1 SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 AULA - Manuskriptdienst Glücklicher ohne oder mit Gott? Über den Nutzen der Religion Autor und Sprecher: Professor Friedrich Wilhelm Graf * Redaktion: Ralf Caspary Erst-Sendung: Sonntag, 23. März 2008, 8.30 Uhr, SWR2 Wiederholung: Mittwoch, 25. Dezember 2013, 8.30 Uhr, SWR2 _________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? 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Also: das zeigt, dass Religion von großem Interesse ist, wobei sich hinter allen aktuellen Diskussionen eine grundsätzliche Frage verbirgt: Was ist eigentlich eine gute Religion, welche Werte vermittelt sie, welche Weltanschauung? Denn angesichts des islamischen Fundamentalismus sagen ja viele Religionskritiker: Religion erziehe auch zur Aggression, zur Arroganz, wer glaubt, die göttliche Wahrheit zu besitzen, der grenze automatisch Nicht- oder Andersgläubige aus. Welchen Nutzen also hat Religion heute, was ist eine gute, was eine schlechte Religion? Antworten auf diese Fragen gibt Friedrich Wilhelm Graf, Professor für systematische Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München in der SWR2 AULA, Sie hören die Wiederholung einer Sendung aus dem Jahre 2008. Friedrich Wilhelm Graf: Gottesglaube kann einerseits Humanisierung durch reflektierte Selbstbegrenzung der Frommen fördern; er kann aber auch zu egomanischer Selbstvergöttlichung führen, er kann sich in unbedingtem Herrschaftswillen, in fanatischer Absolutsetzung der eigenen Welt äußern. Das gilt für alle religiösen Überlieferungen, keineswegs nur für eine bestimmte Religion, etwa den Islam im Gegensatz zu anderen wie dem Christentum oder dem Buddhismus. Religionswissenschaftler und Theologen wissen inzwischen sehr genau, dass es so etwas wie den Islam oder das Christentum nicht gibt. Es wäre im Grunde sehr viel konsequenter, beides als Pluralwörter zu verwenden, also von den „Islamen“ und den „Christentümern“ zu sprechen, weil wir mit einer extrem weiten Bandbreite an ganz unterschiedlichen Aktualisierungen der alten Überlieferungen konfrontiert sind. Religionen sind hochambivalent, und diese Ambiguität der Religionen ist uns in den letzten Jahren verstärkt bewusst geworden. Allerdings: Religiöse Deutungskulturen unterscheiden sich auch darin, wie sie in ihren Symbolwelten und Bekenntnissprachen jeweils die Gefährdungspotentiale des Religiösen thematisieren. Man kann ganz simpel sagen: Nicht alle Götter sind gleich. Und auch nicht alle Normen idealer Gottesverehrung der Frommen sind identisch. Die Frage nach der Vorzüglichkeit eines Glaubens SWR2 Aula vom 25.12.2013 Glücklicher ohne oder mit Gott? Über den Nutzen der Religion Von Professor Friedrich Wilhelm Graf 3 gegenüber anderen Glaubensformen führt unausweichlich ins Zentrum theologischen Streits, in Kontroversen um Bilder Gottes, in Auseinandersetzungen um Deutungen der geschaffenen Welt und Vorstellungen vom Menschen als vornehmstem Geschöpf. Man kommt deshalb um den Streit nicht herum, ob wir denn überhaupt die Frage noch einer guten oder einer weniger guten Religion stellen können. Wir unterscheiden ja in vielen anderen Sphären des Lebens ganz selbstverständlich zwischen gut und weniger gut. Wir wissen beispielsweise, dass es sehr gute Küche und dass es weniger gute Küche gibt; wir unterscheiden zwischen verschiedenen Qualitäten von Musik; wir unterscheiden gute von weniger guten Kunst. Insofern kommen wir auch um die normative Frage nicht herum, ob wir denn nicht auch zwischen guter und weniger guter Religion unterscheiden müssen. Je mehr Formen religiösen Glaubens in einer Gesellschaft kommuniziert werden, desto dringlicher stellt sich dann auch noch einmal die Frage nach solchen normativen Urteilen. Man kann dann sagen: Gut ist eine Religion, wenn sie in ihren Symbolsprachen selbst die