991 Rezensionen Seite 137 Rezensionen Hans Michael Heinig und Hendrik Munsonius (Hrsg.): 100 Begriffe aus dem Staatskirchenrecht. Mohr Siebeck Tübingen, 2012 303 S., ISBN 978-3-16-151738-9 (9,80 €) Im Jahre 2006 sind die von Hans-Michael Heinig herausgegebenen „Fälle und Lösungen zum Staatskirchenrecht“1 erschienen. Heinig hat 2008 eine Professur für Öffentliches Recht mit einem Schwerpunkt im Staatskirchenrecht und die Leitung des kirchenrechtlichen Instituts der EKD in Göttingen übernommen. Erneut ist es ihm, diesmal zusammen mit dem Mitarbeiter des Instituts Hendrik Munsonius, gelungen, eine Reihe namhafter Autoren für ein Werk zu gewinnen, das das Staatskirchenrecht nicht in der üblichen Form eines Lehrbuches oder einer Spezialmonographie erschließt. Während das damalige Buch zur Kategorie der Ausbildungsliteratur für das Jurastudium zu rechnen ist, wendet sich die Neuerscheinung nach ihrem Vorwort an alle diejenigen, „die sich für Religionspolitik und Religionsrecht interessieren, ohne staatskirchenrechtliche Experten zu sein“. Ähnlich einem großen Lexikon ist das Werk nach alphabetisch geordneten Begriffen aufgebaut und reicht von „Ämterfreiheit“ bis „Zuordnung“. Die für das Staatskirchenrecht relevanten Begriffe werden so in knappen Artikeln abgehandelt, denen jeweils weiterführende Literaturhinweise beigefügt sind. Eine Reihe von Beiträgen haben die Herausgeber selbst bearbeitet (Heinig: Ämterfreiheit, Dienstgemeinschaft, Ernennung von Geistlichen, staatliche Mitwirkungsrechte, Islam, Judentum u.a. – Munsonius: Datenschutz, Diakonie und Caritas, Kirchengemeinde u.a.). Daneben finden sich namhafte Vertreter aus der Wissenschaft wie die Professoren Claus Dieter Classen (Greifswald), Michael Droege (Osnabrück), Jörg Ennuschat (Konstanz), Hasina Farouq (Göttingen), Michael Germann (Halle), Karl-Hermann Kästner (Tübingen), Martin Morlock (Köln), Martin Otto (Bayreuth), Peter Unruh (Kiel), Heinrich de Wall (Erlangen) und Christian Waldhoff (Bonn). Auch der wissenschaftliche Nachwuchs kommt zu Wort mit Artikel von Christoph Goos (Bonn) und Renate Penßel (Erlangen). Das Kirchenamt der EKD ist vertreten durch Beiträge ihres Präsidenten Hans-Ulrich Anke, des Leiters der Rechtsabteilung Christoph Thiele und von Anne-Ruth Wellert, sowie von Kathrin Hatzinger der Leiterin des EKD Büros in Brüssel zum Europarecht. Diesen und allen anderen nicht namentlich erwähnten Autoren ist zu bescheinigen, dass sie es verstanden haben, den selbst gesetzten Anspruch des Werkes umzusetzen, die Begriffe in einer allgemein verständlichen Sprache zu erläutern. Es besteht daher die berechtigte Hoffnung, dass das Buch vor allem von denen zur Hand genommen wird, die sich über das Staatskirchenrecht informieren wollen, ohne zu speziellen Fachbüchern oder dicken lexikalischen Werken greifen zu müssen. Das kleine handliche Format trägt dazu das seine bei. Damit wird einem wichtigen Anliegen entsprochen, den nachlassenden allgemeinen Kenntnissen über das Staatskirchenrecht entgegenzuwirken. Jörg Winter 1 Siehe dazu meine Besprechung ZevKR 53 (2008), S. 78 ff. Kirche und Recht (KuR) 2012 991 Rezensionen Seite 138 Heinrich de Wall / Stefan Muckel: Kirchenrecht. Ein Studienbuch. 3. Auflage Verlag C.H. Beck, München 2012 399 S.; ISBN 978-3-406-63407-9 (32,90 €) Wenn ein juristisches Studienbuch schon nach einer vergleichsweise kurzen Zeit von knapp drei Jahren seit seinem erstmaligen Erscheinen in der dritten Auflage auf den Markt kommt, muss es sich um etwas Besonderes handeln. Das sogenannte Kurz-Lehrbuch „Kirchenrecht“ von Professor Dr. Heinrich de Wall, Inhaber des Lehrstuhls für Kirchenrecht, Staats- und Verwaltungsrecht sowie Direktor des Hans-Liermann-Instituts für Kirchenrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, und Professor Dr. Stefan Muckel, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Kirchenrecht sowie Direktor des Instituts für Kirchenrecht und rheinische Kirchenrechtsgeschichte der Universität zu Köln, ist etwas Besonderes. Als die erste Auflage im Jahr 2009 (ihr folgte bereits ein Jahr später, 2010, die zweite Auflage) das Licht der Fachbücherwelt erblickte, war schnell klar, dass die Autoren in eine Marktlücke vorgestoßen waren. Auch wenn es an Lehrbüchern zum Recht der jeweiligen Kirchen und hier insbesondere an ausführlichen Darstellungen des kanonischen Rechts nicht mangelt, fehlte bislang eine kompakte gemeinsame Darstellung des Rechts der beiden größeren Kirchen in einem Buch. Damit soll – so die Autoren in ihrem Vorwort – nicht nur den Bedürfnissen der Juristenausbildung, sondern auch dem Geist der Ökumene Ausdruck verliehen werden. Für beides stehen die Autoren, die in der Fachwelt nicht nur als profunde Kenner ihrer Forschungsschwerpunkte, sondern auch der evangelischen (de Wall) und der katholischen (Muckel) Kirche einen Namen haben. Dabei geht der Bedarf für dieses Buch über die von den Autoren im Vorwort genannten Schwerpunktbereiche hinaus, die im Rahmen der jüngsten Reform der Juristenausbildung an einer Reihe von juristischen Fakultäten zu einer Wiederbelebung des Kirchenrechts in der universitären Lehre geführt haben. Auch an anderen Fakultäten ist der Trend einer Renaissance des Kirchenrechts im Rahmen der Juristenausbildung zu beobachten. So bieten beispielsweise die Rezensenten – ebenfalls ganz im Geist der Ökumene – auf Initiative der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum dort seit dem Wintersemester 2006/2007 jährlich die Vorlesung „Evangelisches und Katholisches Kirchenrecht“ als Grundlagenfach an, das sich mit der Möglichkeit zum Erwerb eines qualifizierten Grundlagenscheins seitdem an der Fakultät etabliert hat. Mit Erfolg und positiven Rückmeldungen aus den Reihen der Studierenden weisen die Rezensenten seit dem erstmaligen Erscheinen gerne auf das hier anzuzeigende Lehrbuch hin. Das Studienbuch enthält schwerpunktmäßig die kirchenrechtlichen Ordnungen der EKD und der evangelischen Landeskirchen (4. Teil S. 233-386) sowie der römisch-katholischen Kirche (4. Teil S. 97-232). Beide Rechtsmaterien regeln nicht nur die innerkirchlichen Ordnungen (etwa die jeweilige Organisationsstruktur, kirchliche Ämter, kirchliches Arbeitsrecht, Verwaltung von Sakramenten, Kirchenvermögen, kirchlicher Rechtsschutz), sondern befassen sich sehr eingehend auch mit zentralen Lebensbereichen der Kirchenmitglieder. Da die einzelnen kirchenrechtlichen Ordnungen nicht ohne historischen Bezug verständlich sind, wird die Entwicklung des Kirchenrechts vorab in einem kurzen Überblick dargestellt (1. Teil S. 1-60). Außerdem wird das für das kirchliche Wirken besonders wichtige Verhältnis der Kirchen zum Staat behandelt (2. Teil S. 61-96). Für die beiden letztgenannten Bereiche darf zur Vertiefung auf die in der