`Rational Choice`-Ansatz und die Soziologie sozialer Bewegungen

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FORSCHUNGSJOURNAL
NSB
2/94
HMLJiJ
Editorial zum Themenheft:
Soziale Bewegungen und soziologische Theorie
2
Klaus-Dieter
Opp
Der 'Rational Choice'-Ansatz und die Soziologie sozialer Bewegungen
11
Richard
Münch
Von der Moderne zur Postmoderne?
Soziale Bewegungen im P r o z e ß der Modernisierung
27
Klaus Eder
Die Institutionalisierung kollektiven Handelns.
Eine neue theoretische Problematik in der Bewegungsforschung
40
Niklas
Luhmann
Systemtheorie und Protestbewegungen. Ein Interview.
53
Piotr
Sztompka
Jenseits von Struktur und Handlung:
Auf dem Weg zu einer integrativen Soziologie sozialer Bewegungen
70
Forschungsbericht:
Werner Bergmann/Rainer
Erb
Eine soziale Bewegung von rechts?
Entwicklung und Vernetzung einer rechten Szene in den neuen B u n d e s l ä n d e r n
80
Pulsschlag
Bericht, Forschungsbericht
99
Treibgut
Material, Hinweise, Notizen, Termine
104
Nachgefragt:
Wie ist die Energiewende möglich? Interview mit Dr. Franz Alt
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Bewegungsliteratur:
Rezensionen
110
Aktuelle Bibliographie
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Abstracts
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FORSCHUNGSJOURNAL N S B
Bewegungsforschung
beginnt, sich als 'normale Wissenschaft' zu begreifen, auch wenn
ein einheitliches Paradigma noch nicht in
Sicht ist' Zumindest sind seit geraumer
Zeit
'Aufräumungsarbeiten'
(Kuhn) im Gange, die
den Stand der Forschung bilanzieren,
Gemeinsamkeiten
feststellen und Defizite aufspüren, die es zu beheben gilt - und das nicht
erst seit der
Greven-Kritik.
2
Angefangen
hat es spätestens damit, daß sich
der Ressourcenmobilisierungsansatz,
der bei
der Beobachtung
sozialer Bewegungen
vor
allem Social Movement Organizations
( S M O s ) im Auge hat und mit Rational
Choice-Überlegungen
operiert, darauf aufmerksam machte, daß es nicht
ausreiche,
lediglich auf 'strukturelle Spannungen'
und
'relative Deprivationen'
hinzuweisen, die in
jeder Gesellschaft allgegenwärtig
sind, um
Entstehung und Entfaltung sozialer
Bewegungen zu erklären. Dazu bedürfe es weitergehender 'constraints',
die auf günstige bzw.
ungünstige Bedingungen
verweisen, über die
soziale Bewegungen
auf der einen Seite
selber verfügen, wie Geld,
Qualifikation,
Erfahrung etc., und die auf der anderen Seite
in deren Umwelt vorhanden sind, wie Massenmedien, Partizipationsrechte,
demokratische Herrschaftsordnung
usw. Demnach ist
die Entstehung
und Entfaltung sozialer
Bewegungen vor allem davon abhängig,
„how
burgeoning movement organizations seek to
mobilize and routinize - frequently by tapping
lucrative elite sources of support - the flow of
resources to ensure movement survival. " Vor
allem nach der Einführung und rasanten
Verbreitung des
Ressourcenmobilisierungsansatzes setzten jedoch verstärkt
Anstrengungen
ein, die Einheit des Fachs herzustellen
und
eine Annäherung
bzw. Abgleichung
zwischen
den beiden Ansätzen Collective Behavior
( C B ) und Resource Mobilization ( R M ) in
Angriff zu nehmen.
Konsolidierungstenden3
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zen waren gleichwohl schon vorher
festzustellen. In den 80er Jahren folgten dann Vorschläge, die im wesentlichen
auf eine Synthese des in Amerika verbreiteten
RM-Ansatzes
mit dem in Europa entwickelten New Social
Movement-Ansafö ( N S M )
drangen. Hierbei
ging es vorrangig darum, das rationale
Kalkül mit bestimmten
sozialpsychologischen
Annahmen wieder zu versöhnen. Diese Bemühungen um Verständigung wurden auch von
RM-Theoretikern
unterstützt.
Daneben
kam
es auch zu einer Reihe von
Abwehrreaktionen
gegenüber dem RM-Ansatz,
die sich zumeist
gegen die Vereinnahmung/Ersetzung
des
Bewegungsbegriffs,
mit besonderer
Verengung auf den Bereich des Politischen,
durch
den Begriff der SMO aussprachen
und demgegenüber betonten, daß SMOs allein niemals eine soziale Bewegung als solche ausmachen, sondern allenfalls einen Teil davon.
„As a consequence,
a single
Organization,
whatever its dominant traits, is not a social
movement."
Mehr noch: Es wurde wieder
Wert gelegt darauf, daß soziale
Bewegungen
zu einem nicht unwesentlichen
Teil aus spontanen Massenereignissen
bestehen, die nur
bedingt, wenn überhaupt, mit SMOs in Verbindung gebracht werden können.
Gerade
das unorganisierte, plötzliche Auftreten
sozialer Bewegungen
wurde in den
Vordergrund
gestellt, wie in den besten
CB-Zeiten."
Schließlich wurden auch Stimmen lauter, die
selbst in der Verbindung von RM und NSM
noch Defizite anmeldeten und
Ergänzungsvorschläge aus dem 'Social Construction 'Umfeld als weiteren Aspekt ins Gespräch
brachten.
Dazu sind vor allem die 'Frame
Alignment'-Arbeiten
von DavidA. Snow et al.
zu zählen, aber auch der 'Political
Discourse'-Ansatz von William A. Gamson.
Nicht
zuletzt liegen selbst erste Arbeiten zu einer
umfassenden Systematisierung
sämtlicher
Ansätze vor, die es in der
Bewegungsforschung bisher zu einem gewissen
Renommee
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gebracht haben." Mit anderen Worten: Seit
mehr als 10 Jahren sind ernsthafte
Bemühungen ersichtlich, dringend anfallende
'Aufräumungsarbeiten
' zu erledigen, die Einheit des
Fachs herzustellen
und zur 'normalen Wissenschaft'
überzugehen.
Angesichts
dieser Entwicklung
stellt sich
jedoch die Frage, in welcher Form sich die
Einheit des Fachs überhaupt erfassen läßt.
Zum einen könnte man dazu sicherlich auf
das Mikro/Makro-Schema
zurückgreifen,
wie
es etwa bei Doug McAdam, John D. McCarthy und Mayer N. Zald Anwendung
fand.
Gleichwohl bleibt zu klären, was damit eigentlich gemeint ist. Johann August
Schälein
illustriert die Unterscheidung
von Mikro- und
Makroebene anhand der Unterscheidung
von
„ 'Froschperspektive',
die aus der Optik
konkreter Interaktionen
analysiert" ,
und
„ 'Vogelperspektive',
die aus der Optik der
Gesellschaft als ganzer analysiert".
Was
hinter dieser Unterscheidung
steckt, ist die
Metapher von Ganzem und Teil: Während die
'Vogelperspektive'
das Ganze in
Augenschein
nimmt, begnügt sich die
'Froschperspektive'
mit einem Teil davon. Mit dieser
Unterscheidung operiert auch James S. Coleman.
Coleman unterscheidet
zwischen zwei Ebenen:
dem System als Einheit und seinen
Komponenten.
Dabei konstituieren die
Komponenten, etwa Individuen, auf der
Mikroebene,
was sich auf der Makroebene,
etwa Gesellschaft, als die Einheit des Systems
darstellt.
Das Verhältnis von Mikro- und
Makroebene
entspricht somit der Metapher von Teil und
Ganzem: Das Ganze besteht aus seinen Teilen, und die Teile verweisen immer aufs Ganze. Eben dieses Bild leitet auch viele Arbeiten in der Bewegungsforschung
an, die sich
zumeist einer der beiden Seiten
zuordnen
lassen und von da aus ab und zu einen Blick
auf die andere Seite werfen.
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Mit der einfachen
Mikro/Makro-Unterscheidung ist es in der Bewegungsforschung
insgesamt jedoch nicht getan. So
unterscheiden
McAdam/McCarthy/Zald
noch eine dritte
Ebene, „ intermediate between the macro and
the micro" , oder wie Hanspeter Kriesi es
ausdrückt: „ The notion of the 'social movement'provides
us with an
'intermediary'
conceptual tool facilitating the link between
the macro- and the micro-levels. "
Friedhelm Neidhardt und Dieter Rucht
sprechen
von „meso-level" ,
Jürgen Gerhards und
Dieter Rucht untersuchten
„Mesomobilization" . Unstrittig ist, daß sich eine Reihe von
Untersuchungen
leichthin auf der
Mikroebene, die die Individuen umfaßt, andere
wiederum auf der gesamtgesellschaftlichen
Makroebene ansiedeln lassen. So sei nur auf die
Vielzahl von Studien verwiesen, die auf der
Makroebene nach
gesamtgesellschaftlichen
Ursachen für die Entstehung sozialer
Bewegungen suchen.
Dazu gehört auch das
Konzept der politischen
Gelegenheitsstruktur. '' Demgegenüber
wurde auch auf der
Mikroebene beträchtlicher Aufwand
getrieben, um individuelle Ursachen und Gründe
aufzufinden, die gleichermaßen
die Entstehung und Entfaltung sozialer Bewegungen
zu
erklären versprechen.
Hier entspricht
das
Mikro/Makro-Schema
also der
Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft.
Zugleich gibt es Untersuchungen,
die sich mit
der Frage beschäftigen,
wie soziale
Bewegungen etwa Anhänger werben und
mobilisieren. Hier würde das
Mikro/Makro-Schema
der Unterscheidung
von Individuum
und
Bewegung entsprechen. Außerdem gibt es
Arbeiten, die nach dem Verhältnis von Bewegung und Gesellschaft fragen, so daß sich die
Bewegung diesmal auf der Mikroebene
befinden würde und Gesellschaft auf der Makroebene.
Was hier passiert, ist ein Wechsel der
Systemebene,
die erst entscheidet, was Ganzes und was Teil ist. Einmal ist das Ganze die
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Gesellschaft
und das Teil ein Individuum,
dann ist das Ganze die soziale Bewegung und
das Teil wieder ein Individuum, schließlich ist
das Ganze wieder die Gesellschaft und die
soziale Bewegung ein Teil davon. Es gibt
somit drei Ebenen, auf denen die
Bewegungsforschung sich bewegt: Die Ebene der Individuen, die Ebene der Bewegungen
und die
Ebene der Gesellschaft,
wobei die mittlere
Ebene der sozialen Bewegungen je nach
Bedarf einmal aus der
'Froschperspektive'
und dann wieder aus der
'Vogelperspektive'
wahrgenommen
wird.
Vor diesem
Hintergrund könnte deshalb unterschieden
werden
zwischen drei Ebenen: der Mikroebene der
Individuen, der Mesoebene der sozialen
Bewegungen und der Makroebene der Gesellschaft.
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Neben dieser vertikalen Unterscheidung
nach
dem Mikro/MesolMakro-Schema
ließe sich
zum anderen an die eher horizontal
angelegte
Einteilung Joachim Raschkes
anschließen,
der zwischen einem
strukturanalytischen,
einem sozialpsychologischen
und einem
interaktionistischen
Ansatz
unterscheidet.
Danach gibt es Arbeiten, die soziale Bewegungen aus objektiv bestehenden
Problemlagen, die in der Sozialstruktur
einer Gesellschaft potentiell veranlagt sind, zu erklären
suchen.
Doch ist diesem Unternehmen
nur
zum Teil Erfolg beschert, da es immer mehr
Anlässe gibt, die die Systembildung
sozialer
Bewegungen
objektiv nahelegen, als tatsächlich der Fall ist: „Die Geschichte der Gesellschaften ist eine Geschichte von sozialen
Bewegungen,
die nicht stattgefunden haben obwohl die Probleme ihrer
Gesellschaften
gute Gründe zur Mobilisierung
gaben. "
Insofern bedarf es zusätzlicher
Bedingungen,
die zur Erklärung sozialer
Bewegungen
beitragen, um die Kon tingenz des Erklärungsanspruchs
einzuschränken.
Zumindest
muß gewährleistet
sein, daß
vermeintlich
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objektiv gegebene Problemlagen
auch subjektiv wahrgenommen
werden, etwa in Form
konkreter Betroffenheit und akuten
Identitätskrisen, gewissermaßen
der „Rohstoff
individueller Mobilisierungsgründe
" , damit es
überhaupt zur Mobilisierung
sozialer
Bewegungen kommt.
Doch auch der sozialpsychologische Ansatz hat mit dem
Kontingenzproblem zu kämpfen: „ Grievances are everywhere, movements not. " Ein Ausweg verspricht die Überlegung, ob objektive
Problemlagen, die auch subjektiv
wahrgenommen
werden, zu guter Letzt nicht dazu ßhren, daß
man sich verständigt und sich darüber
Mobilisierungseffekte
einstellen.
„But if (this)
dissatisfaction
is shared by, and
communicated to, others in the society, a social movement may develop. "
Das schließt nicht aus,
daß es möglicherweise
auch zu
Problemdefinitionen ohne Problem kommt. In jedem Fall
kann diese Form der
Problemkonstruktion
und Mobilisierungskommunikation
ebenso
auf der Ebene einfacher Interaktionen
stattfinden, in der Kneipe, unter Freunden
oder
an der Universität, wie über zentral
organisierte Werbekampagnen,
die zur Teilnahme an
Demonstrationen
aufrufen, was sich insbesondere SMOs zurechnen ließe. Mit anderen
Worten: Mit dem
handlungstheoretischen
Ansatz
wäre zuletzt ein Stadium erreicht, in
dem es endlich zu gelingen scheint, eine lose
Kombination
von Bedingungsfaktoren,
die je
ßr sich durchaus notwendig sind aber nur
zusammen hinreichen, um die Entstehung
und
Entfaltung sozialer Bewegungen
auch angemessen zu erklären, in eine rigide Form zu
überßhren,
die die anfängliche
Unbestimmtheit der Erklärungsleistung
quasi durch ein
kumulatives Rekonstruktionsverfahren ('value added'-Modell)
überwindet.
Von Ansatz
zu Ansatz schließt sich der Kreis, immer mehr
Facetten ergänzen das Bild und am Schluß
könnte es gelingen, die Entstehung
und Entfaltung sozialer Bewegungen
lückenlos zu
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erklären: Ein Kontinuum von den
Bedingungen der Möglichkeit
bis zur
Mobilisierung
sozialer
Bewegungen.
Vor diesem Hintergrund
bleibt indes die
Frage, wie es um die Vereinbarkeit all dieser
Paradigmen, Ansätze, Schemata und Unterscheidungen
bestellt ist. Betrachtet man etwa
den Anlaß, der dem frühen Relative Deprivattovi-Ansatz ( R D ) zugrunde lag, so könnte
man den Anspruch, mit dem dieser auftrat,
auch als Irrationalismus-Vorwurf beschreiben: Es war der Versuch, sozialen
Bewegungen mehr rationales Kalkül zuzutrauen,
als
dies im Collective Behavior-Ansatz
gemeinhin
der Fall war. Der
Ressourcenmobilisierungsansatz begegnete dem RD-Ansatz
dagegen mit dem Kontingenz-Vorwurf: Allein die
Tatsache von
Erwartungsenttäuschungen,
denen sich im Grunde jeder ausgesetzt
sieht,
erklärt nicht, weshalb es überhaupt zur Mobilisierung sozialer Bewegungen
kommt. Demgegenüber sieht sich gerade der
RM-Ansatz
dem Rationalismus-Vorwurf gegenüber, da
dieser sozialen Bewegungen
mehr
Rationalität unterstellt, als ihnen tatsächlich
zusteht.
Dem Selbsterzeugungsargument läßt sich
wiederum entgegenhalten,
daß
strukturelle
Voraussetzungen
gleichwohl „ eine entscheidende Variable mit eigenständigem
Gewicht"
bilden. Letztlich geht es um die
Frage, welche Theorie dem Phänomen
soziale Bewegung am ehesten gerecht wird, ob es
nur einer oder mehrerer bedarf, und wenn
mehrerer, wie sich mehrere Theorien
angemessen miteinander kombinieren
lassen.
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zuletzt wurden selbst von der Theorie
sozialer
Systeme seit den 80er Jahren vermehrt Vorschläge unterbreitet, wie sich soziale
Bewegungen auch systemtheoretisch
beschreiben
lassen. Andererseits heißt es bei Raschke:
„Es gibt keine auf gegenwärtige
Gesellschaft
bezogene Gesellschaftstheorie,
die eine Systemanalyse sinnfällig verknüpfte mit einer
Analyse der Sozialstruktur, geschweige
denn
mit einer Analyse kollektiver Akteure auf der
Handlungsebene.
" Auch Gerald
Marwell
und Pamela Oliver nehmen kein Blatt vor den
Mund: „ The concept 'social movement'
is a
theoretical nightmare. " Von daher
konstatieren Neidhardt/Rucht
bei der
Bestandsaufnahme der Bewegungsforschung
auch eine
„ disproportion between the sheer quantity of
publications and their relevance for the cumulation of theoretical and analytical
knowledge. " Erscheint es somit
gerechtfertigt,
mit Stöss in der Frage theoretischer
Grundlagen der Bewegungsforschung
immer noch
von einem Elend der NSB-Forschung zu
sprechen ?
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Fest steht einerseits, daß eine Reihe von
Theoriearbeiten
ihre Brauchbarkeit
ßr Bewegungsforschung
durchaus unter Beweis gestellt haben. So ist unzweifelhaft
davon auszugehen, daß sich Strukturtheorien
ebenso
bewährt haben wie sozialpsychologische
oder
handlungstheoretische
Theoriefiguren.
Nicht
Der Themenschwerpunkt
dieses Heftes
möchte einen Beitrag zu dieser
Fragestellung
leisten. Die Konzeption verfolgt
gleichwohl
eine bescheidenere Intention: Es geht darum,
Theorieansätze
größerer Reichweite,
die vor
allem außerhalb der
Bewegungsforschung
zuhause sind, dazu aufzufordern,
sich speziell
mit sozialen Bewegungen zu
beschäftigen.
Freilich wurden dabei auch Autoren
angesprochen, die soziale Bewegungen
mehr oder
weniger schon einmal zum Gegenstand
ihrer
theoretischen Anstrengungen
gemacht
haben.
Das trifft sicherlich ßr Karl-Dieter
Opp oder
Klaus Eder zu, aber auch auf Niklas Luhmann, wenngleich nicht in
systematischer
Weise. Eine Ausnahme davon bildet
Richard
Münch, wohl auch Piotr
Sztompka.
6
Karl-Dieter Opp bringt am deutlichsten zum
Ausdruck, was brennendes Problem der Bewegungsforschung ist: „ D i e mittlerweile kaum
mehr z u überblickende Literatur über soziale
Bewegungen und politischen Protest ist, vor
allem im deutschen Sprachbereich, überwiegend nicht theoretisch orientiert." Aufgrund
dieser Diagnose unternimmt Opp es auch, zumindest f ü r den Rational Choice-Ansatz
zu
zeigen, welchen Gewinn Bewegungsforschung
daraus ziehen kann. Zuerst wird der Ansatz
selbst dargestellt, mit jeweils kurzer Diskussion
zentraler Annahmen und theoriebedingter Probleme, um dann in einem zweiten Schritt vorzuf ü h r e n , was der R C - A n s a t z f ü r die Bewegungsforschung zu leisten vermag. Dabei hält Opp ein
Plädoyer f ü r eine 'weite' Theorie rationalen
Handelns, was nicht nur die flexiblere Kopplung von Mikroannahmen mit Makrobedingungen einschließt. Denn der Lernprozeß, dem der
R C - A n s a t z in den letzten Jahren selbst unterlag,
hat dazu geführt, d a ß einige der gravierendsten
E n g f ü h r u n g e n , denen der Begriff rationalen
Handelns ausgesetzt war, revidiert wurden und
einer offeneren Struktur gewichen sind, was
dem Selbstbewußtsein von RC-Theoretikern
freilich keinenAbbruch tut: „Jeder Vertreter des
'Rational Choice'-Ansatzes wird einräumen,
daß dieser Ansatz eine Reihe ungelöster Probleme aufweist. Trotzdem w i r d man diesen Ansatz
dann zur Erklärung sozialen Handelns anwenden, wenn es keinen anderen Ansatz gibt, der
dem R C A eindeutig überlegen ist. In der Soziologie sozialer Bewegungen ist ein solcher A n satz nicht in Sicht."
Richard M ü n c h entwickelt vor dem Hintergrund einer an Parsons orienierten Strukturtheorie der Moderne eine besondere Ansicht
sozialer Bewegungen als gleichermaßen moderne w i e antimoderne Kräfte. A l s wichtige
Determinante der Entwicklung der modernen
Gesellschaft sind soziale Bewegungen ebenso
Produkt wie Prämisse moderner Gesellschaft,
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indem sie sich einerseits auf typisch moderne
Prinzipien berufen w i e Emanzipation oder
Gleichberechtigung, andererseits aber auch
Kritik leisten an der Moderne, sofern diese über
das selbst gesetzte Z i e l hinausschießt. A l s Demonstrationsobjekt wählt M ü n c h die Ökologiebewegung, der es paradoxerweise um Verzicht
als Fortschritt geht: Weniger ist Mehr. Aufgrund
dieser paradoxen Situation, in der gerade die
sozialen Bewegungen jedoch durchweg stekken, werden sie Opfer eines Dilemmas, aus dem
es kein Entrinnen gibt, w i l l die Moderne sich
nicht in ihr Gegenteil verkehren.
Klaus Eder geht es um die Rekonstruktion
einer Entwicklung, die die Kontroverse makround mikrosoziologischer A n s ä t z e in der Bewegungsforschung betrifft. Danach sei eine Neue
Bescheidenheit
zu beobachten, die sich um die
Versöhnung von nach außen hin so gegensätzlichen Positionen wie dem Ressourcenmobilisierungsansatz und dem Ansatz Neue Soziale
Bewegungen bemüht, die die theoretisch angeleitete Diskussion innerhalb der Bewegungsforschung gleichsam wie auf einem 'Schlachtf e l d ' jahrelang bestimmt haben. So produktiv
diese Dialogbereitschaft sich f ü r den Forschungsverlauf auch immer ausnehmen mag,
hält Eder dennoch dagegen, daß es wieder neuer
theoretischer ' K ä m p f e ' bedarf, da die Evolution der modernen Gesellschaft nicht stehenbleibt, sondern neue theoretische Herausforderungen, neue Konfliktlinien stellt. Sein Vorschlag zur Neustrukturierung dieses auch für
Bewegungsforschung unabdingbaren Schlachtfeldes lautet, einerseits eine
neo-institutionelle
Perspektive zu propagieren, die sozialen Bewegungen eine neue, mehr diskursive Form institutioneller Rationalität zuspricht, die auch auf
die etablierten Institutionen der modernen Gesellschaft zurückwirkt, andererseits eine konstruktivistische
Perspektive
zu verfolgen, die
gleichfalls die kommunikative Natur sozialer
Bewegungen betont, da das Selbstverständnis
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sozialer Bewegungen weniger schon vorab vorhanden ist als vielmehr erst kommunikativ ausgehandelt wird.Von daher stellt sich die Vorstellung einer 'Bewegungsgesellschaft' zwar als
Utopie dar, gleichwohl avancieren soziale Bewegungen z u einem „dauerhaften dynamisierenden Faktor" moderner Gesellschaft.
Niklas Luhmann hat sich zu einem Interview
bereit erklärt, das Mitte Februar in Bielefeld
durchgeführt wurde. Gegenstand des Interviews
waren seine bisherigen Veröffentlichungen und
Überlegungen zu sozialen Bewegungen und der
Versuch, diese kritisch aufzunehmen und auf
theorieimmanente Z u s a m m e n h ä n g e hin zu befragen. D a die A n z a h l jener Beiträge, die soziale Bewegungen - nicht nur von ihm selbst systemtheoretisch zu beschreiben suchen, mittlerweile beträchtlich zugenommen hat, überdies Systemtheorie eine jener wenigen 'grand
theories' darstellt, die gegenwärtig zur Verfügung stehen, kommt der systemtheoretischen
Auseinandersetzung mit sozialen Bewegungen
auch f ü r die Bewegungsforschung besondere
Bedeutung zu. Es geht letztlich um die Frage,
wie Bewegungsforschung die Einheit von Gegenstand, Begriff und Fach bestimmt, und an
welcher Sozialtheorie, vor allem aber Gesellschaftstheorie sie sich orientiert, da sie selbst
über keine eigenständige Theorie verfügt. Systemtheorie hat hierzu Angebote gemacht, die
weit darüber hinausweisen, was soziale Bewegungen als spezifischen Gegenstand betrifft. Es
bleibt abzuwarten, in welcher Form Bewegungsforschung dieses Angebot nachfragt.
P i o t r Sztompka nimmt in seinerArbeit das, die
fachinteme Theoriediskussion noch immer beherrschende Schisma zwischen Handlungs- und
Strukturtheorie auf, das auch, wie gerade Eder
dokumentiert, die Diskussion innerhalb der Bewegungsforschung maßgeblich bestimmt hat,
um eine Synthese beider Positionen anzustreben. W i e schon Jean Cohen und andere vor ihm,
w i l l Sztompka darauf aufmerksam machen, daß
einerseits den beiden konkurrierenden Ansätzen Resource Mobilization
und New Social
Movements jeweils f ü r sich zuzugestehen ist,
daß sie eine Seite sozialer Bewegungen sehr
richtig beschreiben, es andererseits aber erforderlich ist, daß beide Ansätze zusammenarbeiten, da sie jeweils nuveine Seite sozialer Bewegungen auf den Begriff bringen. Sztompkas
Vorschlag geht deshalb dahin, rationale und
kommunikative Aspekte sozialer Bewegungen
miteinander zu kombinieren und darüber eine
'dritte Soziologie' zu entwickeln, die er Social
Becoming nennt, die den reellen Verhältnissen
nicht nur sozialer Bewegungen eher gerecht zu
werden sucht als das bisherige Schwarz/WeißDenken. Insofern reiht sich auch Sztompkas
Arbeit injene Konsolidierungsbemühungen ein,
wie sie, aufgrund unaufschiebbaren Theoriebedarfs, in der Bewegungsforschung zunehmend
zu beobachten sind.
Zusätzlich zumThemenschwerpunkt haben wir
einen Forschungsbericht von W e r n e r B e r g mann und R a i n e r E r b aufgenommen, der sich
mit der Frage auseinandersetzt, ob es eine soziale Bewegung von rechts gibt. Diese Fragestellung hat durch die vielen A u f m ä r s c h e und A n schläge von Rechtsextremen, Skinheads und
Neofaschisten unweigerlich an Bedeutung gewonnen, so daß schon eine Reihe von Überlegungen und Veröffentlichungen dazu angestellt
wurden. Bergmann/Erb gehen in ihrer Untersuchung der Entwicklung und Vernetzung einer
rechten Szene in den neuen Bundesländern nach,
mit dem lokalen Schwerpunkt Brandenburg.
Sie bedienen sich dazu der Unterscheidung von
M i k r o - und Mesomobilisierung, wie sie von
Gerhards/Rucht vorgeschlagen wurde, und rekonstruieren anhand dieser Unterscheidung die
Herausbildung eines rechten Milieus, dessen
A n f ä n g e schon in der D D R zu finden sind. Es
folgen der Versuch einer Begriffsbestimmung
der rechten Bewegung, was nicht zuletzt A u s 46
RS
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
Wirkungen hat auf das Selbstverständnis der
Bewegungsforschung als NSB -Forschung, und
die Beschreibung ihrer bewegungsinternen Infrastruktur. Schließlich fragen sie nach den 'constraints' einer rechten Bewegung. Ihr Fazit lautet, d a ß es eine rechte Bewegung gibt, und daß
man sich hüten sollte, sie lediglich f ü r eine
v o r ü b e r g e h e n d e Erscheinung zu halten.
Kai-Uwe
Hellmann
Anmerkungen
2/94
1991: Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland. Campus 17. Kritisch Stöss,
Richard 1984: Vom Mythos der 'neuen sozialen
Bewegungen'. Neun Thesen und ein Exkurs zum
Elend der NSB-Forschung, in: Falter, Jürgen W./
Fenner, Christian/Greven, Michael Th. (Hrsg.):
Politische Willensbildung und Interessenvermittlung. Verhandlungen der Fachtagung der D V P W
vom 11.-13. Oktober 1983 in Mannheim. Westdeutscher Verlag 548-559
vgl. McCarthy, John D./Zald, Mayer N . 1977:
Resource Mobilization and Social Movements: A
Partial Theory, in: American Journal of Sociology,
Vol. 82, No. 6, 1212-1241: 1215
vgl. McAdam, Doug 1988: Micromobilization
Contexts and Recruitment to Activism, in: International Social Movement Research, V o l . 1,125-154:
126
vgl. Turner, Ralph H . 1981: Collective Behavior
and Resource Mobilization as Approaches to Social
Movements: Issues and Continuities, in: Research
in Social Movements, Conflict and Change, Vol. 4,
1-24; Zürcher, Louis A./Snow, David A . 1981:
Collective Behavior: Social Movements, in: Rosenberg, M./Turner, R . H . (Ed.): Social Psychology. Sociological Perspectives. N Y , Basic Books
447-482
3
4
Zwar sprechen Klandermans/Tarrow bei ihrer
Diskussion des amerikanischen Ressourcenmobilisierungsansatzes und des europäischen Ansatzes
'Neue Soziale Bewegungen 'gleich von „two major
new paradigms", vgl. Klandermanns, Bert/Tarrow,
Sidney 1988: Mobilization into Social Movements:
Synthesizing European and American Approaches,
in: International Social Movement Research, Vol.
