus geprägt. Durkheim (1969, S. 179) stellt einen „konstitutionellen Dualismus der menschlichen Natur“ fest, in welchem sich mit Körper und Seele zwei „radikal heterogene Elemente“ gegenüber stehen. In Parsons’ Handlungstheorie ist der Organismus zwar von Bedeutung für den Austausch mit der Umwelt. Doch dieser Austausch ist, obwohl er nicht unabhängig vom Handeln ist, selbst nicht als Handlung zu begreifen und mithin nicht in Begriffen der Handlungstheorie zu beschreiben. „For the theory of action the organism is not a system, but a unit point of reference” (Parsons, 1951, S. 542).9 Obwohl Schütz den Leib des Handelnden zwar als „Nullpunkt meines Koordinatensystems“ bestimmt, von dem aus der Akteur seine Umwelt ordnet (Schütz, 1971, S. 255), kommt der Körper als Sinnträger jedoch auch hier nicht in den Blick. Dem steht die Schützsche Annahme entgegen, Sinn sei eine post hoc reflexiv erbrachte Leistung, die in der nachträglichen bewussten Hinwendung des Subjektes auf ein bereits vollzogenes Handeln besteht (Schütz, 1974, S. 74 ff.). Indem die Schützsche Analyse der Sinnkonstitution beim reflektierenden Ich ansetzt, bleibt sie dem cartesianischen Dualismus von Körper und Geist verhaftet (Bergmann & Hoffmann, 1985, S. 107 ff.). Sowohl Parsons als auch Schütz bewegen sich in der Tradition der Weberschen Handlungstheorie. Deren Charakteristikum ist ein voluntaristisches Verständnis sozialen Handelns, demzufolge dem Handeln ein Handlungsentwurf vorausgeht: der subjektiv gemeinte Sinn. Betrachtet man nun, was den soziologischen Theorieansätzen gemeinsam ist, in denen der Körper einen Platz oder zumindest eine gewisse Geltung hat, dann ist dies eine mehr oder minder kritische Distanz sowohl zu einem intentionalistisch-teleologischen Modell sozialen Handelns als auch zur cartesianischen Tradition des Denkens. Der Körper scheint vor allem in den soziologischen (Handlungs-)Theorien einen Platz zu haben, die nicht ‘egologisch’, von der Perspektive des handelnden Subjekts aus konzipiert sind, sondern ihren Ausgang bei der Intersubjektivität sozialen Handelns nehmen. Dies zeigt eine Rezeption der Arbeiten von Mead und Goffman, aber auch von Bourdieu, auf den unten ausführlicher eingegangen wird. Die Rezeption des Werkes von Mead durch den Symbolischen Interaktionismus, welche das Mead-Verständnis lange Zeit geprägt und vor allem in der Blumerschen Version Meads breit gefassten handlungstheoretischen Ansatz kognitivistisch verengt hat, lässt leicht übersehen, dass Mead geistige Prozesse im handelnden Organismus verankert. Der handelnde, mit der sozialen wie der natürlichen 9 In vergleichbarer Weise konzipiert Bette (1987, 1989) in seinem Entwurf eines systemtheoretischen, an Luhmann orientierten Zugangs zum Körper diesen als Teil der Umwelt der Gesellschaft: „als Thema der Kommunikation“ (1987, S. 600). Zu der in diesem Beitrag vornehmlich verfolgten Frage nach den Möglichkeiten einer handlungstheoretischen Fundierung der Köpersoziologie vermag der systemtheoretische Ansatz – naturgemäß – wenig beizutragen. So konzediert auch Bette (1989, S. 7), dass, wenn es um die Empirie von Körperpräsentationen geht, der der Systemtheorie eigentümliche „Verlust an Konkretheit ... durch phänomenologisch inspirierte Feinanalysen ... eingeholt und ergänzt werden“ muss. Die Praxis des Körpers lässt sich augenscheinlich nur schwer mit einer systemtheoretischen Begrifflichkeit erfassen. Zwischen „Leibvergessenheit“ und „Körperboom“. Die Soziologie und der Körper 205 Umwelt im Austausch stehende Organismus ist die Grundeinheit der Meadschen Sozialtheorie. Das Fundierungsverhältnis von Körper und Geist beschreibt Mead geradezu entgegen der cartesianischen Tradition. „Die menschliche Gesellschaft funktioniert dadurch, daß körperliche Subjekte durch die Manipulation physischer Objekte einander in ihren kooperativen Handlungen helfen oder behindern“ (Mead, 1969, S. 427). Geistige Prozesse entwickeln sich erst auf dieser Basis praktischer Kooperation. Grundlage der Erkenntnis ist die körperliche Kontakterfahrung (Mead, 1987, S. 97). Die körperbasierte Kooperation fundiert die „praktische Intersubjektivität“ (Joas, 1980), welche den Kern sozialen Handelns ausmacht. Goffman zufolge ist die Fähigkeit des Menschen, in das soziale Leben einzugreifen, entscheidend vom Management des Körpers in Raum und Zeit abhängig. Die Analyse der Interaktionsordnung, welche Goffman (1994) als den zentralen Untersuchungsgegenstand der Soziologie bezeichnet, erfordert eine Theorie der