Ambivalenzen des Religiösen präsent hält, wenn sie sich zur Ambiguität des religiösen Glaubens verhalten kann und wenn sie durch selbstbewusste Glaubenspraxis die Reflexivität des Frommen fördert. Wie bei gutem Essen oder eleganter Mode kommt es auch hier auf feine Nuancen an. Was ist Religion? Darüber wird seit 200 Jahren von den gelehrten Religionsdeutern gestritten, und man kann sagen, dass es auf diese Frage keine allgemeinverbindliche plausible Antwort gibt. Aber deutlich ist: Religiöse Symbolsprachen haben sehr viel zu tun mit heilsamen Grundunterscheidungen, Grundunterscheidungen von Gott und Mensch, Ewigkeit und Heil. Die Güte einer Religion hängt im Kern davon ab, wie jeweils das Göttliche vorgestellt, imaginiert wird. Treten die Götter im multi-theistisch fröhlichen oder konkurrenzbestimmt konfliktreichen Plural auf? Wird im Falle von monotheistischen Glaubensweisen der eine Gott als allmächtig autoritärer Weltenherrscher oder als eifersüchtig grausames Willkürsubjekt oder als Seinsgeborgenheit bietender liebevoller Vater vorgestellt? Wie offenbart Gott sich? Welche Art der Verehrung klagt er ein? Am Bilde Gottes entscheidet sich, wie in Glaubenssprachen die Welt und die Stellung des Menschen in ihr gedeutet werden. Keine Religion ohne Gesamtanschauung der Welt und kein Glaube ohne Muster idealer gottgewollter Lebensführung der Frommen. Fordert Gott blinde knechtische Observanz, gebietet er harte Askese und radikalen Lustverzicht? Oder entlässt er sein Geschöpf in verantwortliche endliche Freiheit? Macht Gott Angst, oder stärkt er gegen alle Negativitätserfahrungen endlichen Lebens unser Urvertrauen, dass die Welt als Schöpfung in ihren Grundstrukturen verlässlich gut ist? Indem der Fromme sich auf seinen Gott verlässt, indem der Fromme sich an seinen Gott bindet, kann er souveräne Distanz zur gegebenen Welt gewinnen, er kann alle innerweltlichen Bindungen relativieren und er kann die Natur der spontanen, aber sündhaften Fixierung auf das eigene Ich durchbrechen. Im gelingenden Fall kann man deshalb sagen, befördert religiöser Glaube Reflexivität, er trägt dazu bei, nachdenklichen Abstand zur eigentlichen Unmittelbarkeit zu gewinnen. Es gibt also so etwas wie eine religiös vermittelte Selbstdistanz. Allerdings: Die einzigartige Intimität der Bindung an Gott bietet auch die Chance, sich mit dem Absoluten gleichzuschalten und dann etwa gegen die Übermacht der vielen Bösen als exklusiv auserwählter Mandatar von Gottes Willen sich zu inszenieren. SWR2 Aula vom 25.12.2013 Glücklicher ohne oder mit Gott? Über den Nutzen der Religion Von Professor Friedrich Wilhelm Graf 4 Genau hier liegt die Ambivalenz des Bösen, in der Frage, wie ich mein eigenes Verhältnis zu Gott definiere, ob ich mich als der Mandatar des Willens Gottes verstehe. Besonders gefährdet sind hier die Mystiker, über die ja im Religionsdiskurs der Republik häufig sehr emphatisch, positiv, zustimmend geredet wird. Aber Mystiker sind hochambivalente Gestalten, und der Weg vom Mystiker zum Terroristen ist nicht weit. Warum? Weil Mystiker in den Visionen einer ganzheitlichen Verschmelzung ihrer Seele mit Gott kaum noch so etwas wie demütige Selbstunterscheidung von Gott leisten können. Der Mensch ist aber nicht Gott und es tut ihm auch nicht gut, sich selbst zum Gott machen zu wollen. Alle Formen poetischer Ideologie der Moderne sind Programme gewesen, in denen es um die Selbstdeifizierung des Menschen ging. Das war gefährlich und unheilvoll, weil es hier überhaupt keine Potentiale der Selbstbegrenzung mehr gab. In der klassischen christlichen Theologie galt nicht nur „amor sui“, die Selbstliebe, sondern auch die eitle „superbia“, wie Gott sein zu wollen, als Sünde. Man kann deshalb sagen, eine Religion ist gut, wenn sie in ihren Bildwelten, in ihren Riten, in ihren Symbolsprachen Individuen zu einem klaren realistischen Blick auf ihr Leben verhilft und zum „memento mori“ ruft: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir lebensklug werden.