1, 1-38: 2. Doch gerade Neidhardt/Rucht meinen,
daß „the theoretical substance of both approaches
has been too weak to form a solid paradigm", vgl.
Neidhardt, Friedhelm/Rucht, Dieter 1991: The
Analysis of Social Movements: The State of the Art
and Some Perspectives for Further Research, in:
Rucht, Dieter (Hrsg.): Research on Social Movements. The State of the Art in Western Europe and
the U S A . Campus/Westview Press 421-464: 442;
siehe auch Melucci, Alberto 1989: Nomads of the
Present. Social Movements and Individual Needs
in Contempory Society. Temple University Press
42. Vielleicht sollte man es in Anbetracht des
Forschungsstands mit Melucci halten und von einem ,,'sceptical paradigm'" (Melucci 1989: 22)
sprechen, ganz abgesehen davon, daß es eigentlich
überraschen muß, wie wenig schon auszureichen
scheint, damit aus einer 'Partial Theory' (FN 3) und
einem 'Concept' (FN 10) gleich zwei Paradigmen
werden.
1
5
vgl. Killian, Lewis M . 1973: Social Movements:
A Review of the Field, in: Evans, Robert R. (Ed.):
Social movements. A reader and source book. Rand
McNally College Publishing Company 9-53
vgl. Cohen, Jean L . 1985: Strategy or Identity:
New Theoretical Paradigmas and Contemporay
Social Movements, in: Social Research. Volume
52, Number 4, 663-716; Melucci, Alberto 1985:
The Symbolic Challenge of Contemporary Movements, in: Social Research. Volume 52, Number 4,
789-816
vgl. McAdam, Doug/McCarthy, John D./Zald,
Mayer N . 1988: Social Movements, in: Smelser,
Neil J. (Ed.): Handbook of Sociology. Sage 695737
vgl. Jenkins, J. Craig 1983: Resource Mobilization Theory and the Study of Social Movements, in:
Annual Review of Sociology 527-553; Marwell,
Gerald/Oliver, Pamela 1984: Collective Action
Theory and Social Movements Research, in: Re6
7
8
9
vgl. den Aufsatz von Greven, Michael Th. 1988:
Zur Kritik der Bewegungswissenschaft, im Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 4/88,
51-60, und die sich dort abspielende Debatte; siehe
auch Roth, Roland/Rucht, Dieter (Hrsg.) 1987,
2
IINGSJOURNAL N>R
2
search in Social Movements, Conflict and Change,
Vol. 7, 1-27; Ferree, Myra Marx/Miller, Frederick
D . 1985: Mobilization and Meaning: Toward an
Integration of Social Psychological and Resource
Perspectives on Social Movements, in: Sociology
Inquiry, V o l . 55, No. 1, 38-61; Kitschelt, Herbert
1991: Resource Mobilization Theory: A Critique,
in: Rucht, Dieter (Hrsg.): Research on Social M o vements. The State of the Art in Western Europe
and the U S A . Campus/Westview Press 323-347
vgl. Diani, Mario 1992: The concept of social
movement, in: The Sociological Review, Vol. 40,
No. 1, 1-25: 14
vgl. Zygmunt, Joseph F. 1986: Collective Behavior as a Phase of Societal Life: Blumer's emergent
Views and their Implications, in: Research in Social Movements, Conflicts and Change, Vol. 9, 2546; Oliver, Pamela E. 1989: Bringing the Crowd
back in: The Nonorganizational Elements of Social
Movements, in: Research in Social Movements,
Conflict and Change, V o l . 11, 1-30
vgl. Turner 1981; Klandermanns/Tarrow 1988;
Melucci 1988: Getting Involved: Identity and Mobilization in Social Movements, in: Klandermans,
Bert (Ed.): International Social Movement Research, V o l . 1, 329-348
vgl. Snow, David A./Rochford, E . Burke Jr./
Worden, Steven K./Benford, Robert D. 1986:
Frame Alignment Processes, Micromobilization
and Movement Participation, in: A S R , V o l . 51,
464-481; Gamson, William A . 1988: Political Discourse and Collective Action, in: Klandermans,
Bert (Ed.): International Social Movement Research, V o l . 1, 219-244
10
11
12
13
" v g l . Raschke, Joachim 1985: Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß. Campus; Neidhardt, Friedhelm/Rucht, Dieter 1991: The
Analysis of Social Movements: The State of the Art
and Some Perspectives for Further Research, in:
Rucht, Dieter (Hrsg.): Research on Social Movements. The State of the Art in Western Europe and
the U S A . Campus/Westview Press 421-464; dies.
1993: A u f dem Weg in die 'Bewegungsgesellschaft'? Über die Stabilisierbarkeit sozialer Bewegungen, in: Soziale Welt, Jg. 44, Heft 3, 305-326
15
16
Vi
'14
vgl. McAdam/McCarthy/Zald 1988: 698
vgl. Schülein, Johann August 1983: Mikrosozio-
logie. Ein interaktionsanalytischer Zugang. Westdeutscher Verlag 14
vgl. Coleman, James S. 1991: Grundlagen der
Sozialtheorie. Band 1: Handlungen undHandlungssysteme. Oldenbourg 2
vgl. Nagel, Ernest 1984: Über die Aussage: »Das
Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«, in:
Topitsch, Ernst (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften. Athenäum 241-251
vgl. McAdam/McCarthy/Zald 1988: 709, 711,
729
vgl. Kriesi, Hanspeter 1988a: The Interdependence of Structure and Action: Some Reflections
on the State of the Art, in: Klandermans, Bert (Ed.):
International Social Movement Research, Vol. 1,
349-368: 354
vgl. Neidhardt/Rucht 1991: 448
vgl. Gerhards, Jürgen/Rucht, Dieter 1992: Mesomobilization: Organizing and Framing in Two Protest Campaigns in West Germany, in: AJS, V o l . 98,
No. 3, 555-595
vgl. Habermas, Jürgen 1981: Neue soziale Bewegungen. Ein Exkurs, in: Ästhetik und Kommunikation, Heft 45/46, 158-161; Brand, Karl-Werner/
Büsser, Detlef/Rucht, Dieter 1986: Aufbruch in
eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik. Campus; Berking, Helmuth 1990: Die neuen Protestbewegungen als zivilisatorische Instanz im Modernisierungsprozeß?,
in: Dreitzel, Hans Peter/Stenger, Horst (Hrsg.):
Ungewollte Selbstzerstörung. Reflexionen überden
Umgang mit katastrophalen Entwicklungen. Campus 47-61
17
18
19
20
21
2 2
2 3
vgl. Tarrow, Signey 1991: Kollektives Handeln
und politische Gelegenheitsstruktur in Mobilisierungswellen: Theoretische Perspektiven, in:
KZfSS, 43. Jg., Heft 4, 647-670; Kriesi 1991: The
Political Opportunity Structure of New Social
Movements: Its Impact on Their Mobilization. Discussion Paper FS III 91-103. W Z B
vgl. Zurcher/Snow 1981, Raschke 1985; Meyer,
Thomas/Müller, Michael 1989: Individualismus
und neue soziale Bewegungen, in: Leviathan, Jg.
17, Heft 3, 357-369
vgl. Klandermans 1984: Mobilization and Participation: Social-Psychological Expansions of Resource Mobilization Theory, in: A S R , V o l . 49,58324
25
2 6
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
600; Snow/Rochford/Worden/Bendford 1986
vgl. Touraine, Alain 1981: The Voice and the
Eye. A n analysis of social movements. Cambridge
University Press; ders. 1988: Return of the Actor.
Social Theory in Postindustrial Society. University
of Minnesota Press
Die Mesoebene schließt die Sozialstruktur sozialer Bewegungen, d.h. die neue Mittelschicht, mit
ein.
vgl. Raschke 1985: 124ff
vgl. Hirsch, Joachim/Roth, Roland 1980: ' M o dell Deutschland' und neue soziale Bewegungen,
in: Prokla, Heft 40,14-39; Habermas 1981; Brand/
Büsser/Rucht 1986; Melucci 1985; Berking 1990
vgl. Neidhardt 1985: Einige Ideen zu einer allgemeinen Theorie sozialer Bewegungen, in: Stefan
Hradil (Hrsg.): Sozialstruktur im Umbruch. Karl
Martin Bolte zum 60. Geburtstag. Opladen, 193204: 198; siehe auch Etzioni, Amitai 1975: Die
aktive Gesellschaft. Eine Theorie gesellschaftlicher und politischer Prozesse. Westdeutscher Verlag: „Zu jeder Zeit gibt es viel mehr Ideen und viel
mehr 'Zellen' als Mobilisierungskampagnen mit
gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen." (422)
vgl. Neidhardt/Rucht 1993: 307
vgl. Killian 1973; Zurcher/Snow 1981; Koslowski, Peter 1987: Die postmoderne Kultur. Gesellschaftlich-kulturelle Konsequenzen dertechnischen
Entwicklung. Beck
vgl. Japp, Klaus P. 1984: Selbsterzeugung oder
Fremdverschulden. Thesen zum Rationalismus in
den Theorien sozialer Bewegungen, in: Soziale
Welt, Heft 35, 313-329: 316
vgl. Klandermans 1984; Snow/Rochford/Worden/Bendford 1986
vgl. Killian 1973:20; siehe auch Neidhardt 1985:
„Soziale Bewegungsmöglichkeiten entstehen erst
dann, wenn diese Erfahrungen und Gefühle über
Gruppen- und Netzwerkzusammenhänge aggregiert, kollektiviert und dann auch sozial bearbeitet
werden können." (198)
Ich ziehe es vor, hier von einem handlungstheoretischen und nicht interaktionistischen Ansatz zu
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31
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3 7
2/94
sprechen, um vor allem auch den Ressourcenmobilisierungsansatz mit einzubeziehen, dem letztlich
ein Rational Choice-Konzept zugrunde liegt, was
ihn der handlungstheoretischen Denkweise zuweist.
vgl. Gerhards, Jürgen 1993: Neue Konfliktlinien
in der Mobilisierung öffentlicher Meinung. Eine
Fallstudie. Westdeutscher Verlag
39 vgl. Gurney, Joan Neff/Tierney, Kathleen J.
1982: Relative Deprivation and Social Movements:
A Critical Look at Twenty Years of Theory and
Research, in: The Sociological Quarterly 23, 3347: 44
" v g l . Japp 1984: 314
vgl. Neidhardt 1985: 198
Zusammenfassend Hellmann, Kai-Uwe 1993:
Soziale Bewegungen unter dem 'Systemskop'. Erträge und Probleme systemtheoretischer Bewegungsforschung, in: Forschungsjournal NSB, 3-4/
93, 139-158
vgl. Raschke 1985: 413
vgl. Marwell/Oliver 1984: 4
vgl. Neidhardt/Rucht 1991: 436
* vgl. Holthusen, Bemd/Jänecke, Michael 1991:
Thesen zur neueren Entwicklung des Rechtsextremismus in beiden Teilen Berlins und in den fünf
neuen Ländern. Diskussionspapier 1-12; Butterwegge, Christoph 1993: Rechtsextremismus als
neue soziale Bewegung?, in: Forschungsjournal
N S B 2/93, 17-24; Jaschke, Hans-Gerd 1993: Formiert sich eine neue soziale Bewegung von rechts?
Über die Ethnisierung sozialer und politischer Konflikte, in: Mitteilungen des Instituts für Sozialforschung, Heft 2, 28-44; Otto, Hans-Uwe/Merten, Roland (Hrsg.) 1993: Rechtsradikale Gewalt
imvereinigtenDeutschland.Jugendimgesellschaftlichen Umbruch. Bundeszentrale für politische B i l dung; Wank, Ulrich (Hrsg.) 1993: Der neue alte
Rechsradikalismus. Mit Beiträgen von Longerich,
Peter/Piper, Ernst/Schily, Otto/Schmid, Thomas/
Schoeps, Julius H./Tibi, Bassam. Piper
vgl. F N 22
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4 7
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
2/94
Karl-Dieter Opp
Der 'Rational Choice'-Ansatz
und die Soziologie
sozialer Bewegungen
D i e mittlerweile kaum mehr zu überblickende
Literatur über soziale Bewegungen und politischen Protest ist, vor allem im deutschen
Sprachbereich, ü b e r w i e g e n d nicht theoretisch
orientiert. Dies bedeutet zum einen, daß erklärende Fragen, z . B . nach den Ursachen oder
Wirkungen bestimmter Protestformen, nicht
gestellt werden. So findet man eine Vielzahl
beschreibender Studien, in denen 'Bewegungsmilieus' oder der Prozeß der Entstehung konkreter Bewegungen, Protestgruppen oder die
Entwicklung von Protest in Gesellschaften im
Zeitablauf dargestellt werden. 'Theorielosigkeit' bedeutet zum zweiten, d a ß dann, wenn
erklärt wird, dies ad hoc geschieht. D.h. einzelne Faktoren werden herausgegriffen und als
Ursachen deklariert, ohne daß die - meist implizit - angewendeten theoretischen Annahmen deutlich werden. Vorliegende theoretische
A n s ä t z e werden also nicht explizit zur Beantwortung der gestellten Fragen angewendet.
Was sind die Ursachen der Theorielosigkeit
der Soziologie sozialer Bewegungen? Viele Sozialwissenschaftler, die sich mit sozialen Bewegungen befassen, sind entweder nicht an
e r k l ä r e n d e n Fragen interessiert oder haben
nicht gelernt, systematisch Theorien zur Beantwortung theoretischer Fragen anzuwenden.
Es besteht auch kein Anreiz, solche Kenntnis-
se zu erwerben, da ja die meisten Kollegen
nicht theorieorientiert arbeiten. E i n anderer
Grund f ü r die verbreitete Theorielosigkeit ist
vermutlich, daß viele Forscher meinen, daß
die vorliegenden Theorien nichts oder nur wenig zur Beantwortung erklärender Fragen beitragen. Wenn diese M e i n u n g vorherrscht, dann
wäre zu erwarten, daß die M ä n g e l vorliegender Theorien im einzelnen herausgearbeitet
werden, und daß versucht wird, die Theorien
zu verbessern.
Wie schlecht oder gut sind die vorliegenden
theoretischen Ansätze zur Beantwortung von
erklärenden Fragen, die im Zusammenhang mit
sozialen Bewegungen stehen? In diesem A u f satz steht der 'Rational Choice'-Ansatz ( R C A )
im Mittelpunkt. Zunächst wird dieser Ansatz
dargestellt. Sodann wird skizziert, inwieweit
dieser Ansatz im Problembereich 'Soziale Bewegungen' bereits angewendet wurde und welche Fragen mit diesem Ansatz behandelt werden können. Abschließend wird der R C A kurz
mit anderen theoretischen Ansätzen verglichen.
1.
Der'Rational C h o i c e ' - A n s a t z
Im folgenden soll zunächst kurz das zentrale
methodologische Postulat des R C A dargestellt
werden. Sodann werden die Kern- und Z u -
12
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
satzannahmen der Theorie rationalen Handelns
behandelt, die dem R C A zugrundeliegen. Der
restliche Teil dieses Kapitels befaßt sich mit
einer Reihe von Problemen des Ansatzes.
1.1
D a s Postulat des methodologis c h e n Individualismus
Der R C A besteht zum einen aus einem methodologischen Postulat, dem Postulat des methodologischen Individualismus: Soziale Phänomene sollen erklärt werden, indem eine
Theorie über das Handeln individueller A k teure i m sozialen Kontext angewendet wird.
Wenn also z . B . die Entstehung sozialer Bewegungen erklärt werden soll, dann w ü r d e ein
Vertreter des R C A die Entscheidungen der individuellen Akteure einbeziehen und zeigen,
wie das zu erklärende P h ä n o m e n aus dem Z u sammenspiel der individuellen Entscheidungen resultiert.
1
1.2
Die Kernannahmen der Theorie
rationalen Handelns
W i l l man das genannte Postulat realisieren,
benötigt man eine Theorie individuellen Handelns. G e g e n w ä r t i g wird im allgemeinen die
Theorie rationalen Handelns verwendet. Während das Postulat des methodologischen Individualismus weitgehend von Vertretern des genannten Ansatzes akzeptiert wird, gibt es unterschiedliche S t r ö m u n g e n hinsichtlich der Art
der Theorie rationalen Handelns, die die einzelnen Vertreter bevorzugen. D i e folgenden drei
Kernannahmen
dürften aber von allen Vertretern dieses Ansatzes akzeptiert werden. Die
erste Annahme - ich nenne sie die Motivationshypothese
- behauptet, daß menschliches
Handeln u.a. durch Präferenzen bedingt wird.
Diese Annahme steht im Gegensatz zu kollektivistischen Ansätzen wie der Systemtheorie,
dem Funktionalismus oder Marxismus, die individuelle W ü n s c h e und Ziele bei der Erklä2
2/94
rung gesellschaftlicher Prozesse weitgehend
vernachlässigen.
Die zweite Kernannahme - die Hypothese
der
Handlungsbeschränkungen
- geht davon aus,
daß menschliches Handeln u.a. durch E i n schränkungen oder Möglichkeiten bedingt ist.
Damit sind Ereignisse gemeint, die die menschliche Zielrealisierung behindern oder fördern.
Z u den H a n d l u n g s b e s c h r ä n k u n g e n gehören
z . B . das v e r f ü g b a r e Einkommen, die Preise
am Markt, aber auch Rechte, die durchgesetzt
werden. Handlungsbeschränkungen oder Handlungsmöglichkeiten werden oft auch als Kosten oder Nutzen oder auch als Anreize bezeichnet.
Die Hypothese der H a n d l u n g s b e s c h r ä n k u n g e n
ist unvereinbar mit der in der Soziologie üblichen Betonung von Werten oder Normen zur
Erklärung sozialen Handelns. E i n Vertreter des
R C A wird sich z . B . bei einer Erklärung der
Veränderung des Freizeit Verhaltens nicht mit
dem Hinweis auf veränderte Wertvorstellungen zufriedengeben. E r wird im einzelnen versuchen herauszufinden, welche Handlungsmöglichkeiten sich verändert haben.
Vor allem die dritte Kernannahme stößt bei
vielen Sozialwissenschaftlern auf Kritik: die
Annahme der Nutzenmaximierung.
Es wird davon ausgegangen, daß Akteure versuchen, ihre
eigenen Ziele in höchstmöglichem M a ß e zu
erreichen - unter Berücksichtigung der Handlungsbeschränkungen. Ohne diese Annahme ist
nicht verständlich, warum Personen sich f ü r
eine bestimmte Handlung oder Handlungssequenzen entscheiden: Sie tun das, was aus ihrer Sicht am besten erscheint.
Bevor man die Annahme der Nutzenmaximierung kritisiert, sollte man z u ermitteln versuchen, wie andere theoretische A n s ä t z e menschliches Handeln erklären. Unsere These ist, daß
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
2/94
ein ähnliches Prinzip in allen Ansätzen, die
menschliches Handeln erklären, angewendet
wird - wobei die Anwendung dieses Prinzips
meist stillschweigend erfolgt. W i e entscheidet
z . B . der M e n s c h der interpretativ-hermeneutischen Soziologie? Wenn er die Situation im
Lichte seines Alltagswissens interpretiert hat:
ist es ihm dann völlig gleichgültig, ob eine
Handlung seine eigene Wohlfahrt erhöht oder
nicht?
1.3 Z u s a t z a n n a h m e n
Vermutlich w ü r d e jeder Vertreter des R C A die
genannten Kernannahmen akzeptieren. Unterschiede bestehen allerdings darin, welche Zusatzannahmen
getroffen werden. Weiter werden die genannten Kernannahmen unterschiedlich interpretiert. Ich werde im folgende einige meines Erachtens wichtige strittige Zusatzannahmen darstellen und dabei meine eigene
Position deutlich machen.
- 'Weiche' vs. 'harte'Anreize.
Wir haben die
Motivationshypothese so formuliert, daß jegliche A r t von Motivation f ü r die Erklärung
menschlichen Handelns prinzipiell in Betracht
gezogen werden kann. Für Soziologen ist es
eine Selbstverständlichkeit, daß die Motive der
Menschen äußerst unterschiedlich sind und sich
im Zeitablauf wandeln. Im M o d e l l der neoklassischen Ö k o n o m i e w i r d dieser Vielfalt
menschlicher M o t i v e nicht Rechnung getragen. So w i r d durchweg davon ausgegangen,
daß Menschen egoistisch sind. F ü r viele Verhaltensweisen, z . B . im Rahmen von Verwandtschaftsbeziehungen, trifft diese Annahme jedoch nicht zu. Menschen sind vielmehr daran
interessiert, auch das Wohlergehen anderer, z.B.
der eigenen Kinder, zu fördern.
Eine egoistische Motivation m u ß streng von
der Annahme der Nutzenmaximierung unterschieden werden. Letztere besagt, daß M e n -
13
schen das tun, was sie selbst in höchstem M a ß e
zufriedenstellt. Dies ist oft auch dann der F a l l ,
wenn man die Wohlfahrt anderer fördert. Obwohl z . B . ein M ö n c h sich vor allem um das
Wohlergehen anderer b e m ü h t , maximiert er
damit seinen eigenen Nutzen in dem Sinne,
daß es ihm Glück oder Befriedigung verschafft,
anderen zu helfen - wenn man einmal davon
absieht, daß er vielleicht auf Belohnungen im
Jenseits hofft. Im Englischen w i r d der Unterschied zwischen Egoismus und dem Ziel, den
eigenen Nutzen z u maximieren, treffend mit
den Wörtern 'selfishness' und 'seif interest'
bezeichnet. Weiter wird in der neoklassischen
Ö k o n o m i e oft nicht berücksichtigt, d a ß M e n schen das Z i e l haben, nach bestimmten Normen zu handeln oder Erwartungen von B e zugspersonen zu erfüllen. Es erfüllt einen M e n schen mit Befriedigung, wenn er z . B . etwas
getan hat, das er moralisch f ü r geboten hielt.
Ein schlechtes Gewissen stellt sich ein, wenn
man bestimmte Normen gebrochen hat. Weiter hat man ein gutes G e f ü h l , wenn man so
gehandelt hat, daß Bezugspersonen das Verhalten billigen. Im Alltagsbereich ist man daran interessiert, negative Reaktionen der sozialen Umwelt oder 'wichtiger' Personen zu vermeiden, und schätzt Zuwendung.
Wenn man die A r t der Präferenzen, die bei der
Erklärung menschlichen Handelns berücksichtigt werden dürfen, einschränkt, dann schränkt
man gleichzeitig die möglichen Restriktionen
bzw. Anreize ein. Restriktionen bzw. Anreize
sind ja definitionsgemäß Ereignisse, die die
Bedürfnisbefriedigung ermöglichen oder behindern. Schließt man z . B . eine P r ä f e r e n z für
soziale Zuwendung aus, dann sind positive soziale Sanktionen auch keine Anreize. Entsprechend werden in der neoklassischen Ö k o n o mie solche weichen Anreize nicht zugelassen.
M a n konzentriert sich auf harte Anreize, die
leicht beobachtbar sind. Hierzu gehören ins-
14
besondere materielle bzw. finanzielle Nutzen
und Kosten, aber z . B . auch staatliche Strafen.
Welche Probleme treten auf, wenn man die
Art der zulässigen Restriktionen und Präferenzen beschränkt? Angenommen, bestimmte A r ten menschlichen Handelns werden durch M o tive verursacht, die f ü r die Erklärung nicht
berücksichtigt werden dürfen. Folgende M ö g lichkeiten bestehen:
(1) M a n behauptet, d a ß nur die im Erklärungsmodell zulässigen M o t i v e bedeutsam waren.
So könnte man annehmen, daß Eltern ihre K i n der nicht aus altruistischen Motiven unterstützen, sondern nur deshalb, um später von ihren
Kindern ebenfalls unterstützt zu werden. M a n
'deutet' also Situationen so, daß man den A k teuren die zulässigen Präferenzen unterstellt.
Die Konsequenz ist eine falsche Erklärung.
(2) M a n setzt fest, daß das Handlungsmodell
nur in solchen Situationen angewendet werden darf, in denen die zulässigen M o t i v e und
H a n d l u n g s b e s c h r ä n k u n g e n vorliegen. G e m ä ß
dieser Strategie wird man etwa Familienbeziehungen nicht zum Anwendungsbereich der
Theorie zählen. M a n beschränkt sich z . B . auf
Situationen, in denen materielle Güter bzw.
Belohnungen die herrschenden Anreize sind.
Diese Strategie kommt einer A u s h ö h l u n g des
Informationsgehalts des Modells gleich. Das
M o d e l l gleicht einem Schweizer Käse: D i e L ö cher sind die sozialen Situationen, in denen es
nicht angewendet werden kann. Grundsätzlich
ist es keine sinnvolle Strategie, eine Theorie
nur in solchen Situationen anzuwenden, in denen sie brauchbar erscheint. Es ist vorzuziehen zu versuchen, die Theorie so zu modifizieren, d a ß sie generell soziales Handeln erklären kann.
Warum werden in der neoklassischen Ö k o n o mie weiche Anreize ausgeschlossen? E i n im-
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
2/94
mer wieder angeführtes Argument ist, daß das
M o d e l l dann, wenn man weiche Anreize zuläßt, tautologisch wird. Damit ist gemeint, daß
es möglich wird, ad hoc, d.h. beliebig, irgendwelche Präferenzen als Ursachen anzuführen.
So könnte man die Mitarbeit in einer sozialen
Bewegung dadurch ' e r k l ä r e n ' , daß man behauptet, die betreffenden Personen strebten eine
politische Karriere an, ohne d a ß man f ü r diese
Behauptung irgendwelche Belege anführt. Solche ad-hoc-Erklärungen, so wird behauptet,
seien deshalb möglich, w e i l weiche Anreize
nicht meßbar seien. A u c h zirkulären Erklärungen wäre Tür und Tor geöffnet. So könnte
man ein Ansteigen der Spenden f ü r Länder
der Dritten Welt auf eine Zunahme der altruistischen Motivation zurückführen. A u f die Frage, woher man wisse, d a ß die altruistische M o tivation angestiegen ist, könnte die Antwort
lauten: Sehen Sie denn nicht, daß das Spendenaufkommen gestiegen ist? Nehmen wir zunächst einmal an, weiche Anreize seien nicht
direkt meßbar. Dies ist nun keineswegs ein
Argument dafür, weiche A n r e i z e aus einer
Theorie auszuschließen. In den Naturwissenschaften wurden oft Theorien formuliert, die
erst später geprüft werden konnten, weil zunächst die Instrumente, die z u ihrer P r ü f u n g
notwendig sind, noch nicht entwickelt waren.
Es w ä r e sicherlich keinem Naturwissenschaftler eingefallen, eine Theorie deshalb als unbrauchbar, tautologisch oder ad hoc zu bezeichnen, w e i l sie noch nicht n a c h p r ü f b a r ist.
Wenn entsprechend Sozialwissenschaftler weiche Anreize - noch - nicht messen können,
dann gibt es keinen Grund, solche Anreize
von theoretischen Analysen auszuschließen. Es
ist vorzuziehen, entsprechende M o d e l l e zu formulieren und zu versuchen, Instrumente zu
entwickeln, mit denen die Modelle geprüft werden können. D a ß in dieser Situation die Möglichkeit besteht, ad hoc weiche Anreize als
Ursachen zu behaupten oder zirkuläre Erklärungen vorzuschlagen, ist unzweifelhaft. S o l -
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
2/94
che m ö g l i c h e n Praktiken werden jedoch normalerweise durch allgemein akzeptierte Regeln wissenschaftlichen Arbeitens ausgeschlossen. So besteht eine Regel wissenschaftlichen
Arbeitens darin, empirische Behauptungen
durch empirische Untersuchungen zu überprüfen. Wenn also die b l o ß e Möglichkeit besteht,
weiche Anreize ad hoc einzuführen, dann w i derspricht dies dem allgemein akzeptierten K a non wissenschaftlichen Arbeitens. Entsprechend sollten solche Praktiken negativ sanktioniert werden. Es ist aber wenig sinnvoll,
daß man wegen möglicher ad-hoc-Behauptungen oder zirkulärer Erklärungen relevante A n reize aus der Betrachtung ausschließt.
- Objektive vs. subjektive
Handlungsbeschränkungen. In dem M o d e l l der neoklassischen
Ö k o n o m i e wird angenommen, daß objektive d.h. aus der Sicht eines Beobachters vorliegende Restriktionen - das Handeln der M e n schen beeinflussen. So wird in der ökonomischen Kriminalitätstheorie das Bestrafungsrisiko durch die Rate der aufgeklärten Delikte
gemessen. Selbstverständlich wissen Ökonomen, d a ß f ü r die Begehung eines Deliktes u.a.
die wahrgenommene
Wahrscheinlichkeit einer
Strafe von Bedeutung ist. Es wird nun angenommen, daß sich langfristig objektive und
subjektive Wahrscheinlichkeit angleichen. Diese Annahme ist aus mehreren G r ü n d e n problematisch. (1) Es ist oft unklar, wie man die
objektive Wahrscheinlichkeit von Handlungsbeschränkungen ermittelt. Wie ermittelt man
z . B . die objektive Wahrscheinlichkeit eines
'harten' Polizeieinsatzes bei einer Demonstration? (2) Es ist anzunehmen, daß die genannte
empirische Annahme - objektive und subjektive Wahrscheinlichkeiten gleichen sich an oft nicht zutrifft. Wenn z . B . ein Straftäter die
Bestrafungswahrscheinlichkeit überschätzt und
deshalb keine Delikte begeht, werden sich seine subjektiven Bestrafungserwartungen kaum
ändern. D i e Annahme, daß die objektiven und
nicht die subjektiven H a n d l u n g s b e s c h r ä n k u n gen von Bedeutung sind, wird oft damit gerechtfertigt, daß subjektive Sachverhalte nicht
oder nur schwer meßbar sind. Wie w i r später
sehen werden, ist diese These unzutreffend.