gleichen Reihe erschienen Kurz-Lehrbücher von Professor Dr. Christoph Link über „Kirchliche Rechtsgeschichte“ (2. Auflage 2010) und Professor Dr. Axel Frhr. von Campenhausen und Professor Dr. Heinrich de Wall zum „Staatskirchenrecht“ (4. Auflage 2006) verwiesen werden. Für die Neuauflage ist das Lehrbuch wiederum durchgängig aktualisiert worden. Wesentliche Bereiche der Neubearbeitung betreffen wichtige Änderungen des evangelischen Kirchenrechts. So sind das neue Pfarrdienstgesetz und im Bereich der evangelischen Kirchengerichtsbarkeit das neue Verwal- Kirche und Recht (KuR) 2012 991 Rezensionen Seite 139 tungsgerichtsgesetz der EKD eingearbeitet worden. Beide Gesetze sind wichtige Schritte zu einer Rechtsvereinheitlichung unter den Gliedkirchen der EKD. Ersteres bedeutet etwa, dass – die Zustimmung der Gliedkirchen vorausgesetzt – das Dienstrecht der Pfarrerinnen und Pfarrer in einem einheitlichen Gesetz zusammengefasst und nicht mehr – wie bisher – in 11 verschiedenen Gesetzen der Gliedkirchen bzw. gliedkirchlichen Zusammenschlüsse geregelt ist. Außerdem wurden die Fusion der Nordelbischen, der Mecklenburgischen und der Pommerschen Kirche zur Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland und deren verabschiedete Verfassung berücksichtigt. Diese Fusion ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil sich hier erstmals ost- und westdeutsche Kirchen zusammengeschlossen haben. Für die Praxis wäre es hilfreich, bei den Rechtsquellen (S. 251 ff.) auf die Rechtsquellennachweisung für das evangelische Kirchenrecht in Heft 8 des Amtsblattes der EKD sowie auf www.FIS-Kirchenrecht.de hinzuweisen. Im Rahmen der Darstellung der Gerichtsbarkeit (S. 353 ff.) könnte man erwähnen, dass man Gerichtsentscheidungen von Kirchengerichten u.a. in der Rechtsprechungsbeilage zu Heft 4 des Amtsblattes der EKD findet. Im Bereich der Katholischen Kirche sind die Ausführungen zum kirchlichen Strafrecht substanziell ergänzt worden. Hier wurden u.a. die neuen Regeln zum Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen in die Darstellung aufgenommen (§ 22 Rn. 13). Keineswegs nur, weil es im Gegensatz zu anderen Rechtsgebieten beim Kirchenrecht keine ernsthafte Alternative gibt, arbeiten die Rezensenten nicht nur selbst gerne mit diesem Buch, sondern empfehlen es auch im Rahmen ihrer beruflichen und universitären Arbeit gerne weiter. RA Dr. Burkhard Kämper, Düsseldorf/Essen Jur. Kirchenrat Dr. Arno Schilberg, Detmold Kirche und Recht (KuR) 2012 991 Rezensionen Seite 140 Christoph Goos: Innere Freiheit. Eine Rekonstruktion des grundgesetzlichen Würdebegriffs. Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen. N.F., Band 9. V&R Unipress Göttingen, 2011 245 S., ISBN 978-3-89971-825-6 (39,90 €) Nach Art. 1 Abs. 1, Satz 1 GG ist die Würde des Menschen unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt (Art. 1 Abs. 1, Satz 2 GG). Über die Deutung dieser für das Verständnis der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland zentralen Sätze gehen die Meinungen bis heute weit auseinander. Über den engeren Bereich der juristischen Fachdiskussion hinaus hat diese Frage auch eine breitere Öffentlichkeit beschäftigt, wofür die harsche Kritik von Ernst Wolfgang Böckenförde an der Neukommentierung von Artikel 1 GG durch Matthias Herdegen im Kommentar von Maunz-Dürig1 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung2 und die kontroverse Debatte über die Zulässigkeit der „Rettungsfolter“ aus Anlass der Entführung und Ermordung von Jacob von Metzler hinreichende Belege sind.3 Christoph Goos unternimmt in seiner von Christian Hillgruber in Bonn betreuten Dissertation ausweislich ihres Untertitels eine „Rekonstruktion“ des grundgesetzlichen Würdebegriffes unter Auswertung der stenografischen Protokolle des Ausschusses für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates, die bis 1993 nicht allgemein zugänglich waren. In seiner Einleitung stellt er dazu fest, dass die Deutung der Menschenwürde aus ihrer Entstehungsgeschichte keine „mehr oder minder bedeutsame Auslegungsmethode“ ist (S. 15), sondern die sich daraus ergebende Konzeption sei die für das gesamte Verständnis des Grundgesetztes maßgebliche. An der subjektiv-historischen Auslegung des Grundgesetzes führe kein Weg vorbei, was für Art. 1 Abs. 1 GG wegen der „Ewigkeitsgarantie“ in Art. 79 Abs. 3 GG in besonderem Maße gelte: „Art. 1 ist in der Architektur des Grundgesetzes der feste Punkt, an dem jeder Wandel der Rechtsordnung einschließlich der Verfassung selbst zu messen ist. Er selbst ist jedoch unwandelbar.“ (S. 17). Nach diesen methodischen Vorbemerkungen gibt Goos im Sinne einer kritischen Bestandsaufnahme einen Überblick über die zur „Würde des Menschen“ in der Literatur vertreten Lehrmeinungen und über die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die stark von der von Günther Dürig 1958 begründete These beeinflusst worden ist, nach der die Menschenwürde getroffen ist, „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“4. In der nachfolgenden Darstellung über die Beratungen des Parlamentarischen Rates kommen ausführlich die Positionen der damaligen Protagonisten der Diskussion zu Wort, nämlich in erster Linie die von Carlo Schmid, Theodor Heuss und von Hermann von Mangoldt. Goos räumt dabei das Missverständnis aus, Theodor Heus habe mit seinem Diktum von der Würde des Menschen als „nicht interpretierte These“ einer Auffassung das Wort geredet, die ohne inhaltliche Vorgabe jegliche Interpretation habe offenhalten wollen. Zum Ausdruck gebracht werden sollte damit lediglich die Möglichkeit verschiedener Zugänge, die von unterschiedlichen religiösen, philosophischen und geschichtlichen Einsichten ausgehen. Darin liege zugleich eine Absage an eine ausschließlich christliche Deutung des Würdebegriffes, die schon damals im Parlamentarischen Rat „nicht sonderlich weit verbreitet gewesen sein dürfte“ (S. 18). 1 2 3 4 Matthias Herdegen, Art. 1 in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, (zuletzt Lfg. 55 Mai 2009). Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Würde des Menschen war unantastbar, FAZ 3.9.2003. Für die Zulassung der Folter in solchen Fällen: Winfried Brugger, Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, JZ 2000, S. 165 ff. Günther Dürig, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, (Lfg. Januar 1976), Art. 1, Rd.Nr. 28. Kirche und Recht (KuR) 2012 991 Rezensionen Seite 141 Der Hauptthese der Arbeit von Goos besteht darin, dass man sich trotz unterschiedlicher Ausgangspunkte im Parlamentarischen Rat im Kern darin einig gewesen sei, dass mit der Garantie der „Würde des Menschen“ die innere, geistige Freiheit des Menschen wieder hergestellt und geschützt werden sollte, die in der Zeit des Nationalsozialismus in so furchtbarer Weise beschädigt worden ist. Aufgenommen worden sei damit das Leitmotiv des Widerstandes gegen den „totalen Staat“ des „Dritten Reiches“, wie es vor allem für den Kreisauer Kreis um Helmuth James Graf von Moltke, aber auch für die „Weißen Rose“ maßgeblich gewesen ist. Dieser historische Hintergrund wird von Goos in Auswertung damaliger Texte in einem eigenen Abschnitt ausführlich analysiert und dargestellt. Wenn es richtig ist, dass nach der Entstehungsgeschichte die innere, geistige Freiheit des Menschen als Schutzgut von Art. 1 Abs. 1 GG anzusehen ist, ergeben sich daraus zwei gravierende Folgeprobleme, mit denen sich Goos im weiteren Verlauf seiner Arbeit intensiv auseinandersetzt. Zum einen würde die Garantie der Menschenwürde praktisch ins Leere gehen, wenn anzunehmen wäre, dass durch sie nur das „forum internum“ geschützt wird, eine geistige, innere Freiheit also, die auch dem „Sklaven auf der Galeere“ nicht genommen werden kann. Sie braucht vielmehr auch das Recht zur äußeren Betätigung der inneren Überzeugungen, wie man es in Art. 4 Abs. 2 GG für die Religionsausübung ausdrücklich klarzustellen für nötig gehalten hat. Für den Bereich der durch Art. 1 Abs. 1 geschützten Menschenwürde, verstanden als Garantie der „inneren Freiheit“, bedarf es deshalb der notwendigen Ergänzung im Sinne der Betätigungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG, die allerdings den dort festgelegten Schrankenvorbehalten unterliegt. Das andere Problem verhandelt Goos unter dem Stichwort der inneren Freiheit als „Freiheit des Erlebens, Empfindens und Erleidens“ (S. 142 ff.). Die innerer Freiheit kann danach nicht nur als Freiheit des seiner Sinne mächtigen Menschen angesehen werden, der im Vollbesitz seiner intellektuellen und geistigen Fähigkeiten ist, denn: „Andernfalls gerät die Würde, verstanden als ‚innere‘ Freiheit des Menschen, allzu leicht zum exklusiven Konzept, das Kinder , psychisch Kranke, etwa schwer Depressive, Komatöse, aber auch gesunde Menschen, die nicht das Glück hatten, unter Bedingungen aufwachsen zu dürfen, in der sich die innerer Freiheit, wie sie Epiket und andere beschreiben, entfalten kann, Menschen, die extremes Fehlverhalten an den Tag legen, ausschließt.“ (S. 143). Goos kommt in seinen Überlegungen dazu zu dem Ergebnis, dass es im Sinne der Väter und Mütter des Grundgesetzes sein dürfte, die „Würde des Menschen zu beschreiben als die je eigene Ich-Perspektive des Menschen, die sich in der inneren Freiheit des Denkens nicht erschöpf, sondern auch die Freiheit des Erlebens, Erleidens und Empfinden umfasst, und die Würde ausnahmslos jedem Menschen zuzuschreiben.“ (S. 153). Die sich daraus ergebe weitere Frage, ob sich das auch auf den noch nicht geborenen Nasciturus und auf Menschen bezieht, die bereits gestorben sind („postmortaler Grundrechtsschutz“), beantwortet Goos im Sinne der heute ganz herrschenden Auffassung positiv. Was den Normgehalt von Art. 1 Abs. 1 GG angeht, betont Goos dessen bisher wenig beachtete „Zwei-Satz-Struktur“, d.h. die Verpflichtung nach Satz 1, die Menschenwürde nicht anzutasten, einerseits und die Verpflichtung des Staates, diese zu achten und zu schützen, nach Satz 2 andererseits. Er tritt hier der Auffassung entgegen, nach der Abs. 1, Satz 1 GG keine vollgültige Rechtsqualität zukommt. Nach der von ihm entwickelten Konzeption enthält Satz 1, ein absolutes „Antastungsverbot“, das keiner Abwägung mit anderen Rechtsgütern zugänglich ist. Mit dem Antastungsverbot wird eine „für jedermann geltende Unterlassungspflicht“ statuiert, die es zum Beispiel verbietet von der Folter Gebrauch zu machen, selbst wenn dies zum Schutz des Lebens und der Würde eines anderen Menschen erfolgversprechend wäre. Insofern ergibt sich durch das „Antastungsverbot“ eine absolute Hürde, die unter keinen Umständen überwunden werden kann. Als Kriterien zur Bestimmung des „Antastungsverbots“ benennt Goos das Verbot körperlichen und seelischen Überzeugungszwanges, das strikte Indoktrinationsverbot, das Verbot zur Traumatisierung von Menschen und das Verbot der Verfälschung des Persönlichkeitsbildes. Davon zu unterscheiden ist die Achtungspflicht und die Schutzpflicht nach Art. 1 Abs. 1, Satz 2 GG, die beide nicht für „jedermann“ gelten, sondern nur den Staat zum Adressaten haben. Im Unterschied zum „Antastungsverbot“ gehe es hier nicht um ein bloßes Unterlassen, sondern um Handlungspflichten des Staates, einschließlich einer aktiv im Sinne der Menschenwürde zu gestaltenden Rechtsetzung, z.B. im Bereich der sozialstaatlichen Verpflichtungen. Bei der Konkretisierung dieser Verpflichtungen können zahlreiche Faktoren eine Rolle spielen, so dass es hier keine absolut gültigen Kirche und Recht (KuR) 2012 991 Rezensionen Seite 142 Vorgaben gibt. Was im Einzelnen die Achtungs- und Schutzpflicht erfordert, ist deshalb wesentlich schwerer zu bestimmen, als dies beim Antastungsverbot nach Satz 1 der Fall ist. Die von Goos vorgenommene Differenzierung hat den Vorteil, dass sie aus dem Dilemma herausführt, der Menschwürde entweder ihre „Unantastbarkeit“ zu nehmen, oder ihr die praktische Relevanz abzusprechen. Im Blick auf das Antastungsverbot nach Art. 1 Abs. 1, Satz 1 ist sie absolut geschützt, im Blick auf die Achtungs- und Schutzpflichten nach Art. 1, Abs. 1, Satz 2 ist sie der Abwägung mit anderen Rechtsgütern zugänglich. Abschließend setzt sich Goos mit dem Problem auseinander, ob den Pflichten aus Art. 1 Abs. 1 GG auch subjektive Rechte korrespondieren, der bis heute strittigen Frage also, ob dieser Artikel zu den Grundrechten gehört, die ihm nach dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 GG „nachfolgen“. Jenseits der semantischen Deutungen ist für Goos nicht ersichtlich, weshalb der Charakter von Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht abgelehnt werden sollte, auch wenn in diesem Punkt der Wille der Väter und Mütter des Grundgesetzes undeutlich geblieben sei. Andernfalls lasse sich eine durch die übrigen Grundrechte nicht vollständig abgedeckte Schutzlücke nicht schließen. Der inhaltliche Teil der Arbeit von Goos schließt – vor einer Zusammenfassung ihres Inhalts in Thesen – mit Betrachtungen zur Nicht-Antastung, Achtung und Schutz der Würde des Menschen am Beispiel der Abtreibungsfrage. Hier stellt er klar, dass die Tötung eines Menschen ganz allgemein als solche dessen Würde nicht antastet, da der Staat andernfalls von dem Gesetzesvorbehalt nach Art. 2 Abs. 2, Satz 3 GG, der sich nach unbestrittener Auffassung auch auf das Leben beziehe, insoweit niemals Gebrauch machen könnte.5 Der Arbeit von Goos ist zu bescheinigen, dass sie die gesamte Thematik der Unantastbarkeit der Menschenwürde, als ein absolut gütiges Verbot für jedermann, sowie ihrer Achtung