“ Wenn Religion das leistet, wenn Religion das Wissen um die Endlichkeit, die eigene Endlichkeit präsent hält, dann trägt sie dazu bei, in sensibler Aufmerksamkeit für jeden nach Gestaltung verlangenden Lebensmoment die Chance zur Wahrnehmung dieses Momentes zu aktualisieren. In der aktuellen Auseinandersetzung um den aggressiven Atheismus ist eine Diskussionslage zurückgekehrt, die Ideenhistoriker und Wissenschaftshistoriker sehr stark an das Ende des 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts erinnert. Wenn man beispielsweise Richard Dawkins Bücher liest, dann merkt man, dass es unter uns wieder naturalistische Positionen gibt, den Anspruch, den Menschen wesentlich als Naturwesen zu bestimmen, den Menschen in einer sehr reduktionistischen naturalistischen Weise zu verstehen. Die Auseinandersetzungen sind deshalb mehr als nur Auseinandersetzungen um das Thema Gott. In ihnen geht es immer auch um die Frage, wie wir uns selbst wahrnehmen wollen, wie wir der widersprüchlichen Komplexität, die wir selbst repräsentieren, deutend gerecht werden wollen. Das hat viel mit der Frage nach der Güte von Religion und der Frage nach guter und weniger guter Religion zu tun. Religion, Religionen, religiöse Deutungskulturen steigern die Komplexität, in der wir uns selbst wahrzunehmen versuchen. Sie sind insofern Symbolsprachen, die sich gegen jeden Reduktionismus unserer Selbstwahrnehmung wehren. Religion macht die Welt nicht leichter, sondern macht die Welt komplizierter, und darin liegt eine ihrer entscheidenden Leistungen. Jeder Fromme, welcher Konfession auch immer, steht nun allerdings im Verdacht, primär seinen eigenen Glauben für gut und andere Religionen und Glaubensweisen für schlechter zu halten. Dieses konfessorische bekennende Element lässt sich nicht zum Verschwinden bringen, wenn nach guter Religion gefragt wird. Die Antwort, was denn eine gute im Unterschied zu einer weniger guten Religion sei, kann immer nur vom denkenden Einzelnen verantwortet werden. Dann liegt es nahe, Kriterien für gute Religion auch in religiöser Sprache zu benennen. Gut ist eine Religion, wenn sie Wissensarroganz verhindert und selbstbewusst freie Demut einübt. SWR2 Aula vom 25.12.2013 Glücklicher ohne oder mit Gott? Über den Nutzen der Religion Von Professor Friedrich Wilhelm Graf 5 Man kann das auch klassisch in Sprachen des liberalen Bildungsprotestantismus beschreiben. Religion dient im gelingenden Fall der Persönlichkeitsbildung. Für solche Bildungsprozesse ist Selbstbegrenzung grundlegend. Gute Religion befördert die Einsicht, dass freie Vernunftwesen sich verfehlen, wenn sie Freiheit als Selbstentgrenzung missverstehen. Zur Abwehr solcher Fehldeutungen der Geschöpflichkeit des Menschen brauchen religiöse Organisationen allerdings eine institutionell unabhängige kritische Dauerreflexion ihrer symbolischen Bestände. Das heißt: Religion muss ihrerseits im Medium vernünftiger Reflexion immer wieder daraufhin analysiert werden, wo denn ihre immanenten Perversionspotentiale liegen, um der reflektierten Freiheit der einzelnen Frommen willen. Religion ist in der Bundesrepublik auch deshalb zum Gegenstand neuer Aufmerksamkeit geworden, weil wir erstmals in der Geschichte verstärkt mit der Rückkehr des Islam nach Europa konfrontiert sind. Damit verbinden sich sehr viele Verunsicherungserfahrungen: Erfahrungen der Marginalisierung von Minderheiten, Erfahrungen der Gewaltbereitschaft einzelner, vor allem jüngerer Muslime in verschiedenen europäischen Gesellschaften, kulturelle Konflikte, die freilich immer auch zwischen den christlichen Konfessionen im 19. und frühen 20. Jahrhundert ausgetragen worden sind. Religionskonflikte