Aber selbst wenn sie zutrifft: Probleme der
Messung einer Variablen sind, wie gesagt, kein
Argument dafür, eine Variable aus der Theorie
auszuschließen. Entsprechend erscheint es sinnvoll, subjektive H a n d l u n g s b e s c h r ä n k u n g e n als
Variablen der Theorie rationalen Handelns einzubeziehen. Zusätzlich lassen sich dann H y pothesen darüber formulieren, unter welchen
Bedingungen objektive und subjektive Wahrnehmungen übereinstimmen oder, allgemeiner,
unter welchen Bedingungen sich subjektive
Überzeugungen bilden.
- Vollständige Information vs. subjektiver
Wissensbestand.
Wenn man von wahrgenommenen Handlungsbeschränkungen ausgeht, dann
folgt daraus, daß die kognitiven Ü b e r z e u g u n gen der Menschen nicht die Realität exakt w i derspiegeln müssen. Genau diese Annahme erscheint plausibel im Lichte neuerer psychologischer Forschungen, nach denen die kognitiven Fähigkeiten von Menschen weitaus geringer sind, als man früher annahm. Entsprechend
erscheint die Annahme der neoklassischen
Ökonomie, daß Menschen vollständig informiert sind, wenig sinnvoll zu sein. B e i Erklärungen menschlichen Handelns sind die tatsächlich existierenden W i s s e n s b e s t ä n d e von
Bedeutung.
- Kalkulation
vs. 'Als-ob-Theorie'.
O f t wird
die Theorie rationalen Handelns kritisiert, weil
sie angeblich ein 'rationalistisches Menschenb i l d ' voraussetzt: Menschen kalkulieren bewußt die Nutzen und Kosten von Handlungen.
Diese Annahme trifft f ü r viele Entscheidungen nicht zu, z . B . bei Gewohnheitshandeln,
und sollte fallengelassen werden. Es reicht aus
anzunehmen, daß Personen durch Anreize ge-
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
steuert werden, d.h. d a ß sie handeln, 'als ob'
sie kalkulierten. M i t dieser Annahme handelt
man sich zwar wieder Schwierigkeiten der
Messung von Restriktionen und Präferenzen
ein, diese Schwierigkeiten erscheinen aber lösbar (vgl. Opp 1990).
- Meßbarkeit
vs. Nichtmeßbarkeit
von subjektiven Sachverhalten.
Eine Reihe von Zusatzannahmen des neoklassischen 'homo oeconomicus' wird, wie w i r sahen, damit begründet,
daß subjektive P h ä n o m e n e nicht zuverlässig
m e ß b a r sind. K e i n Kenner der Methoden der
empirischen Sozialforschung wird bestreiten,
daß die Messung subjektiver P h ä n o m e n e mit
Problemen behaftet ist. Diese Probleme sind
jedoch je nach Situation unterschiedlich. Weiter gibt es eine Vielzahl von Strategien, M e ß fehler z u vermeiden oder in der statistischen
Analyse zu berücksichtigen (etwa durch die
Berechnung von Strukturgleichungsmodellen).
Entsprechend ist eine generelle Behauptung,
subjektive P h ä n o m e n e seien nicht zuverlässig
meßbar, unhaltbar.
- Quantitative
Forschung
vs.
Methodenvielfalt. Kritiker des R C A e s nehmen oft fälschlicherweise an, daß die Theorie rationalen Handelns eine unauflösliche Verbindung mit der
quantitativen Forschung eingegangen ist. Die
Forschungen der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, w i e sie etwa von Douglas North betrieben werden, benutzen historische Quellen
zur Ü b e r p r ü f u n g ihrer Erklärungen. Entsprechend sind auch Forschungen, die sich mit
sozialen Bewegungen befassen und einen R C A
zugrundelegen, keineswegs nur unter Verwendung quantitativer Methoden möglich.
- Erklärung
von Handeln vs. Erklärung
von
Präferenzen
und Handlungsrestriktionen.
Das
M o d e l l rationalen Handelns kann nicht die
Ä n d e r u n g von Präferenzen erklären. Hierzu
müssen andere sozialpsychologische Theorien
2/94
herangezogen werden, etwas das Ajzen-Fishbein-Modell (vgl. A j z e n 1988). Nebenbei sei
hier angemerkt, daß in der Soziologie auch
keine Theorie der Präferenzen existiert. Es ist
jedoch möglich, Handlungsrestriktionen zu erklären. Dies geschieht z . B . , wenn man die Entstehung von Rechten, Institutionen oder Organisationen erklärt.
3
Resümee: Plädoyer ßr eine 'weite'
Theorie
rationalen Handelns. Unsere bisherigen Überlegungen sprechen dafür, die genannten einschränkenden Annahmen der Theorie rationalen Handelns fallenzulassen. E i n solches 'weites' M o d e l l geht von der 'subjektiven Rationalität' individueller Akteure aus. Es wird angenommen, daß Personen so handeln, wie dies
aus ihrer eigenen Sicht - d.h. angesichts ihrer
Ziele und wahrgenommenen Handlungsbeschränkungen - sinnvoll erscheint. E i n solcher Ansatz wird unerläßlich, wenn man den
Anwendungsbereich der Theorie nicht auf bestimmte Arten von Situationen beschränken
w i l l . Es mag plausibel sein, d a ß die genannten
einschränkenden Annahmen oft zutreffen, wenn
es sich um Situationen handelt, in denen die
Entscheidung ßr eine von mehreren
Handlungen mit hohen Kosten verbunden ist. Dies gilt
etwa f ü r die G r ü n d u n g eines Unternehmens,
für den K a u f eines Hauses oder f ü r eine Heirat
(insbesondere dann, wenn die Kosten der
Scheidung hoch sind). Proteste sind jedoch oft
sog. low-cost-Situationen.
Wenn man z . B . an
einer Demonstration teilnimmt, ist dies normalerweise mit niedrigen Kosten verbunden.
Solche Handlungen können nicht mit einem
engen neoklassischen 'homo oeconomicus' erklärt werden. A u c h die Nachteile eines solchen Ansatzes dürften in den vorangegangenen Überlegungen deutlich geworden sein: Der
Forscher m u ß sich in weit stärkerem M a ß e als
ein Vertreter des neoklassischen Modells mit
der Messung von wahrgenommenen Handlungsbeschränkungen und Präferenzen befas-
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sen. Weiterhin werden Erklärungen komplizierter, da stark vereinfachende Annahmen fallengelassen werden. D i e Vorteile eines ' w e i ten' R C A sind jedoch ebenfalls klar: Es entstehen 'realistische' Modelle, die empirischen
Ü b e r p r ü f u n g e n zugänglich sind und wirklich
über reale Sachverhalte informieren.
2.
Was leistet der 'Rational Choice'A n s a t z für die Soziologie sozialer
Bewegungen?
Im folgenden wird zunächst generell gezeigt,
wie der R C A zur Beantwortung der Fragen,
die in der Soziologie sozialer Bewegungen gestellt werden, angewendet werden kann. Sodann w i r d ein kurzer Überblick über bisherige
Forschungen über soziale Bewegungen gegeben, in denen der R C A angewendet wurde.
2.1
Die Anwendbarkeit der Theorie
rationalen Handelns zur Erklärung
politischen Protests
Die Theorie rationalen Handelns weist eine
Reihe von Eigenschaften auf, die sie für die
Erklärung politischen Protests besonders geeignet erscheinen läßt.
(1) D i e Theorie rationalen Handelns ist eine
ü b e r p r ü f b a r e Theorie mit hohem Informationsgehalt. Dies bedeutet, daß die genannte Theorie beliebige Arten von Protesthandlungen erklären kann. D i e A r t politischer Partizipation
oder auch Nichtteilnahme hängt von der A r t
und dem A u s m a ß der Handlungsrestriktionen
oder Präferenzen ab. D i e Aufgabe des R C A
besteht darin, die A r t der Restriktionen oder
Präferenzen zu beschreiben, die das zu erklärende Verhalten beeinflussen. Das Ergebnis einer solchen Erklärung heißt ' M o d e l l ' . In einem solchen M o d e l l ist die Theorie rationalen
Handelns nur eine in einer Reihe von 'Annahmen', die f ü r die Erklärung eines Verhaltens
oder einer Verhaltenssequenz von Bedeutung
sind. Wenn wir sagen, die Theorie rationalen
Handelns hat einen hohen Informationsgehalt,
dann besagt dies weiter, daß die Theorie in
allen sozialen Situationen anwendbar ist, also
nicht nur in Demokratien westlichen Typs. Sie
ist sowohl anwendbar zur Erklärung der Proteste in der D D R im Jahre 1989, aber auch zur
Erklärung von Protesten gegen Atomkraftwerke in westlichen Gesellschaften.
(2) Der R C A ist zur Erklärung von M a k r o und Mikro-Phänomenen verwendbar und verbindet die M i k r o - und Makro-Ebene. D i e f o l gende Abbildung 1 verdeutlicht diese These.
D i e genannte Handlungstheorie erklärt das
Handeln individueller Akteure. D i e erklärenden Variablen sind dabei, wie wir sahen, Handlungsmotivationen und wahrgenommene Handlungsrestriktionen. Die Handlungsrestriktionen
eines Akteurs werden insbesondere durch drei
Arten von Faktoren beeinflußt werden:
4
- Politische Entscheidungen.
Hierzu gehören
insbesondere Entscheidungen von Regierungen eines Landes oder anderer Länder. So erhöhte sich der wahrgenommene E i n f l u ß der
D D R - B e v ö l k e r u n g , durch politisches Engagement bestimmte Ziele erreichen z u können,
nachdem Polen und Ungarn Liberalisierungsmaßnahmen einführten (vgl. im einzelnen Opp,
Voß und Gern 1993). Der 'wahrgenommene
E i n f l u ß ' gehört zu den wahrgenommenen
Handlungsrestriktionen;
-Interaktionsstrukturen.
Eine zentrale Annahme in vielen Erklärungen des R C A ist, d a ß die
Kosten oder der Nutzen von Handlungen bestimmter Akteure von den Handlungen anderer Akteure abhängen, d.h. von bestehenden
Interaktionsstrukturen bzw. sozialen Netzwerken. F ü r den R C A sind Interaktionsstrukturen
insofern von Bedeutung, als durch Kontakte
Belohnungen oder Informationen ausgetauscht
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werden. Dies impliziert, daß man nicht davon
ausgehen kann, daß Integration in soziale Netzwerke per se politisches Engagement erhöht wie die Perspektive der Ressourcen-Mobilisierung behauptet. Vielmehr ist von Bedeutung, inwieweit im Rahmen sozialer Netzwerke ' p r o t e s t f ö r d e r n d e A n r e i z e ' auftreten;
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delns wird oft durch sog. politische Unternehmer vorgenommen. Wie das Beispiel der D D R
zeigt, gibt es Anreize, die zu unorganisiertem,
d.h. spontanem gemeinsamen politischen Handeln f ü h r e n (vgl. im einzelnen Opp 1993).
5
G e m ä ß Abbildung 1 sind die Beziehungen zwischen den Makro-Faktoren nicht kausal. Die
- Institutionelle
Regelungen.
Z u den wichtig- Beziehungen können vielmehr durch Prozesse
sten Handlungsrestriktionen gehören Regelun- auf der individuellen Ebene erklärt werden.
gen, die von staatlichen Instanzen durchge- D.h. Beziehungen auf der Makro-Ebene gelsetzt werden. Hierzu gehört z . B . das Verbot ten nur, wenn sie in bestimmter Weise mit
jeglicher kritischer politischer Betätigung in individuellen Anreizen in Beziehung stehen.
linken und rechten Diktaturen bzw. die Er- So haben die politischen Liberalisierungsprolaubnis einer Vielzahl von Arten politischen zesse unter Gorbatschow, in Polen und in U n Engagements in westlichen Demokratien.
garn nur deshalb in der D D R zu spontanen
Protesten im Herbst 1989 geführt, weil
es in der D D R umfangreiche kritische
Abbildung 1: Der "Rational Choice" Ansatz und die Erklärung
persönliche Netzwerke gab, und weil
sozialer Bewegungen
'institutionelle Faktoren' in Form der
Friedensgebete den Anreiz setzten, sich
Politische EntscheiSoziale BeweMakro-Ebene:
dungen/! nteraktimit anderen kritischen Personen an eigung/Gemein(Struktureller
onsstrukturen/lnstisames politiAnsatz)
nem bestimmten Tag zu einer bestimmtutionelle Regeln
sches Handeln
ten Zeit zu versammeln.
Individuelle
Anreize
Individuelle
politische
Aktionen
Abbildung 1 illustriert einen weiteren
wichtigen Tatbestand: G e m ä ß dem R C A
ist eine reine M a k r o - E r k l ä r u n g unbefriedigend. Wenn man z . B . die Politik
Gorbatschows als eine Ursache f ü r die
Revolution in der D D R im Jahre 1989
nennt, wird ein Vertreter des R C A fragen, inwieweit die Politik Gorbatschows die individuellen Anreize z u Protesten so verändern
konnte, daß die individuellen Akteure gemeinsam politisch handelten. Entsprechend bezeichnet man den R C A auch als
strukturell-individualistischen Ansatz, da hier M i k r o - und M a kroebene integriert werden.
Bei diesen Faktoren handelt es sich um Makro-Faktoren,
d.h. um Eigenschaften von K o l lektiven. In Abbildung 1 wird deutlich, daß
die Makro-Faktoren die individuellen Anreize
verändern und entsprechend indirekt die Entscheidungen der Individuen beeinflussen. A b bildung 1 zeigt weiter, daß aus den individuellen Entscheidungen das resultiert, was man als
'Soziale Bewegungen' bezeichnet. Individuelle Entscheidungen haben allerdings nur dann Unsere bisherigen A u s f ü h r u n g e n implizieren
diesen 'Aggregationseffekt', wenn Anreize vor- nicht, daß reine Makro-Hypothesen immer
liegen, die die Einzelentscheidungen koordi- falsch sind. So ist die Hypothese, daß die Polinieren. D i e Koordination individuellen Han- tik Gorbatschows einen Beitrag zur Revoluti-
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on in der D D R geleistet hat, nicht falsch. Sie
ist aber unvollständig: Es fehlt die Mikro-Ebene und die Verbindung der M i k r o - mit der
Makro-Ebene.
D i e bisherigen A u s f ü h r u n g e n beziehen sich nur
auf die Erklärung von Protesten. Z u zwei anderen Fragen gibt es kaum Untersuchungen:
Unter welchen Bedingungen sind Proteste erfolgreich? Inwieweit verändert der E r f o l g von
Protesten das A u s m a ß dieser Proteste? Befassen w i r uns zunächst mit dem E r f o l g von Protesten, d.h. mit dem A u s m a ß , in dem die politischen Ziele der Akteure erreicht werden. Inwieweit soziale Bewegungen erfolgreich sind,
hängt zum einen von den Aktionen und der
Zusammensetzung der Teilnehmer der Bewegungen und deren Unterstützung ab, zum anderen aber auch von Politikern oder Beamten,
die über die Realisierung der Ziele entscheiden. Diese wählen - genauso wie die Teilnehmer an sozialen Bewegungen - zwischen
Handlungsalternativen aus und entscheiden
sich f ü r diejenige Alternative, die aus ihrer
Sicht ihren eigenen Nutzen maximiert. Diese
zentrale Einsicht, die direkt aus der Theorie
rationalen Handelns folgt, ist der Ausgangspunkt der Neuen Politischen Ö k o n o m i e - auch
' P u b l i c Choice'-Theorie oder ' Ö k o n o m i s c h e
Theorie der Politik' genannt. Klassische Vertreter dieses Ansatzes sind Anthony Downs,
James Buchanan und Gordon Tullock (vgl. einführend K i r s c h 1993). In diesem Ansatz wird
insbesondere der vor allem von Politikern selbst
propagierte Gemeinnutzen-Mythos durch eine
realistischere Annahme ersetzt: Politiker maximieren wie jede andere Person ihren eigenen Nutzen. D a dies nur möglich ist, wenn sie
an der Macht bleiben, handeln sie so, daß ihre
Möglichkeiten, durch ihr A m t ihren Nutzen zu
maximieren, nicht gefährdet werden. Dies erreichen sie, indem sie die Unterstützung einer
hinreichenden A n z a h l von Bürgern suchen, so
daß ihre Wiederwahl gesichert ist.
T9j
Dieser hier nur grob skizzierte Ansatz ergibt
interessante Hypothesen f ü r die Soziologie sozialer Bewegungen. Zunächst einmal ist es
nicht sinnvoll, lediglich nach Merkmalen von
Protesten ( z . B . Legalität) zu suchen, die mehr
oder weniger erfolgreich sind (vgl. Gamson
1990). Wichtig ist vielmehr das A u s m a ß , in
dem eine Strategie aus der Sicht der Politiker
ihre Wiederwahl gefährdet. So stört die seit
etwa 30 Jahren auf die Macht abonnierte S o z i aldemokratie in Hamburg der laufende Protest
der Studenten und Lehrenden der Universität
gegen die laufende Reduzierung der Mittel
überhaupt nicht. Vermutlich sind die Wähler
an der Funktionsfähigkeit der Universität nicht
interessiert. Eine weitere Folge dieser Ideen
ist, daß f ü r den E r f o l g einer Bewegung nicht
unbedingt die Unterstützung durch mächtige
gesellschaftliche Gruppen von Bedeutung ist,
wie die Perspektive der Ressourcen-Mobilisierung behauptet. Eine soziale Bewegung
könnte ohne jegliche Unterstützung durch Interessengruppen (Kirche, Parteien, Verbände)
die Unterstützung weiter Kreise der Bevölkerung erhalten, so daß Politiker sich gezwungen sehen, den Forderungen einer sozialen Bewegung nachzugeben. E i n Beispiel, in dem
weite Teile der Bevölkerung spontan, d.h. ohne
Organisation, protestierten und dabei E r f o l g
hatten, ist die Revolution in der D D R im Jahre
1989.
6
Abbildung 1 vereinfacht insofern, als die Interaktionen zwischen sozialen Bewegungen
und Politikern ein sozialer Prozeß sind, in dem
sich die Anreize f ü r beide Seiten verändern.
Angenommen, einer zunächst kleinen Protestgruppe von Studenten in Hamburg gelingt es
zunehmend, Unterstützung in der Bevölkerung
zu gewinnen: D i e Bevölkerung akzeptiert es
in zunehmendem M a ß e , daß die Universität
Hamburg erheblich besser ausgestattet werden
m u ß . Dies mag dazu führen, daß Politiker G e spräche mit den Gruppen f ü h r e n . Dadurch
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könnte sich die Unterstützung f ü r die Gruppen
erhöhen. D i e Politiker könnten nun äußern, im
nächsten Haushalt zusätzliche Mittel f ü r die
Universität vorzusehen. Dadurch könnten sich
die Anreize f ü r Protest erhöhen: M a n glaubt,
nun durch noch stärkere Anstrengungen weit
mehr erreichen zu können. Derartige Prozesse
k ö n n e n durch Computersimulationen modelliert werden (vgl. M a r w e l l und Oliver 1993,
Opp 1991). Dabei lassen sich Bedingungen
formulieren, unter denen solche Prozesse in
unterschiedlicher Weise ablaufen - abhängig
z . B . v o n der Verteilung von Präferenzen in der
B e v ö l k e r u n g f ü r die Ziele der Protestierenden.
Solche Simulationen zeigen besonders deutlich, w i e der R C A zur Formulierung dynamischer M o d e l l e politischen Protests angewendet werden kann. Es liegen leider bisher keine
empirischen Studien darüber vor, in denen versucht wird, die sich ändernden Anreize im Zeitablauf z u rekonstruieren.
2.2
Bisherige Theoriebildung und
Forschung
W i l l man die bisherige Anwendung des R C A
zur E r k l ä r u n g politischen Protests diskutieren,
dann ist zuerst zu fragen, ob man die Perspektive der Ressourcen-Mobilisierung ( P R M ) dem
R C A zurechnen sollte. D i e grundlegenden A n nahmen, auf denen dieser Ansatz beruht, ist
eindeutig die Theorie rationalen Handelns (siehe die Zitate in Opp 1993). Allerdings wird
die P R M nicht systematisch und in klarer Weise
zur Formulierung von theoretischen M o d e l len, in denen die Bedingungen f ü r den unterschiedlichen Verlauf von Protesten dargelegt
werden, angewendet. D i e Forschungen von
Vertretern der P R M sind normalerweise makrosoziologisch orientiert. Es fehlt also der
explizite Bezug auf die individuellen Akteure.
In anderen Forschungen, die explizit auf die
Theorie rationalen Handelns Bezug nehmen,
werden dagegen individuelle Akteure einbe-
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zogen. Dabei ist die zentrale Frage, wie das
sog. Trittbrettfahrer-Problem ('free rider Problem') gelöst werden kann. Damit ist folgendes gemeint. Soziale Bewegungen streben nach
der Herstellung sog. Kollektivgüter. Darunter
versteht man Güter, die, wenn sie einmal hergestellt sind, allen Mitgliedern eines Kollektivs zur Verfügung stehen. ' G ü t e r ' sind in
ökonomischer Terminologie alle Sachverhalte, die Nutzen stiften. Beispiele f ü r Kollektivgüter sind saubere Umwelt, Frieden, aber auch
Rechte. Die genannte Definition schließt nicht
aus, daß ein bestimmter Sachverhalt - z . B . ein
Gesetz - von einigen Mitgliedern eines K o l lektivs als ein kollektives ' G u t ' , von anderen
dagegen als ein kollektives ' Ü b e l ' betrachtet
wird.
7
8
E i n Problem bei der Herstellung von Kollektivgütern besteht darin, daß ein Anreiz f ü r 'strategisches Handeln' besteht: Wenn nämlich andere Personen das Gut herstellen, steht es jedem zur Verfügung, auch denen, die sich nicht
an der Herstellung beteiligt haben. M a n könnte also 'strategisch' in dem Sinne handeln, daß
man solange wartet, bis andere Personen das
Gut hergestellt haben. E i n zweites Problem
besteht insbesondere bei großen Gruppen. Der
einzelne Bürger hat nur einen geringen Einfluß auf die Herstellung eines Kollektivgutes.
Angenommen, 300.000 Demonstranten werden in Bonn bei einer Demonstration gegen
eine EG-Richtlinie erwartet. E i n bestimmter
Student könnte folgende Ü b e r l e g u n g anstellen: „ O b ich nun anwesend bin oder nicht,
wird niemand bemerken. M e i n Beitrag zur Herstellung des Kollektivgutes ist also minimal.
Außerdem könnte ich in der Zeit, die ich für
die Demonstration aufwenden w ü r d e , andere
wichtige Dinge tun, z . B . mich auf mein E x amen vorbereiten. Weiter profitiere ich ja von
dem Kollektivgut auch dann, wenn ich nicht
teilnehme. Es ist zwar richtig, d a ß die Demonstration nicht zustandekommt, wenn jeder so
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denkt. Wenn aber jeder so denkt, dann kommt
eine Demonstration sowieso nicht zustande.
Und dann w ä r e ich blamiert, wenn ich als
einziger demonstriere." Der individuelle Nutzen einer Teilnahme in einer großen Gruppe
ist also gering - auf jeden F a l l geringer als die
Kosten der Teilnahme. Entsprechend ist nicht
damit z u rechnen, daß sich eine Person deshalb an einer gemeinsamen A k t i o n beteiligt,
weil sie Interesse an der Herstellung des K o l lektivgutes hat. Wenn man sich beteiligt, dann
nur deshalb, w e i l andere 'selektive' Anreize
vorliegen, d.h. Nutzen oder Kosten, deren A u f treten von der Teilnahme (oder Nichtteilnahme) abhängen. So dürfte ein Anreiz f ü r die
Mitgliedschaft im A D A C kaum die vom A D A C
vertretene Verkehrspolitik sein. Vermutlich sind
selektive Anreize wie Pannendienste, Versicherungen, eine Automobilzeitschrift u.ä. von
Bedeutung.
W i l l man diese Theorie auf die Entstehung
politischen Protests anwenden, entstehen mehrere Fragen: (1) Trifft es zu, daß die Präferenz
für ein Kollektivgut oder, anders ausgedrückt,
politische Unzufriedenheit bei großen Gruppen keine Wirkung auf die Teilnahme an politischen Protesten hat? (2) Welche selektiven
Anreize gibt es, die zur Teilnahme an sozialen
Bewegungen führen? (3) Wie werden diese
Anreize bereitgestellt, bzw. wie entstehen sie?
Im folgenden sollen einige Antworten auf diese Frage angedeutet werden (vgl. ausführlicher Opp 1993).
In der Theorie kollektiven Handelns wird von
der Annahme ausgegangen, daß in einer großen Gruppe der tatsächliche E i n f l u ß individueller Akteure auch zutreffend wahrgenommen
wird. Untersuchungen haben jedoch gezeigt,
daß diese Annahme nicht zutrifft. Individuen
glauben vielmehr in unterschiedlichem M a ß e ,
daß z . B . ihr Protest auch dann wirksam ist,
wenn viele andere Personen teilnehmen. Ent-
21
sprechend ist die Unzufriedenheit keineswegs
unbedeutend f ü r die Teilnahme an Protesten.
Wichtig ist das A u s m a ß , in dem Individuen
glauben, durch ihr Handeln den E r f o l g eines
Protestes beeinflussen zu k ö n n e n . Selbst wenn
die Unzufriedenheit f ü r die Entstehung politischen Protests eine R o l l e spielt, ist anzunehmen, daß im allgemeinen selektive Anreize
zusätzlich bedeutsam sind. Welche Anreize
könnten dies sein? Teilnehmer an Protesten
erhalten keine preiswerten Versicherungen oder
Pannenhilfe. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, daß 'weiche' Anreize f ü r die Teilnahme an Protesten eine wichtige Rolle spielen. Hierzu gehören moralische Anreize, d.h.
das G e f ü h l moralischer Verpflichtung, sich in
bestimmten Situationen engagieren z u m ü s sen. Der Slogan „Wenn Recht zu Unrecht wird,
wird Widerstand zur Pflicht" drückt eine solche Norm treffend aus. Weiter sind soziale
Anreize für die Teilnahme an Protesten wichtig, d.h. die Mitgliedschaft in protestfördernden
Netzwerken. So zeigte sich, daß f ü r die Teilnahme an den Leipziger Montagsdemonstrationen vor allem von Bedeutung war, ob jemand
kritische Freunde hatte. Schließlich wird normalerweise angenommen, daß Repression einen Abschreckungseffekt hat. Empirische U n tersuchungen haben jedoch gezeigt, daß eher
ein Radikalisierungseffekt
vorliegt: Je stärker
die erwartete Repression ist, desto eher nimmt
man an Protesten teil. Diese Beziehung tritt
dann auf, wenn zunehmende Repression die
positiven (selektiven) Anreize f ü r Protest erhöht (Opp, Voß und Gern 1993, Opp 1994).
3.
Probleme des 'Rational C h o i c e ' Ansatzes und alternative
theoretische A n s ä t z e
Selbstverständlich ist der R C A - w i e jeder
sozialwissenschaftliche Ansatz - umstritten.
Mit dieser K r i t i k kann man sich in zweierlei
Weise auseinandersetzen. M a n kann erstens
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die einzelnen E i n w ä n d e diskutieren. Zweitens
kann man fragen, inwieweit andere, konkurrierende theoretische Ansätze bessere Erklärungen liefern. Beide Fragen sollen im folgenden kurz diskutiert werden.
3.1
Zur Kritik d e s 'Rational C h o i c e ' Ansatzes
Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, auf
die K r i t i k des R C A im einzelnen einzugehen.
Einige allgemeine Anmerkungen zu dieser K r i tik m ü s s e n ausreichen. E i n großer Teil der K r i tik richtet sich gegen ein enges neoklassisches
M o d e l l rationalen Handelns. D a ein solches
M o d e l l weder von mir noch von den meisten
Soziologen vertreten wird, kann diese Kritik
hier außer Betracht bleiben. Weiter beruht
ein großer Teil der K r i t i k auf Mißverständnissen: E s werden Behauptungen kritisiert, die
nur in der Phantasie der Kritiker des R C A
vorgebracht werden. D i e wirklich ernst zu
nehmende K r i t i k kommt aus den Reihen der
Vertreter des R C A selbst: Es handelt sich um
die sog. A n o m a l i e n (vgl. zusammenfassend
Dawes 1988). Empirische Forschungen haben
gezeigt, daß bestimmte Annahmen des R C A
empirisch nicht haltbar sind. Viele der A n omalien sind Verletzungen von Annahmen, die
wiederum nicht bei einem weiten, in diesem
Aufsatz vertretenen M o d e l l entstehen. Weitere
theoretische Ü b e r l e g u n g e n und empirische
Untersuchungen sind erforderlich, um zu ermitteln, inwieweit das hier vertretene weite
M o d e l l rationalen Handelns die in der Literatur behandelten Anomalien aufweist. Was auch
immer die konkreten Probleme des R C A sein
m ö g e n : Für die Beurteilung dieses Ansatzes
ist von Bedeutung, ob es eine dieser Theorie
eindeutig überlegene Alternative gibt. Diese
Frage soll abschließend f ü r zwei besonders
intensiv diskutierte A n s ä t z e behandelt werden:
die P R M und der konstruktivistische Ansatz.