körperlichen Kopräsenz. Eine soziale Situation ist eine Umwelt („environment“) von Möglichkeiten wechselseitiger Beobachtung, in der ein Individuum sich selbst den „nackten Sinnen“ aller anderen, die ko-präsent sind, zugänglich sieht (Goffman, 1972, S. 63). In zahlreichen Arbeiten hat Goffman verschiedene Aspekte der Bedeutung des Körpers für die Interaktionsordnung beschrieben (Meuser, 2002). Sie zeigen allesamt, dass die Geordnetheit der Interaktion – oder, wenn man so will, die Vermeidung von Chaos – ganz entscheidend auf dem problemlosen vorreflexiven Austausch körperlicher Informationen basiert (Crossley, 1995, S. 139). Im Anschluss an Goffman lässt sich der Körper handlungstheoretisch als sozialer Operator fassen, der in einem Netz von Interaktionen Bedeutungen erzeugt. Diese Bedeutungen sind intersubjektiv vermittelt. Goffmans Verständnis leibgebundender Expressionen ist strikt soziologisch. Diese seien nicht „etwas besonders Individualistisches. Das fragliche Verhalten wird lediglich durch den Körper ausgeführt; es wird durch Erwartungen hervorgerufen und gilt für alle, die sich gerade in der entsprechenden Situation befinden“ (Goffman, 1982, S. 192 f.). Was Goffman hier anspricht, aber nicht weiter ausführt, ist die Frage, wie der Körper diejenige kulturelle und soziale Formung erfährt, die eine praktische Intersubjektivität im Sinne eines wechselseitigen Aufeinander-Abgestimmtseins der leibgebundenen Expressionen ermöglicht. Diese Fragestellung nach der ‘Entstehung’ sozialisierter Körper markiert die Stelle, an der die Körpersoziologie auf die Arbeiten von Foucault, Elias und Bourdieu rekurriert. In der anlässlich der Neuausgabe im Jahr 1968 verfassten umfangreichen Einleitung zu seinem Werk „Über den Prozeß der Zivilisation“ übt Elias (1976) deutliche Kritik am cartesianischen Dualismus. Er wendet sich gegen die Figur des erkenntnistheoretischen Subjekts der klassischen Philosophie, derzufolge „der einzelne Mensch Erkenntnisse über die Welt ‘außerhalb’ seiner ganz aus eigener Kraft“ gewinnt (Elias, 1976, XLVII). Dagegen betont er die Interdependenz von Gesellschaft und Individuum. Von einem „Einzelmenschenbild“ sieht er das Werk „Max Webers oder Parsons und vieler anderer Soziologen“ geprägt (Elias, 1976, L). 206 Michael Meuser Zwar ist der zivilisierte Körper nicht der zentrale Fokus von Elias’ Studie über den Zivilisationsprozess, gleichwohl beschreibt er, wie die für die Ausbildung eines zivilisierten Habitus notwendige Umwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge einen Körper erfordert, der es gelernt hat, Triebimpulsen und Affekten nicht unmittelbar nachzugeben. Im Zuge des Zivilisationsprozesses tritt ein in diesem Sinne verstandenes Körper(selbst)management mehr und mehr an die Stelle körperlicher Stärke als Garant gesellschaftlichen Erfolges. Der Körper wandelt sich im historischen Prozess, er entwickelt neue Fähigkeiten und Empfindungen, wie Elias eindrucksvoll an der Soziogenese der Scham gezeigt hat. Ob man Bourdieu bereits den Klassikern der Soziologie zurechnen darf, sei dahin gestellt, auf jeden Fall ist er einer der bedeutendsten und einflussreichsten Soziologen der letzten 30 Jahre. Mehr als bei den zuvor erwähnten Soziologen ist der Körper in seinen Arbeiten nicht auch thematisch; ihm kommt vielmehr ein zentraler Stellenwert zu, und er ist Gegenstand ausführlicher begrifflicher Erörterungen. Bourdieus praxeologische Theorie grenzt sich gleichermaßen von dem „Subjektivismus“ der egologischen phänomenologischen Tradition als auch von dem „Objektivismus“ eines Strukturfunktionalismus ab (Bourdieu. 1993, S. 49 ff.). Mit dem Konzept des Habitus versucht Bourdieu diese, wie er zu Recht meint, schlechte Alternative zu vermeiden. Dieses Konzept bliebe ohne sein körpertheoretisches Fundament gleichsam „blutarm“. Die Habitustheorie lässt sich als eine Wissenssoziologie des Körpers begreifen. Der Habitus fungiert als körperlicher Speicher von Wissen; desjenigen Wissens, das sich auf die Zugehörigkeit zu einer Soziallage bezieht. Im Habitus ist das Wissen um soziale Differenzierung und um die Mittel des Umgangs mit Differenzen inkorporiert. 