sind nichts Neues, sondern wir blicken gerade in Deutschland zurück auf eine sehr lange Geschichte von kulturellen Kämpfen zwischen den unterschiedlichen christlichen Konfessionskirchen. Und dass das Konfessionelle noch immer ein wichtiger Faktor unserer politischen Kultur ist, sieht man ja auch beispielsweise daran, dass etwa in Auseinandersetzungen um die Besetzung der Position eines Bundesverfassungsrichters alte konfessionelle Argumente in den öffentlichen Diskurs zurückgeführt worden sind. Im deutschen religionspolitischen Diskurs werden immer wieder die vielfältigen internen Pluralisierungs- und Differenzierungstendenzen in den einzelnen religiösen Großorganisationen unterschätzt. Das gilt auch mit Blick auf den modernen Islam. Wir haben mit der Islamkonferenz versucht, so etwas wie einen institutionalisierten Dialog zwischen dem Staat und Vertretern der verschiedenen muslimischen Organisationen zu etablieren. Diese Islamkonferenz lässt ein bestimmtes, für die deutsche Kirchenrechtsstaatstradition repräsentatives Muster erkennen. Wenn der Staat nur endlich einen kompetenten, alle Muslime wirklich repräsentierenden Ansprechpartner habe, dann könne er diese muslimische Gesamtvertretung als eine Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkennen. Für die erhoffte Gegenleistung der Verfassungs- und Grundgesetztreue werden also den muslimischen Einwanderern all jene Privilegien in Aussicht gestellt, die derzeit noch den christlichen Kirchen und jüdischen Synagogengemeinden vorbehalten sind. Aber staatliche Religionspolitik, die von einer Art der Verkirchlichung der diversen Islame eine bessere Einbindung der Muslime in die nicht-muslimische Mehrheitsgesellschaft erwartet, bleibt sehr stark alten etatistischen Visionen einer Integration der radikal-pluralistischen Gesellschaft verpflichtet. Die Vorstellung, man könne sehr leidenschaftliche junge Muslime durch gremienkluge Verbandsvertreter, also durch mehr oder minder kompetente Klerikalfunktionäre, in ihren Lebenswelten abholen und in die Mitte der Gesellschaft schieben, lässt nur wenig SWR2 Aula vom 25.12.2013 Glücklicher ohne oder mit Gott? Über den Nutzen der Religion Von Professor Friedrich Wilhelm Graf 6 religionsdiagnostischen Realitätssinn erkennen. Schon für die verschiedenen christlichen Großorganisationen im Lande gilt, dass ihre medial gern allpräsenten Sprecher und Vertreter zwar die jeweilige Organisation, also etwa die Deutsche Bischofskonferenz oder den Rat der EKD, repräsentieren, aber sie repräsentieren nur sehr eingeschränkt die vielen christlichen Individuen, die sich - auch im Falle des vermeintlich so institutionsstarken Katholizismus - das elementare Recht auf Bildung einer eigenen Sicht der Weltendinge nun einmal von niemandem abnehmen lassen. In vielen aktuellen normativen Konflikten vom Streit um die Genforschung, um den ethischen Status von embryonalen Stammzellen bis hin zu den drängenden Problemen eines angemessenen Umgangs mit Todkranken und Sterbenden nimmt etwa eine deutliche Mehrheit der Kirchenmitglieder ganz andere Haltungen ein als kirchliche Spitzenakteure, die freilich in einer Art funktionsspezifischer „déformation professionelle“ ihre eigene Vertreterrolle für Realrepräsentationen halten. Erst recht in Fragen des Lebensstils und der politischen Weltsicht folgen Christen aus guten Gründen zumeist ihrer je eigenen Überzeugung, die von den ethischen Konzepten und moralischen Optionen anderer Christen zwar tiefgreifend unterschieden sein mag, aber mit den jeweils anderen doch darin verwandt ist, dass eben jeder seinen Lebensentwurf für christlich-legitim hält. Der zwar zuweilen unterhaltsame, auf Dauer indes lediglich illusionsfördernde Streit der einschlägigen Vereine und Verbände, wer denn eigentlich für die muslimische Gemeinschaft in Deutschland