9
10
11
3.2
2/94
Die Perspektive der R e s s o u r c e n Mobilisierung
Wir sagten, daß die Theorie rationalen Handelns der P R M zugrundeliegt. A u s der Sicht
des R C A dürften folgende Annahmen der P R M
problematisch sein (vgl. Opp 1993). (1) Die
Theorie rationalen Handelns fungiert eher als
Orientierungshypothese und wird nicht stringent zur Ableitung von Hypothesen angewendet. (2) Die P R M ist ü b e r w i e g e n d eine M a kro-Theorie. Es wird nicht gezeigt, wie bestimmte Änderungen auf der Makro-Ebene die
Handlungsmöglichkeiten oder auch Präferenzen individueller Akteure und damit deren individuelles Verhalten verändern und welche
Effekte diese wiederum auf der kollektiven
Ebene haben. Die eigentliche Stärke des R C A ,
die M i k r o - und Makro-Ebene miteinander zu
verbinden, wird nicht genutzt. (3) D i e Hypothesen der P R M konzentrieren sich auf westliche Industriegesellschaften. D i e grundlegende
Annahme ist die eines Marktes von Ressourcen: Gruppen oder Individuen konkurrieren um
eine bestimmte Menge von Ressourcen in Form
von sozialer oder materieller Unterstützung.
Dabei wird stillschweigend angenommen, daß
die individuellen Entscheidungen durch politische Unternehmer zu gemeinsamem Handeln
koordiniert werden. Andere Formen der Koordination, wie sie z . B . bei den Leipziger M o n tagsdemonstrationen, insbesondere im Herbst
1989, auftraten, können nicht erklärt werden.
3.3
Der konstruktivistische A n s a t z
Die Vertreter des konstruktivistischen Ansatzes (vgl. zusammenfassend M o r r i s und
M c C l u r g Mueller 1992) geben vor, eine Alternative zum R C A und zur P R M z u sein. Dabei
bleibt offen, ob der konstruktivistische Ansatz
( K A ) einerseits und der R C A und die P R M
andererseits miteinander verbunden werden
können. U m die Thesen beider A n s ä t z e mit-
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einander vergleichen z u können, ist zunächst
zu fragen, welches genau die empirischen H y pothesen des K A sind. Hier beginnen die
Schwierigkeiten eines Vergleiches der Ansätze. D i e Ä u ß e r u n g e n von Vertretern des K A
sind bisher eher Programm und Orientierungshypothesen als klare, empirisch p r ü f b a r e Aussagen. So f ü h r e n M o r r i s und M c C l u r g M u e l ler (1992) aus, dem K A gehe es insbesondere
um „die Entwicklung einer umfassenden Sozialpsychologie sozialer Bewegungen. Im M i t telpunkt steht die Definition des Akteurs, der
soziale Kontext, innerhalb dessen sich Bedeutungen entwickeln und verändern, der kulturelle Inhalt sozialer Bewegungen" (S. 4, Übersetzung von mir). D a r ü b e r hinaus geht es um
die 'soziale Konstruktion' von Bedeutungen
und sozialen Bewegungen. O f f e n bleibt, wie
genau diese 'umfassende Sozialpsychologie'
aussieht, wie sich genau in einem sozialen K o n text 'Bedeutungen' entwickeln und wie bzw.
in welchem Sinne soziale Bewegungen 'konstruiert' werden.
Wenn der K A eine Alternative zum R C A und
zu der P R M ist, dann fragt es sich, welche
M ä n g e l diese A n s ä t z e nach Meinung der Vertreter des K A aufweisen. D i e am R C A geäußerte K r i t i k ist in dreierlei Hinsicht fragwürdig: (1) D i e Kritik am R C A richtet sich, wie
gesagt, gegen einen engen neoklassischen A n satz, der von kaum einem Soziologen vertreten wird. (2) D i e K r i t i k beruht zum großen
Teil auf Mißverständnissen. So impliziert das
obige Zitat, daß der R C A nicht die Definition
des Akteurs oder den sozialen Kontext berücksichtigt. Das Gegenteil ist richtig. (3) Die alternativen Hypothesen des K A scheinen oft
lediglich eine Reformulierung von Hypothesen des R C A zu sein. So wird behauptet, der
K A 'ersetze' das „ f r e e rider paradox" (Morris
und M c C l u r g Mueller 1992, S. 5). In welchem
Sinne erfolgt eine 'Ersetzung'? Rekonstruiert
man die Kritik der Autoren, dann zeigt sich,
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daß sie - in der Terminologie Olsons - eine
Reihe von selektiven Anreizen aufzählen, die
nach ihrer Meinung dazu führen, d a ß Personen auch in einer großen Gruppe gemeinsam
handeln, um ihre Ziele zu erreichen. U m allerdings die Thesen der genannten Autoren empirisch überprüfen zu können, m ü ß t e n sie zunächst erheblich präzisiert werden. (4) D i e Vertreter des K A lehnen offensichtlich das Prinzip der Nutzenmaximierung ab. W i e lautet die
Handlungstheorie des K A ? A u c h die Akteure
des K A handeln, um ihre politischen Ziele zu
erreichen. Versuchen sie dann nicht auch, im
Rahmen gegebener Handlungsbeschränkungen
ihre Ziele in höchstmöglichem M a ß e z u realisieren? Oft scheinen Vertreter des K A anzunehmen, daß man nicht den eigenen Nutzen,
sondern den Nutzen der Gruppe maximiert. Es
widerspricht der Theorie rationalen Handelns
keineswegs, wenn man altruistische Präferenzen annimmt. Allerdings behauptet der R C A ,
daß auch Altruisten ihren eigenen Nutzen maximieren, d.h. ihnen verschafft es Befriedigung, anderen Personen zu helfen. A b e r selbst
wenn man davon ausgeht, daß Personen nur
den Nutzen anderer vermehren wollen, dann
besteht das Trittbrettfahrer-Problem: In einer
großen Gruppe erreichen sie dieses Z i e l nicht,
da der einzelne kaum einen E i n f l u ß auf das
Ergebnis gemeinsamen Handelns hat. D a Vertreter des K A anscheinend das Trittbrettfahrer-Problem 'ersetzen' wollen, fragt es sich,
wie genau dies geschehen soll. (5) B e i Vertretern des K A bestehen Meinungsverschiedenheiten darüber, inwieweit R C A und K A miteinander verbunden werden können. Eine m ö g liche Verbindung könnte darin bestehen, daß
die Faktoren, die die Konstruktivisten f ü r wichtig halten, intervenierende
Variablen in einem
R C A sind - siehe Abbildung 2. So könnte
eine Veränderung von H a n d l u n g s m ö g l i c h k e i ten oder gesellschaftlichen Ressourcen dazu
führen, daß Prozesse der Konstruktion neuer
Bedeutungen in Gang gesetzt werden. Dies
24
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könnte wiederum zur Ä n d e r u n g von Anreizen
- i m Sinne des R C A - führen. Diese Anreize
haben wiederum eine Veränderung individueller Handlungen zur Folge, deren Koordination
zu bestimmten gemeinsamen Handlungen f ü h ren. Wenn dieses M o d e l l zutrifft, w ü r d e der
K A eine fruchtbare Ergänzung des R C A darstellen. Ergäbe sich ein direkter Effekt der 'Prozesse der Bedeutungskonstruktion' auf 'individuelles Handeln', dann w ü r d e der R C A w i derlegt.
2/94
scheidung f ü r legale oder illegale Formen politischen Handelns?
4. R e s ü m e e
Jeder Vertreter des 'Rational Choice'-Ansatzes wird einräumen, daß dieser Ansatz eine
Reihe ungelöster Probleme aufweist. Trotzdem
wird man diesen Ansatz dann zur Erklärung
sozialen Handelns anwenden, wenn es keinen
anderen Ansatz gibt, der dem R C A eindeutig
überlegen ist. In der Soziologie sozialer
Bewegungen ist ein solcher Ansatz nicht
in Sicht. Der gegenwärtig - neben dem
Abbildung 2: Eine Verbindung des "Rational Choice" und des
konstruktivistischen Ansatzes
R C A - dominierende Erklärungsansatz
ist die Perspektive der Ressourcen-Mobilisierung. D a die grundlegenden H y Veränderung von
Soziale BeweHandlungsmöglichgung/Gemeinpothesen dieses Ansatz die Theorie rakeilen/Ressourcen
sames politisches Handeln
tionalen Handelns ist, ist die Perspektive der Ressourcen-Mobilisierung keine
echte Konkurrenz f ü r den R C A . Der
konstruktivistische Ansatz ist, wie wir
sahen, bisher eher ein Forschungsprogramm als ein ausgereiftes und überProzesse
Veränderung
Individuelle
der Bedeu». von Nutzen
*• politische
prüftes theoretisches System, das eine
tungskonund/oder ErAktionen
Vielzahl ungelöster Probleme aufweist,
struktion
Wartungen
für die der 'Rational Choice'-Ansatz Lösungen bereitstellt. Es bleibt abzuwarten, inSo plausibel dieses M o d e l l auch auf den erwieweit der konstruktivistische Ansatz den von
sten B l i c k sein mag, die wichtigsten Fragen
ihm geäußerten Anspruch, eine überlegene A l sind ungeklärt: Welche A r t von Änderungen
ternative zum 'Rational C h o i c e ' - A n s a t z zu
von H a n d l u n g s m ö g l i c h k e i t e n führen zu welsein, empirisch belegen kann, oder ob die Vercher A r t von Bedeutungskonstruktionen? Weltreter des konstruktivistischen Ansatzes ihren
che Bedeutungskonstruktionen f ü h r e n zu welM u n d zu v o l l genommen haben.
chen Arten von Anreizen? (6) W i e löst der
K A d a s Mikro-Makro-Problem? Wenn eine Integration des K A und R C A entsprechend A b - Karl-Dieter
Opp ist Professor f ü r Soziologie
bildung 2 möglich ist, benötigt der K A keine an der Universität Leipzig
eigene L ö s u n g dieses Problems. (7) Inwieweit
kann der K A den E r f o l g sozialer Bewegungen
erklären und R ü c k w i r k u n g e n des Erfolges auf
das A u s m a ß politischen Engagements? Hierzu
liegen meines Wissens keine Forschungen vor.
(8) Inwieweit kann der K A spezifische Arten
politischen Handelns erklären, z . B . die Ent-
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Anmerkungen
V g l . zu diesem Postulat u.a. Wippler/Lindenberg 1987; Opp 1979, 1985, 1988; Raub/Voß
1981, Vanberg 1975.
Dieses Modell wird oft 'Rational Choice Theorie' oder auch 'Ökonomisches Modell' bzw. M o dell des 'homo oeconomicus' genannt. Der zuletzt genannte Ausdruck erklärt sich daraus, daß
das genannte Modell vorwiegend in der Wirtschaftswissenschaft angewendet wird. Das genannte Modell und eine Vielzahl von Erklärungsfragen, zu deren Lösung das Modell angewendet
wird, findet man in folgenden Schriften: Coleman
1990; Esser 1993; Frey 1990; Kirchgässner 1991;
Ramb/Tietzel 1993; Weede 1992.
Vgl. hierzu z.B. Schriften zur 'New Institutional
Economics'. Die Zeitschrift 'Journal of Theoretical and Institutional Economics', hrsg. von Rudolf Richter, Universität Saarbrücken, veröffentlicht jährlich ein Sonderheft, das grundlegende
Arbeiten dieses Ansatzes enthält.
V g l . hierzu insbes. Opp 1992; Opp, Voß/Gern
1993, Kap. X V ; Opp und Gern 1993.
V g l . zur Überprüfung und Bestätigung dieser
Überlegung Opp 1989 und die in Anmerkung 4
genannten Schriften.
V g l . hierzu Opp/Voß/Gern 1993, insbes. Kapitel
XI. Hier wird neben der Entstehung der spontanen Proteste erklärt, warum das SED-Regime nicht
entschieden hat, die Proteste niederzuschlagen.
Viele, dem R C A verpflichtete Untersuchungen
oder theoretische Überlegungen stammen von Politikwissenschaftlern oder Ökonomen. Aus Raumgründen sei hier auf die Übersicht bei Opp 1993
verwiesen. V g l . weiter das von J. Goldstone und
K . - D . Opp herausgegebene Sonderheft der Zeitschrift 'Rationality & Society' (Bd. 6, Heft 1,
1994).
V g l . hierzu und zum folgenden insbesondere die
Argumentation von Olson 1965.
' Eine Vielzahl von Argumenten werden diskutiert in Opp 1979. V g l . insbesondere die Diskussionen in der Zeitschrift 'Rationality and Society'1
2
3
4
5
6
7
8
V g l . für die Soziologie sozialer Bewegungen
z.B. Fireman und Gamson 1979 und meine Diskussion in Opp 1989.
Dies gilt z.B. für die Kritik von Ferree 1992.
Eine Diskussion kritischer Einwände von feministischer Seite findet man bei Friedman/Diem 1993.
10
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27
Richard Münch
Von der Moderne zur
Postmoderne?
S o z i a l e B e w e g u n g e n im P r o z e ß d e r M o d e r n i s i e r u n g
Einleitung
Soziale Bewegungen sind ein elementarer Bestandteil der Moderne. Ihnen verdankt sie einen erheblichen Teil ihrer Kraft der unablässigen Erneuerung, aber auch einen Teil ihrer
Beharrungskraft. In den sozialen Bewegungen
spiegelt sich auch das eigenartige Spannungsverhältnis von Moderne und Antimoderne. Beide sind unauflöslich in die Dialektik der M o dernisierung eingespannt, tragen selbst zur Entfaltung des modernen Lebens unter gleichzeitiger Zerstörung natürlicher und soziokultureller Lebenswelten bei und k ö n n e n das Programm der Moderne nur um den Preis ihres
Wandels zur wirklichen Postmoderne umschreiben. E i n tiefergehendes Begreifen der sozialen
Bewegungen der Gegenwart m u ß über die Spezialfragen der soziologischen Erklärung einzelner Aspekte hinausgehen und im Rahmen
einer Theorie der Moderne zu diesen Fragen
vorstoßen.
1.
Elemente einer Theorie sozialer
Bewegungen
Die Soziologie kann soziale Bewegungen aus
unterschiedlichen Perspektiven beleuchten, mit
den entsprechenden Paradigmen auch unterschiedliche Aspekte herausarbeiten und einem
Verständnis sowie einer Erklärung näherbringen. Strukturtheoretisch kann sie diese aus
Strukturwidersprüchen, strukturellen Spannungen oder Verwerfungen erklären, funktionalistisch als Reaktion auf funktionale Integrationsdefizite oder als Frühwarnsysteme, die eine
rechtzeitige Reaktion auf neue Probleme ermöglichen, deprivationstheoretisch unter dem
Gesichtspunkt der Reduktion von Deprivationen, ressourcentheoretisch im Hinblick auf die
Steigerung des Nutzens bei gegebenen Ressourcen und dargebotenen Alternativen, konflikttheoretisch in der Perspektive der Durchsetzung von Zielen mit gegebenen Machtmitteln innerhalb einer bestehenden Machtstruktur, verhandlungstheoretisch als kollektiven
Akteur in Verhandlungen mit politischen Instanzen unter Verwendung von Anreizen und
Macht, interaktionstheoretisch als Eingreifen
in den öffentlichen K a m p f um die Definition
der Situation, identitätstheoretisch als Identitätsabgrenzung und Identitätsbildung, aktionstheoretisch als Instrument der gesellschaftlichen Erneuerung und Selbstproduktion, kommunikationstheoretisch als Suche nach guten
Gründen f ü r neue Lebensformen, kulturtheoretisch als symbolhafte Repräsentation und als
avantgardistisches Einüben in neue Lebensformen (Smelser 1963; Obershall 1973; M c Carthy/Zald 1977; Wilson 1973; M ü l l e r / O p p
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28
1986; Jenkins 1983; Klandermans 1984; M c A dam 1982; Tilly 1978, 1985; Touraine 1977,
1981, 1985; Cohen 1985; O f f e 1985; Eder
1985; Gamson 1975; M e l u c c i 1985, 1989;
Brand 1982, 1985; Brand, Büsser und Rucht
1983; Schimank 1983; Japp 1984; Habermas
1981; Luhmann 1981, 1986).
Soziale Bewegungen haben viele Aspekte und
sind in viele Z u s a m m e n h ä n g e des gesellschaftlichen Lebens eingespannt. Deshalb können
sie auch sehr verschieden gedeutet und erklärt
werden, je nachdem, auf welchen Aspekt das
Erkenntnisinteresse abzielt. Ich streite keinem
der genannten A n s ä t z e einen Zugang zum Verstehen und Erklären sozialer Bewegungen ab.
Ich verleihe aber auch keinem von ihnen das
Prädikat der Vollständigkeit. Wer sich mit sozialen Bewegungen beschäftigt, wird deshalb
je nach Erkenntnisinteresse aus dem Arsenal
soziologischer Theorien schöpfen. D i e Theorien stehen in keiner wirklichen Konkurrenz
zueinander, sondern ergänzen sich, weil sie
sich auf ganz unterschiedliche Aspekte sozialer Bewegungen beziehen.
Wenn ich aus der Sicht eines neoparsonianischen Ansatzes einen Beitrag zu einer allgemeinen Theorie sozialer Bewegungen leisten
sollte, dann w ü r d e ich von dieser Multidimensionalität sozialer Bewegungen ausgehen und
den allgemeinen Bezugsrahmen dieses Ansatzes benutzen, um die verschiedenen Teiltheorien in ein geordnetes Ganzes einzufügen, in
dem ihre jeweilige Erklärungsleistung, die von
ihnen erfaßten Aspekte, ihre Relation zu anderen Aspekten und ihre Stellung im gesamten
G e f ü g e besser erkennbar werden. Der klassische Beitrag von Smelser w ü r d e in diesem
Bezugsrahmen auch nach Smelsers eigenem
Verständnis nur einen spezifischen Teil ausfüllen, in dem unser Interesse der Erklärung kollektiven Verhaltens als Reaktion auf strukturelle Spannungen unter Berücksichtigung der
2/94
verfügbaren Mittel, der Motivation, der Normen und Werte des Handelns gilt (Smelser
1963). A u f dem Wege der Entwicklung einer
allgemeinen Theorie sozialer Bewegungen
durch das Z u s a m m e n f ü g e n der verschiedenen
Ansätze innerhalb eines allgemeinen Bezugsrahmens werden die einzelnen A n s ä t z e auf die
von ihnen am besten erfaßten Aspekte zugespitzt. Zugleich wird aber auch der allgemeine
Bezugsrahmen in seinem Bedeutungsgehalt
und seiner Erklärungsreichweite verändert und
fortentwickelt. Ich habe diese Art des Theoriebaus an anderen Stellen verfolgt (Münch
1982/1988, 1994; v g l . Parsons 1937/1968,
1967,1969,1977,1978) und w i l l sie hier nicht
im einzelnen in bezug auf eine allgemeine
Theorie soziale Bewegungen ausführen. Statt
dessen m ö c h t e ich einer begrenzteren und thematisch zugespitzteren Fragestellung nachgehen, die nicht weniger wichtig ist. Es handelt
sich dabei nicht um eine allgemeine Theorie
sozialer Bewegungen, sondern um den Versuch, soziale Bewegungen im Rahmen einer
Theorie der Moderne in ihrem Sinn zu verstehen, in ihrer Bedeutung zu erfassen, ihr A u f treten zu erklären und ihre Wirkungen abzuschätzen. Dabei interessieren mich soziale Bewegungen als aktiver Teil des Modernisierungsprozesse, und ich suche die Erklärung ihres
Auftretens in der Dialektik der Modernisierung und das Verstehen ihres Sinnes in der
Spannung zwischen Moderne und Tradition,
Moderne und Antimoderne ( M ü n c h 1991/
1992a, 1984/1992c, 1986/1993a, 1993b; v g l .
Weber 1920/1972; Parsons 1971).
2.
Soziale B e w e g u n g e n : modern und
antimodern
Soziale Bewegungen sind ein nicht wegzudenkender Bestandteil der Moderne. Sie treten
überhaupt nur in der Moderne auf, haben nur
hier einen legitimen Platz. Sie können Bewegungen der Modernisierung, aber auch anti-
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moderne Bewegungen der Re-Traditionalisierung sein.
Modernisierungsbewegungen stützten sich auf
die allgemeine, von der A u f k l ä r u n g inthronisierte Idee einer Gesellschaft der Freiheit, der
gleichen Rechte f ü r alle, der unablässigen
Wohlstandsmehrung und der Gesellschaftsgestaltung nach den universellen Maßstäben der
Vernunft. A l s Inklusionsbewegungen zielen sie
auf die E r k ä m p f u n g gleicher Rechte für bislang benachteiligte oder ausgeschlossene Gruppen der Gesellschaft. Ihr Z i e l ist die Inklusion
in die freie Bürgergemeinschaft. Angefangen
mit der Bewegung des Bürgertums und der
bürgerlichen Revolution haben immer wieder
neue Inklusionsbewegungen die Verwirklichung der Idee einer freien Gemeinschaft von
Bürgern mit gleichen Rechten vorangetrieben:
die Arbeiterbewegung, die Frauenbewegung,
die B ü r g e r r e c h t s b e w e g u n g der Schwarzen in
den U S A , Bewegungen anderer ethnischer
Minderheiten, regionalistische Bewegungen
und die Bewegungen von Homosexuellen, Lesben und Alten. D i e Virulenz und Lebensdauer
dieser Bewegungen hängt davon ab, wie v o l l ständig ihr Inklusionsbestreben verwirklicht
wurde. Je mehr dies der F a l l ist, um so mehr
erlahmen sie. Solange g e n ü g e n d Diskrepanz
zwischen legitimen Rechten und gesellschaftlicher Realität besteht, können die Bewegungen ihre Mitgliedermobilisierung auf das Gruppeninteresse an Inklusion und ihre gesellschaftliche Anerkennung auf die allgemein verbrieften Rechte gründen.
Von den Inklusionsbewegungen sind Prinzipienbewegungen als weitere Modernisierungsbewegungen zu unterscheiden. Diese setzen
sich f ü r die Verwirklichung der allgemeinen
Leitideen der Moderne ein, von denen alle
Mitglieder der Gesellschaft zumindest in bestimmten Rollen - z . B . als Konsumenten oder
als Erholungssuchende - profitieren und nicht
29
nur spezifische Gruppen. Dazu zählen Verbraucherschutzbewegungen, A n t i - A K W - B e w e g u n gen, Umweltschutzbewegungen, Naturschutzbewegungen, Ö k o l o g i e b e w e g u n g e n und Friedensbewegungen. Diese Prinzipienbewegungen
können sich auf ein breites Interesse und auf
allgemeingültige Leitideen berufen. D a sie jedoch keine spezifische Gruppe ansprechen, die
sich im K a m p f gegen andere Gruppen formieren kann, und da die entsprechenden Interessen auch mit anderen Interessen kollidieren,
wirkt sich das Gesetz der großen Z a h l besonders kraß aus: A l l e sind interessiert, aber niemand ist motiviert, etwas zu tun, weil der E f fekt von Einzelbeiträgen verschwindend gering ist (Olson 1965). Initiativgruppen können
nur einen kleinen Teil der Interessenten f ü r
begrenzte Zeit mobilisieren. D a f ü r handelt es
sich um Prinzipien, die nie vollständig in die
Tat umgesetzt werden können, so d a ß immer
wieder A n l a ß f ü r die Mobilisierung von U n terstützung gegeben ist. Für diese Bewegungen ist es deshalb typisch, daß sie in Wellen
auftreten.
Modernisierungsbewegungen entstehen aus
dem Grundwiderspruch zwischen den kulturellen Leitideen der Moderne und der davon
abweichenden Realität. Im Unterschied z u den
traditionalen Gesellschaften, in denen Kultur
und Gesellschaft, Leitidee und Realität in eins
zusammenfallen und deshalb kein legitimes
Motiv der Veränderung und Entwicklung existiert, greifen in modernen Gesellschaften seit
der A u f k l ä r u n g die kulturellen Leitideen stets
über die real existierende Gesellschaft hinaus.
Daraus resultiert ein ständiger Druck der Veränderung in die Richtung der A n n ä h e r u n g an
die kulturellen Leitideen. W ä h r e n d die konservativen Kräfte die kulturellen Leitideen benutzen, um die bestehenden Institutionen der
Gesellschaft zu legitimieren, stützen sich die
sozialen Bewegungen auf dieselben Leitideen,
um die Illegitimität bestehender Institutionen
30
nachzuweisen. D i e moderne Gesellschaft ist
deshalb durch den unauflöslichen K a m p f z w i schen beharrenden und bewegenden, konservativen und progressiven, orthodoxen und heterodoxen K r ä f t e n geprägt. Verfestigungen früherer Modernisierungen geraten in Widerspruch
zu neuen, extensiveren Auslegungen der kulturellen Leitideen und werden zum Objekt neuer Modernisierungsbewegungen. Modernisierung baut auf vorausgegangener Modernisierung auf. Wenn man so w i l l , kann man diesen
Vorgang als reflexive Modernisierung
bezeichnen.
Antimoderne Bewegungen wehren sich gegen
die A u f l ö s u n g traditionaler Lebenswelten und
G l a u b e n s b e s t ä n d e durch die umfassende Ö k o nomisierung, Politisierung und Rationalisierung (Säkularisierung) des modernen Lebens.
Sie involvieren meist Gruppen, die von der
Modernisierung in ihrem Status bedroht werden. Sie treten vor allem dann auf, wenn neue
Schübe der Modernisierung besonders kraß und
schnell traditionelle Autoritätsverhältnisse, Besitzstände, Lebensweisen, Solidargemeinschaften, Wissens- und Glaubensbestände zu verdrängen drohen:
- Kleinbürgerliche Schichten: Bewegungen des
Handwerks gegen die Industrie, des Kleingewerbes und Kleinhandels gegen große Gewerbefirmen, Handelsketten und Warenhäuser. Sie
suchen Bestandsschutz durch Konkurrenzminderung;
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- Bildungsschichten: Bewegungen gegen die
Kommerzialisierung der Kultur, die Verdrängung der Hochkultur durch die Massenkultur,
gegen den sozialen Abstieg des Bildungsbürgertums durch die Entwertung von Bildungszertifikaten im Zuge der Demokratisierung und
Verfachlichung der Bildung. Bewegungen gegen die Verdrängung des Kulturwissens durch
technisches Fachwissen. Sie zielen auf die Bewahrung des klassischen Kulturwissens;
- Regionale Gruppen: Bewegungen gegen die
Kolonialisierung der Peripherien durch die Industrie und Verwaltung des Zentrums, gegen
industrielle Konkurrenz, politische Zentralisierung und kulturelle Vereinheitlichung, gegen
die A u f l ö s u n g traditionaler Solidaritäten, gegen die Überlagerung durch die Zuwanderung
von Führungsschichten aus dem Zentrum. Ihr
Z i e l ist die Verteidigung der regionalen Identität gegen die Überlagerung durch das Zentrum;
- Statusgefährdete Gruppen aller Schichten:
Bewegungen gegen die Globalisierung der ökonomischen, politischen, solidarischen und kulturellen Verflechtungen, gegen Zuwanderung
und Ü b e r f r e m d u n g . Sie fordern die Abschließung der Nation nach außen;
- Arbeiterschichten: Albeiterbewegungen gegen technische Rationalisierungen, die Arbeitsplätze beseitigen. Sie streben nach Arbeitsplatzgarantien;
- Traditionale Gemeinschaften, Nachbarschaftsgemeinschaften: Bewegungen gegen die
Verdrängung von traditionalen Gemeinschaften durch die moderne Gesellschaft im Zuge
von Schüben der Kommerzialisierung, Politisierung, Rationalisierung, Verrechtlichung und
Individualisierung. Ihr Bestreben ist die Erhaltung traditionaler Lebenswelten gewachsener Gemeinschaften.
- Industrielle Schichten: Bewegungen gegen
die wachsende Konkurrenz von außen. Sie
wollen Kontingentierung, Protektion, Subventionen, Bestandsgarantien, Standortvorteile;
Soziale Bewegungen haben ü b e r w i e g e n d moderne Ziele oder ü b e r w i e g e n d antimoderne.
Sie können aber auch beide in unterschiedlicher Gewichtung in sich vereinigen. Aber was
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ist modern, was antimodern? Modern ist der
ständige Ausbau von Freiheitsrechten, Gleichheitsrechten, Wissen und technischer Beherrschung der Welt einhergehend mit einem wachsenden materiellen Wohlstand. Dieses Fortschrittsprogramm ist von der A u f k l ä r u n g formuliert und von sozialen Bewegungen, ausgehend von den bürgerlichen Revolutionen, i m mer weitergehender eingefordert worden. A n timodern ist dagegen das Festhalten an den
Formen des traditionalen Lebens und seinen
Besitzständen, Autoritätsverhältnissen, Solidargemeinschaften, Glaubens- und Wissensbeständen. Antimoderne Bewegungen k ä m p f e n für
die Bewahrung oder Wiederherstellung traditionaler Gemeinschaftsbeziehungen gegen moderne Gesellschaftsbeziehungen (Tönnies 1887/
1963).
Inklusionsbewegungen sind in dem M a ß e modern, in dem sie gleiche Rechte f ü r alle einfordern, deren Wahrnehmung eine Sache der einzelnen Individuen ist, von deren Leistung es
abhängt, was sie daraus machen. Sie sind antimodern, wenn sie den Status der ganzen Gruppe gegen Konkurrenz durch die feste Zuteilung von Privilegien, unabhängig von individuellen Leistungen anstreben.