und ihres Schutzes durch den Staat in einer Weise aufarbeitet, die die Erwartungen bei weitem überschreitet, die man üblicher Weise an eine juristischen Dissertation stellen kann. Sie ist deshalb zu Recht mit zwei Preisen ausgezeichnet worden, wie der Autor im Vorwort mitteilt. Die Arbeit vermittelt nicht nur wichtige Erkenntnisse über die Entstehungsgeschichte von Art. 1 Abs. 1 GG und ihres historischen Hintergrundes, sondern erweist sich streckenweise im Reichtum der juristischen, historischen und philosophischen Argumentation als nahezu spannende Lektüre. In der Ausdeutung der Menschenwürde als „innerer Freiheit“ zur Abwehr von Ein- und Übergriffen des „totalen Staates“, wie er den Akteuren des parlamentarischen Rates noch lebhaft vor Augen stand, stellt Goos ein in sich schlüssiges Konzept zur inhaltlichen Bestimmung des Begriffes Menschenwürde vor, das sich nicht in der Kasuistik negativer Anwendungsfälle erschöpft, wie sie sich in der Anwendung der reinen „Objektformel“ zwangsläufig entwickelt hat. In der Unterscheidung des absolut gültigen Antastungsverbots in Art. 1 Abs. 1, Satz 1 GG und der Achtungs- und Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1, Satz 2 GG liefert er zugleich den Ansatzpunkt, der geeignet ist, die Kontroverse über die Möglichkeit der Abwägung der Menschenwürde mit anderen Rechtsgütern einer Lösung zuzuführen, und die falsche Alternative zwischen ihrer absoluten „Unantastbarkeit“ einerseits und ihrer mangelnden praktischen Relevanz als „kleiner Münze“ anderseits aufzulösen. Gleichwohl ist auch die sehr verdienstvolle Arbeit von Goos nicht in der Lage, die Aporien ganz aufzulösen, die sich mit der Garantie der Menschenwürde von der Sache her verbinden. Besonders deutlich tritt das zu Tage im Zusammenhang mit der Tatsache, dass die Vernichtung menschlichen Lebens nicht unter das absolute Antastungsverbot von Art. 1 Abs. 1, Satz 1 GG fällt, sondern nach Art. 1 Abs. 1, Satz 2 i.V.m. Art. 2 Abs.2, Satz 3 GG dem Gesetzesvorbehalt unterliegt und damit der Relativierung mit anderen Rechtsgütern offen steht. Eine andere Sichtweise hätte gravierende Folgen, wie die von Goos genannten Beispiele ohne weiteres belegen.6 Warum aber z.B. der nach Polizeirecht zulässige finale „Rettungsschuss“ mit Todesfolge bei einer Geiselnahme keine „Antastung“ der Menschenwürde des getöteten Verbrechers sein soll, während das vergleichsweise mildere Mittel, ihn zur 5 6 Siehe dazu auch die zweite Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch: „Der Schutz des Lebens ist nicht in dem Sinne absolut geboten, daß dieses gegenüber jedem anderen Rechtsgut ausnahmslos Vorrang genösse; das zeigt schon Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG.“ BVerfGE Bd. 88, S. 253 f. Das menschliche Leben als solches fällt damit nicht unter das Antastungsverbot nach Art. 1 Abs. 1, Satz 1. S. 209 (Anm. 1081). Kirche und Recht (KuR) 2012 991 Rezensionen Seite 143 Preisgabe des Versteckes eines entführten Kindes körperliche Schmerzen auch nur anzudrohen, unter diesem Gesichtspunkt bereits absolut verboten sein soll, erweist sich als kaum auflösbarer Wertungswiderspruch. Soweit Goos die Auffassung vertritt, die von ihm aus den Protokollen des Grundsatzausschusses des Parlamentarischen Rat erhobene inhaltliche Füllung des Begriffes der Menschenwürde als Schutz der „inneren Freiheit“ müsse wegen der Unwandelbarkeit des Begriffes auch die heute maßgebliche sein, ist darauf hinzuweisen, dass er diese These nur durch eine extensive Interpretation der „inneren Freiheit“ aufrecht erhalten kann. Es bedarf eines erhöhten Aufwandes der Argumentation, um zu belegen, dass die „innere Freiheit“ als Schutzgut von Art. 1 Abs. 1 GG nicht nur dem intellektuell leistungsfähigen Individuum zugestanden werden muss, sondern dazu auch die „Freiheit des Erlebens, Empfindens und Erleidens“ gehört. Den dazu gemachen geistreichen Ausführungen von Goos kann man in jeder Hinsicht zustimmen, sie sind aber gegenüber dem Befund der Entstehungsgeschichte doch das Ergebnis eines „kreativen Weiterdenkens“ unter Berücksichtigung neuerer Forschungsergebnisse. Nur so lassen sich Engführungen vermeiden, die nicht wenigen Menschen den Würde- und damit auch den Grundrechtsschutz versagen würde, wie Goos selbst in seinen zusammenfassenden Thesen feststellt (S. 219). Der Begriff der „Menschenwürde“ muss deshalb in die jeweilige Zeit hinein offen bleiben und entbindet nicht davon, sich jeweils neu darüber zu verständigen, welche Forderungen sich konkret aus ihr ergeben. Die Arbeit von Goos liefert dafür hervorragendes Material. Jörg Winter Kirche und Recht (KuR) 2012 991 Rezensionen Seite 144 Das Amt des Papstes und die „gestufte Kirchengemeinschaft“ Anmerkungen zu Dietmar Konrad: Der Rang und die grundlegende Bedeutung des Kirchenrechts im Verständnis der evangelischen und katholischen Kirche. Jus Ecclesiasticum, Band 93. Mohr Siebeck Tübingen, 2010 512 S., ISBN 978-3-16-150150-0 (79,00 €) In seiner Monographie1, die unter der Betreuung von OKR i.R. Prof. Dr. Jörg Winter als Dissertation an der Heidelberger Juristischen Fakultät entstanden ist, beschäftigt sich Dietmar Konrad grundlegend mit der Beziehung des Protestantismus zu Rom. Er plädiert für eine „gestuften Kirchengemeinschaft“, in der die evangelischen Kirchen als konfessionelle Teilkirchen eigenen Rechts bzw. „evangelische Patriarchate“2 innerhalb der römisch-katholischen Kirche existieren und schlägt in diesem Zuge eine von der katholischen Tradition abweichende Neuinterpretation des päpstlichen Primats vor. Die Untersuchung umfasst drei Hauptabschnitte.3 Der erste (S. 5 – 172) behandelt das katholische Kirchenrecht und kennzeichnet es als Ausprägung des dahinterstehenden Kirchenbegriffs. Ausführlich werden Rang, Bedeutung und Grundlagen des zugrundeliegenden Verständnisses von Kirche und Recht in der Rezeption durch die vatikanische Theologie und den CIC dargestellt, sowie diejenigen konfessionellen Rechtsregelungen, die sich mit den Beziehungen zur evangelischen Kirche befassen. Der zweite Abschnitt (S. 173 – 360) untersucht das Evangelische Kirchenrecht ebenfalls bezüglich der ekklesiologischen Grundlagen und ihrer interkonfessionellen Auswirkungen. Es folgen – auch historisch fundierte – Ausführungen zu Rang und Bedeutung des Kirchenrechts im deutschen Protestantismus nach der Befreiung. Außerdem wird die kirchenverfassungsrechtliche Praxis im Kontext unterschiedlicher Modelle von Kirchenverfassungen dargestellt. Vergleichend zeigt Konrad, dass beide Rechte zwar dem Verkündigungsauftrag dienen. In ihren Unterschieden hängen sie mit divergierenden Ekklesiologien und Amtbegriffen zusammen, insbesondere im Blick auf den Primat des Papstes iure dvino. Der dritte Abschnitt (S. 361 – 476) befasst sich mit