spreche, lässt sehr viel arroganten Glauben erkennen: den arroganten Glauben nämlich, im öffentlichen Meinungskampf den eigenen Leuten eine Stimme verleihen zu können. Aber abgesehen davon, dass viele Menschen, die aus muslimischen Gesellschaften nach Deutschland kommen, sich gar nicht als religiös identifizieren, sondern als türkische Frau oder persischer Mann oder marokkanischer Student – sie sehen sich nicht als Muslim -, abgesehen davon scheitert die Vorstellung einer autoritativen Gesamtvertretung der Muslime an der extrem hohen religionskulturellen Differenziertheit der moralischen, politischen, religiösen Pluralität der vielen verschiedenen Frommen. Ganz wichtig und im Grunde ganz einfach ist es, den Muslimen jene innere Vielfalt zuzugestehen, die wir etwa aus den christlichen Mehrheitskulturen auch kennen. Man hat an diesem Punkte ein weiteres wichtiges Kennzeichen dafür, warum Religion wieder so wichtig geworden ist: Die Konfrontation mit ganz neuen religiösen Akteuren zwingt alte Akteure einfach dazu, sich neu zu definieren, über den eigenen Ort in einer pluralistischen Gesellschaft nachzudenken und die eigenen religiösen Traditionen sensibel bezogen auf die Gegenwart auszulegen. Auch in Deutschland stellt sich nämlich die Lage der beiden großen Kirchen sehr viel komplexer und widersprüchlicher dar, als der konventionelle Blick auf Austrittszahlen und schlechte Umfragewerte in Untersuchungen über die Vertrauenswürdigkeit von Institutionen erkennen lässt. Wir haben eine extrem widersprüchliche Datenlage. Die Zahl der Taufen und kirchlichen Trauungen ging etwa zwischen 1991 und 2003 um 25 oder gar 45 Prozent zurück, aber am Heiligen Abend sind nie zuvor so viele Deutsche in die Kirche gegangen wie in den letzten Jahren. SWR2 Aula vom 25.12.2013 Glücklicher ohne oder mit Gott? Über den Nutzen der Religion Von Professor Friedrich Wilhelm Graf 7 Erst recht im politischen Diskurs der Berliner Republik wird den Kirchen oder genauer ihren Vertretern ein sehr großer Einfluss eingeräumt, und die Macht ihrer ökumenisch sehr effizient organisierten Interessen zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie in den Debatten um die Reform eines Steuerrechts alte Privilegien wahren konnten. Das Christentum, aber genauer und religionsanalytisch prägnanter gesagt: die vielen verschiedenen Christentümer waren aber immer sehr viel mehr und anderes als die Kirchen. Gern wird in der Bundesrepublik ja inzwischen von einem neuen religiösen Pluralismus gesprochen, vor allem mit Blick auf die muslimischen Einwanderer. Doch nur selten wird gesehen, wie stark innerchristliche Differenzierungsdynamik die Pluralisierungsprozesse in den religiösen Feldern Europas mit vorantreibt. Erhöhte innereuropäische Mobilität trägt zu einer neuen Vielfalt des Christlichen ebenso bei wie die Einwandererströme aus Asien, Lateinamerika und Afrika. Nicht selten entwickeln die nach Europa kommenden Christen hier einen starken Missionsdrang und wollen Gesellschaften, die sie als säkularistisch und moralisch als lax erleben, wieder zu einem Glauben jenseits innerweltlicher Konzessionen an die Moderne zurückführen. Ich nenne nur zwei Beispiele: Im Großraum Paris werden Sonntag für Sonntag von schwarzen Pfarrern 800 protestantische Gottesdienste gehalten. Wir erleben eine dramatische Pluralisierung des britischen religiösen Marktes, auch durch die vielen neuen lateinamerikanischen und asiatischen Christentümer. Über die Präsenz der Pfingstchristen in Europa ist zwar bisher erst sehr wenig bekannt, aber für einige osteuropäische Transformationsgesellschaften lässt sich inzwischen sagen, dass hier die Mission der Pfingstler schnelle und beachtliche Erfolge zeigt. Wir haben es also nicht nur in der Weise mit einer Pluralisierung des religiösen Feldes zu tun, dass nun viele neue