- Eine Druckergewerkschaft, die einen Sozialplan f ü r die Opfer des technischen Strukturwandels e r k ä m p f t , der auf das Umlernen und
den Erwerb neuer, gefragter Qualifikationen
abzielt, handelt modern. Sie agiert antimodern,
wenn sie eine Arbeitsplatzgarantie durchsetzt,
die eine Unterbindung der technischen Rationalisierung zur Folge hat;
- Eine regionalistische Bewegung, die Rechte
der Selbstbestimmung erstreitet, ist modern,
wenn dies eine Dezentralisierung und Föderalisierung des politischen Entscheidungsprozesses mit erweiterten Partizipationschancen impliziert. Sie wird antimodern, wenn sie die
31
Verfügung über Rechte an die ethnische Zugehörigkeit bindet und andere Gruppen davon
ausschließt. Sie ist antimodern, wenn die ethnische Zugehörigkeit als Zugang zu Privilegien dient. W i l l die Bewegung ihr traditionales
Leben gegen das Eindringen der fortgeschrittenen Zentrumskultur verteidigen, dann stellt
sie sich antimodern dar;
- Die Frauenbewegung ist modern, wenn sie
den Frauen dieselben Rechte erschließt, wie
sie auch Männern offenstehen. Sie wird antimodern, wenn sie an das Frausein Privilegien
knüpft, die Männern nicht zugänglich sind;
- Es ist modern, Berufspositionen oder Sitze
in Ausschüssen und Parlamenten allen Gruppen zu öffnen. Es ist antimodern, diese Positionen von vornherein nach einem Quotensystem zu vergeben.
Die Formel „Bei gleicher Qualifikation erhält
der Bewerber der Gruppe x, y oder z den Vorzug" wirkt antimodern, wenn sie den Suchprozeß nicht so weit führt, bis ein Kandidat
seine bessere Qualifikation f ü r eine bestimmte
Position bewiesen hat, sondern vorzeitig abbricht. Dies kann dazu führen, d a ß schon auf
einem sehr niedrigen Niveau der Qualifikation
die Gleichheit festgestellt wird und darüber
hinausgehende Unterschiede unter den Tisch
fallen.
A u c h Prinzipienbewegungen gegen allgemeine Gefährdungen, die vom Modernisierungsprozeß erzeugt werden, können moderne und
antimoderne Elemente enthalten. Eine Bewegung gegen den Bau einer Autobahn ist insofern modern, als sie die Rechte der Anwohner
auf körperliche Unversehrtheit und auf eine
gesunde, auch Erholung e r m ö g l i c h e n d e U m welt schützt. Sie ist insofern antimodern, als
sie die davon betroffene Region vom allgemeinen Wirtschaftsverkehr abschneidet, ihren
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32
ländlichen Charakter bewahrt und die Bevölkerung vom Wohlstandswachstum fernhält.
3.
Die Dialektik der Modernisierung
A l l e Modernisierung wird von der unauflöslichen Spannung zwischen guten Leitideen und
schlechter Wirklichkeit in Bewegung gehalten. Im Lichte der großen Ideen der A u f k l ä rung herrscht immer zu wenig Freiheit, Gleichheit, Wissen, Beherrschung der Welt und Wohlstand. Dies ist die nicht versiegende Quelle
aller sozialen Bewegungen. Zugleich wird die
u n a u f h ö r l i c h e Modernisierung von der Beharrungskraft traditionaler Bestände und konservativer K r ä f t e und - wenn besonders krasse
und schnelle Veränderungen drohen - von antimodernen Bewegungen gebremst. A u c h moderne Gesellschaften verdanken ihre Stabilität
der Erhaltung traditionaler Bestände. Ohne diese B e s t ä n d e w ü r d e n sie in einen Strudel der
ungebremsten Modernisierung gerissen, dem
sie hilflos ausgesetzt wären. Vor allem treibt
die ungebremste Modernisierung die Paradoxien der Moderne auf die Spitze: Neue Freiheitsrechte schaffen neue Zwänge, Gleichheitsrechte neue Ungleichheiten, neues Wissen zugleich Nichtwissen, Techniken der Weltbeherrschung auch unbeherrschbare Risiken, Wohlstandsmehrung zugleich Wohlstandseinbußen
( M ü n c h 1991/1992a, S. 27-48).
Die E n t w i c k l u n g der Moderne ist zunächst
durch Inklusionsbewegungen bestimmt worden, die den Fortschritt vorangetrieben haben.
Jetzt werden die Paradoxien immer erkennbarer. Dementsprechend breiten sich Bewegungen aus, die einen A u s w e g aus den Paradoxien
suchen. Gerade sie enthalten in erheblichem
M a ß e auch antimoderne Elemente, und das
nicht z u unrecht.
Durch den P r o z e ß der Globalisierung wird das
moderne Leben immer mehr aus traditional
2/94
gefestigten Beständen herausgerissen und in
globale Wirtschaftskreisläufe, politische Ents c h e i d u n g s z w ä n g e , S o l i d a r i t ä t s g e b o t e und
K o m m u n i k a t i o n s s t r ö m e hineingezogen. D a durch wachsen die Anforderungen an die Persönlichkeit des Menschen. Moderne Menschen
müssen so viel Persönlichkeit entwickeln, daß
sie sich außerhalb jeglicher ursprünglichen
Gruppenbindung völlig frei gegen Konkurrenz
behaupten, an Entscheidungen teilnehmen, sich
vereinigen und kommunizieren können. Wer
hier nicht mitkommt, wird an den Rand gespült und zum potentiellen Mitläufer radikaler
antimoderner Bewegungen im G e w ä n d e neu
erwachender Regionalismen und Nationalismen gemacht.
Durch die globalen Verflechtungen setzt sich
der Prozeß der Zerstörung gewachsener L e benswelten in steigendem Tempo, zunehmendem U m f a n g und größer werdender Brutalität
fort. Das gilt sowohl f ü r die natürlichen L e bensgrundlagen als auch f ü r die soziokulturellen Lebenswelten. Lokale M ä r k t e sind mehr
und mehr durch regionale, dann durch nationale Märkte ersetzt worden, die jetzt der vollen Entfaltung des europäischen Binnenmarktes und des Weltmarktes weichen m ü s s e n . D a mit einher geht eine explosionsartige Vermehrung, Globalisierung, Verdichtung und Beschleunigung der Verkehrs- und K o m m u n i k a tionsströme. W i r überziehen Europa im Zuge
der Binnenmarktintegration und die ganze Welt
im Zuge der globalen M a r k t - und K o m m u n i kationsentwicklung mit einem immer dichteren Netzwerk von Verkehrs- und K o m m u n i k a tionswegen zu Lande, zu Wasser und in der
Luft, während das natürliche Leben unter A s phalt, Giftwolken, L ä r m t e p p i c h e n und Satellitenkreisläufen begraben wird. Zugleich werden die lokalen, regionalen und nationalen L e benswelten durch die Herausbildung eines globalen, vom sogenannten Jet-Set vorgelebten
und von der Werbeindustrie massenhaft ver-
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breiteten Lebensstils der rastlosen Erlebnishatz und des totalen Konsums verdrängt.
Soziale Bewegungen, die sich gegen diese Flutwelle der Modernisierung wenden, werden
z w a n g s l ä u f i g in die E c k e einer verspäteten
Romantik verwiesen. A l l e i n schon durch den
drohenden Verlust v o n Arbeitsplätzen und materiellem Wohlstand werden sie plattgemacht,
wenn ihre Konzepte verwirklicht werden sollen. Sie sind dem D i l e m m a ausgesetzt, daß die
Moderne zwar stets durch Tradition und antimoderne Bewegungen in ihrem Tempo gebremst, aber anscheinend nicht gestoppt werden kann. D i e Entwicklung der Moderne ist
ein unablässiger Prozeß der Zerstörung des
kleinräumigen und vertrauten Lebens durch
die Expansion der großräumigen und unvertrauten Verflechtungen, der B e f r e i u n g von
kleinräumigen Z w ä n g e n durch den A u f b a u
großräumiger Z w ä n g e , der Entlastung durch
neue Belastungen ( M ü n c h 1993b).
4.
Im S p a n n u n g s f e l d von
Entfaltung und Z e r s t ö r u n g :
Soziale B e w e g u n g e n
der Gegenwart
Die sozialen Bewegungen der Gegenwart sind
zunächst einmal Gegenbewegungen gegen den
Zerstörungsprozeß der Moderne und Suchbewegungen nach neuen Konzepten, mit denen
die Moderne dem Teufelskreis von Entwicklung und Zerstörung entkommen kann. A l s
Bremser leisten sie ihren Beitrag zur Stabilisierung des modernen Lebens. Können sie aber
auch den weitergehenden Anspruch einlösen,
neue Lebensformen zu entwickeln, die aus dem
Teufelskreis h e r a u s f ü h r e n ? Nichts deutet bislang darauf hin. Sie sind ein Bestandteil der
Moderne und können deshalb nicht über sie
hinausführen. A u c h die zunehmende Demokratisierung durch neue Formen der Partizipation löst die Dialektik von Entfaltung und Zer-
33
störung in der Moderne nicht auf. Im Gegenteil, je mehr Menschen immer mehr Rechte
wahrnehmen, um so mehr beschleunigen sie
den Entfaltungs- und Zerstörungsprozeß. Über
die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen läßt sich noch leicht ein allgemeiner K o n sens erzielen, aber viel weniger über den Weg
zu diesem Z i e l und über die Verteilung des
notwendigen Verzichts auf Rechte der U m weltnutzung. Das D i l e m m a der gegenwärtigen Moderne spitzt sich in dem Widerspruch
zu, daß w i r noch damit beschäftigt sind, Rechte auszubauen, wo sie schon längst wieder eingeschränkt werden müßten, wenn der Zerstörungsprozeß der Moderne in Grenzen gehalten
werden soll.
Betrachten w i r allein das gewaltige Wachstum
der Verkehrsströme. Sie sind ein Ergebnis der
Globalisierung von Märkten, der wachsenden
und der damit einhergehenden massenhaften
materiellen Wahrnehmung von Rechten in
Form von Mobilität zu Zwecken des Erlebens,
der Neugierbefriedigung, des Zusammenseins
mit anderen Menschen, der Erholung, der B i l dung usw. Das Wachstumsmodell der modernen Wirtschaft ist d a f ü r das Paradigma. Es
erlaubt die Einkommenssteigerung von K a p i tal und Arbeit zugleich. Wir erkennen mittlerweile jedoch mehr und mehr, daß dieses M o dell nicht allgemeingültig ist, daß aus der massenhaften Wahrnehmung von Rechten Belastungen hervorgehen, die uns die Grenzen des
Wachstumsmodells aufzeigen. Nach der unablässigen Expansion von Rechten ist ihre Neuordnung und Einschränkung gefragt. D i e Frage ist nur: wie und mit welchen Konsequenzen?
Wir haben ein Wohlstandsniveau erreicht, auf
dem wir in der Wahrnehmung verbürgter Rechte die Zerstörung der natürlichen und soziokulturellen Lebenswelten in einem wachsenden Tempo betreiben. Nehmen w i r den mo-
34
demen Tourismus als Beispiel. E r überzieht
die Erde mit einem zunehmend lärmenden,
Abgase produzierenden und erderwärmenden
Tempo, macht im Zuge des Autobahnausbaus,
Hotel- und Appartementsbaus ganze Regionen
platt, hinterläßt nicht mehr zu bewältigende
M ü l l b e r g e und Abwässer, gräbt ganzen Regionen das Grundwasser ab und erdrückt gewachsene Lebenswelten unter Lawinen von neugierigen und genußsüchtigen Touristen. Kann die
Ö k o l o g i e b e w e g u n g etwas gegen diese Entwicklung ausrichten? Sie kann sie nur abbremsen, aber nicht aufhalten. Warum? Letztlich,
w e i l das Programm der Moderne auf Expansion ausgerichtet ist. D i e Moderne gerät in verschärftem M a ß e in das sogenannte CommonsDilemma (Hardin 1968): A l l e profitieren z . B .
vom expandierenden Tourismus nach subjektiver Nutzenkalkulation, am Ende berauben
sich jedoch alle ihrer Lebensgrundlagen. Profiteure des Tourismus sind die Touristen selbst,
die Tourismusindustrie, vom Parkwächter am
Flughafen ü b e r die Barfau an der Flughafenbar, die Stewardessen, die Z i m m e r m ä d c h e n ,
die Hotelmanager oder kleinen Pensionsinhaber bis zu den Campingplatzverwaltern sowie
alle indirekt damit z u s a m m e n h ä n g e n d e n Industrien, Handwerksberufe und Gewerbe. Es wird
schwierig sein, einen Wirtschaftszweig zu f i n den, der keinen Profit aus dem Tourismus saugt,
bis hin zum Sachbuchautor, der über schöne
Reisen berichtet oder auch vor den bösen F o l gen des Tourismus warnt. Jeder lebt unmittelbar oder mittelbar vom Tourismus. Zugleich
leidet jeder direkt oder indirekt unter seinen
Begleiterscheinungen und Folgen. Trotzdem
entstehen nur in extremen A u s n a h m e f ä l l e n
Motive zur Veränderung der Situation. Für den
einzelnen stellt sich die Situation so dar, daß
er z . B . den L ä r m t e p p i c h der Urlauberjets zu
ertragen hat. Sein eigener Verzicht auf den
Flug in den Urlaub ändert daran jedoch nichts.
Für alle einzelnen sind die sogenannten Transaktionskosten zu groß, wenn sie etwas gegen
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die Zerstörung der Lebenswelten durch den
Tourismus unternehmen wollen, d.h. sie m ü s sen stets mehr Zeit und Energie aufwenden,
als sie an Belohnungen in Form einer E i n schränkung des Tourismus zurückerhalten ( O l son 1965).
Hier können Bürgerinitiativen und Umweltorganisationen - z . B . Greenpeace, R o b i n Wood
oder World Wildlife Fund - durch unternehmerische Initiative dazu beitragen, daß Ressourcen mobilisiert und zusammengelegt werden, mit denen dann größere Effekte erzielt
werden können, als wenn einzelne Akteure auf
sich allein gestellt bleiben. Moralische Unternehmer (Giesen 1983) im Bereich des U m weltschutzes zeichnen sich durch eine stärkere
Fixierung auf das Z i e l des Umweltschutzes
aus als Durchschnittsbürger. Sie ziehen allein
aus der Hingabe an die Aufgabe eine hohe
Befriedigung. Durch ihre Vorleistung senken
sie die „Transaktionskosten" f ü r jene Durchschnittsbürger, die mit kleinen Einlagen in das
Unternehmen - durch Geldspenden oder Teilnahme an einzelnen Aktionen - größere E f fekte erzielen können, als wenn sie allein handeln würden. Moralische Unternehmer verändern die Situation so, daß es sich nunmehr für
eine gewisse Zahl von Durchschnittsbürgern
lohnt, sich zu engagieren. Schon der A u f r u f zu
einer Demonstration durch eine Initiativgruppe verläuft nach diesem Muster. Je mehr die
Initiativgruppe ihre Aktivitäten erweitert und
sich mit anderen Initiativgruppen verständigt
und zusammenschließt, um so mehr kann sich
aus gelegentlichen Aktivitäten eine Bewegung
entwickeln. D i e G r ü n d u n g einer Organisation
stellt die Bewegung auf Dauer. D i e Organisation kann mit H i l f e von einzelnen Aktivitäten
die Bewegung immer wieder aus der Latenz
herausholen und in das B e w u ß t s e i n der Bevölkerung bringen.
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A u f diese Weise mag eine soziale Bewegung
lokal den B a u einer Bergbahn, eines Appartementskomplexes oder eines Golfplatzes verhindern, national die Verschärfung der Grenzwerte von Schadstoffen bewirken, global Gespräche über Abkommen zwischen Staaten zum
Klimaschutz oder Artenschutz in Gang bringen und das B e w u ß t s e i n der Bevölkerung f ü r
„ U m w e l t s ü n d e n " schärfen. D i e d a f ü r erforderlichen Entscheidungen k ö n n e n sie jedoch nur
in Konkurrenz zu anderen Präferenzen von
Bevölkerungen und Staaten herbeiführen. In
demokratischen Gesellschaften m ü s s e n sie
Mehrheiten gewinnen. Das können sie nur,
wenn sie eine überzeugende Alternative anbieten. Innerhalb der westlichen Kultur kann
diese Alternative nicht in der bloßen Botschaft
der Einschränkung bislang beanspruchter Rechte bestehen, w e i l das Bewußtsein der M e n schen auf die kontinuierliche Erweiterung von
Rechten eingestellt ist. Deshalb ist alle erfolgreiche Politik bislang darauf ausgerichtet, den
Umweltschutz als Unterprogramm der Wohlstandssteigerung zu propagieren. Wirtschaftliches Wachstum erlaubt es, auch größere Summen f ü r den Schutz der Umwelt aufzuwenden.
„Wer reich ist, kann sich auch mehr Umweltschutz leisten", so lautet die liberale Erfolgsformel. Das wird durch den Vergleich z w i schen armen und reichen Ländern sogar bestätigt. Es darf allerdings nicht weiter nach den
Ursachen gefragt werden, wenn diese These
Bestand haben soll. D i e reicheren Länder müssen natürlich auch deshalb mehr Umweltschutz
betreiben, w e i l sie die Umwelt in größerem
M a ß e belasten und von aktiveren Umweltschutzbewegungen dazu getrieben werden. Die
größten Umweltbelastungen werden jedoch von
denjenigen L ä n d e r n verursacht, die dem
Wachstumsmodell der reichen Länder nacheifern, ohne deren Produktivität auch nur annäherungsweise zu erlangen. Von Ländern, die
nicht den Weg zum Wohlstandsmodell der
Moderne beschreiten und auf dem Niveau der
35
Subsistenzwirtschaft stehenbleiben, geht die
geringste Belastung der U m w e l t aus. D a jedoch das Projekt der Moderne den Erdball
umspannt, kann sich keine Gesellschaft ihrem
Sog entziehen. Dieser Prozeß wird jetzt i m mer schärfer durch den Teufelskreis von Entwicklung und B e v ö l k e r u n g s v e r m e h r u n g bestimmt. D i e ersten Schritte der Entwicklung
lassen die Bevölkerung exorbitant wachsen,
so daß immer weitere und weitergehende Entwicklungsschritte erforderlich werden. D i e
Entwicklungsländer entwickeln sichjedoch viel
langsamer, als sich ihre Bevölkerung vermehrt.
Für den größten Teil der Weltbevölkerung bedeutet dies auf absehbare Zeit ein Leben in
Armut angesichts des Reichtums der fortgeschrittenen Industriegesellschaften. Für M a ß nahmen zum Schutz der Umwelt bleibt da wenig übrig.
Wenn in dieser Situation die Ö k o l o g i e b e w e gung in den fortgeschrittensten Industrieländern die neue Bescheidenheit, den Verzicht
und den neuen Einklang mit der Natur predigt,
dann ist dies - weltweit gesehen - ein w i n z i ger Tropfen auf den heißen Stein. Ihr Z i e l kann
sie auf absehbare Zeit vor allem deshalb nicht
erreichen, weil dies nur mit einem Umschreiben des kulturellen Programms der Moderne
auf die Antimoderne möglich wäre: von der
Erweiterung zur Einschränkung von Rechten.
Wer läßt sich aber Rechte nehmen, die ihm
bislang als sakrosankt garantiert wurden, z . B .
das Recht auf unbegrenzte Mobilität? D i e Frage ist, wie die moderne Gesellschaft von E x pansion auf Schrumpfen umgestellt werden
kann. Wenn w i r z . B . die erwähnte Zerstörung
natürlicher und soziokultureller Lebenswelten
nicht wollen, dann m ü ß t e der Massentourismus erheblich zurückgefahren werden. Daran
wagt jedoch kaum jemand zu denken. Im G e genteil, die Entwicklung ist uneingeschränkt
auf weitere Expansion ausgerichtet (Steger
1993). Nach der Entwicklungslogik der M o -
36
derne werden sich die gegenwärtig von der
World Tourism Organization
jährlich gezählten T o u r i s t e n a n k ü n f t e von bald 500 Millionen
auf f ü n f und mehr Milliarden steigern (United
Nations 1992, S. 692, 724, 968). Wie sollen
deren Auswirkungen durch rein technische Verbesserungen in Grenzen gehalten werden? Das
ist schlicht undenkbar. Zumindest die Zerstörung der gewachsenen soziokulturellen Lebenswelten und eine weitere Destabilisierung des
sozialen Lebens ist zu erwarten. Trotzdem gibt
es keine Alternative zum gegenwärtigen Massentourismus, die i m Rahmen des modernen Denkens akzeptiert werden könnte. E i n
Z u r ü c k f a h r e n des Massentourismus w ü r d e
massenhaft Arbeitsplätze vernichten und den
materiellen Lebensstandard in nicht vorstellbarem A u s m a ß zurückschrauben. In den Zentren des Massentourismus sind die alten Formen der Subsistenzwirtschaft längst verschüttet worden und nicht mehr wiederzubeleben.
Aber auch zu den unzähligen Arbeitsplätzen
in allen Wirtschaftszweigen, die mittelbar vom
Tourismus leben, bieten sich keine gleichwertigen Alternativen an. Welche Arbeitsplätze sollen an deren Stelle treten? In großem U m f a n g
könnte der Verlust an Arbeitsplätzen nur durch
die neue Aufteilung der verbliebenen Arbeitsplätze unter der arbeitsfähigen Bevölkerung
kompensiert werden. In den fortgeschrittenen
Gesellschaften m ü ß t e aufgrund ihrer hohen
Produktivität ein Arbeitsplatz von mehr Personen als zuvor besetzt werden, sollen die A r beitslosenzahlen nicht gewaltig steigen. Der
A u f b a u neuer Arbeitsplätze m ü ß t e außerdem
strengen Kriterien gehorchen: keine materiellen Produkte, die den M ü l l vermehren, die
Umwelt vergiften und Lärm verursachen; z.B.:
Nachbarschaftsvereine gründen, die gegen Entgelt M ä r c h e n s t u n d e n , Gesprächsrunden, K i n derspiele, T h e a t e r s t ü c k e , S p o r t w e t t k ä m p f e ,
Singen und M u s i z i e r e n organisieren. M a n
könnte aber auch schlicht auf neue Arbeitsplätze verzichten, weil die neue Philosophie
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des Verzichts ein erhebliches Schrumpfen der
Einkommen erlaubt, ohne d a ß dies als Verlust
empfunden wird: Wer kein Zweitauto braucht
und nicht in die Karibik fliegen w i l l , kommt
auch mit weniger Einkommen aus.
Stellen wir uns vor, eine kleine Gemeinde, die
bislang vom Tourismus gelebt hat, w ü r d e ihr
Expansionsprogramm auf R ü c k b a u umschreiben. D i e Folgen w ä r e n abnehmende Konkurrenzfähigkeit gegenüber anderen Ferienzielen,
sinkende Übernachtungszahlen, schrumpfende Einkommen, Schließung von Restaurants
und Entlassung von Personal, das sich anderenorts nach neuen Stellen umsehen müßte.
A u f begrenztem Niveau des Lebensstandards
könnte die Gemeinde überleben. Sie wäre jedoch nach wie vor den Negativeffekten der
Expansion anderer Regionen ausgeliefert, z . B .
der Umweltvergiftung durch Abgase, dem
Lärm durch steigenden Flugverkehr, den K l i maveränderungen. E i n nachhaltiger Wandel
könnte nur auf nationaler Ebene und dies auch
nur begrenzt erfolgen, weil die nationale Gesellschaft der internationalen Konkurrenz und
den Auswirkungen des internationalen Wirtschaftswachstums ausgesetzt ist. A u f nationaler Ebene m ü ß t e n Mehrheiten f ü r ein Programm des Verzichts gefunden, auf internationaler Ebene entsprechende Absprachen getroffen werden. Hier stellt sich jeweils das Problem, daß niemand von sich aus motiviert sein
wird zu verzichten, wenn daraus überhaupt
kein subjektiver Gewinn hervorgeht. Das wird
nur dann der F a l l sein, wenn im Gefolge von
A u f k l ä r u n g s k a m p a g n e n sozialer Bewegungen
die Bereitschaft wächst, kollektiv bindende nationale Mehrheitsentscheidungen und globale
Absprachen zu akzeptieren, die zu einem solchen Verzicht zwingen.
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5.
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K ö n n e n soziale Bewegungen
das P r o g r a m m der Moderne
umschreiben?
Bs w i r d eine g r o ß e Rolle spielen, ob der abverlangte Verzicht als gerecht empfunden wird.
Grundsätzlich wird eine konsequente Umweltpolitik den Zugang zu den natürlichen und
sozio-kulturellen Umwelten limitieren müssen.
Welche Kriterien des Zugangs werden dabei
als gerecht anerkannt, welche als ungerecht
abgelehnt? K a n n darüber überhaupt Übereinstimmung erzielt werden, oder m u ß diese Frage dem politischen K a m p f um Mehrheiten allein überlassen bleiben? S o l l der Zugang zur
Umwelt gleich verteilt werden, unabhängig
vom v e r f ü g b a r e n Einkommen, oder soll er einfach an Zahlungen gebunden werden? Wenn
wir nicht auch das Leistungsprinzip der Marktwirtschaft über Bord werfen wollen, dann wird
sich eine Regelung des Zugangs zur Umwelt
über Zahlungen nicht vermeiden lassen. Jede
umweltbelastende Tätigkeit - z . B . die Fahrt
ins K i n o , z u Freunden, der Flug in den Urlaub, Wäschewaschen, Süßigkeiten aus der Plastikverpackung naschen, Fernsehen - ist dann
mit so hohen Abgaben zu versehen, daß in der
Tat e i n k o m m e n s a b h ä n g i g unterschiedliche
Grenzen der Umweltnutzung auferlegt werden.
Wir kehren bei einem solchen M o d e l l in erheblichem M a ß zur Klassengesellschaft
zurück. Es w ü r d e n sich auf nationaler Ebene wieder deutlicher Klassenunterschiede im Lebensstandard herausbilden. A u f internationaler Ebene h i e ß e dies, d a ß den bislang armen Ländern
der A u f s t i e g in die Mittel- oder Oberklasse
verwehrt bleibt. A n der formalen G e w ä h r u n g
der Rechte w ü r d e nichts geändert, ihre materielle Wahrnehmung w ä r e jedoch erheblich eingeschränkt, und zwar ungleich nach der Höhe
des v e r f ü g b a r e n Einkommens.
Das Gegenmodell zur erneuerten Klassengesellschaft ist ein Kommunismus
des Verzichts.
37
In diesem F a l l m ü ß t e n alle davon überzeugt
werden, daß sie besser leben, wenn sie alle in
gleichem Maße Verzicht leisten. Dann wären
Einkommensunterschiede völlig irrelevant f ü r
die Gestaltung des individuellen Lebens. Das
Individuum m ü ß t e sich selbst aufgeben und
der Gruppe unterstellen. F ü r Individualismus
wäre in einer solchen Gesellschaft kein Platz.
Bei diesem M o d e l l m u ß zwangsläufig ein niedrigerer Leistungsstandard in K a u f genommen
werden. Fatal wird es, wenn Gesellschaften
mit diesem M o d e l l mit kapitalistisch wirtschaftenden Gesellschaften mithalten m ü s s e n .
Zwischen diesen beiden Extremen sind M i s c h formen mit unterschiedlicher Gewichtung
denkbar, d.h. M o d e l l e eines bescheidenen
Wohlfahrtstaates im Verzicht. N a c h diesen
Modellen wird f ü r alle ein M i n i m u m der U m weltnutzung festgelegt. Was darüber hinaus an
Nutzung noch freibleibt, ist sehr teuer und deshalb nur f ü r entsprechend zahlungskräftige Interessenten zugänglich.
Die Ökologiebewegung steht vor der A u f g a be, einen Weg zwischen den beiden Extremen
zu beschreiten, der zu einer wirklichen U m kehr hinleitet. U m sich nicht den Vbrwurf des
Antimodernismus einzuhandeln, agiert sie
meist vorsichtig und gibt sich mit dem Protest
zufrieden, kann aber nicht offensiv f ü r ein umfassendes Programm des Verzichts werben,
weil die entsprechenden E i n s c h r ä n k u n g e n der
L e b e n s f ü h r u n g bislang von niemandem freiwillig akzeptiert werden. Das Klassenmodell
gilt als ü b e r w u n d e n durch die Errungenschaften der Wohlstandsgesellschaft, das kommunistische M o d e l l als desavouiert durch den real
existierenden Sozialismus vergangener Tage.
Ein überzeugendes Mischmodell des Wohlfahrtsstaates im Verzicht ist noch nicht gefunden. Je mehr sich die Ö k o l o g i e b e w e g u n g um
Mehrheiten b e m ü h t - wie die Partei der Grünen in der Bundesrepublik - um so mehr m u ß
38
sie sich der K o m p r o m i ß l i n i e der etablierten
Parteien nähern. Diese Kompromißlinie verbleibt im Rahmen der Moderne und sucht die
Negativeffekte des Wachstumsprogramms abzumildern, ohne daß es zu einschneidenden
Verzichtsleistungen kommen m u ß . Es ist das
Schicksal der Moderne, daß sie zwar antimoderne Bewegungen zulassen, aber sich selbst
nicht in die Antimoderne verwandeln kann.
A l s Bestandteil der Moderne bleiben auch die
sozialen Bewegungen in diesem Dilemma gefangen. Eine Umstellung von Expansion auf
Schrumpfung, von Anspruchssteigerung auf
Verzicht, von der Erweiterung auf die Einschränkung von Rechten durch die Einführung
einer neuen Klassengesellschaft des differenzierten Umweltschutzes oder eines K o m m u nismus des gleichverteilten Verzichts oder einer Mischung davon bedeutet einen Wandel
von der Moderne zur Antimoderne. Zumindest die Gewichte würden sich ein Stück weit
von der Moderne zur Antimoderne verlagern.
Richard Münch ist Professor für Soziologie an
der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
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FORSCHUNGSJOURNAL N S B
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Klaus Eder
Die Institutionalisierung
kollektiven Handelns
E i n e n e u e t h e o r e t i s c h e P r o b l e m a t i k in d e r B e w e g u n g s f o r s c h u n g ?
1.