dem sog. „ökumenische Kirchenrecht“, soweit es einen konfessionsübergreifend rezipierten Rechtsbestand bzw. interkonfessionelle Vereinbarungen zur Regelung gemeinsamer Fragen betrifft. Hier wird deutlich, dass es im Sinn einer kodifizierten gemeinsamen Kirchenverfassung nur lege ferenda zu realisieren wäre, da die theologischen Voraussetzungen noch nicht vorliegen.4 Den Anknüpfungspunkt der Arbeit bildet die Verlautbarung des Rates der EKD zur „Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis“ (2001)5. Danach besteht zwar insofern interkonfessionelle Übereinstimmung, als die Einheit des Leibes Christi dynamisch auf die Gemeinschaft der Kirchen hinführe, wobei freilich gewisse (Vor-)Formen zeigen, dass es – unter je verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen – zu fördernde gestufte Verfahren zur Verwirklichung dieses ökumenischen Ziels bereits gibt.6 Umso deutlicher tritt freilich die Inkompatibilität der aktuellen Auffassungen von Kirchengemeinschaft zutage. Daher ist zunächst „eine (erg.: theologische) Verständigung darüber zu erstreben, dass für die Gemeinschaft der Kirchen nicht eine einzige, historisch gewachsene Form des kirchlichen Amtes zur Bedingung gemacht werden kann... . In diesem Zusammenhang ist auch fest1 2 3 4 5 6 Dietmar Konrad, Der Rang und die grundlegende Bedeutung des Kirchenrechts im Verständnis der evangelischen und katholischen Kirche, Tübingen: Mohr Siebeck 2010 (Jus ecclesiasticum; Bd. 93). A.a.O., S. 378 f. Vgl. im Einzelnen die Rezension von Arno Schilberg, ZevKr 56 (2011), S. 220 ff. Dietmar Konrad, a.a.O., S. 471. Vgl. dazu und zum Folgenden Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis, EKD Texte Nr. 69. A.a.O., http://www.ekd.de/international/6425.html. Kirche und Recht (KuR) 2012 991 Rezensionen Seite 145 zustellen, dass die Notwendigkeit und Gestalt des Petrusamtes und damit des Primats des Papstes, das Verständnis der apostolischen Sukzession, die Nichtzulassung von Frauen zum ordinierten Amt und nicht zuletzt der Rang des Kirchenrechtes in der römisch-katholischen Kirche Sachverhalte sind, denen evangelischerseits widersprochen werden muss.“7 Dem tritt Konrad mit dem Hinweis entgegen, die „überkommene katholische These, das Gottesverhältnis stelle in dem Sinne ein Rechtsverhältnis dar, das durch die bloße Befolgung der rechtlichen Bestimmungen der katholischen Kirche der einzelne Mensch, unabhängig von seiner inneren Einstellung, durch Gott im Sinne einer stellvertretenden Satisfaktion gerettet werde...“ sei durch das II. Vatikanum überholt. Zudem habe sich spätestens seit „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (1999) der interkonfessionelle Konsens etabliert, „dass der Mensch allein aufgrund seines Glaubens zu Gott Erlösung erlangen kann.“8 Von daher bestünden „im Rahmen des geltenden Kirchenrechts Möglichkeiten (...), Ökumene aktiv zu gestalten“9, auch im Blick auf das Modell einer gestuften Kirchengemeinschaft. Als historisches Vorbild dient Konrad die dreigliedrige Struktur der Kirche vor dem Schisma von 1047 mit Einzelkirchen und Bischöfen, Patriarchaten (Regionalkirchen) und Patriarchen sowie der Gesamtkirche mit dem Papst an der Spitze, der sein Amt als Bischof von Rom zugleich als „Patriarch des Abendlandes“ wahrgenommen hat.10 Dadurch sei der Gesichtspunkt des universalen Leibes Christi – repräsentiert durch das gemeinsame Bekenntnis und das päpstliche Einheitsamt – verknüpft worden mit dem Gesichtspunkt der Vielfalt der Glieder, die – repräsentiert durch selbständige Patriarchate – den gemeinsamen Grund (1. Kor. 3,11) als „autonome Rituskirchen“ im Rahmen ihres konfessionellen Selbstverständnisses ausgestalten konnten. Eine in diesem Sinne gestufte Kirchengemeinschaft böte ihnen die Möglichkeit, ihre internen Belange autonom zu regeln, die konfessionellen Spezifika auf der Basis des gemeinsamen „ökumenischen“ Bekenntnisses zu wahren und darin gemeinsam die eine Kirche Jesu Christi nach außen hin zu bezeugen. Der Papst wäre als Petrusnachfolger Repräsentant der gesamtkirchlichen Einheit und als solcher auf die Verantwortung für Verkündigung beschränkt. In den konfessionellen Teilkirchen käme es nur hilfsweise und dann zum Tragen, wenn etwa interne Konflikte nicht intern gelöst werden könnten oder die episkopale Leitung nicht wahrgenommen würde.11 Auf diese Weise bliebe die Autonomie der evangelischen (Teil-)Kirchen gewahrt, ihre Rechtsordnungen, Ämtersetzungen und Kirchendisziplinen zu regeln. Zur Frage, wie dies in einem „ökumenischen Codex“ darzustellen sei, zeichnet Konrad zwei Wege.12 Der eine führt über die Beschränkung des päpstlichen Jurisdiktionsprimates auf die römisch-katholischen (Teil-) Kirchen, während er für die evangelischen Teilkirchen im Wege der Selbstbindung darauf verzichtet und lediglich einen „Primat der Liebe / Ehrenprimat, wenn auch mit unfehlbarer Lehrkompetenz“ wahrnimmt, den das katholische Kirchenrecht unter gewissen – innerkatholischen – Bedingungen bereits kennt. Die andere Weg besteht darin, den Jurisdiktionsprimat den evangelischen Kirchen gegenüber zwar zu erhalten, ihren Gebrauch aber den Prinzipien der Kollegialität, der legitimen Vielfalt sowie der Subsidiarität – d.h. klar definierten rechtlichen Schranken – zu unterwerfen. Die theologisch-ekklesiologische Grundlage dafür sieht Konrad katholischerseits im II. Vatikanum (1962 – 1965) und seinem Verständnis der Kirche Jesu Christi als Gesamtheit aller konfessionellen Teilkirchen, „die dem Grad ihrer inhaltlichen Gemeinsamkeit entsprechend zueinander in gestufter Gemeinschaft stehen.“13 Darin erkennt er einen Wandel in der Selbstauffassung der katholischen Kirche insofern, als sie nun nicht mehr von einer umfassenden Identität mit der Kirche Jesu Christi ausgehe14, sondern davon, dass diese in ihr (nur mehr) subsistiert („subsitit in“15). Dadurch seien andere Erscheinungsformen der universalen Kirche Jesu Christi außerhalb der katholischen Kirche nicht 7 8 9 10 11 12 13 14 A.a.O., http://www.ekd.de/international/6423.html. Dietmar Konrad, a.a.O., S. 2. Dietmar Konrad, a.a.O., S. 3. Zum Folgenden Dietmar Konrad, a.a.O., S 379 f. Vgl. zum Folgenden Dietmar Konrad, a.a.O., S. 377 f. Dietmar Konrad, a.a.O., S 377 und unten S. 6 . Dazu und zum Folgenden, auch mit weiteren Nachweisen: Dietmar Konrad, a.a.O., S. 378 f. So – freilich polemisch – Alexendra von Teuffenbach, Die Bedeutung des subsistit in (LG 8). Zum Selbstverständnis der katholischen Kirche, München 2002, S. 16. 