3 Dimensionen einer Soziologie des Körpers Die sich entwickelnde Theorie und Empirie einer Soziologie des Körpers lässt sich analytisch in die Fragestellungen nach dessen kultureller Formung, nach seiner Bedeutung als Zeichenträger und nach dem handelnden Körper unterteilen. Hierbei handelt es sich insofern um eine analytische Unterscheidung, als diese Dimensionen auf vielfältige Weise ineinander verwoben sind. Der handelnde Körper ist immer ein kulturell geformter und signifiziert als solcher die soziale Zugehörigkeit des Akteurs. Die Dimensionen bezeichnen Schwerpunkte in der Forschung, mit denen teilweise aber auch Blickverengungen verbunden sind. 3.1 Die kulturelle Formung des Körpers Die Perspektive einer kulturellen Formung des Körpers ist in hohem Maße durch die Arbeiten Foucaults inspiriert. Zwar hat schon Mauss (1989) vor 80 Jahren darauf hingewiesen, dass Körperbewegungen und -funktionen wie das Schlafen, das Ausruhen, die Körperpflege, das Essen und der Geschlechtsverkehr einer kulturellen Habitualisierung unterliegen, dass der Umgang mit dem Körper kulturell geformt ist. Doch war es Foucault, der mit seinen Arbeiten zu einer diskursiven Erzeugung des Körpers den Gedanken radikalisierte, dass Körper kulturelle Gebilde sind. Foucault hat in „Überwachen und Strafen“ (1977) Zwischen „Leibvergessenheit“ und „Körperboom“. Die Soziologie und der Körper 207 sowie in „Der Wille zum Wissen“ (1983) gezeigt, wie in der modernen Gesellschaft die Kontrolle und Disziplinierung des Körpers sowohl durch Überwachung als auch durch Stimulation erfolgt und der Körper dadurch zum Objekt von Machtstrategien wird. Die Disziplinierung des Körpers, die nicht nur im Gefängnis (dem Hauptuntersuchungsgegenstand in „Überwachen und Strafen“), sondern auch im Militär, in der Fabrik, im Sport und in der Schule erfolgt, dient dazu, den Willen und das Denken der Menschen so zu formen, dass sie sich reibungslos in die Maschinerie der modernen Produktionsbedingungen einfügen. Der Körper wird als Maschine entdeckt, als praktisch „ausnutzbarer“ und wissenschaftlich „durchschaubarer Körper“. Er wird „gelehrig“, kann „umgeformt und vervollkommnet werden“ (Foucault, 1977, S. 174 f.) In diesem Sinne spricht Foucault (1977, S. 34, S. 36) von einer „politischen Technologie“ und „politischen Ökonomie“ des Körpers: der Körper als Teil einer Machtmaschinerie. Die Disziplinierung der Körper ermöglicht, dass der einzelne Körper zu einem Element wird, das an die anderen Körper angeschlossen ist. So konstituiert er sich „als Element einer vielgliedrigen Maschinerie“ (Foucault, 1977, S. 212). Im Zuge der Entwicklung der modernen Gesellschaft wird die Repression tendenziell durch eine Stimulation des Körpers ersetzt (Shilling, 1993, S. 78). Exemplarisch zeigt sich dies am Diskurs über den Sex, in dem die Kontrolle des Körpers und die Reproduktion der Gattung miteinander verknüpft werden (Foucault, 1983). Dass Körper einer kulturellen Formung unterliegen, ist die Prämisse einer jeglichen Soziologie des Körpers. Boltanskis (1976, S. 154 f.) Begriff der „somatischen Kultur“ bringt dies zum Ausdruck. Damit sind gemeint „Kodes der guten Sitten für den Umgang mit dem Körper, der tief verinnerlicht und allen Mitgliedern einer bestimmten Gruppe gemeinsam ist“. Diese „Kodes“ gelten für das Erleben des eigenen wie für die Wahrnehmung des fremden Körpers. Unterhalb der mit dem Begriff der somatischen Kultur bezeichneten Gemeinsamkeit körpersoziologischer Konzepte gibt es Differenzen hinsichtlich der Frage, ob der Körper (auch) als ein vor- oder außersoziales Substrat existiert, das kulturell überformt wird, oder ob er nur in seinen kulturellen Praktiken existiert. Die erste Position ist z.B. bei Goffman (1975) zu finden, wenn er beschreibt, wie physische Deformationen zu Stigmata und erst dadurch sozial folgenreich werden. Eine prominente Vertreterin der zweiten Position ist Butler (1991), die die körperliche Materialität selbst als Folge sozialer Zuschreibungen begreift (Reuter, 2004). Empirische Arbeiten zur kulturellen Formung des Körpers finden sich in großer Häufigkeit in der Geschlechterforschung. Die kulturelle Symbolik des Körpers stellt die Kategorien bereit, in denen der Körper in seiner Geschlechtlichkeit erfahren wird. „Der Körper wird zu einem Geschlechtskörper, indem bestimmte Normen somatisiert werden“ (Villa, 2000, S. 159) So hat der Geschlechterdiskurs der bürgerlichen Gesellschaft den weiblichen Körper in doppelter Hinsicht pathologisiert (Honegger, 1991; Sobiech, 1994): Er hat ihn mit der Erfindung der Gynäkologie zum bevorzugten Objekt wissenschaftlicher Forschung gemacht, und er hat dem weiblichen Körper ‘Schwäche’ als grundlegenden Erfahrungsmodus „eingepflanzt“. Gegenwärtig können wir, im Zuge der Etablierung einer Andrologie als medizinisches Pendant zur Gynäkologie, beobachten, wie der sich 208 Michael Meuser entfaltende