Einleitung
Soziale Bewegungen sind von zentraler B e deutung in der Sozialtheorie über die letzten
25 Jahre gewesen. Diese Bedeutung hat sogar
noch zugenommen. So viele Bewegungen haben sich vervielfacht, und sie sind zu einem
normalen P h ä n o m e n im sozialen Leben geworden. Warum werden sie dann aber als etwas Besonderes behandelt, das sich von 'normalen' Interessengruppen oder Parteien unterscheidet? Haben soziale Bewegungen etwas
Einzigartiges an sich? Ich werde mit einer D i s kussion der neueren Kontroversen innerhalb
der Theorie Sozialer Bewegungen ( T S B ) beginnen, die einen ersten Hinweis auf das Besondere der Sozialen Bewegungen liefert. A n schließend werde ich mit einer Diskussion von
zwei Entwicklungen fortfahren, die gegenwärtig in der Analyse sozialer Bewegungen aufgetaucht sind.
2.
Die alte theoretische Problematik
2.1
Die makrosoziologische Antwort:
Touraine v e r s u s McCarthy/Zald
Der erste Fragenkatalog betrifft vor allem die
makrosoziologischen Perspektiven in der modernen Sozialtheorie und soziologischen Theorie. Welche theoretische Bedeutung kommt den
Bewegungsanalysen f ü r die Erklärung der Entwicklung der modernen Gesellschaft zu? Was
tragen Bewegungsforscher zum Verständnis des
Modernisierungsprozesses moderner Gesellschaften bei? Eine erste, radikale Antwort hat
A l a i n Touraine gegeben. E r argumentierte, daß
soziale Bewegungen ein zentrales Element der
Dynamik moderner Gesellschaften geworden
sind und deshalb den Schlüssel zu einer soziologischen Analyse darstellen. A u s der Theorie
der Gesellschaft wurde eine Theorie sozialer
Bewegungen, die grundlegende Annahmen der
modernen Sozialtheorie und der Gesellschaftstheorie in Frage stellte:
-
Soziale Bewegungen ersetzen Klassen;
-
Kultur wird ersetzt durch Orientierungsmuster kollektiver Akteure;
-
Identität wird durch kollektives Handeln geschaffen;
-
Institutionen sind f ü r das soziale Leben von
sekundärer Bedeutung.
Diese Annahmen entsprechen allerdings nicht
mehr der Realität moderner Gesellschaften der
letzten zwei Jahrzehnte. D a f ü r lassen sich f o l gende empirische Belege a n f ü h r e n :
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
-
Klasse ist noch immer eine wichtige Determinante sozialer Bewegungen, wie die These
des Mittelklasse-Radikalismus zeigt;
-
Kultur orientiert sich weitaus mehr noch an
Erinnerungen als an kollektiven Projektionen, die auf sozialen Wandel ausgerichtet
sind (Bewegungen folgen sozialem Wandel
mehr als das sie ihn anführen!);
-
Identitätskonstruktionen sind immer noch
stärker in traditionellen Vorstellungen verankert, die beträchtlichen politischen E i n f l u ß haben, als in Identitätskonstruktionen
sozialer Bewegungen. E i n Beispiel sind kons e r v a t i v - r e a k t i o n ä r e Identitätselemente in
der
Umweltbewegung (besonders in
Deutschland);
-
Institutionen prägen die Gesellschaft mehr
als dies Handlungen sozialer Bewegungen
tun; die Teilnahme sozialer Bewegungen an
der Reorganisation des institutionellen Systems moderner Gesellschaften zeigt, daß
sie durch die Institutionen verändert werden (Eder 1993b).
Das Gegenargument, das diese empirischen
Daten nahelegen, lautet: Bewegungen werden
viel mehr durch die soziale Wirklichkeit geformt als die soziale Wirklichkeit durch soziale Bewegungen. Dennoch hatTouraines Theorie die Bewegungsforschung der letzten 25 Jahre anleitenden Fragestellungen und Erklärungsansätze stark beeinflußt: der Wandel der Klassenstruktur, das A u f k o m m e n postmaterialistischer Werte, neue politische Identitäten, wie
sie in der Idee der 'Neuen Politik' manifest
werden, und der Niedergang der traditionellen
politischen Institutionen, sei es der politischen
Parteien oder des Staates als solchem. Forschung auf diesem Gebiet gibt es genug - und
dem ist nicht mehr v i e l Neues h i n z u z u f ü g e n .
Aber es bleibt ein Defizit, ein G e f ü h l von U n 1
41
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vollständigkeit: Was haben soziale Bewegungen wirklich verändert? W i e haben sie zur D y namik der modernen Gesellschaften und ihrem Selbstmodernisierungsprozeß beigetragen?
Die T S B ist einst eine Herausforderung an die
Sozialtheorie gewesen und hat einen enormen
Einfluß auf unser Verständnis der Dynamiken
moderner Gesellschaften ausgeübt. Sie hat soziale Bewegungen als makrosoziale Akteure
eingeführt und damit die Voraussetzung f ü r
einen neuen Forschungsansatz gelegt (den sogenannten Neue Soziale Bewegungen ( N S B ) Ansatz). Sie ist Ausgangspunkt einer wichtigen theoretischen Kontroverse gewesen, die
Kontroverse zwischen dem europäischen N S B Ansatz und dem amerikanischen Ressourcenmobilisierungsansatz, zwischen dem Identitätsparadigma und dem Organisationsparadigma,
ohne jedoch, so w ü r d e ich behaupten, die realen Kräfte und Wirkungen zu erfassen.
2.2
Die mikrosoziologische Antwort:
Zwei konkurrierende handlungstheoretische Sichtweisen
Der erste Fragenkatalog bezieht sich auf m i krosoziologische Perspektiven, auf die der T S B
zugrunde liegende Theorie sozialen Handelns.
Die Handlungstheorie ist Gegenstand einer interessanten Diskussion gewesen, in der es um
die Frage ging, wie die Entstehung kollektiven Handelns in sozialen Bewegungen erklärt
werden kann. Warum engagieren sich M e n schen in kollektiven Aktionen wie sozialen
Bewegungen? Zwei Positionen stehen sich innerhalb der T S B gegenüber: die rationalistische Erklärung und die verstehende Erklärung
sozialen Handelns: Rationales Handeln
(RC)
ist an eine Situation der Wahl gebunden (wie
sie die Rational Choice-Theorie formuliert) und
Vernünftiges Handeln (CA) an eine Situation
der gegenseitigen Anerkennung (wie sie in der
Theorie kommunikativen Handelns entwickelt
42
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
wird). Beide Theorien ö f f n e n neue Wege, und
sie tun dies in z w e i Hinsichten:
2
-
-
Z u m einen produzieren rationale und symbolische Handlungen besondere soziale interaktive Effekte; die exemplarische Situation i m Rational Choice-Ansatz ist das Gefangenendilemma, eine Situation, in der rationale Akteure, die in Interaktion miteinander stehen, versuchen, ihren Vorteil aus
einer Situation der Unberechenbarkeit zu
schlagen, da sie nicht wissen, wie der andere jeweils reagieren wird. Das Schlüsselereignis im anderen Ansatz ist dagegen die
diskursive Situation, in der Handelnde gezwungen sind, ihre Handlungen durch k o l lektiv z u s t i m m u n g s f ä h i g e Argumente im
Verlauf eines Argumentationsprozesses zu
legitimieren.
Z u m anderen k ö n n e n beide Ansätze als Idealmodelle der Handlungskoordination beschrieben werden. Im ersten F a l l ist es der
Versuch, die beste Strategie herauszufinden
f ü r alle, die an der Situation beteiligt sind.
Im zweiten F a l l handelt es sich um den
Versuch, eine kollektiv geteilte Interpretation der Sitaution z u finden (ein temporärer
Konsens). D i e Koordinierungsmechanismen
bestimmen z w e i einander entgegegensetzte
Modelle der Handlungskoordination: Markt
und Diskurs.
Beide M o d e l l e erklären die Koordination sozialen Handelns, indem sie sich - um klassische soziologische Kategorien zu gebrauchen
- entweder auf materiale oder auf ideelle Interessen beziehen. Das materiale Interesse ist
es, eine Situation zum eigenen Vorteil zu benutzen (durch iterative Spiele (Axelrod 1984)).
Das ideelle Interesse ist es, sich am moralischen Wert der menschlichen Existenz zu orientieren. Das ist die Perspektive von K o h l bergs und Habermas' Theorien der Entwick-
2/94
lung des moralischen Bewußtseins (Kohlberg
1981; Habermas 1983). Beide Interessen sind
- wie Weber es uns gelehrt hat - gleichermaßen im historischen Leben präsent. Sie sind
der Ort heftiger ideologischer Schlachten gewesen. Aber der Ort der theoretischen K ä m p f e
hat sich verändert.
3
Ein erstes Anzeichen dafür findet sich in der
Klärung des empirischen Status dieser idealisierenden Modelle. Das Problem besteht nicht
einfach darin, daß Menschen in systematischer
Weise von diesen Modellen abweichen. Das
ist normal. Das Problem ist, daß es sozial strukturierte Muster bezüglich der Möglichkeit gibt,
sich rational oder kommunikativ zu verhalten.
Empirische Vorschläge, um mit dieser Problemstellung umzugehen, kommen ü b e r w i e g e n d
von den Rational Choice-Theorien sozialen
Handelns. Sie weisen darauf hin, daß Gruppenheterogenität (nicht -homogenität!) f ü r die
Entstehung kollektiven Handelns konstitutiv
ist; daß die G r u p p e n g r ö ß e eine wichtige Rolle
spielt; daß eine kritische Masse von Aktivisten
notwendig ist, damit kollektives Handeln aufkommt und Unterstützer mobilisiert werden.
Aber auch die Theorie kommunikativen Handelns hat Vorschläge gemacht: so wenn behauptet wird, daß die Kapazität des öffentlichen Diskurses eine entscheidende Variable in
der Konstitution sozialer Bewegungen darstellt,
oder daß der kommunikative Charakter sozialer Bewegungen sie zum privilegierten Handlungsakteur in der Verteidigung der Lebenswelt gegenüber der Dominanz der Systemimperative macht. Diese allgemeinen empirischen
Überlegungen lassen sich als k o m p l e m e n t ä r e
Problemstellungen verstehen. Rational ChoiceAnnahmen vernachlässigen die kommunikative Natur kollektiven Handelns, Theorien kommunikativen Handelns die strategische Seite
kollektiven Handelns.
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
2/94
43
M a n sieht: D i e T S B hat eine interessante theoretische Diskussion in der Theorie sozialen
Handelns ausgelöst. D i e Konfrontation von
Rational Choice-Theorien und der Theorie
kommunikativen Handelns, die die theoretische Auseinandersetzung in den letzten Jahrzehnten bestimmt hat, liegt theoretisch auch
der hitzigen Diskussion zugrunde, wie sie sich
am sogenannten Paradigmenstreit in der Bewegungsforschung zwischen amerikanischen
und europäischen Ansätzen, zwischen R M - A n satz und N S B - A n s a t z , beobachten läßt. Im wesentlichen besteht diese Diskussion aus einer
Kritik des europäischen Ansatzes am amerikanischen Ansatz, die speziell auf das sogenannte Identitätsparadigma zurückgeht. Danach sind
soziale Akteure nicht bloß durch rationale Interessen motiviert, sondern folgen oft auch den
Normen und Werten, die sich gegen diese rationalen Interessen richten können. Sie verteidigen eine personale Identität, die in einer kollektiven Identität, in einer kollektiv geteilten
Vorstellung vom guten Leben, verankert sind.
Seitdem Identität strategisch benutzt werden
kann und damit einen Ort hat im Rational
Choice-Paradigma, und seitdem strategisches
Handeln wiederum i m Identitätsparadigma untergebracht werden kann, hat sich der erbitterte Streit der beiden A n s ä t z e gelegt. D i e ideolgischen K ä m p f e nehmen ab. E i n breiter individualistischer Konsens zwischen Rational
Choice und Kommunikativem Handeln breitet
sich aus.
4
Der individualistische Konsens hat zu der paradoxen Situation geführt, daß es einen theoretischen Graben ohne theoretischen Streit oder
Konflikt gibt. Analysen sozialer Bewegungen
haben die großen theoretischen Auseinandersetzungen hinter sich gelassen. In dieser paradoxen Situation haben w i r zwei Optionen: zum
Forschungsalltag z u r ü c k z u k e h r e n oder eine
neue theoretische Grundlage vorzubereiten, um
soziale Bewegungen unter den heutigen U m -
ständen zu verstehen und zu erklären. Ich werde zuerst auf die erste Option eingehen und
dann ein Argument zugunsten einer institutionalistischen Erklärung sozialer Bewegungen
vorstellen.
2.3
Die neue Bescheidenheit
Der gegenwärtige Zustand der T S B markiert
das Ende der alten K ä m p f e . Dieses Ende ist
durch das paradigmatische Übereinkommen der
Bewegungsanalyse als eines normalen Feldes
sozialer Forschung charakterisiert. W i r stehen
im Mittelpunkt dieser Situation, die ich gerne
als neue Bescheidenheit
beschreiben m ö c h t e .
Neue Bescheidenheit
betont die Komplementarität der Perspektiven in der empirischen Forschung. Diese K o m p l e m e n t a r i t ä t der alten,
theoretisch bedingten Teilung der Paradigmen,
die der neuen Bescheidenheit bei der Erklärung moderner Protestaktivitäten zugrunde
liegt, wird in Schema 1 z u s a m m e n g e f a ß t (siehe Kasten folgende Seite).
Der theoretische Diskurs, der in der neuen Bescheidenheit auftaucht, thematisiert die parallele Struktur der theoretischen A n s ä t z e in der
Bewegungsforschung und ihre partielle empirische Geltung; er synthetisiert diese Ansätze
durch 'Kontextualisierung'. D i e parallele Struktur des großen theoretischen Grabens und die
Voraussetzungen f ü r die Option, die ich 'neue
Bescheidenheit' in der Bewegungsforschung
nenne, ist von Neidhardt/Rucht (1991: 438)
als eine Theorie expliziert worden, die Protestaktivitäten mit zwei Variablensets erklärt:
mit Variablen, wie sie in der R M - T h e o r i e A n wendung finden (Mobilisierungspotentiale, soziale Bewegungsorganisationen) und mit V a riablen, die sich im N S B - A n s a t z finden (struktureller und kultureller makrosozialer Wandel).
Seit sich die M a k r o - und die Mikroperspektive mehr oder weniger miteinander versöhnt
44
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
haben, hat sich der theoretische Diskurs einer
Beobachtung der Mesoebene zugewandt, der
Mesomobilisierung, der Bewegungsorganisation auf einem Meso-Niveau. Diese Perspektive zielt auf die Konzeptualisierung von Protest, indem sie die unterschiedlichen Handlungslogiken, die den theoretischen Streit genährt haben, dadurch miteinander vermittelt,
daß sie ihnen relative empirische Bedeutung
in vorgebenen sozialen Kontexten zuweist. Diese 'Kontexte' werden als 'Opportunitätsstruktur' beschrieben. D i e Idee der Opportunitätssruktur bleibt allerdings bloß deskriptiv. Sie
wird als eine empirische Variable oder als ein
Set von empirischen Variablen in der Umgebung von Protestaktivitäten behandelt. (Neidhardt/Rucht 1991: 447) Der Begriff 'politische O p p o r t u n i t ä t s s t r u k t u r ' bezieht sich auf
Kontextvariablen, die die Dynamik kollektiven Handelns beschränken oder befördern, wie
z.B. Wahlsysteme, nationale politische Kulturen, gegebene Parteiensysteme, legale Vorschriften, staatliche Repression usw. Das K o n zept der politischen Opportunitätsstruktur un5
2/94
terscheidet jedoch zu strikt zwischen dem Phänomen sozialer Bewegungen und ihrer U m welt, was auf eine mechanische Abgrenzung
sozialer Bewegungen auf der einen Seite und
des Kontexts auf der anderen hinausläuft und
deren Interaktion nicht mehr greifbar macht.
Eine weitere Entwicklung erfuhr das Konzept
einer Opportunitätsstruktur mit dem 'Framing'Konzept. Der Begriff ' f r a m i n g ' bezieht sich
auf kulturelle Definitionen dessen, was soziale Akteure miteinander verbindet, also das Framing von Issues oder das Framing von M o b i lisierung. Framing ist eine kulturelle Variable,
die erklären soll, unter welchen kulturellen
Kontextbedingungen soziale Akteure sich in
kollektiven Aktionen engagieren. Damit wird
die mechanische Trennung von politischen Opportunitätsstrukturen und kollektiver M o b i l i sierung, zwischen Kontext und kollektivem
Handeln aufgehoben; denn Frames sind ebenso Teil der Umwelt kollektiven Handeln wie
selbst kollektives Handeln.
6
Schema 1: Vergleich von Ressourcenmobiliserungsansatz (RM) und dem Ansatz
Neue Soziale Bewegungen (NSB)
RM:
NSB:
a) Kostenvorteile der Partizipation selektive Anreize
b) Organisation
a) Alte und neue M i ß s t ä n d e
b) Antimoderne Werte, symbolisches Handeln, Anbindung an
die Mittelklasse
c) Erfolgserwartungen, kollektive Anreize
d) Phasentheorie: Bildung des Mobilisierungspotentials, Aktivierung der Rekrutierungsnetzwerke, Motivierungsaktionen (Kampagnen zur
Beeinflussung der Kostenvorstellungen)
e) Konsensusmobilisierung/Aktionmobilisierung
c) Reaktion auf Postmaterialismus
d) Historische Einbettung: Neue
Bewegungen als eine Reaktion auf j
den Wohlfahrtsstaat oder als die
Vorreiter eines neuen Typs von Gesellschaft
e) Negativer Konsens: Identitätsängste, Lebensweltängste
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
2/94
45
E i n weiterer Schritt in diese Richtung besteht
darin, ein komplexeres M o d e l l des Zusammenhangs von Bewegung und Kontext zu konstruieren. E i n solches M o d e l l zur Integration der
Ansätze aktueller Bewegungsforschung (Neidhard/Rucht 1991: 457) ist auf die Idee eines
Netzwerks kollektiver Akteure gegründet, zu
dem kollektive Protestakteure = soziale Bewegungen als ein Element gehören. Dieses komplexe M o d e l l spezifiziert die Umwelt in Begriffen einzelner kollektiver Akteure, mit denen Protestgruppen interagieren. Was ist nun
der theoretische Punkt dieses Modells? Welcher A r t ist die Sozialtheorie von Gesellschaft,
auf die sich dieses M o d e l l gründet? Welche
Art von Handlungstheorie liegt diesem M o dell zugrunde? Wie läßt sich die Dynamik dieses M o d e l l konzeptualisieren? Die neue Bescheidenheit der T S B hat keine Antwort auf
diese Fragen. D i e Evolution der modernen Gesellschaft erfordert weniger bescheidene Antworten. Sie hat die Rolle der Bewegungen geändert, sie hat soziale H a n d l u n g s r ä u m e f ü r Bewegungen geschaffen, die vorher so nicht existierten. U n d sie hat diese H a n d l u n g s r ä u m e
im öffentlichen Raum der modernen Gesellschaft miteinander integriert und sie z u einem
Teil der institutionellen Strukturen gemacht,
die diesen öffentlichen Raum kontrollieren. Das
führt uns z u der Überlegung, daß die neuen
theoretischen Auseinandersetzungen darüber
sein werden, w i e w i r uns diese neuen Handl u n g s r ä u m e unter kulturellen und institutionellen Gesichtspunkten vorstellen. Ich m ö c h t e im
folgenden argumentieren, daß der neue K u l turalismus und der neue Institutionalismus die
neuen K o n f l i k t l i n i e n strukturieren.
7
3.
Das Entstehen neuer
theoretischer K ä m p f e
3.1
Die neue K o m p l e x i t ä t und ihre
analytische Reduktion
Die neo-institutionalistische Perspektive behauptet, daß Bewegungen Organisationen sind,
die mit anderen kollektiven Akteuren in einem
komplexen interorganisationellen Feld in Verbindung stehen und Normen und Werte teilen.
Die den neuen Kulturalismus kennzeichnende
konstruktivistische Perspektive behauptet, daß
soziale Bewegungen durch die M e d i e n und
die öffentlichen Diskurse gemacht sind und
daß ihre Themen und Issues gleichfalls ein
Konstrukt dieser Diskurse sind. Oder, um es
in anderen Worten zu sagen: Issues und Institutionen ändern sich selbst im Verlauf komplexer Interaktionen der verschiedenen Akteure. Diese neuen Themen e r ö f f n e n neue K o n fliktlinien innerhalb der Sozialtheorie. Sie sind
mehr als nur eine Ausweitung des gegenwärtigen 'state of the art'. Ich w ü r d e dagegen in
eine andere Richtung argumentieren. Denn diese Entwicklungen werfen neue kontroverse
theoretische Fragen auf, die das bestehende
Bewegungsparadigma in Frage stellen. Sie
zwingen uns, anders zu denken über die m i kro-sozialen Grundlagen kollektiven Protestes
und seine makro-soziale Einbindung, sogar
bezüglich des makrosozialen Kontexts als solchem, d.h. bezüglich der Theorie des öffentlichen Raumes.
3.2
Die neo-institutionalistische
Perspektive
Die neo-institutionalistische Perspektive bringt
uns zu den makro-sozialen Aspekten der Bewegungsforschung zurück. D i e neo-institutionelle Theorie behauptet, daß die symbolische
Repräsentation von dem, was Akteure tun, ein
grundlegender Mechanismus ist, um Dynamik
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
und Netzwerke kollektiver Akteure zu erklären. Angemerkt sei, daß eine Abkehr vom individualistischen Erklärungsparadigma stattfindet. Sobald ein Akteur sich auf eine symbolische Repräsentation von sich beziehen m u ß ,
m u ß er sicher gehen, d a ß der andere seine
symbolische Repräsentation auch versteht. Das
schließt ein, d a ß Akteure sich auf etwas beziehen müssen, das sie miteinander teilen (das ist
es, was Institutionen bezeichnen: intersubjektiv geteilte Regelsysteme der gleichen Art).
Zur selben Zeit versuchen Akteure, die Repräsentationen z u beeinflussen, umzudefinieren
und z u ersetzen ; aber das ist nur möglich unter der Bedingung, daß diese B e m ü h u n g e n im
Anderen Wirkung haben: der Andere sind die
Öffentlichkeit und die mit ihr konkurrierenden
kollektiven Akteure.
9
Die neo-institutionalistische Perspektive sensibilisiert f ü r die Tatsache, daß Organisationen
und ihre Beziehung zu ihrer Umwelt bestimmt
sind durch Handlungslogiken, die verschieden
sind von dem, was diese Organisationen behaupten zu tun, nämlich rationale korporative
Akteure z u sein. Organisationen sind chaotische und anarchische Systeme, die es irgendwie schaffen, sich selbst zu steuern. Aber sie
lösen institutionelle Probleme, die diese korporativen Akteure koordinieren. Das gilt f ü r
ö k o n o m i s c h e Institutionen, die ihre Transaktionskosten g e g e n ü b e r Formen, Märkten und
Verträgen minimieren. Das gilt auch f ü r politische Institutionen (im engeren Sinne für staatliche Institutionen), die die Legitimität von
Entscheidungen durch Verfahren gewährleisten.
Wir haben auch eine Reihe von sozialen Bewegungen, die sich wie chaotische korporative Akteure benehmen. Aber ihre institutionelle Form und D y n a m i k ist kaum erforscht. A n statt sie bloß wie eine andere Form ö k o n o m i scher (wie der Ressourcenmobilisierungsansatz es tut) oder politischer Institutionen zu
betrachten (wie es jene Theorie sozialer Be-
2/94
wegungen tut, die Bewegungen als unvollständige oder F r ü h f o r m e n von Parteien oder Interessengruppen versteht), gibt es die Möglichkeit, daß Bewegungen einen anderen Typ von
Institutionen entwickeln, der sie in Beziehung
setzt zu anderen korporativen Akteuren und
ihrer institutionellen Umwelt. Der wichtigste
Punkt der neo-institutionellen Theorie sozialer
Bewegungen ist es, daß sie eine andere Beschreibung ihrer Rationalität entwickelt. Soziale Bewegungen brauchen nicht länger formale Rationalität (Rechtsregeln) oder substantielle Rationalität (Recht) als die kulturelle
Form, mit H i l f e derer ihre Funktionsweise legitimiert ist. D i e Theorie geht davon aus, daß
soziale Bewegungen charakterisiert sind durch
die Tatsache, d a ß sie Diskursivität benutzen
als die Art, wie sie ihre Funktionsweise beschreiben. Praktiken und Organisationsfomen
sozialer Bewegungen sind als diskursive Praktiken institutionalisiert.
10
Die Elemente und Ebenen der neo-institutionellen Theorie der entstehenden institutionellen Ordnung, in der soziale Bewegungen nicht
mehr bloß Umwelt sind, sondern konstitutives
Element, kann in einem komplexen M o d e l l
zusammengefaßt werden, das in Schema 2 präsentiert wird.
Die entstehende neue institutionelle Ordnung
könnte postkorporative
Ordnung
genannt werden, und das aus verschiedenen G r ü n d e n . Ihre
charakteristischen Merkmale sind die zunehmende Entkopplung der Selbstorganisation ihrer institutionellen Ordnung vom Staat und dem
Auftauchen einer Verhandlungsordnung jenseits von Markt und Staat. Der Diskurs wird
zu einem Mechanismus, der eine moderne Gesellschft schafft. S i c h selbst jenseits von
Markt und Staat ansiedelnd und nur auf den
Diskurs bezogen, kann Bewegungsanalyse uns
mit Möglichkeiten ausstatten, die dominante
Theorie moderner Gesellschaft (und ihre post11
12
13
47
FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2 / 9 4
modernen Varianten) zu kritisieren. Der Allgemeinplatz, d a ß soziale Bewegungen einen Prozeß der Institutionalisierung erfahren (worunter normalerweise die Integration in die bestehenden politischen und sozialen Institutionen
verstanden wird), m u ß wenigstens korrigiert
werden. D i e Institutionalisierung sozialer Bewegungen hat z u Effekten geführt, die das i n stitutionelle System als solches ändern. Indem
soziale Bewegungen z u einer Institution werden, erreichen moderne Gesellschaft eine neue
Stufe ihrer Evolution.
3.3
Die konstruktivistische
Perspektive
Die neo-institutionelle Perspektive hat schon
die Bedeutung der Kultur betont. E s herrscht
allgemeine Ü b e r e i n s t i m m u n g darüber, d a ß
moderne Gesellschaften charakterisiert sind
durch einen Zuwachs an kulturellen K ä m p f e n ,
und d a ß soziale Bewegungen die Träger dieses kulturellen Wandels moderner Gesellschaft
sind. Solche Behauptungen sind nicht sehr erhellend. Ihnen ermangelt es an Präzision und
einem analytischen Rahmen, der über bloße
Beschreibung und empirische Feststellungen
hinausgeht (hier beziehe ich mich auf die postmaterialistische Diskussion). Das ist der Punkt,
Schema 2: Elemente der institutionellen Ordnung des entstehenden öffentlichen Raums
Institutionen
spezifische
Umwelten
Marktinstitutionen
Zentrale Issues
ö k o n o m i s c h e Issues Kollektivgüter-Issues n i c h t ö k o n o m i s c h e und
moralisierbare Issues
(wie Umwelt oder
Abtreibung)
Handlungsträger
Unternehmen
Parteien
N G O s , Bewegungsorganisationen
Handlungsweisen
Verbraucherverhalten
Wahlverhalten
Bewegungen und Protestmobilisierung
Soziale Einheiten
Klassen
Statusgruppen
Moralgemeinschaften
Kommunikationsmedien
Geld
Stimmen
öffentlicher Diskurs
Öffentlichkeit
Verbraucher
Wähler
Meinungsmacher
Staatsinstitutionen
institutionelle L o g i k formale Rationalität Gerechtigkeit
C i v i l Society-Institutionen
Diskursivität
|48
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
wo die Frame- und Framing-Konzepte von Interesse werden.
Frames und Framing sind Konzepte, die Vorstellungen wie Werte oder Ideologien etc. ersetzen. Sie sind soziale (gegenüber Werten)
und nicht-normative Kategorien (gegenüber
Ideologien). Framing bedeutet, etwas als ungerecht, nicht tolerabel z u definieren, das korrigierender Handlungen bedarf. Framing ist die
Zurechnung des schlechten Zustandes der Welt
in Begriffen der Verursachung (real oder eingebildet) oder der Verantwortlichkeit (Framing
mittels negativer Moralisierung ist besonders
bei sozialen Bewegungen verbreitet!). U n d
schließlich ist es Framing, das kollektivem
Handeln erst Bedeutung gibt. Durch das Framing erschaffen kollektive Akteure sich selbst
als Akteure, die imstande sind, die Welt zu
verändern (oder nicht - mit negativen Konsequenzen f ü r das kollektive Handeln).
14
D i e konstruktivistische Perspektive führt uns
zu einer neuen mikro-sozialen Konzeption des
Akteurs, die weder an Rationalität noch an
Vernünftigkeit orientiert ist. Diese Unterscheidung ist die zwischen R C - und CA-Theorien.
Beide sind, wie j ü n g s t e Entwicklungen zeigen, z w e i Seiten einer Medaille. Manchmal
engagieren sich Akteure in kollektiven Handlungen aus rationalen Erwägungen, manchmal
wegen moralischer Verpflichtungen. D i e konstruktivistische Perspektive behauptet, daß
Menschen nicht w i r k l i c h über ihre M o t i v e Bescheid wissen, ob sie nun v e m ü n f i g oder rational sind. Sie konstruieren ihre M o t i v e im
Verlauf der Interaktion. Daher können solche
Motivationen nicht den A n f a n g einer Erklärung bilden, sondern m ü s s e n selbst erst erklärt
werden. Der Konstruktivismus sagt, daß kollektiv geteilte Definitionen von Normen, Interessen, Tatsachen usw. das Resultat sozialer
Prozesse sind. Alles entsteht, indem man darüber redet (everything ist talking into being).