15 Dazu unten, S. 4. Kirche und Recht (KuR) 2012 991 Rezensionen Seite 146 mehr ausgeschlossen. Zwar sehe sie sich selbst mit jener nach wie vor in „communio plena“, eröffne aber doch den von ihr getrennten „Glaubensgemeinschaften“ eine Form der gestuften Gemeinschaft mit der universalen Kirche Jesu Christi („communio non plena“) und erkenne dort auch „kirchenbildende Elemente“ an.16 Zu diesen zählt Konrad den Verkündigungsauftrag Christi, die Taufe17, das Abendmahl bzw. die Eucharistie, sodann – unabhängig von der rechtlichen Ausgestaltung im Einzelnen – die Notwendigkeit eines kirchlichen Amtes und die Vorfindlichkeit der verfassten Kirche beider Konfessionen in einem faktischen transkatholisch-ökumenischen Kontext. Entscheidend sei, dass damit das II. Vatikanum die frühere katholische Idee einer „Rückkehrökumene“ aufgegeben habe. Stattdessen werde die gemeinsame Teilhabe an Wort und Sakrament Christi angestrebt, in welcher die gewachsenen Verschiedenheiten der einzelnen Teilgemeinschaften innerhalb der einen Kirche Jesu Christi als Bereicherung des Ganzen erlebt werden und im Sinne eine gestuften Kirchengemeinschaft bestehen können.18 In jenen kirchenbildenden Elementen, die alle Christen in die universale Kirche Jesu Christi inkorporiere, sieht Konrad die Basis eines „ius commune universale“ als Wurzel einer überkonfessionellen kirchlichen Rechtsordnung 19, aus der – trotz aktuell bestehender ekklesiologischer Differenzen – die Rechtspflicht der Kirche(n) folge, auf die Ökumene bzw. die Einheit des Leibes Christi hinzuwirken.20 Wesentliche Voraussetzung wäre katholischerseits die Anerkennung der evangelischen Ämter im Sinne des Kollegialitätprinzips. Unter dem Gesichtspunkt, dass Einheit nicht mit Einheitlichkeit identisch ist, bliebe die Freiheit der (evangelischen) Teilkirchen gewahrt, insbesondere, was ihre Ordinationspraxis, die Beauftragung von Prädikanten, die Ableitung der Ämter aus dem allgemeinen Priestertum durch synodale Wahl u.a.m. betrifft. Die Evangelischen Kirchen könnten in ihren inneren Angelegenheiten unabhängig bleiben, während der Papst verbindliche Auslegungsinstanz des Bekenntnisses und „personaler Repräsentant des magnus consensus aller Gläubigen“ in Bindung an die Schrift wäre. „Deshalb müsste die Beteiligung des allgemeinen Priestertums der Gläubigen an den Lehrentscheidungen des Papstes zum einen institutionell abgesichert werden, zum andern könnte der Papst die evangelischen Christen durch seine Lehrentscheidungen nicht in deren Gewissen binden.“ 21 Evangelischerseits wäre die Voraussetzung der gestuften Kirchengemeinschaft freilich die Anerkennung des päpstlichen Jurisdiktionsprimats, „zumindest hinsichtlich seiner unfehlbaren Lehrkompetenz“.22 Diese will Konrad allerdings – in Anlehnung an das II. Vatikanum, das „den Glaubenssinn des gesamten Gottesvolkes“ als Quelle der Unfehlbarkeit herausgearbeitet habe23 – so verstanden wissen, dass sie diejenige Gewissheit zum Ausdruck bringt und vollzieht, die im reformatorischen Verständnis sola fide und sola gratia allen Gläubigen zukommt.24 Im Hintergrund steht hier offensichtlich die Idee einer Verknüpfung des Unfehlbarkeitsbegriffs mit den parochialen bzw. synodalen Strukturprinzipien im Protestantismus, wie sie etwa durch VELKD und die Deutsche Bischofskonferenz entwickelt worden ist. 25 Allerdings erscheint zweifelhaft, ob Konrads These von einem Wandel im Selbstverständnis des römischen Katholizismus zutrifft. Versuche, das II. Vatikanum in diese Richtung zu interpretieren, sind in der Katholischen Kirche selbst jedenfalls nicht unumstritten.26 Auch andere kirchenamtliche Äußerungen Roms begründen diese Einschätzung kaum. 16 Dietmar Konrad, a.a.O. S. 371 f. 17 Die Taufe erkennt die katholische Kirche seit dem 5. Jhdt. – unabhängig von der Person des Spenders („Ketzertaufstreit“) – als gültig an, wenn sie rite (Taufabsicht, Taufformel, Taufwasser) vollzogen worden ist. 18 Dietmar Konrad, a.a.O., S. 373 f. 19 Dietmar Konrad, a.a.O., S. 372 f. 20 Vgl. zum Folgenden Dietmar Konrad, a.a.O., S. 471. 21 Dietmar Konrad, a.a.O., S. 472. 22 Dietmar Konrad, a.a.O., S. 376. 23 Dietmar Konrad, a.a.O., S. 374. 24 Dietmar Konrad, a.a.O., S. 376. 25 Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der VELKD (Hrsg.), Communio sanctorum. Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, Hannover 2000, s.u. http://www.velkd.de/downloads/CommunioSanctorum%282%29.pdf . 26 Alexendra von Teuffenbach, a.a.O., S. 198 ff, die – unter Bezugnahme auf die patristische Tradition – zeigt, dass „durch die Epochen der Ekklesiologiegeschichte ... stets die katholische Kirche und nur die katholische Kirche als Kirche und Recht (KuR) 2012 991 Rezensionen Seite 147 Eindrückliches Beispiel ist die Erklärung „Dominus Iesus“27. Dietmar Konrad räumt zwar ein, sie lasse „sprachlich nicht hinreichend erkennen, dass es sich in die Wende des II. Vatikanums einordnet“. Andererseits bleibe sie in ihren Aussagen aber „nicht hinter der Ekklesiologie des II. Vatikanums zurück“. Vielmehr stelle sie lediglich den evangelisch-katholischen Dissenz in der Ekklesiologie dar. Im übrigen sei „Dominus Iesus“ in seiner Rechtsverbindlichkeit nachrangig gegenüber der Enzyklika „Ut Unum Sint“ (1995).28 Demgegenüber bleibt jedoch einzuwenden, dass die konfessionalistischen Aussagen der Erklärung unüberhörbar sind, wenn sie z.B. betont, Einzigkeit und Universalität der Heilsmittlerschaft Jesu Christi begründe die Einzigkeit der von ihm gestifteten Kirche und müsse als Wahrheit des katholischen Glaubens „fest geglaubt“ werden.29 Deshalb seien die Gläubigen „angehalten zu bekennen, dass es eine geschichtliche, in der apostolischen Sukzession verwurzelte Kontinuität zwischen der von Christus gestifteten und der katholischen Kirche gibt. ... Mit dem Ausdruck »subsistit in«30 wollte das Zweite Vatikanische Konzil zwei Lehrsätze miteinander in Einklang bringen: auf der einen Seite, dass die Kirche Christi trotz der Spaltungen der Christen voll nur in der katholischen Kirche weiterbesteht, und auf der anderen Seite, dass außerhalb ihres sichtbaren Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind, nämlich in den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, die nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen. Bezüglich dieser Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften ist festzuhalten, dass deren Wirksamkeit sich von der der katholischen Kirche anvertrauten Fülle der Gnade und Wahrheit herleitet...