Diskurs zur ‘Männergesundheit’ beginnt, bei Männern ein neues, nicht um Stärke zentriertes Körperempfinden zu erzeugen. Wie Foucault betont, sind Diskurse immer in Machtstrategien eingebunden. Sie sind zugleich Ausdruck und Reproduktionsmechanismus sozialer Machtverhältnisse. So erfolgt die Zuweisung von Verletzungsmächtigkeit und -offenheit10 in unserer Kultur u.a. entlang der Geschlechterdifferenz. Mit Blick auf die Position der Frauen in der Geschlechterordnung bemerkt Wobbe (1994), Verletzungsoffenheit sei „eine als leibliche Realität erfahrene Struktur der Geschlechterdifferenz“ (S. 191). Das Gleiche ließe sich für die kulturelle Verknüpfung von Verletzungsmächtigkeit und Männlichkeit sagen. Die geschlechtlich geteilte Zuschreibung von Verletzungsmächtigkeit und -offenheit ist ein zentrales Element der kulturellen Konstruktion der Geschlechterdifferenz und bestimmt somit sowohl die körperbezogene Selbst- als auch die körperbezogene Fremdwahrnehmung von Frauen und Männern. Verletzungsmächtige und verletzungsoffene Körper sind in diesem Sinne kulturell konstituierte Wahrnehmungs- und Erfahrungskategorien. Diese Erfahrungskategorien sind freilich in die sozialisierten Körper eingeschrieben und machen sich derart in körperlichen Empfindungen geltend. Dies wiederum hat Folgen für soziales Handeln. Die kulturelle Konstruktion des männlichen Körpers als verletzungsmächtig ermöglicht eine offensive Raumaneignung. Körperdiskurse haben außerdiskursive Folgen. Das ist unbestritten. Uneinheitlich stellt sich hingegen das Bild dar, wenn man schaut, welchen Status der Körper in den Arbeiten zu seiner kulturellen Formung hat. Foucaults „Genealogie des modernen Individuums als eines fügsamen und stummen Körpers“ (Dreyfus & Rabinow, 1987, S. 173) arbeitet heraus, wie die Kontrolle des Körpers durch Kräfte erfolgt, die von außen auf ihn einwirken. Der Körper verharrt dabei in einer eigentümlichen Passivität, er selbst wird nicht als ein agens begriffen (Lash, 1991, S. 259). Dagegen steht die vor allem in der Frauenforschung vertretene Vorstellung eines widerständigen Körpers, der sich den Disziplinierungszumutungen widersetzt. Auch Joas (1992, S. 246) verweist auf die Widerständigkeit des Körpers, die sich in Phänomenen wie „Passivität, Sensibilität, Rezeptivität, Gelassenheit“ äußere. 3.2 Der Körper als Zeichenträger Als kulturell geformter Körper ist dieser Träger von Bedeutung. Der Körper ist Ausdruck sozialer Zugehörigkeit und wird in dieser Weise ‘gelesen’. Eine signifizierende Funktion hat der Körper sowohl als intentionaler als auch als non-intentionaler Ausdruck sozialer Zugehörigkeiten. Körper werden zum einen bewusst gestaltet, um kollektive Identitäten zu symbolisieren. Im Rahmen stilistischer Selbstpräsentation ist der Körper das zentrale Stilmittel. Frisuren, Tatoos, Piercings, Kleidung sind wichtige, gezielt gesetzte, ritualisierte Zeichen, die das Erkennen kollektiver Zugehörigkeiten ermöglichen und zugleich der Abgrenzung gegenüber anderen Kollektivitäten dienen. Für die moderne Gesellschaft ist dies insbesondere für Subkulturen und Szenen beschrieben worden. Die vom ‘guten Geschmack’ bewusst abweichende Körperstilistik der Punks beispielsweise ist ein für alle sichtbarer Aus10 Diese Unterscheidung hat Popitz (1992) in seiner Soziologie der Macht entwickelt. Zwischen „Leibvergessenheit“ und „Körperboom“. Die Soziologie und der Körper 209 druck inszenierter Marginaliät – und unterscheidet sich in der „Ausarbeitung einer spezifischen Ästhetik des Häßlichen“ (Soeffner, 1986, S. 324) deutlich von den vernachlässigten Körpern vieler Obdachloser, deren Marginalität eher Schicksal als Wahl ist. Die intentionale Verwendung des Körpers als Zeichenträger erfährt eine wachsende Bedeutung in einer Inszenierungsgesellschaft, in der sozialer Erfolg und Distinktionsgewinne auch vermittels eines ‘richtig’ präsentierten Körpers erzielt werden. In dem Maße, in dem Vergemeinschaftungsprozesse in einem posttraditionalen Modus erfolgen, wird, so Hitzler (2002), „auch und gerade der Körper der Menschen mehr und mehr vom Schicksal zur Aufgabe bzw. von einem Gefäß der Gewohnheiten zu einem Gegenstand der Gestaltung“ (S. 79 f.). Optional sind allerdings auch unter Bedingungen einer posttraditionalen Vergemeinschaftung nicht die Stilmittel bzw. die jeweils spezifische Art der Körpergestaltung. Diejenigen, die sich der Techno-Szene anschließen, sind auf andere Stilmittel verwiesen als diejenigen, die die HipHop-Szene favorisieren. Die Entscheidung