15
2/94
Eine 'mikro-soziale' Implikation des Konstruktivismus f ü r eine Handlungstheorie ist die K r i tik der Idee des Handlungsträgers, eines Handelnden mit freiem Willen, der das kollektive
Handeln sozialer Bewegungen konstituiert.
Diese individualistische Annahme ist eine Ideologie (eine romantische Idee, w i e Collins
(1992) sagt). Nunmehr erreichen w i r die grundlegende theoretische Fragestellung, in welchem
A u s m a ß das Konzept vom freien Willen oder
das der sozialen Determination der richtige
Weg sind, um kollektives Handeln z u konzeptualisieren. Je mehr w i r uns auf den Konstruktivismus einlassen (der den Eindruck einer
generativen Kraft auf der Seite der sozialen
Akteure vermittelt), desto mehr sind w i r gezwungen, die soziale L o g i k z u erkennen, die
den sozialen Konstruktionen und der sozialen
Determination jeder sozialen Handlung zugrunde liegt.
Ausgehend vom Konstruktivismus, gewinnt die
nicht-individualistische Sozialtheorie an B o den, was neue theoretische K o n f l i k t e ermöglicht und Raum f ü r neue K ä m p f e e r ö f f n e t .
Durch den Konstruktivismus verlieren individualistische Erklärungen (ob nun auf rationale
Annahmen oder Vermutungen über Vernünftigkeit beruhend) an Boden. N a c h dem Situationalismus (Knorr-Cetina 1988) kehren die
harten sozialen Tatsachen zurück in den Vordergrund - das ist ebenso ein E f f e k t der Illusion, der die T S B zum Opfer gefallen ist. Die
neue Konfrontation taucht innerhalb eines
nicht-individualistischen Paradigmas auf. W i e
viele Handlungsträger es gibt oder wie viele
situative Begrenzungen w i r zu aktzeptieren
haben, um soziales Handeln wie z . B . kollektive Protesthandlungen in einer sozialen Situation zu erklären, mag eine empirische Frage
sein. Aber w i r k ö n n e n solche Fragen nicht beantworten, ohne einen angemessenen analytischen Rahmen zu entwickeln, der sich dafür
eignet. Das Paradigma der intersubjektiv kon-
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stituierten Situationen ist ein Anfangspunkt,
der auf zunehmend komplexer werdenden Ebenen der sozialen Wirklichkeit weiter entwikkelt werden kann. D i e Ebene der öffentlichen
Debatte, des politischen Diskurses, der öffentlichen Agenda und des öffentlichen Raumes
gehören z u den komplexesten Ebenen. Das
weist erneut auf die Zentralität dieser neuen
T S B , da soziale Bewegungen Akteure sind,
die ein eindeutiges Interesse daran haben, diesen Raum z u schaffen und zu reproduzieren.
Aber sie sind dabei nicht allein. D i e Idee einer
Bewegungsgesellschaft bleibt eine Utopie, die
interessant ist als eine Möglichkeit der Selbstbeobachtung der modernen Gesellschaft. Aber
Selbstbeobachtung ist nur ein Teil der sozialen
Wirklichkeit. E s ist der Konsens oder der K o n flikt der akteursspezifischen Wahrnehmungen
sozialer Wirklichkeit, die entscheidend sind für
die Konstitution jener Elemente, die den öffentlichen Raum schaffen als eine zentrale institutionelle Realität in der modernen Gesellschaft.
4.
Schlußfolgerung
49
te Settlements) etc. sind Beispiele f ü r P h ä n o mene, die über den Staat hinausgehen. Deshalb schließt Institutionalisierung nicht notwendigerweise das Ende der sozialen Bewegungen ein; es bedeutet vielmehr die Stabilisierung der sozialen Bewegungsorganisation
als einer Institution. Sofern diese Institution
im Widerspruch steht zur L o g i k der Institution
des modernen politischen Systems, sind soziale Bewegungen in der Lage, ein dauerhafter
dynamisierender Faktor des sozialen Lebens
zu werden. Es ist daher nicht ihr Status als ein
historischer Gegenstand, sondern ihre institutionelle Form, die die historische Bedeutung
von Protestzyklen definiert, die jede Gesellschaft durchdringen.
Wir kommen nunmehr an einem Verständnis
der Bewegungsanalyse an, das wieder anschließt an den großartigen theoretischen A n spruch, den Touraine vor zwei Jahrzehnten f ü r
die Bewegungsforschung erhoben hat. Diesmal nimmt die Herausforderung aber eine andere Richtung; nicht länger mit Akteuren, sondern mit den Institutionen, die diese Akteure
koordinieren. Akteure m ö g e n gehen; Institutionen bleiben.
Mein Argument ist gewesen, d a ß soziale B e wegungen einen neuen Typ von Institution repräsentieren, der das institutionelle System Klaus Eder ist Professor f ü r Soziologie am
dazu zwingt, diskursive Strukturen anzuneh- Europäischen Hochschulinstitut i n Florenz
men. Sie schaffen Institutionen eines diskursiven Typs jenseits von Markt und Staat. Des- Die Übersetzung besorgte Kai-Uwe
Hellmann
halb gehen sie auch über die L o g i k der Koordinierung von Markt und Staat, der klassischen
Aufgabe des Wohlfahrtsstaates, hinaus. D i e
entstehende institutionelle Form, auf dem organisierten kollektiven Handeln in der öffentlichen S p h ä r e aufbauend, ist der Gebrauch des
Diskurses f ü r ihre Legitimität. Daher f ü g e n
sie einen neuen institutionellen Mechanimus
hinzu, der die alten Mechanismen, die in den
traditionellen politischen Institutionen zuhause sind, verdrängen. D i e Existenz der Verfahren der Mediation, der Vereinbarungen (dispu-
50
Anmerkungen
Diese Formulierung meint nicht nur, daß soziale
Bewegungen im Kontext gesehen werden müssen. Sie zielt mehr noch auf die Idee, daß Bewegungen ein wichtiger Teil der institutionellen Ordnung einer Gesellschaft geworden sind.
Diese Unterscheidung kann zurückgeführt werden auf zwei verschiedene Logiken des moralischen Handelns: Handeln, das orientiert ist an den
Konsequenzen, und Handeln, das orientiert ist an
Pflichten oder Verpflichtungen (Mclntyre 1981,
1985). Beide können als analytische Elemente sozialen Handelns gesehen werden, die die Grundlage für eine einflußreiche Theorie sozialen Handelns bilden. Diese Theorie als solche ist immer
noch zu formulieren. Parsons hat für eine Grundlegung gesorgt, aber sein Weg, die analytischen
Elemente des Handelns miteinander zu verbinden, hat die soziale Analyse nicht inspiriert. Es
ermangelt philosophischer Begründungen der analytischen Elemente ebenso wie einer adäquaten
Theorie der Dynamik der sozialen Ordnung. Dieses sind alte Einwände, aber wert, daß man sie
wiederholt.
1
2
Es ist festzuhalten, daß die Wendung zur M o dernität als eines kritischen Anlasses des Theoretisierens das alte theoretische Schlachtfeld teilweise hinter sich läßt. Dieses Interesse an Modernität mag eine Möglichkeit bieten, um zu einer
anderen Problematik zu gelangen, die mit der Behandlung sozialer und kultureller Formen als sozialen Tatsachen zu tun hat, die das Medium und
Ergebnis sozialer Handlungen sind. Collins (1992)
hat das in die provokative Formel des 'Romantizismus der Handlung/Struktur-Unterscheidung'
gebracht, deren Folgen für einen situationistischen
Ansatz sprechen, in dem Handlung nichts anderes
ist als eine Variable.
3
Ein gutes Beispiel für diese Identitätsorientierung ist die Mobilisierung der Studenten in China
gegen die staatliche Repression 1989, das Tiananmen Platz-Ereignis (eine gute Diskussion bei Calhoun 1991).
Dieser Begriff ist von Tarrow (1983) eingeführt
worden. Zum Zwecke dieses Konzept vergleiche
4
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unter anderem Kitschelt (1988) und Kriesi et al.
(1992) .
Der Begriff wurde von Gamson populär gemacht. Siehe Gamson/Modigliani (1989), Gamson et al. (1992) und Gamson (1992). Z u neueren
Beiträgen zu dieser Debatte siehe auch Hunt/Benford (1992) und Benford/Hunt (1992) sowie Eder
(1992a).
Der neue Kulturalismus ist wiederzufinden zwischen Alexander (1990) und Alexander/Smith
(1993) auf der einen Seite und Wuthnow (1987)
auf der anderen. Siehe auch meine Diskussion in
Eder (1992b). Der neue Institutionalismus, auf
den ich mich hier beziehe, wird ausgeführt in
March/Olsen (1984) und Powell/DiMaggio (1991).
Das ist es, was Klandermans (1988) sagt. Dagegen siehe auch Klandermans (1992), wo er die
neuen Themen explizit ohne weitere theoretische
Rechtfertigung aufnimmt.
Bezüglich dieses Arguments siehe besonders
Swidler (1986). Ebenso gebraucht Bourdieu (1980)
dieses Argument.
Die Gegentheorie würde sein, soziale Bewegungen entweder als zyklische Ausbrüche kollektiver Mobilisierungen oder als Ausgangspunkt eines Entwicklungszyklus zu behandeln, der dann
in eine andere soziale Form mündet. Die konkurrierenden Theorien können empirisch getestet werden.
Dieser Begriff wird anderswo ausführlicher diskutiert (Eder 1993a).
Ein interessanter Faden der Diskussion findet
sich bei Ostrom (1990), der sich für den selbstorganisierenden Aspekt in den institutionellen Formen ausspricht, die auftauchen, wenn es um Probleme mit allgemeinen Gütern wie Umweltfragen
geht.
Siehe als Beitrag von der politikwissenschaftlichen Seite Majone (1989, 1993). Das Problem
der Deliberation war immer ein zentrales Anliegen von Habermas (1981, 1992).
Zu diesem Punkt siehe auch die Diskussion von
DiMaggio/Powell (1991). Sie beziehen sich auch
auf die parallelen Konzepte von Beschreibungen
und Klassifikationen. Jenseits des ethnomethodologischen Radikalismus einer der neo-institutionalistischen Analysen besteht die Möglichkeit, ei6
7
8
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10
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nen neuen normativistischen Radikalismus zu entwickeln, der auf der Idee der diskursiven Koordination aufbaut. Das kann wiederum verbunden
werden mit der grundlegenden strukturellen Vorstellung (feature) von Modernität als einer K u l tur, in der diskursive Prozesse eine zentrale Rolle
in der Produktion und Reproduktion der Gesellschaft spielen (Habermas 1981).
Diese radikale Schlußfolgerung ist relativiert
worden durch eine Unterscheidung von Hunt/Benford (1992). Sie unterscheiden zwischen lokalem
und überlokalem Konstruktivismus. Lokaler Konstruktivismus ist unabhängig von überlokalen Gegebenheiten; es handelt sich um totale Selbstkonstruktion. Extralokalismus (extralokalism) verwendet dagegen Kontextelemente, um eine geteilte
Definition der Welt zu konstruieren. In der Bewegungsanalyse können wir uns nicht auf den Lokalismus beschränken, weil wir mit historisch definierten Situationen zu tun haben, die präjudizieren, was möglich ist (Lokalismus unterstellt geschichtsfreie Situationen wie elementare soziale
Konstanten (encounter) der anthropologischen Natur).
15
Literatur
Alexander, J. C. 1990: Analytic debates: Understanding the relative autonomy of culture, in: J.
C. Alexander/S. Seidman (Eds.), Culture and Society. Contemporary Debates. Cambridge: Cambridge University Press 1-27
Alexander, J./Smith, P. 1993: The discourse of
American civil cociety: a new proposal for cultural studies, in: Theory and Society, 22, 151-207
Axelrod, R. 1984: The Evolution of Cooperation.
New York: Basic Books
Benford, R. D./Hunt, S. A . 1992: Dramaturgy
and social movements: the social construction and
communication of power, in: Sociological Inquiry,
62, 36-55
Bourdieu, P. 1980: Le sens pratique. Paris: M i nuit
Calhoun, C. J. 1991: The problem of identity in
collective action, in: J. Huber (Ed.), Macro-Micro
51
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53
Niklas Luhmann
Systemtheorie und
Protestbewegungen
E i n Interview
Herr Luhmann, Sie arbeiten schon seit längerem an einer Theorie selbstreferentieller
Systeme. Im Rahmen dieser Theorie haben Sie
sich auch mit sozialen Bewegungen
beschäftigt. Begonnen hat das spätestens 1984. In der
Folge hat das sehr unterschiedliche
Formen
angenommen,
wobei Sie mehr oder
weniger
auch Standpunkte
gewechselt
haben. Sie haben mit Konfliktsystem
und
Immunsystemen
angefangen'
und dann kurzfristig von Differenzen, von Dualen gesprochen ,
um schließlich zu Codes und Programmen
überzugehen .
Es ist im nachhinein nicht ganz klar, weshalb
Sie diesen Wechsel vorgenommen
haben, zumal keine Reflexion stattfand, warum ein Wandel stattgefunden hat, so daß der Leser Schwierigkeiten hat, diese Entwicklung
nachzuvollziehen.
da ich nie systematisch auf dem Gebiet gearbeitet habe, also kein Buch über soziale Bewegungen geschrieben habe, ergibt sich nur
aus dem Kontext, was ich jeweils beleuchte,
aber ich bin mir jedenfalls nicht bewußt, daß
ich die Standpunkte gewechselt habe.
Würden Sie denn heute sagen, daß es sich bei
sozialen Bewegungen
um autopoietische
Systeme
handelt?
2
3
Ich sehe eigentlich keinen Wechsel, sondern
höchstens nach und nach eine Beleuchtung
verschiedener Gesichtspunkte, zum Beispiel
das Problem der Codierung. D i e Frage eines
Codes schließt ja andere Fragen nicht aus.
Wenn man eine Theorie sozialer Systeme auf
die sozialen Bewegungen anwenden w i l l , und
das w ä r e ja nötig, wenn man soziale Bewegungen überhaupt als Systeme bezeichnen w i l l ,
dann gibt es einen ganzen Apparat von Fragestellungen, den man ausprobieren m u ß , und
Soziale Bewegungen als
autopoietische Systeme
Ja, wenn es überhaupt Systeme sind, und wenn
man sagt, alle sozialen Systeme sind autopoietische Systeme; sonst w ü r d e ich den Begriff
System nicht anwenden. Dann m ü ß t e das auch
auf soziale Bewegungen zutreffen, oder man
müßte darauf verzichten, sie überhaupt als S y steme, in Abgrenzung zu einer Umwelt, zu
charakterisieren.
Wie würden Sie soziale Bewegungen
definieren, oder was ist ihre angemessene
Beschreibung, wenn sie autopoietische
Systeme
sind?
Einen wichtigen Block von P h ä n o m e n e n kriegt
man heraus, wenn man von Protestbewegungen spricht. Ob das alles ist, was geläufiger-
54
weise unter sozialer Bewegung verstanden
wird, ist schwer festzustellen. Ich meine, das
ist einfach eine Frage des Sprachgebrauchs.
Aber es gibt eine Gruppe von sozialen Bewegungen - übrigens: da zählen dann auch die
rechtsextremen Bewegungen zu - , die sich an
Protesten orientieren und dadurch eine bestimmte Distanz zur Gesellschaft und eine bestimmte eigene Struktur gewinnen, und dieses
P h ä n o m e n w ü r d e ich als autopoietisch bezeichnen, in Abgrenzung von irgendwelchen modischen, thematischen Themenkarrieren, denen
ihre A n h ä n g e r folgen.
Man kann anhand der Funktionssysteme
gut
studieren, was Sie unter 'autopoietisch'
verstehen. Wie läßt sich dieser Prozeß - die operationale Schließung autopoietischer
Systeme
- gleichermaßen
bei sozialen
Bewegungen
nachvollziehen
?
Wenn man sich an dem Protestbegriff orientiert, kann man Einheiten, soziale Einheiten,
d.h. Kommunikationsmengen herausgreifen,
die sich selber von der Umwelt abgrenzen,
indem sie sich bestimmte Protestthemen herausgreifen und diese kommunikativ behandeln,
so daß eine Kommunikation als zugehörig oder
nicht z u g e h ö r i g erkennbar ist, je nachdem, ob
ein bestimmtes Protestthema, sagen w i r i n der
Friedensbewegung oder in den ökologischen
Bewegungen oder i n den rechtsradikalen Bewegungen, durchgehalten wird.
Wenn man das Rechtssystem
anschaut,
dann
handelt es sich um den Code
Recht/Unrecht,
und dieser Code entscheidet für sich, was zum
System gehört und was nicht, und es ist ein
Code insofern, als es einen Wert und einen
Gegenwert
gibt. Liegen denn
entsprechende
Unterscheidungen
bei sozialen
Bewegungen
vor, die wie die Codes der
Funktionssysteme
funktionieren ?
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
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Nein. E i n Protest hat sozusagen die A u ß e n s e i te, nicht zu protestieren, oder die Gesellschaft
so laufen zu lassen, wie sie läuft, oder alles f ü r
gut zu halten und sich u m nichts weiter zu
kümmern. Es gibt also diesen 'unmarked Space', diesen nicht mitgemeinten Kreis von gemeinten K o m m u n i k a t i o n s m ö g l i c h k e i t e n , der
ausgeschlossen ist, wenn man protestiert. Dieser 'unmarked space', diese anderen Möglichkeiten, sich zur Gesellschaft einzustellen, haben nicht die Form eines Negativwertes, der
dazu dient, den Protest zu reflektieren. Insofern ist es also kein binärer Code i n dem strikten Sinne eines selbstreferentiellen Schematismus, wo der positive Wert immer auf einer
Negation des negativen Werts beruht und umgekehrt.
Wenn es sich aber nicht um einen binären Schematismus handelt, wie gelingt dann die Schließung, um von einem autopoietischen
System
zu sprechen?
Ja, das ist eben das Protestthema...
Das
Thema?
Ja, das Thema, also die Form des Protestes.
M a n kann ja nicht protestieren, ohne zu sagen,
wogegen oder weshalb, so daß sich aus der
Orientierung an einem Protest immer die Notwendigkeit ergibt, ein Thema zu ergreifen. Deshalb gibt es auch i m Unterschied zu den sozialistischen Bewegungen heute viele mögliche,
neue, sogenannte neue soziale Bewegungen.
Bei Funktionssystemen
gibt es ja auch das
Erfordernis, daß ein Programm vorhanden sein
muß. Ohne ein Programm kann auch der Code
eines Funktionssystems
nicht funktioneren.
Es
ist also immer ein Tandem. So sagen Sie auch
ßr soziale Bewegungen:
Es braucht ßr den
Protest auch ein Thema. Ich sehe
Ähnlichkeiten, obgleich Sie bestreiten, daß es sich bei
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Protest um einen binären Schematismus
delt. Ist das der einzige
Unterschied?
55
han-
für Schwachstellen und Negativfolgen der Typik moderner Gesellschaft.
D i e Unterscheidung Code/Programm ist notwendig, w e i l der Code noch nicht sagt, was
nun Recht und Unrecht, was nun wahr oder
unwahr ist, oder wer jeweils Eigentümer ist
und wer entsprechend nicht Eigentümer ist,
oder was man unter schön/häßlich versteht.
U n d weil ein Code zirkulär, tautologisch, also
inhaltsleer ist, braucht man Zusatzkriterien, die
nicht i n den Code eingearbeitet werden können. M a n kann ja nicht sagen: Etwas ist, sagen
wir einmal, wahr oder unwahr oder es ist Gesellschaftstheorie, man kann die Wertliste nicht
einfach v e r l ä n g e r n . B e i Protestbewegungen
sehe ich diese Struktur nicht. Wenn man annimmt, sie seien nicht i n diesem Sinne binär
codiert, kann man aber sagen: Sie haben statt
dessen ein Protestthema, und ihre Differenz
ist dann: ' W i r oder die Gesellschaft', ' W i r '
und das, was andernfalls geschehen würde,
wenn ' W i r ' nicht auftreten, und dies zwingt
schon i m Protestthema zu Konkretisierung.
M a n kann also nicht sagen: „Ich protestiere
erst einmal, und wogegen das ist, ist eine zweite
Frage." 'Ich protestiere' ist die generelle A t t i tüde, und die Themenwahl ist dann eine zweite Frage. M a n kann zwar erkennen, daß es
Leute gibt, die von Protest zu Protest springen, oder Koalitionen und Sympathisantenbeziehungen zwischen verschiedenen Protestbewegungen bilden. Wer ökologisch protestiert,
kann auch einer Friedensbewegung angehören; oder man ist dann auch wahrscheinlich
für die Besserstellung der Frauen und so weiter. Es gibt diese A r t von Generalorientierung
am Protest mit den zeit- und generationsbedingten Möglichkeiten, die Themen auszuwechseln, aber das hat nach meinem Eindruck
nicht die Stringenz der Differenz von Codierung und Programmierung, sondern es ist eher
das Sammelbecken f ü r Unzufriedenheiten oder
auch, wenn man es objektiver formulieren w i l l ,
Darauf kommen wir noch zu sprechen.
Um
festzuhalten: Die Einheit eines
autopoietischen
Systems bestimmt sich an der
System/UmweltDifferenz, in diesem Falle am Code,
bezüglich
der Bewegungen
an der Differenz Dafür oder
Dagegen, während das Thema
auswechselbar
ist; das ist fast beliebig. Insofern führt
einerseits das Thema dazu, daß die
Selbstabschließung zustande kommt, andererseits
ist doch
der Protest das eigentliche Indiz für eine Bewegung, und nicht das Thema. Ich möchte noch
einmal auf diesen Punkt zurückkommen,
daß
der Protest das entscheidende
Merkmal
einer
Protestbewegung
ist und nicht das Thema.
Ja, aber das hätte ja die Konsequenz, daß es
eine Protestbewegung gibt, die ihre Themen
auswechselt, daß man also erkennen kann, wer
protestiert und wer nicht protestiert, so wie
man erkennen kann, ob eine Kommunikation
zum Rechtssystem gehört oder familial oder
religiös gemeint ist. Das w ä r e eine elegante
Vereinfachung der Theorie, aber i c h zweifle,
ob das realistisch ist, ob man w i r k l i c h sagen
kann, es gibt eine Protestbewegung mit klaren
Außengrenzen: Immer, wenn man protestiert,
ist man in dieser Bewegung, und wenn nicht,
dann nicht. Dazu sind die Themen viel zu diffus. Nehmen w i r als Beispiel Politikverdrossenheit, nehmen w i r das, was Taxichauffeure
oder Stammtischbesucher so reden. U n z u f r i e denheitsäußerungen sind, glaube i c h , nicht abgrenzbar gegenüber interaktiven P h ä n o m e n e n ,
gegenüber Situationskommentierungen aller
möglichen Art, und erst dann, wenn der Protest eine thematische Form bekommt, also zum
Beispiel ökologisch g r ü n ist, oder wenn er mit
der Friedensbewegung gegen Rüstung ist, dann
kann man annehmen, daß sich i n der Bewegung auch commitments, auch Bindungen zum
Mitmachen, zum Weitermachen ergeben, die
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über das hinausgehen, was man gelegentlich
sagt. Deshalb denke ich, daß die Protestbewegungen nicht die Deutlichkeit eines Funktionssystemarrangements haben.
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Punkten, w o die Unzufriedenheit konkret werden kann.
Das ist aber auch bei allen Programmen
so.
Der Code selbst gibt ja nichts weiter vor, als
Sie sprechen ja in Ihrem Aufsatz
'Protestbe- daß er eine Unterscheidung
einführt, die keine
wegungen' davon, daß es sich bei Protest um Alternative zuläßt zum anderen Wert, sondern
Kommunikationen
handelt, die „an andere nur zweiwertig funktioniert. Sie sagen zugleich,
adressiert sind und deren Verantwortung
an- Programme
lassen sich auswechseln:
Sofern
mahnen. " Dann sagen Sie: Das reicht noch der Code erhalten bleibt, ändert sich die Idennicht aus, um eine Protestbewegung
zu initiie- tität des Systems nicht. Ich sehe hier auch die
ren. Es muß noch Systembildung
stattfinden. Möglichkeit zu sagen: Protest ist die Einheit,
Sie sagen nicht genau, was da passiert, nur, und er kann mit verschiedenen
Programmen
daß Protest als solcher zu häufig
vorkommt, operieren, ohne daß er seine Einheit
verliert,
als daß es sich immer schon um eine Protest- und man könnte sagen: Die Einheit des Protebewegung handelt. Was passiert dann noch? stes trotz der verschiedenen
Themen
besteht
Könnte man auch sagen, daß sich die andere darin, daß Betroffenheit
und Entscheidung
geSeite ändert, daß sie bestimmter wird, daß es genüberstehen,
und diese Unterscheidung
gilt
nicht Gesellschaft
an sich ist, sondern
eine für alle Themen, so heterogen sie auch sein
bestimmte
Gruppe oder Institution,
die ver- mögen. Immer geht es um Betroffenheit
auf
schärft in den Blick genommen
wird, so daß der einen und Entscheidung
auf der anderen
beide Seiten bestimmter werden und sich der Seite, so daß das die große Klammer
darstellt
Protest nur noch zwischen zwei
Institutionen für allen Protest, und es sich um eine Beweoder Personen abspielt? Jedenfalls bliebe dann gung handelt, die verschiedene
Formen
andie Bestimmung
der Bewegung im Protest als nimmt, bezogen auf unterschiedliche
Themen.
Form und würde weniger vom Thema
abhängen.
Commitments
4
Ja, aber aus der Themenwahl ergibt sich ja die
Beleuchtung der Teile von Gesellschaft, die
mit diesem Thema zu tun haben. A l s o wenn es
um die Frauenbewegung geht, geht es u m Karrierestrukturen, d.h. u m Personalmanagement,
zum Beispiel, oder u m Gewalt i n den F a m i l i en oder u m bestimmte Fragen wie Abtreibung,
und j e nachdem sind es andere Gegner bei
ökologischen Bewegungen. D i e ökologischen
Bewegungen scheinen sich schon jetzt von der
Politikadresse abzuwenden, sie gehen sogar
vor die Fabriktore. S i e wollen nicht nur neue
Gesetze haben, sondern sie marschieren frontal auf die Industrie z u . Dann steuert aber das
Thema Ökologie die Suche nach Gegnern, nach
Ich zweifle, ob das - i c h m ö c h t e i n der N ä h e
der Empirie bleiben - w i r k l i c h feststellbar ist.
Abgesehen davon, daß es Überläufer gibt, setzt
man einfach, wenn ein Thema m ü d e wird, auf
ein anderes. Das w ü r d e ich durchaus auch empirisch sehen, daß dieselben Personen hier auftauchen oder später dort auftauchen, daß es
gleichsam biographische commitments in der
Richtung gibt, i n der auslaufenden 68er B e wegung etwa. A b e r ich w e i ß nicht, ob diese
Orientierung am Protest, egal an welchem Thema, ausreicht, u m von sozialer Bewegung zu
sprechen, von einer sozialen Bewegung, die
eine Fülle von Themen nacheinander oder
gleichzeitig praktizieren kann und die nur
gleichsam durch A u f m e r k s a m k e i t s k a p a z i t ä t e n
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beschränkt ist, nicht zuviele Themen zugleich
zu haben. Das hängt damit zusammen, daß die
sozialen Bewegungen größere persönliche Bereitschaften oder Bindungen fordern, auch
Loyalitäten i n gewisser Weise, die ja i n den
anderen Systemen gar nicht üblich sind: Was
bindet mich, mein Geld f ü r diesen oder jenen
Zweck auszugeben? Was bindet mich, wenn
ich meine Stimme f ü r die eine Partei abgebe,
das n ä c h s t e M a l nicht anders zu wählen? Oder
im Recht: Ich klage die Erfüllung eines Vertrages ein oder tue es nicht, weil es mir zu
lästig ist.
Aber das Problem hat die
Bewegungsforschung
auch, da sie die Schwierigkeiten
hat anzugeben: Wie kommt es überhaupt dazu, daß Leute
teilnehmen ? Dieses Wahlverhalten gibt es auch
ßr Bewegungen,
so daß das Moment von Commitment eigentlich hochproblematisch
ist.
Es ist problematisch, aber es hat einen anderen Stellenwert f ü r den Bestand einer sozialen
Bewegung als f ü r den Bestand des Rechtssystems.
A n g s t und Mobilisierung
Es gibt noch den Modus der
Selbstabschließung sozialer Systeme über operative
Letztelemente. Sie haben das ßr
Organisationen
mit Entscheidungen
vorgeßhrt,
und z.B. ßr
Wirtschaft bezogen auf Zahlungen. Gibt es die
Möglichkeit,
etwas Vergleichbares ßr
soziale
Bewegungen
vorzunehmen?
Sie haben
selbst
mit Angst einen Vorschlag gemacht, der von
Klaus Peter Japp dann in dieser Richtung aufgegriffen wurde . Ein anderer Vorschlag lautete Mobilisierung
von Heinrich W. Ahlemeyer . Wie denken Sie
darüber?