“. Damit fügt sich die Erklärung „Dominus Iesus“ hinsichtlich des Amts- und Kirchenbegriffs durchaus – freilich anders als Konrad es sieht – in den traditionellen Horizont katholischer Amtsäußerungen ein, die teils ausdrücklich von der Identität der Katholischen Kirche mit der universalen Kirche Jesu Christi ausgehen, teils diese implizit voraussetzen. Das beginnt bei der päpstlichen Bulle „Unam Sanctam“ (1302), welche die Oboedienz dem „Bischof von Rom“ gegenüber zur unbedingten Heilsvoraussetzung erklärt31, und führt über das I. Vatikanum (1869 – 1870) bis hin zur Enzyklika „Ut Unum Sint“ (1995). Hier stellt Johannes Paul II – unter Bezugnahme auf die Dogmatische Konstitution „Lumen Gentium“ (1964) im Abschnitt über „Dienst des Bischofs von Rom an der Einheit“32 klar, dass in katholischer Sicht das Amt des Bischof von Rom als Nachfolger des Apostels Petrus von Gott als „immer währendes und sichtbares Prinzip und Fundament der Einheit“33 eingesetzt ist. Auf diesem Hintergrund erklärt er sich seiner Verantwortung bewusst, „eine Form der Primatsausübung zu finden, die zwar keineswegs auf das Wesentliche der Sendung verzichtet, sich aber einer neuen Situation öffnet. Ein Jahrtausend hindurch waren die Christen miteinander verbunden in brüderlicher Gemeinschaft des Glaubens und des sakramentalen Lebens, wobei dem römischen Stuhl mit allgemeiner Zustimmung eine Führungsrolle zukam, wenn Streitigkeiten über Glaube und Disziplin unter ihnen entstanden. Auf diese Weise nahm der Primat seine Aufgabe an der Einheit wahr“.34 Und auch heute müsse der Bischof von Rom „mit der Vollmacht und Autorität, ohne die dieses Amt illusorisch wäre“35 die Gemeinschaft aller Kirchen gewährleisten. 27 28 29 30 31 32 33 34 35 Kirche Christi bezeichnet wurde“ und feststellt, „... daß in der Tradition der Kirche die totale Identifikation der Katholischen Kirche mit der Kirche Christi nie in Frage gestellt wurde. Wenn das II. Vatikanische Konzil nicht gegen die Tradition steht, kann es nicht anders als auch behaupten: Ecclesia Catholica es Ecclesia Christi“ (sic!), S. 201. Zum Folgenden: Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung „Dominus Iesus“ Über die Einzigartigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche, Abschnitt IV: Einzigartigkeit und Einheit der Kirche, 6.8.2000, http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_20000806_dominusiesus_ge.html. Dietmar Konrad, a.a.O., S. 39. Zum Folgenden Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung „Dominus Iesus“, a.a.O., Ziff. 16. Siehe oben, S. 2f. Vgl. dazu und zum Folgenden Manfred Kock, Das Papstamt aus evangelischer Perspektive, Vortrag vor der KarlRahner-Akademie zu Köln, 4. September 2001, http://www.ekd.de/vortraege/kock/6213.html . Johannes Paul II, Ut Unum Sint. Über den Einsatz für die Ökumene, Ziff. 88 – 96, http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/encyclicals/documents/hf_jp-ii_enc_25051995_ut-unum-sint_ge.html. A.a.O., Ziff. 88. A.a.O., Ziff. 95. A.a.O., Ziff. 94. Kirche und Recht (KuR) 2012 991 Rezensionen Seite 148 Wie dies freilich im Lichte einer gestuften Kirchengemeinschaft theologisch-inhaltlich zu füllen sei, lässt sich der Enzyklika nicht entnehmen, ebenso wenig, wie sie Hinweise zu einem neuen Verständnis früherer Äußerungen der katholischen Kirche bietet. Wichtig wäre dies vor allem im Blick auf die – selbstverständlich heute auch noch – gültige Konstitution „Pastor Aeternus“ (1870) des I. Vatikanischen Konzils. Es bleibt aus evangelischer Sicht schlechterdings gravierend, dass es dort „als von Gott geoffenbartes Dogma“36 definiert ist: „Wenn daher jemand sagt, der heilige Apostel Petrus sei von Christus dem Herrn nicht zum Fürsten aller Apostel und zum sichtbaren Haupte der ganzen kämpfenden Kirche eingesetzt worden, oder er habe von Jesus Christus, unserm Herrn, bloß einen Ehrenprimat, nicht aber den wahren und eigentlichen Regierungsprimat direkt und unmittelbar erhalten, so sei er im Bann.“37 Es bleibt gravierend, dass jeglicher Versuch über die Form und Gestalt des päpstlichen Jurisdiktionsprimats auch nur nachzudenken, anathematisiert wird: „Wenn also jemand sagt, der römische Papst habe bloß ein Amt der Überwachung oder einer gewissen Leitung, nicht aber die volle und höchste Jurisdiktionsgewalt über die gesamte Kirche, und das nicht nur in den Fragen des Glaubens- und Sittenlebens, sondern auch in allem, was zur Aufrechterhaltung der Ordnung (Disziplin) in der Kirche und zu ihrer Regierung auf der ganzen Welt gehört; oder wer sagt, der Papst habe bloß einen größeren Teil, nicht aber die ganze Fülle höchster Gewalt, oder diese Gewalt sei keine ordentliche und unmittelbare über die Gesamtheit der Kirchen wie über jede einzelne, über alle Hirten und Gläubigen wie über jeden einzelnen: der sei im Bann.“38 Und nicht zuletzt bleibt es gravierend, dass alle Entscheidungen, in denen „der römische Papst .... in Ausübungen seines Amts als Hirte und Lehrer ... erklärt, dass eine Lehre, die den Glauben oder das sittliche Leben betrifft von der ganzen Kirche gläubig festzuhalten ist...“ jene Unfehlbarkeit beigelegt wird, „mit der der göttliche Erlöser seine Kirche ... ausgerüstet wissen wollte.“39 Auf diesem Hintergrund erscheint nur schwer vorstellbar, wie – bis zu einer katholischerseits zu vollziehenden theologisch-dogmatischen Neuausrichtung des Jurisdisktionsprimats und des iuro divino gesetzten Unfehlbarkeitsbegriffs – eine Struktur der gestuften Kirchengemeinschaft in versöhnter Verschiedenheit mit „weitestmöglicher Freiheit“ der „evangelischen Patriarchate“ verwirklicht werden kann. Ob es überhaupt gelingt, wird entscheidend davon abhängen, inwieweit die unterschiedlichen Amtsbegriffe einander sich annähern lassen. Dies erfordert jedenfalls – wie Konrad zurecht feststellt – eine theologische und keine kirchenrechtliche Debatte. Er ist realistisch genug, darauf hinzuweisen, dass derzeit völlig offen ist, wie dies rechtlich-institutionell in einem „ökumenischen Codex“ zu gestalten wäre.40 Die Frage, die sich mit dem Amt des Papstes und der gestuften Kirchengemeinschaft verknüpft, lautet daher: Lassen sich frühere lehramtliche Äußerungen zur Ekklesiologie – insbesondere die Positionen des I. Vatikanums – vor dem Hintergrund neu beurteilen, in dem Sinne, daß auch Ex-CathedraEntscheidungen an ihren historischen Kontext gebunden sind und sich möglicherweise in einem neuen Zeit- und Problemhorizont theologisch neu darstellen ? 41 In diesem Zusammenhang ist freilich nicht zu übersehen, dass es insoweit in beiden Konfessionen gewisse „Bewegung“ gibt. So ließe sich etwa die noch nicht allzu lange vorstellbare Einladung Papst Johannes Pauls II interpretieren, mit ihm auf der Basis der „bereits real bestehende, wenn auch unvollkommene Gemeinschaft ... über dieses Thema (erg.: des Dienstes des Bischofs von Rom an der Einheit der Kirche) .... einen brüderlichen, geduldigen Dialog aufzunehmen, bei dem wir jenseits fruchtloser Polemiken einander anhören könnten, wobei wir einzig und allein den Willen Christi für seine Kirche im Sinne haben und uns von seinem Gebetsruf durchdringen lassen: »...sollen auch sie 36 I. Vatikanisches Konzil, Pastor Aeternus, Ziff. 21, http://www.kathpedia.com/index.php?title=Pastor_aeternus_%28Wortlaut%29 37 A.a.O., Ziff. 5. 38 A.a.O., Ziff. 15. 39 A.a.O., Ziff. 21. 