für eine bestimmte Gemeinschaft impliziert freilich eine bewusst vollzogene Gestaltung des eigenen Körpers. In den sogenannten „code communities“ der populären Kultur werden die eingeübten Körperbewegungen zu „Trägern kultureller Bedeutung“ (Alkemeyer, 2003, S. 252 f.) Als Schicksal statt als Gestaltungsaufgabe erscheint der Körper im Habituskonzept Bourdieus. Soziale Zugehörigkeiten (der Klasse, des Geschlechts, der Ethnizität) schreiben sich in den Körper ein. Der in dieser Weise sozialisierte Körper fungiert als nicht intendierter Ausdruck der sozialen Position des Individuums. Angehörige eines sozialen Milieus erkennen einander auf einer vorreflexiven Ebene an der Isomorphie ihrer Habitus. Der Habitus generiert nicht nur typische Muster des Handelns, er bewirkt auch, dass sich die Körper in typischer und d.h. wiedererkennbarer und zurechenbarer Weise präsentieren. Die feinen Unterschiede, die Bourdieu (1987) materialreich analysiert, basieren nicht zuletzt auf dem Gespür der Akteure für Nuancen der Körperpräsentation. Der Körper wird so fassbar als ein wichtiger Träger von Bedeutung, von einer Bedeutung allerdings, die dem intentionalen Zugriff weitgehend entzogen ist. Auch bei der Dimension des Körpers als Zeichenträger begegnen wir dem Bedenken, dass die Materialität des Körpers in den Analysen zu kurz kommt. Berthelot, Drulhe, Clément, Forné und M’bodj (1985, S. 151) sehen die Gefahr, die symbolische Dimension auf Kosten der Korporalität selbst zu betonen. Diese Gefahr scheint mir allerdings bei der Analyse des Körpers als non-intentionaler Ausdruck sozialer Zugehörigkeit weniger gegeben zu sein; zumindest treffen diese Bedenken nicht auf das Habituskonzept Bourdieus zu. Der Gedanke der Inkorporierung sozialer Strukturen ist nicht in einem bloß metaphorischen Sinne gemeint. Die sozialen Verhältnisse schreiben sich Körperhaltungen und -regungen ein und schlagen sich noch darin nieder, was einem schmeckt und was nicht. 3.3 Der Körper als agens In der doppelten Gegebenheit des Habitus als strukturierte und strukturierende Struktur ist der Körper zugleich sozial geformter Ausdruck kollektiver Zugehörigkeiten und die sozialen Verhältnisse (denen er seine Formung verdankt) reproduzierendes agens. In einer Analyse des handelnden Körpers bzw. der Praxis des Körpers liegt die zentrale 210 Michael Meuser Herausforderung an eine soziologische Theorie des Körpers. „Der Leib kann nicht lediglich als Ort kausaler Faktoren angesehen werden, die auf mein Leben einwirken“ (Taylor, 1986, S. 212). Den Gedanken des Körpers als agens findet man freilich sehr viel stärker in philosophischen und anthropologischen Theorien vertreten als in soziologischen. Mead, dessen Konzept eines handelnden Organismus bereits erwähnt wurde, ist im strengen Sinne kein Soziologe, sondern Sozialphilosoph. Eine den Körper stringent als Handlungssubjekt begreifende Perspektive ist in Gehlens (1997) Anthropologie formuliert, die in ihren handlungstheoretischen Teilen enge Bezüge zu Mead aufweist. MerleauPonty (1966, S. 165 ff.) versteht leibliches Handeln als die Basis der Wahrnehmung von Welt und spricht explizit von einer „Intentionalität des Leibes“. Mit dem Konzept der „Interkorporalität“ begründet er eine Theorie des leiblich fundierten intersubjektiven Verstehens. „Durch meinen Leib verstehe ich den Anderen, so wie ich auch durch meinen Leib die ‘Dinge’ wahrnehme“ (Merleau-Ponty, 1966, S. 220). Unter den soziologischen Körpertheorien, welche die Perspektive eines handelnden Körpers aufgreifen, ist die Bourdieusche die prominenteste. Obwohl sich Bourdieu in diesem Zusammenhang nicht explizit auf philosophische Entwürfe bezieht, kann man feststellen, dass der Habitusbegriff in seiner handlungstheoretischen Dimension eine soziologische Interpretation der von Merleau-Ponty entwickelten Konzepte der „Intentionalität des Leibes“ und der „Interkorporalität“ darstellt (Bongaerts, 2003; Meuser, 2002). Bourdieu (2001) spricht vom Körper „als realer Akteur“ (S. 171) und von „körperlicher Erkenntnis“ (S. 165). Die durch den Habitus konstituierte nicht-teleologische Intentionalität beschreibt er als „eine aktive, konstruktive, körperliche Spannung auf eine unmittelbar bevorstehende Zukunft“ (S. 184). Der Erfahrungen machende Körper ist in einem vorreflexiven Modus sinnhaft strukturiert. Mit diesem Verständnis einer körperlich basierten Intentionalität weist Bourdieu den Weg, auf dem der rationalistisch-teleologische Bias der meisten handlungstheoretischen Entwürfe (von