nicht-christliche, zumeist muslimische Akteure präsent sind, sondern Pluralisierung des religiösen Feldes ereignet sich auch durch interne Differenzierungsprozesse innerhalb der verschiedenen Christentümer. Wir nehmen im deutschsprachigen Diskurs allerdings diese Entwicklungen noch allzu sehr in eurozentrischen Perspektiven wahr. Schon immer waren religiöse Symbolsprachen durch eine extrem hohe Interpretationsoffenheit geprägt. Sinnwelten und theologische Riten, rituelle Praktiken, lebensbestimmende Kulte, theologische Ideen ließen sich zu keiner Zeit engen Religions- und Konfessionsgrenzen unterwerfen. Sie gewinnen in vielfältigen Rezeptionsprozessen oft unberechenbare Transferdynamik. Das kulturelle Deutungssystem „Religion“ stimuliert in immer neuen Mutationen intensive Austauschund Adaptionsprozesse im Zeichen der paradoxen Gleichzeitigkeit von Repulsion und Attraktion. In der Gegenwart haben sich diese Prozesse grenzüberschreitenden Transfers von Glaubenselementen vielfach dramatisch beschleunigt. Wir erleben neue Austauschprozesse, und diese spezifische Lebendigkeit des Religiösen zu erfassen, fällt vielen gelehrten Religionsdiagnostikern noch immer sehr schwer. Vermutlich bedarf es dazu einer neuen Aufmerksamkeit für ganz elementare Fragen, die im wissenschaftlichen Religionsdiskurs kaum noch gestellt werden. Wie lässt sich die Offenheit religiöser Symbolsprachen für ganz unterschiedliche Lebensdeutungen erklären? Wie ist zu erklären, dass ein Glaubenssymbol wie „Gottes SWR2 Aula vom 25.12.2013 Glücklicher ohne oder mit Gott? Über den Nutzen der Religion Von Professor Friedrich Wilhelm Graf 8 gute Schöpfung“ sowohl universalistisch, etwa als Garant einer vorstaatlichen unantastbarer Würde des Menschen als Ebenbild Gottes, aber auch partikularistisch, im Sinne einer ethnozentrischen Auserwähltheit des eigenen Volkes als Gottesvolk, gelesen werden kann? Worin gründet die außerordentlich hohe Mobilisierungskraft religiöser Rhetorik? Und was stimuliert die vielgestaltige Renaissance apokalyptischen Denkens in aktuellen Debatten und Zukunftsperspektiven von Politik und Gesellschaft? Wie erklärt sich die ungebrochene Konjunktur von Funktionsgöttern und Milieuheiligen, also religiösen Identifikationsgestalten, die einer bestimmten sozialen Gruppe im Gegenüber zu anderen starke Identität auszuleben erlauben? Viel Rätselhaftes bleibt. Es sollte jedenfalls nicht mit dem besserwisserischen Gestus des akademischen Allerklärungsvirtuosen der falsche Eindruck erzeugt werden, als könnten gelehrte Religionsdeuter, welcher Herkunft auch immer, die Glaubensabgründe der Gegenwartsmoderne ausloten. Möglicherweise liegt ein ganz wichtiges Problem gelehrter Religionsdeutung darin, dass wir uns schwer damit tun, die impliziten Theologien und kognitiven Muster in allem religiösen Bewusstsein zu verstehen. Aber es gibt keine Religion ohne implizite Theologie und deshalb liegt eine entscheidende Aufgabe darin, die implizite Theologie verschiedener religiöser Bewusstseinsformationen sich verständlich zu machen. ****** * Zum Autor: Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Graf studierte Evangelische Theologie, Philosophie und Geschichte. 1978 Promotion zum Dr. theol., danach Habilitation für das Fachgebiet Systematische Theologie. 1988 - 92 Professor für Systematische Theologie und Neuere Theologiegeschichte in Augsburg, seit 1999 Ordinarius für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München, seit 2003 Stipendiat des Historischen Kollegs München. Als erster Theologe ist Graf Träger des Leibniz-Preises der DFG. Buchtipp: - Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. Beck. - Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart. Beck. SWR2 Aula vom 25.12.2013 Glücklicher ohne oder mit Gott? Über den Nutzen der Religion Von Professor Friedrich Wilhelm Graf