40 Konrad, a.a.O., S. 376. 41 Dazu und zum Folgenden Manfred Kock, a.a.O. Kirche und Recht (KuR) 2012 991 Rezensionen Seite 149 eins sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast« (Joh 17, 21).42 Zudem zeigt sich in der kirchlich-katholischen Praxis, dass der Petrusdienst faktisch oft eingebunden ist in gewisse kollegiale und synodale Strukturen, die auch die Achtung einer relativen Autonomie von Teilkirchen umfasst. Darin mag sich eine gewisse praktische Distanzierung von manchen zugespitzten theologischekklesiologischen Lehräußerungen andeuten. Evangelischerseits ist auf den Konsens hinzuweisen, den im Jahr 2000 die Kirchenleitung der VELKD und die Deutsche Bischofskonferenz erzielt haben.43 Bei gleichzeitiger Beschreibung der bekannten Differenzen – wobei freilich festgehalten wird, dass die Ausübung des Jurisdiktionsprimats auch nach katholischem Verständnis nur innerhalb der Communio-Struktur der Kirche ihren Platz haben kann und die Ex-Cathedra-Entscheidung (Unfehlbarkeitsanspruch) mit der „absoluten Treue“ zu Heiligen Schrift verbunden sein muss 44 – betrachten Lutheraner und Katholiken gemeinsam einen universalkirchlichen Dienst an der Einheit mit pastoraler Aufgabe in allen Teilkirchen als dem Wesen der Kirche entsprechend.45 Sofern dieser in die Strukturen von Konziliarität, Kollegialität und Subsidiarität eingebunden ist, bleibt dabei für die Teilkirchen hinreichend Raum für unterschiedliche Auffassungen theologischer, historischer und kirchenrechtlicher Art.46 Die Nähe zu den Vorschlägen Konrads liegt auf der Hand.47 Dennoch sind auf evangelischer Seite zahlreiche Stimmen erhoben worden gegen die Tendenz, ein Petrusamt des Papstes als Vorsitz in der Liebe und in der Wahrheit sowie als Repräsentation der Einheit anzunehmen.48 Das hat seine Ursache zum einen in Beispielen praktischer Ausweitung des Jurisdiktionsprimats, wie etwa bei der Schwangerschaftskonfliktberatung vor einigen Jahren und zum andern in der Skepsis angesichts der fortbestehenden Geltung inakzeptabler Äußerungen in römischkatholischen Lehrverlautbarungen. Um auf dem Weg zu einer gestuften Kirchengemeinschaft mit Rom weiter zu kommen, erscheint es jedenfalls aus evangelischer Perspektive entscheidend, dass sich Möglichkeiten erschließen, mit den vorhandenen dogmatischen Vorgaben kreativ umzugehen. Im Grunde bleiben dafür drei Wege. „Der eine ist der Weg der Interpretation. Es könnte neu ausgelotet werden, was die definierten Dogmen festlegen wollten und was nicht. Der andere Weg ist, zu erkunden, welchen Gebrauch die römische Kirche von den definierten Wahrheiten macht. Der dritte Weg ist, zu erkunden, ob es dogmatische Festlegungen der römischen Kirche gibt, die nur diese binden, die auf die nichtrömischen Kirchen jedoch nicht angewendet werden.“49 Freilich sind dies zuerst Fragen an die Katholische Kirche. Sie müsste sich zu einer Neudefinition des petrinischen Amtes verstehen. Dabei ist festzuhalten, dass das alternative Modell, das Konrad vorschlägt – Selbstbeschränkung des Papstes auf einen Primat der Liebe bzw. rechtliche Einschränkung des Jurisdiktionsprimats durch die Kriterien der Kollegialität, der legitimen Vielfalt und der Subsidiarität 50 – katholischerseits im Entwurf von Karl Rahner und Heinrich Fries bereits einen Vorläufer haben. Indem sie zwischen Geltung und Anwendung des I. Vatikanums unterscheiden, verknüpfen sie die Anerkennung des päpstlichen Amtes als konkreten Garanten kirchlicher Einheit in Wahrheit und Liebe durch die Teilkirchen mit der ausdrücklichen Selbstverpflichtung Bischofs von Rom, die vereinbarte Eigenständigkeit der Teilkirchen anzuerkennen und zu respektieren, sowie von seiner Lehrautorität ex cathedra nur in einer Weise Gebrauch zu machen, die juristisch oder sachlich einem allgemeinen Konzil der ganzen Kirche entspricht.51 Gegen diese Lösung, die – ganz auf der Linie von 42 Johannes Paul II, Ut Unum Sint. Über den Einsatz für die Ökumene, Ziff. 96, http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/encyclicals/documents/hf_jp-ii_enc_25051995_ut-unum-sint_ge.html. 43 Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der VELKD (Hrsg.), Communio sanctorum. Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, Hannover 2000, http://www.velkd.de/downloads/CommunioSanctorum%282%29.pdf. 44 A.a.O., Ziff. 198. 45 A.a.O., Ziff. 195. 46 A.a.O., Ziff. 197 47 Vgl. oben, S. 2, Fn. 12. 48 Zum Folgenden Manfred Kock, a.a.O. 49 Manfred Kock, a.a.O. 50 Dietmar Konrad, a.a.O., S 377. 51 Heinrich Fries / Karl Rahner, Einigung der Kirchen – reale Möglichkeit. Mit einer Bilanz: Zustimmung und Kritik, Freiburg 1991, zitiert nach Manfred Kock, a.a.O. Kirche und Recht (KuR) 2012 991 Rezensionen Seite 150 Konrads Vorschlag – alsbald nach „Ut Unum sint“ für Aufmerksamkeit gesorgt hat, sind jedoch Bedenken erhoben worden, die unter Zustimmung des damaligen Kardinals Ratzinger davor gewarnt haben, „die 'Sache' des Primats als eine Angelegenheit der Verhandlung, des Nachgebens, des Kompromisses" zu betrachten.52 Im Ergebnis wird man daher wohl dem Modell der rechtsförmigen, gestuften Kirchengemeinschaft unter dem Bischof von Rom, mit einer gewissen Zurückhaltung gegenüberstehen. Die Widerstände – anders kann man es kaum nennen – erscheinen auf Seiten der katholischen Amtskirche zu groß, ebenso wie evangelischerseits die Bedenken angesichts ungebrochen in Geltung stehender Lehraussagen über das kirchliche Amt. Das Verdienst von Dietmar Konrad ist es aber, mit seiner umfassenden Untersuchung zur der Einheit des Leibes Christi das Fundamentalthema wachzuhalten und weiterzutreiben, das den Kirchen beider Konfession vom Neuen Testament her (Joh. 10,16; 17,11; Röm. 12,3ff; 1. Kor.12 u.v.ö) aufgegeben ist. Der Rezensent bleibt mit der Frage zurück, ob am Ende nicht doch der Weg weniger über die „theoretische“ als über die „praktische“ Theologie führt, ob also, statt dogmatische Festlegungen gegeneinander abzuwägen, nicht eher bestehende Gemeinsamkeiten zu gestalten und wo möglich zu feiern sind, um so – gewissermaßen im Vollzug – die „bereits real bestehende, wenn auch unvollkommene Gemeinschaft“53 auszuweiten.54 Dr. Hendrik Stössel, seit 1999 Dekan in der Evangelischen Kirche in Pforzheim (Stadtkirchenbezirk), ab 1.9.2012: Europäische Melanchthon-Akademie, Bretten. 52 Rudolf Pesch, Die biblischen Grundlagen des Primats, Freiburg, Herder, 2001, zitiert nach Manfred Kock, a.a.O. 53 Johannes Paul II, Ut Unum Sint. Über den Einsatz für die Ökumene, Ziff. 96, http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/encyclicals/documents/hf_jp-ii_enc_25051995_ut-unum-sint_ge.html. 54 So – freilich im Bereich theologischer Belletristik – Edmund Schlink, Die Vision des Papstes, Karlsruhe 1997. Kirche und Recht (KuR) 2012