Weber über Schütz bis zu Rational Choice) überwunden werden kann. Eine zwar nicht mit dem Begriff des Habitus, sondern mit dem verwandten der „habitude“ (Gewohnheit) arbeitende empirische Soziologie, die den handelnden Körper in den Fokus der Betrachtung rückt, findet sich in den Arbeiten des (ebenfalls französischen) Soziologen Kaufmann (Meuser, 2004b).11 Kaufmann moniert, dass die Rolle des Körpers in den soziologischen Handlungstheorien zumeist ignoriert wird (Kaufmann, 1999, S. 286 f.). Er befasst sich mit der Bedeutung körperlicher Routinen wie dem Bügeln oder Putzen bei der Verrichtung der Alltagsangelegenheiten. „Tag für Tag erschaffen sich Menschen mit diesen und tausend anderen Gesten aufs neue die Grundlagen eines Systems von ungeheurer Komplexität, ein Ordnungs- und Klassifikationssystem, das jedem Ding seinen genauen Platz innerhalb einer größeren Ordnung zuweist, die, trotz ihrer scheinbar geringen Bedeutung, die Grundlage jeder Zivilisation bildet“ (S. 19): In seinen Bewegungen erzeugt 11 Kaufmann grenzt sich von Bourdieus Konzept des Habitus ab, dem er vorhält, zu stark die Macht der Vergangenheit zu betonen. Seinen Begriff der „habitude“ bezeichnet er als weniger deterministisch, mehr Gewicht auf die Bedingungen der aktuellen Handlungssituation legend (Kaufmann, 1999, S. 176 f.). Zwischen „Leibvergessenheit“ und „Körperboom“. Die Soziologie und der Körper 211 der Körper sozialen Sinn. Der Körper trägt „in sich selbst seine eigenen Orientierungen“ (S. 170), er besitzt eine eigene, vom rationalen Denken unterschiedene Intelligenz, die sich im „spontanen Impuls“ äußert (S. 245). Die Selbstverständlichkeit dieses Impulses vermag „den Körper ohne Bezug auf die Ratio in Bewegung zu versetzen“ (S. 160). Die ständige Wiederholung körperlicher Routinen formt einen Körper, der „mächtiger“ ist als der rationale Verstand. Den Unwillen zahlreicher Frauen, Hausarbeit zu delegieren, obschon sie über die nötigen finanziellen Mittel verfügen, beschreibt Kaufmann als „Kraft der Gesten“, die den Wunsch, Hausarbeit abzugeben, verschwinden lässt (Kaufmann, 1999, S. 118). Auch die Realisierung egalitärer Werte und Einstellungen in Paarbeziehungen scheitert mit großer Regelmäßigkeit an der „Trägheit“ des Körpers, d.h. an der Macht der inkorporierten Gewohnheiten. „Der Körper ist nicht so leicht mit der Theorie in Übereinstimmung zu bringen“ (Kaufmann, 1994, S. 159). Soziale Ordnungen sind Kaufmann zufolge in einem fundamentalen Sinne Körperordnungen. Sie basieren weitaus mehr auf einem Austausch der Gesten, als dass sie Ergebnis expliziter Aushandlungen sind. In einer Studie über die (implizite) Sozialordnung des Nacktbadens an französischen Stränden beschreibt er diese als eine Interaktionsordnung, die auf einem Wechselspiel von Blicken basiert. Es sind die Blicke, welche die (an keiner Stelle fixierten) Regeln festlegen und durchsetzen, welche bestimmen, welchen Frauen zugestanden wird, ihren Busen in der Öffentlichkeit zu enthüllen, und welchen dies verwehrt wird (Kaufmann, 1996). Auch die Sozialordnung von Ehe und Familie beschreibt Kaufmann als eine in körperlichen Routinehandlungen hergestellte Wirklichkeit. Anders als Berger und Kellner (1965) in ihrem wegweisenden Aufsatz über „Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit“ begreift Kaufmann nicht das Gespräch zwischen den Partnern, sondern die Sedimentierung häuslicher Gewohnheiten als Basis der Paar-Integration. Wenn die Hausfrau „für die Familie bügelt, konstruiert sie beim Bügeln das Familiale“ (Kaufmann, 1999, S. 64). Kaufmanns Analyse der Konstruktion der familialen Gemeinschaft zeigt eindrucksvoll, dass vor allem solche Wirklichkeitskonstruktionen Bestand haben, die in körperlichen Routinen fundiert sind. „Die mit Hilfe des Körpers erzeugten Gewißheiten liegen tiefer als andere Gewißheiten unserer Weltbilder“ (Gebauer, 1984, S. 241). 4 Ausblick Prämisse und zugleich Anspruch einer jeglichen Soziologie des Körpers ist die Überwindung des in der cartesianischen Tradition angelegten folgenreichen Dualismus von Körper und Geist. Will man an der Grundeinsicht der Soziologie festhalten, dass gesellschaftliche Wirklichkeit im sozialen Handeln erzeugt wird, erscheint das bei Merleau-Ponty philosophisch begründete und bei Bourdieu und Kaufmann in soziologische Termini überführte Konzept einer vorreflexiven, inkarnierten Intentionalität der geeignetste Ansatzpunkt zu sein. Eine darin gründende praxeologische Soziologie des Körpers vermag 212 Michael Meuser der soziologischen Handlungstheorie entscheidende Impulse zu vermitteln.12 Die Soziologie des Sports könnte es sich zur Aufgabe machen, empirische Impulse für die Ausarbeitung einer praxeologischen Theorie beizusteuern. Dem Sport kommt insofern eine besondere Bedeutung zu, als er ein soziales Feld darstellt, das in entscheidendem Maße über die Bewegung von Körpern bestimmt ist. Bourdieu (2001) sieht im Sport (wie in der Musik und im Tanz) die körperbasierte praktische Erkenntnis besonders stark ausgeprägt An diese Beobachtung anschließend schlägt er vor: „Man sollte die hier und da, vor allem in der Didaktik dieser Körperpraktiken ... verstreuten Notizen und Beobachtungen einmal methodisch zusammenstellen; sie würden wertvolle Beiträge zu einer Wissenschaft dieser Erkenntnisformen liefern“ (S. 185). Eine in der skizzierten Weise verstandene praxeologische Soziologie des Körpers weist zwei zentrale Forschungsdesiderate auf: die soziale Genese der vorreflexiven Intentionalität (wie kommt das Soziale in den Körper?) und die Materialität des Körpers (die „eigenleibliche Erfahrung“ [Gugutzer, 2002b, S. 137]). Während die Beantwortung der ersten Frage vor allem auf eine entsprechend ausgerichtete Empirie angewiesen ist, markiert die zweite eine zentrale Kontroverse der körpertheoretischen Diskussion. Die Frage, wie das Soziale in den Körper kommt bzw. – in der Bourdieuschen Terminologie – wie die Aneignung eines Habitus vonstatten geht, verweist auf die Bedeutung von Mimesis. Wulf (1997, S. 1024) begreift, u.a. mit Bezug auf Merleau-Ponty, Mimesis als eine „unerläßliche Voraussetzung des Sozialen“. Eine mimetische Aneignung des Sozialen ist auch in Bourdieus Konzept der Strukturübungen impliziert. Bourdieu (1993) unterscheidet diese Form der Sozialisation sowohl von der des „Lernens durch schlichte Gewöhnung“ als auch von derjenigen der expliziten Unterweisung. Zusätzlich zu diesen Formen „sieht jede Gesellschaft Strukturübungen vor, mit denen diese oder jene Form praktischer Meisterschaft übertragen werden dürfte“ (S. 138). Mit Bezug auf seine ethnologischen Forschungen in der Kabylei nennt Bourdieu „alle Spiele, die häufig nach der Logik von Wette, Herausforderung oder Kampf strukturiert sind (Zweikampf oder Gruppenkampf, Scheibenschießen usw.) und bei denen von den Knaben verlangt wird, die Erzeugungsschemata der Ehrenstrategien auf der Ebene des ‘So-tun-als-ob’ anzuwenden“ (S. 138). Die vor allem von männlichen Jugendlichen praktizierten, den Körper aufs Spiel setzenden Risikohandlungen sind ein Beispiel für solche Strukturübungen, mit denen in diesem Fall ein erwachsener männlicher Geschlechtshabitus angeeignet wird (Meuser, 2005). Der Sport mit seiner immer noch in hohem Maße geschlechtstypisierenden Unterscheidung von Männer- und Frauensportarten ist ein gesellschaftlich bedeutsames Feld geschlechtsbezogener Strukturübungen. Frauen favorisieren nach wie vor – trotz aller Ent12 Nicht nur die soziologische Handlungstheorie würde eine Umformulierung erfahren; eine praxeologische Soziologie des Körpers hat auch methodische Implikationen. Die in der qualitativen Sozialforschung vorherrschende Sichtweise der „Welt als Text“ bedarf einer Revision. Dass „die soziale Sphäre des Leibes sich mit den Mitteln von Mikrophon, Tonband und transkribierten Text nur ganz unvollkommen abbilden lässt“ (Matthiesen, 1989, S. 290), leuchtet unmittelbar ein. Wie sich jedoch habitualisierte, fraglos gegebene, eben vorreflexive Körperroutinen empirisch rekonstruieren lassen, ist eine Frage, auf die die Methodologie der Sozialforschung noch keine schlüssige Antwort gefunden hat. Zwischen „Leibvergessenheit“ und „Körperboom“. Die Soziologie und der Körper 213 traditionalisierung, Sportarten – bei „denen die ästhetische Präsentation und Modellierung des Körpers im Mittelpunkt stehen“, Männer solche, bei „denen der Körper als Mittel zu riskanten Auseinandersetzungen eingesetzt werden muss“ (Gisler, 1995, S. 654). Wie Alkemeyer und Schmidt (2003) darlegen, enthalten Strukturübungen in Gestalt von Spielen aber auch das Potenzial „eines probenden, soziale Schemata auf ihre Erweiterungsmöglichkeiten praktisch, d.h. jenseits ihrer bewussten Reflexion prüfenden Umgangs mit ihnen“ (S. 91). Mimesis ist, so betonen Klein und Friedrich (2003, S. 195) auf der Basis einer Studie über die Kultur des HipHop, keine bloße Nachahmung, sondern besteht aus einer Trias von Nachahmung, Darstellung und Konstruktion. In der mimetischen Aneignung von Wirklichkeit „wird zugleich Wirklichkeit neu hergestellt“ (S. 196). An der Frage der Materialität des Körpers entzünden sich grundlegende Diskussionen. Zum einen wird gefordert, dieser Dimension mehr Beachtung zu schenken, zum anderen ist es strittig, wie die Materialität des Körpers beschaffen ist. Gugutzer (2002b, S. 137) vermisst in der Körpersoziologie eine Befassung mit dem „Körper als eigenleibliche Erfahrung“ Jäger (2004, S. 35) postuliert, dass man, wenn man den Körper als Ort von Erfahrung thematisieren wolle, einen (soziologischen) Begriff von dessen Materialität entwickeln müsse. Gebauer (1984) stellt in anthropologischer Perspektive die Frage, inwieweit die „Form menschlicher Handlungen ... von der materiellen Form des menschlichen Körpers abhängig“ (S. 234) ist. Die Vernachlässigung dieser Frage begreift er als eine Folge der cartesianischen Erkenntnisweise. Auch wenn der Körper nicht unabhängig von seinen sozialen Repräsentationen erfahrbar und erkennbar ist – als Geschlechtskörper, als von den Lebensbedingungen gezeichneter Körper, als gestylter Körper –, stellt sich die Frage, ob seine Materialität in sozialer Praxis aufgeht oder ob er zumindest ein Stück weit ‘asozial’ ist und deswegen z.B. auch das Potenzial von Widerständigkeit in sich trägt. Willems und Kautt (1999), die postulieren, „daß jede soziologische Theorie des Körpers Sinntheorie sein muß“, unterscheiden gleichwohl einen „Sinnkörper“ von „korporaler Materialität“. „Die Materialität des Körpers prozessiert und entwickelt sich sozusagen autopoetisch und in gewisser Weise asozial. ... Kein Zivilisierungsprozeß hat und wird den Körper je ganz unterwerfen können; er bleibt eine Bedingung und Grenze des Sozialen, eine in dieser Hinsicht immer auch ‘ärgerliche Tatsache’, eine Quelle von Unwillkürlichkeit, eine ‘sperrige’ Realität“ (S. 299). Die Frage nach einer vorsozialen Materialität ist vor allem in der Diskussion um den Geschlechtskörper präsent. Bourdieu (1997) zufolge sind die Geschlechtsorgane, weil sie „den Geschlechtsunterschied verdichten“, dazu „prädestiniert, ihn zu symbolisieren“ (S. 174). Andererseits richtet sich, wie Hirschauer (1993, S. 24) zeigt, der klassifizierende Blick nur deswegen auf Unterschiede der Morphologie und sonstige biologisch bestimmbare Unterschiede zwischen Männern und Frauen, weil es eine Sozialordnung der Zweigeschlechtlichkeit gibt, in der die unterschiedlichen materiellen Erscheinungen der Körper ihren sozialen Sinn erhalten. Bestimmte körperliche-materielle Vorgänge erzwingen jedoch offensichtlich soziale Aufmerksamkeit und kulturelle Symbolisierungen. Kolip (1997, S. 81 ff., S. 114 ff.) beschreibt die Menarche als ein Schlüsselerlebnis, dessen Wahrnehmung kulturell geprägt erfolgt, aber eine körperliche Veränderung darstellt, die 214 Michael Meuser nicht uninterpretiert bleiben kann und deren Interpretation angesichts der damit verbundenen reproduktiven Bedeutung in einem Geschlechter-Rahmen erfolgt. Die Frage nach der Beschaffenheit der Materialität des Körpers, die hier nur kursorisch angesprochen worden ist und weitere Aspekte enthält (z.B. der Körper als ‘Wahrheitsinstanz’, der durch Phänomene wie Erröten Inszenierungen um ihre Wirkung bringt) stellt gewiss die größte Herausforderung an eine Soziologie des Körpers dar, da hier disziplinäre Grenzen überschritten werden müssen, um befriedigende Antworten finden zu können. Und das sind nicht nur Grenzen zu der Soziologie mehr oder minder vertrauten Disziplinen wie der Anthropologie und der Philosophie. In Verfolgung des Gedankens, dass der Körper Erfahrungen macht und dass es eine körperliche Erkenntnis gibt, wird man die Erkenntnisse und Thesen der gegenwärtigen Hirnforschung auf ihre körpersoziologische Relevanz hin prüfen müssen. Einer ihrer prominentesten Vertreter, Damasio (1997) nimmt an, „daß der Körper unmittelbar in die Kette jener Vorgänge einbezogen ist, die die höchsten Ausformungen des Denkens, der Entscheidungsfindung und im weiteren Sinne des Sozialverhaltens und der Kreativität hervorbringen“ (S. 14). Der Dualismus von Körper und Geist, den die Körpersoziologie zu überwinden trachtet, scheint in der Hirnforschung bereits verabschiedet zu sein. Auch deswegen dürfte ein interdisziplinärer Dialog sich lohnen. Literatur Alkemeyer, T. (2003). Bewegen als Kulturtechnik. Neue Sammlung, 43, 347-357. Alkemeyer, T., Boschert, B., Schmidt, R. & Gebauer, G. (Hrsg.). (2003a). Aufs Spiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur. Konstanz: UVK. 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