5
6
Ich bin ziemlich unsicher in dem Punkte. Z u nächst einmal: Wenn man sich überlegt, wie
eine Kommunikation eine andere als dazuge-
571
hörig erkennt, dann gibt es einfach die thematische Voraussetzung, oder wenn das nicht ausdrücklich gemacht wird, das Selbstverständnis, wenn man zusammenkommt, oder daß,
wenn man zusammen marschiert, oder wenn
man Briefe mit Adressen versieht, man eine
gewisse, sagen wir mal Voreingenommenheit
voraussetzen kann bei den anderen, daß man
nicht die Frage „Bist du d a f ü r oder bist du
dagegen?" noch explizit abhandeln m u ß - es
sei denn, es handelt sich um Werbeaktionen,
wo die Kommunikation also versucht, weitere
Teilnehmer anzuwerben. Darin w ü r d e ich das
Zentrale ansehen. Mobilisierung ist ja ein bekannter Begriff aus der Forschung, und A h l e meyer hat das i n seiner Habilitationsschrift
auch nicht sehr stark an Protest gekoppelt. W i r
haben viel darüber gesprochen, aber er hat
sich nicht auf diesen Begriff einlassen wollen.
Wenn es wirklich um diese Protestbewegungen geht, und wenn das die zentrale Figur ist,
dann kann man Motivannahmen als Vermutungen dahintersetzen. Aber ich denke, daß
dies auf keinen F a l l psychologisch verstanden
werden darf, und es darf auf keinen F a l l so
sein, daß man annimmt, alle Leute zitterten
vor Angst. Es gibt ja auch das stellvertretende
Angst-haben-für-andere, die eigentlich Angst
haben müßten, oder das Betroffensein ü b e r
die Betroffenheit anderer, wenn man selber
ganz weit vom Kernkraftwerk entfernt wohnt
oder überhaupt nicht i n Chiapas zuhause ist.
Ich nehme also an, daß es Thematiken gibt
wie Betroffenheit oder Angst, die letztlich eine
radikalere Form von Betroffenheit ist, die mit
psychologischen Unterstellungen arbeitet, die
eng z u s a m m e n h ä n g e n mit der Frage, wer überhaupt in Betracht kommt und was man jemandem unterstellen kann, wenn er sich in seinen
Kommunikationen sichtbar als d a z u g e h ö r i g
zeigt. Das Erstaunliche ist, daß die Gesellschaft es überhaupt erlaubt, und daß sie es
Männern erlaubt, Angst zu zeigen.
58
Das ist aber nicht das entscheidende
Moment
zur Selbstabschließung,
sondern etwas Beiherspielendes,
das mit zur Unterscheidung
hilft,
um zu sehen, mit wem man kann und mit wem
nicht? Es ist nicht der ausschlaggebende
Mechanismus,
sondern einer, an dem man auch
mitablesen kann, ob es gut geht oder nicht?
Ja, das ist, glaube ich, generell f ü r Autopoiesis
typisch, daß es also gleichsam keine ontologische Quelle oder keine psychologische Beschaffenheit gibt, die dazu führt, sondern daß
das ganze Problem i m Bereich der Kognition
liegt, i m Bereich des Erkennens: was dazugehört, wen man ansprechen kann, wen man nicht
ansprechen kann, welche Themen passen, welche Themen nicht passen, welche Bindungen
geäußert, welche nicht geäußert werden. Insofern liegt in der Autopoiesis-Annahme gerade
die A k k o p p l u n g von Gründen, von externen
Gründen, von Anlässen, von Ursprüngen. Der
Ursprung ist immer eine Mythodologie, die
im System erzählt wird, so wie Tschernobyl
eine Mythodologie ist - es war ja niemand
von denen da, die darüber reden - und die
kommunikationswirksam wird. Aber was real
im Gesellschaftssystem passiert, ist natürlich
nicht die atomare Verseuchung, sondern die
Kommunikation.
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Emotionen hat. Dann m ü ß t e man ja auch entscheiden, ob Emotionen etwas sind, was eine
momentane Aufgeregtheit bezeichnet, also ein
Immunsystem sozusagen: M a n regt sich auf
und wird heftig, w e i l man nicht genau weiß,
wie man mit einem Problem fertig wird; oder
ob Emotionen so etwas sind wie ein Dauerzustand, längerfristig gesehen. Ich neige dazu,
den Begriff G e f ü h l , wenn er psychologisch
gemeint ist, nicht als eine Einstellung, die dann
schwer zu qualifizieren ist, zu sehen, sondern
als ein Alarmieren: Wenn man alarmiert ist,
hat man Ressourcen, die man sonst nicht zur
Verfügung hat, sich zu verhalten, je nachdem,
wie man den Begriff Emotionen versteht. Im
Englischen w ü r d e man unterscheiden: anxiety
als Aufregung bei der P r ü f u n g zum Beispiel,
und worry als allgemeine Besorgtheit. Deswegen glaube ich, daß man zunächst erst einmal
klären müßte, was unter Emotionen verstanden wird, und generell w ü r d e ich als Soziologe sagen: Keine Kommunikationssequenz kann
klären, ob Leute wirklich Emotionen haben.
Gibt es in der Kommunikation
keine
Anzeichen daßr, ob bestimmte Emotionen
vorliegen, daß sie so codiert sind,
kommunikativ,
daß man mit Sicherheit darauf schließen
kann,
daß eine bestimmte
Emotion
vorliegt,
auch
wenn sie nicht
vorliegt?
Emotionen
Sie betonen das Wort Kognition, In der Bewegungsforschung
wird häufiger versucht,
Emotionen als etwas herauszustellen,
das ßr das
Sortieren angemessener
Kommunikation,
bezogen auf soziale Bewegungen,
entscheidend
ist. Spielt das möglicherweise
auch eine Rolle,
dieses weite Feld der Emotionen in der Kommunikation sozialer
Bewegungen?
Nur, wenn das kommunikativ geäußert wird.
Aber ich lasse mich nicht darauf ein, nachzusehen, ob irgendein Teilnehmer tatsächlich
Ja, also es genügt f ü r Kommunikationszwekke, davon auszugehen, und dann m u ß der andere ja schon reagieren, ohne zu wissen, ob
ihm etwas vorgemacht wird, ob jemand nur
dabei sein w i l l , nur Gesellschaft sucht und
infolgedessen zum Beispiel sich rechtsradikal
geriert. Aber ob einer nun w i r k l i c h so stark
emotional aufgeregt ist, daß er deswegen andere totschlägt, ist eine zweite Frage. V i e l leicht reagiert er so nur, w e i l er bei seinen
Kameraden entsprechende Erwartungen aufgebaut hat.
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Aber Sie würden zumindest das Argument von
Emotionen
nicht so stark machen für soziale
Bewegungen?
Nein, nein, es sei denn als Thema der K o m munikation. Das habe i c h auch i n meinen Buch
'Liebe als Passion' so gesehen . Liebe ist ein
kultureller Imperativ: M a n m u ß verliebt sein,
bevor man heiratet, aber wie tief das geht, ist
eine andere Frage.
7
Sie sehen also nicht die Möglichkeit,
daß man
ein operatives Letztelement
für soziale
Bewegungen
findet?
Doch...aber nicht i m Sinne eines ontologischsubstantialen Typs, sondern im Sinne einer Vernetzung i n einer Kommunikation, die sich mit
Protest und mit Protestthemen befaßt, und bei
der bestimmte Unterstellungen mitlaufen: Bereitschaft oder Ansprechbarkeit: „ K o m m s t D u
nicht mit zur Demonstration?"; die i m kommunikativen Bereich Personen sortieren, zwar
nicht so klar wie Organisationen: M i t g l i e d /
Nicht-Mitglied, aber doch mit einem unscharfen Kreis v o n Sympathisanten ringsum operieren. Das Problem der Abgrenzung scheint
mir, wie übrigens auch bei Religion oder den
Kirchen, in B e z u g auf den großen Kreis der
möglicherweise dazugehörigen, aber unsicheren Kandidaten oder der Sympathisanten zu
liegen, die dann dem K e r n der Bewegung die
Möglichkeit geben, sich Illusionen darüber zu
machen, wie generell oder wie verbreitet die
Sympathie i n der Bevölkerung f ü r ihre eigenen Ziele ist. M a n müßte, wenn man das beschreiben w i l l , mit dem Zentrum/PeripherieSchema der internen Differenzierung arbeiten,
aber auch das setzt voraus, daß das Zentrum
weiß, f ü r welche Kommunikationen es wirbt
und wo es Loyalitäten testen w i l l .
Kann
man soziale
stemform
Bewegungen
her eigentlich
von der Sy-
einordnen?
Es
gibt
doch einmal die Möglichkeit,
nach dem
renzierungsprinzip
zu fragen. Soziale
gungen sind nicht funktional differenziert,
keine Funktionssysteme.
Ließen sie sich
gen stratifiziert einordnen? Sie sprechen
der Differenzierung
nach Zentrum und
pherie, die ja mit
dazugehört.
DiffeBewealso
dagevon
Peri-
Zur Klassifikation
sozialer Bewegungen
Ich möchte zunächst einmal in der N ä h e der
P h ä n o m e n e bleiben und Klassifikationen vermeiden, die dann irgendwie zwanghaft wirken. Es ist weder eine Unterschichtsbewegung,
das ist ja ziemlich deutlich, wenn man die
anhört, die man als Unterschicht ansieht. Es
ist also weder in die Schichtstruktur einbaubar
noch ist es ein besonderes Funktionssystem,
es sei denn, daß man gleichsam die K r i t i k der
Funktionssysteme wieder als eine eigene Funktion beschreiben w i l l . M a n k ö n n t e ja sagen:
Eine Gesellschaft ist immer dann autopoietisch geschlossen, wenn sie ihre eigene Negation in sich selber aufnimmt und nicht von
außen kritisiert werden kann, und dann könnte
man sagen: D i e Negation oder die Kritik der
Gesellschaft ist ein Teil der Gesellschaft, und
das sei eben die Funktion sozialer Bewegungen, was mich aber aus verschiedenen G r ü n den nicht so völlig überzeugt, nicht zuletzt
angesichts der Funktion v o n Massenmedien:
im Sinne der Spiegel-Metapher . D i e Konsequenz dieser Ausgrenzungen ist, d a ß man sagt:
Es ist ein eigenständiger Typ von sozialen Systemen, der historisch von bestimmbaren B e dingungen abhängig ist, so wie es auch Organisationen i n dem modernen Sinne v o n M i t gliederorganisationen in der alten Welt nicht
gegeben hat, sondern nur Korporationen. M a n
kann also sagen: Funktionale Differenzierung
erzeugt wie ihren Schatten und gerade angesichts der Normalisierung hoher Unwahrscheinlichkeit i n der Gesellschaft, zum B e i 8
60
spiel Geldwirtschaft, Kritik oder eben solche
Protestbewegungen - K r i t i k als F o r m von
Selbstbeschreibung, als Form von A u f k l ä r u n g
vom Typ Habermas oder wie immer. Sie erzeugt also auch soziale Bewegungen, wenn
das denn Systeme und nicht einfach nur massenmedial verbreitete Ä u ß e r u n g e n sind. Ich
f ü h l e mich also wohler, um das abzuschließen, wenn i c h soziale Bewegungen nicht in
eine Rubrik schon bereitstehender Klassifikationen einordne. Das liegt auch daran, d a ß ,
wenn man P h ä n o m e n e ernstnehmen w i l l , sie
konzeptuell nicht vergewaltigen sollte. Ich lasse
lieber eine gewisse Unordnung i n der Theorie
zu.
Hieße das auch, daß Sie dagegen sind, wenn
man soziale Bewegungen
in irgendeine
Nähe
bringt zu der Unterscheidung
von Interaktion
und Organisation?
Soziale Bewegungen
beinhalten Bewegungsorganisation,
das wurde breit
untersucht, aber sie bestehen keineswegs
nur
aus diesen Organisationen,
so daß man das
eigentliche Phänomen verfehlt, wenn man das
animmt.
Ich w ü r d e zunächst einmal das P h ä n o m e n soziale Bewegung auf der Gesellschaftsbasis,
aber nicht auf der Interaktions- oder Organisationsbasis einordnen. Es ist ein i n der Gesellschaft sich bildendes System, das Organisationen und Interaktionen nach M a ß g a b e seiner
Eigentümlichkeiten i n Anspruch nimmt. Es gibt
ja auch i n den Funktionssystemen solche, die
sehr interaktiv sind wie Erziehung, also sehr
auf Interaktionen beruhen und nur schlecht organisatorisch z u kontrollieren, nämlich nur
mehr oder weniger zeremoniell. Aber was wirklich läuft in der Erziehung, weiß man in den
Zentralen nicht, und insofern gilt: Wenn innerhalb der Gesellschaft eine Teilsystembildung
auftaucht, ist dann h ä u f i g noch offen, was Interaktion, was Organisation bedeutet, in welchem U m f a n g diese Formen in Anspruch ge-
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nommen werden, in welchem U m f a n g sie f ü r
die Reproduktion des Systems notwendig sind.
Interaktion ist sicherlich ganz unersetzlich f ü r
die Reproduktion sozialer Bewegungen, und
das m u ß dann wieder organisiert werden. Wenn
das nur von Face to Face-Interaktion a b h ä n g i g
wäre, wie k ä m e man dann dazu zu wissen,
wann man die Leute treffen kann? Von daher
bildet sich dann eine A r t von Organisation, die
aber i n der typischen Verlaufsgeschichte von
sozialen Bewegungen Kristallisationspunkte
bietet, die dann wieder Gegenstand v o n P o l i tik oder des Zerfalls der Bewegung sein können, also wie die Gewerkschaften überorganisiert sind und dann i n sich selbst K r i t i k auslösen in Bezug auf die Gehälter und i n Bezug
auf die ökonomischen Entscheidungen in der
Gewerkschaftsspitze zum Beispiel.
Gibt es eigentlich einen Rückschluß
auf den
Systemstatus
aufgrund der Betrachtung
moderner Gesellschaft, aufgrund der Art, wie moderne Gesellschaft strukturiert
ist?
Inklusion und Exklusion
Ich sehe zwei Möglichkeiten: D i e eine ist die
hohe evolutionäre Unwahrscheinlichkeit von
bestimmten Errungenschaften, also Technik
zum Beispiel. Wie kommen w i r dazu, uns derm a ß e n v o m Funktionieren der Technik abhängig zu machen? Damit meine ich nicht nur die
Katastrophen, die ja so oft das Thema sind,
sondern auch und vor allem die Energieversorgung: Wie können w i r wissen, ob w i r technisch immer die Energie produzieren k ö n n e n ,
die w i r f ü r die Fortsetzung von Technik brauchen? Das Öl geht zu Ende. Bis jetzt sagt man
in siebzig Jahren, vielleicht sind es hundert,
aber irgendwann ist es soweit. Oder natürlich
die Zumutung an Familie, sich aufgrund von
Liebe zu bilden, oder die Annahme, andere
Leute w ü r d e n mein Geld immer annehmen und
irgendwas dafür hergeben. Das ist doch phan-
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tastisch, nicht wahr? Diese hohe Unwahrscheinlichkeit hat vermutlich irgendwie Plausibilitä'tsdefizite zur Folge und f ü h r t einerseits
zu Fundamentalismen religiöser oder ethnischer
Art. M a n versucht, irgendwo eine Identität sicher zu haben, die nicht mit diesen unsicheren
Zukunftsperspektiven belastet sein m u ß . Es gibt
also eine ganze Menge von Reaktionen auf
die Normalisierung v o n Unwahrscheinlichkeit
als typischem Produkt von Evolution, und da
w ü r d e i c h soziale Bewegungen einrechnen.
Andererseits gibt es i n der Moderne Ä n d e r u n gen i m Verhältnis von Inklusion und Exklusion. D i e alten Gesellschaften, die j a Regionalgesellschaften waren, kannten wichtige E x k l u sionsmechanismen. D i e Griechen waren eben
nicht Barbaren. Sie hatten ein System der Vertreibung v o n F ü h r u n g s p e r s o n e n . D i e Haushalte hatten immer, in der f r ü h e n Neuzeit besonders, Möglichkeiten, Kinder auf die Straße zu
schicken, wenn sie sie nicht mehr ernähren
konnten. Es gab ja zigtausende von herumirrenden K i n d e r n i n England i m 16./17. Jahrhundert, die weder Lehrlinge waren noch in
der Familie bleiben konnten, wenn sie etwa 10
Jahre alt waren. D i e wurden dann von der
Marine aufgegriffen und letztlich Seeräuber.
Es gab also immer starke Exklusionseffekte.
Sie sind i n der modernen Gesellschaft nicht
mehr zentralisiert oder kommen höchstens in
der F o r m von favelas und großen Bevölkerungsmengen zum Tragen, die an keinen Funktionssystemen teilnehmen und nur als Körper
existieren. A b e r von der Ideologie oder von
der Semantik der modernen Gesellschaft wird
zunächst einmal angenommen, daß die gesamte
B e v ö l k e r u n g inkludiert ist: Jeder hat Anspruch
auf Rechtsschutz, jeder kann die Polizei rufen,
jeder m u ß zur Schule, jeder hat ein Mindestmaß an G e l d , so d a ß er seine B e d ü r f n i s s e befriedigen kann, wenn nicht durch Arbeit, dann
durch Wohlfahrtseinrichtungen. Jeder kann jeden heiraten, ohne um Erlaubnis zu ersuchen,
und so weiter. Diese liberale oder moderne
61
Mentalität der Ö f f n u n g , Freiheit und Gleicheit
für jedermann wird ausgedehnt - das ist dann
ein Foucault-Thema - auf Zwangsinklusionen.
A u c h soziale Kontrolle wird ü b e r Inklusion
und nicht mehr über Exklusion ausgeübt. M a n
kommt i n Arbeitshäuser oder G e f ä n g n i s s e oder
in Irrenanstalten, und es is zu vermuten, daß
dieses Bekenntnis zur Inklusion der Gesamtbevölkerung Enttäuschungserlebnisse erzeugt,
die dann wieder Kristallisationspunkte f ü r soziale Bewegungen werden, Enttäuschungserlebnisse, die sozial aggregiert werden k ö n n e n ,
und die nicht individuell dispersiv sind, sich
also nicht durch Ausschließung erledigen lassen. M a n kann nicht einfach diesen und jenen
ausschließen, und die Ausgeschlossenen gehen dann woanders hin, an die Grenze der
Gesellschaft, über die Grenze hinweg zu anderen S t ä m m e n , oder sie kommen irgendwie
um.
Könnten Sie das noch etwas präziser
ausführen. Wie kommt es zu diesen
Enttäuschungen,
und welcher Bezug besteht dann zu sozialen
Bewegungen?
Wie nehmen diese
Bewegungen
diese Enttäuschungen
auf? Wie lösen sie das
Problem?
Sie lösen das Problem gar nicht. D i e sozialen
Bewegungen beruhen ja auf der Annahme, die
Probleme müßten woanders gelöst werden. Sie
praktizieren das Prinzip, auf fremden Pferden
moralisch zu voltigieren. Das ist die eine Struktur. Aber die Anlässe sind Benachteiligungen,
oder die Nicht-Inklusion, die faktische NichtInklusion von Personen. Das ist wenigstens
einer der Anlässe. Nicht nur, daß die Betroffenen i m Bereich der Entwicklungspolitik, i m
Bereich der favelas, i m Bereich des Hungers,
der Dritte-Welt-Problematik tatsächlich existieren. Nicht das steht i m Vordergrund: M a n selbst
hat ja genug zu essen. Aber das Thema, daß
andere hungern, obwohl die Bauern hier nicht
wissen, wie sie ihre Produkte absetzen kön-
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FORSCHUNGSJOURNAL N S B
nen, diese Merkwürdigkeit, daß die Ö k o n o mie, wenn sie rational funktioniert, derartige
M i ß s t ä n d e erzeugt, das gibt zu denken.
Nun fallen diese Enttäuschungen
ja nicht hier
an, sondem ganz woanders. Heißt das, daß
sich die sozialen Bewegungen,
wenn sie sich
auf solche Enttäuschungen
beziehen, sich auf
Enttäuschungen
anderer beziehen oder auch
auf eigene, die die Mitglieder
ganz
konkret
hier im Alltag erfahren? Aufgrund
mangelnder faktischer Inklusion ?
Das ist natürlich eine empirische Frage. Aber
ich nehme an, daß stellvertretende Thematisierung eine wichtige Rolle spielt, und daß die
eigenen E n t t ä u s c h u n g e n ganz andere Strukturen haben, nämlich die mit Karrieren; daß es
also gerade i n der Jugend weitgehend die U n sicherheit einer Karriere ist. M a n hat das Gefühl: M a n m ü s s e jetzt die Grundlagen schaffen f ü r eine Karriere, aber ob man das richtig
tut und ob das die M ü h e lohnt und so weiter,
ist unsicher. Personen, die hier Rekrutierungspotential f ü r neue soziale Bewegungen sind,
sind nicht die Leute, die i n den favelas leben
Hä
to/
oder gelebt haben. Höchstens kommen Informanten aus diesen Gegenden. Zudem ist auch
die Situation i n den favelas, wenn man das als
Beispiel nimmt, oder Chiapas jetzt, oder vieles in A f r i k a , derart katastrophal, d a ß die L e u te nur noch als K ö r p e r existieren und das Problem haben, wie sie den nächsten Tag erreichen, und wie sie Gewalt und Hunger und
Sexualität bewältigen können, also reine Körp e r p h ä n o m e n e , und das ist überhaupt kein B o den f ü r soziale Bewegungen, es sei denn in
der Form religiöser Kulte. D i e modernen religiösen Kulte Südamerikas beruhen ja auf dieser Situation, aber sie nehmen nicht die Form
sozialer Bewegungen an. Diejenigen, die durch
Ausschluß, durch wirklich harten Ausschluß
betroffen sind, sind also nicht die Keimzelle
von sozialen Bewegungen, sondern das sind
Leute, die davon gehört haben, die nicht selber ausgeschlossen sind, die andere Arten von
Lebensproblemen zu bewältigen haben. Ihr
Problem ergibt sich aus dem A b b a u von
schichtmäßiger und familialer Sicherheit f ü r
das ganze Leben. A l s o vorrangig geht es um
Probleme der eigenen Karriere: Es gibt eigene
Zukunft, die von Faktoren a b h ä n g i g ist, die
man nicht kontrollieren kann. U n d das
macht sensibel f ü r das
Mitempfinden
ganz
anderer Lebenslagen.
ick dmckokhwt
mwi mir a'ne Mwrf
^efkt tab'
w\m UewlSie
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Unklar ist jedoch, welche Beziehung
besteht
zwischen
Karriereproblemen und der Ökologieproblematik
Diese Ü b e r l e g u n g e n
sind weitgehend spekulativ. M a n m ü ß t e genauer wissen, was eigentlich die Motive ich sage das mit Z ö -
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gern, w e i l i c h das nicht psychologisch meine
- und was die Verständigungsgrundlagen einer jugendlichen Gruppe sind, die sich mit
Problemen der dritten Welt befaßt. Was sind
die A f f i n i t ä t e n ihrer Lebenslage, die es ermöglichen, Themen aufzugreifen, die sie nicht selber betreffen? Das ist j a ein P h ä n o m e n , das
einer E r k l ä r u n g bedarf. Ich hatte zum Beispiel
mit Studenten aus S ü d a m e r i k a Diskussionen
über die europäische Studentenbewegung, mit
der Resonanz: „ D a s sind Sorgen, die habt nur
Ihr, weil Ihr so reich seid! Ihr könnt ja zufrieden sein, wenn Ihr unsere Probleme aufgreift,
dann ist das f ü r Euch ein Thema, aber nicht
eine Lebensangst, nicht eine wirkliche Daseinssituation!" A l s o ein Thema, das wieder von
der anderen Seite aus aktiviert werden kann,
als Anlaß f ü r H i l f e und Anlaß f ü r Aufmerksamkeit.
gen sich ja nicht vornehmen, selber die Dysfunktionen der Funktionssysteme z u beseitigen. Es geht ihnen eigentlich immer nur um
eine Thematisierung, deswegen auch ein enger Zusammenhang mit den Massenmedien.
Es geht darum, Aufmerksamkeit zu gewinnen
für Probleme, die die Funktionssysteme strukturell nicht lösen k ö n n e n oder schlecht lösen.
M a n spricht dann von Krise und meint, es
könnte alles besser gemacht werden, so daß es
sich um Beiträge der Selbstbeschreibung der
Gesellschaft in einer Gesellschaft handelt, die
zum Beispiel das Verteilungsproblem ö k o n o mischer Güter nicht lösen kann, oder die die
Umwelt i n einen Zustand verwandelt, i n dem
die Gesellschaft weiterhin nicht existieren kann.
Das sind gleichzeitig Selbstbeschreibungsprobleme, aber immer bezogen auf Dysfunktionen der Funktionssysteme selbst.
Funktionen sozialer Bewegungen
Und nur soziale Bewegungen
sehen sich dazu
in der Lage, bestimmte Folgeprobleme
aufzunehmen und darauf aufmerksam zu machen?
Sie haben zwei Vorschläge zur
Funktionsbestimmung sozialer Bewegungen
gemacht, zum
einen auf Folgeprobleme
funktionaler
Differenzierung bezogen . Es treten
Folgeprobleme
auf, die Funktionssysteme
verursacht
haben,
die ßr diese entweder aber nicht
wahrnehmbar sind oder von ihnen einfach ignoriert werden, also blinde Flecken oder Ignoranz.
Zum
anderen haben Sie gesagt: Soziale
Bewegungen leisten eine Selbstbeschreibung
moderner
Gesellschaft und kompensieren
damit ein Defizit , da es ja keine Möglichkeit mehr gibt, die
Einheit der Gesellschaft
konkurrenzlos
zu repräsentieren.
Wie beziehen sich soziale Bewegungen nun auf Folgeprobleme
ßnktionaler Differenzierung,
und inwiefern kann man
da von einer Funktion sprechen? Sie haben
das ja vorhin schon angedeutet:
Kritik der
Funktionssysteme
?
9
10
Zunächst einmal: D i e beiden Aspekten hängen
eng zusammen, weil die sozialen Bewegun-
Nein, nein, aber die sozialen Bewegungen nehmen sich sozusagen die Freiheit, das zu tun,
ohne Rücksicht auf die Selbstbeschreibung der
Funktionssysteme, also auch ohne Rücksicht
darauf, welche internen Rationalitäten dazu
führen, daß das so ist, wie es ist.
Ist das nicht gut so, daß sie das so tun? Wenn
sie erst darüber nachdenken
würden, wie die
Funktionssystemen
funktionieren,
würden sie
es vielleicht lassen?Also
ist diese Neigung zur
Naivität erforderlich, damit es überhaupt zum
Protest
kommt?
Ja, aber ob das gut ist, ist eine zweite Frage.
Da würde ich einfach das P h ä n o m e n sehen,
daß es nicht eine Beobachtung zweiter Ordnung ist in dem Sinne, daß man ernstlich die
Strukturen, die bestimmte Beobachtungen und
Beschreibungen in der Geldwirtschaft etwa er-
64
zeugen, seinerseits übernimmt und auf einer
h ö h e r e n Reflexionsstufe behandelt, sondem
daß es sich u m eine sehr moralisch getönte
Kommunikation handelt, die auch die Verantwortung sich selbst gar nicht zumutet, auf die
andere Seite einzusteigen, um es dort besser
zu machen. Das f ü h r t zu fundamentalistischen
versus realistischen Spaltungen, die das Problem widerspiegeln. M a n kann sich etwa eine
Regierung nicht vorstellen ohne eine Einteilung i n Ministerien und verschiedene Kompetenzbereiche, so daß der Umweltminister nicht
die Polizei direkt schicken kann, zum B e i spiel. Das war Joschka Fischers Erfahrung aus
Anlaß der Tschernobyl-Katastrophe. Je nachdem, i n welchem System man operiert, um
das System selbst z u ändern, wenn man man
in diese L o g i k einsteigt, die von den sozialen
Bewegungen und auch von dem, was denen
Resonanz verschafft, entfernt ist. Aber das Ganze liegt, glaube ich, auf der Ebene der K o m munikation und i n diesem Sinne auf der Ebene von Beiträgen zur Selbstbeschreibung der
Gesellschaft. D i e sozialen Bewegungen haben
es mit einer gewissen Ö k o n o m i e der Aufmerksamkeit zu tun, d.h. sie müssen Aufmerksamkeit gewinnen f ü r ihre Ziele, und das ist praktisch eine Funktion der Massenmedien, ohne
die sie ihre Ziele gar nicht erreichen könnten.
Umgekehrt k ö n n e n sie über die Massenmedien sehr schnell Themen kreieren und Themen
durchsetzen, die nicht gesprächsweise verbreitet werden könnten.
Kann man also nicht von einer Funktion sozialer Bewegungen
sprechen, sofern sie eine
bestimmte Selbstbeschreibung
der
modernen
Gesellschaft
liefern und darüber auf Probleme aufmerksam machen, die andernfalls
möglicherweise zu spät bemerkt werden
würden?
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Funktion und Operation
Ja, doch Funktion ist hier doppeldeutig. Entweder sagt man, die Funktion ist eine Perspektive eines Beobachters, der sagt: Hier ist
ein Problem, das Problem wird durch die neuen sozialen Bewegungen i m Zusammenhang
mit Massenmedien aufgegriffen und in dieser
oder jener Form gelöst, w o f ü r es vielleicht
Alternativen gäbe. A b e r dann ist das eine B e obachterhaltung aus der Wissenschaft heraus.
Die andere Frage ist, ob die Funktion ein K r i stallisationspunkt der Bewegung sein kann. Ich
glaube, daß das nicht der F a l l ist, d a ß vielmehr die Protestthematik selbst es den Bewegungen erspart, sich die Funktion vorzustellen, was ja immer bedeuten w ü r d e , sie in einem Vergleichshorizont zu stellen: Andere machen es auch, vielleicht besser. Das gilt übrigens auch f ü r die Funktionssysteme. Ich komme mehr und mehr dazu, i n dem M a ß e , als ich
diese Autopoiesiskonzeption f ü r die Funktionssysteme durcharbeite, immer deutlicher zu
sehen, daß die Funktion eigentlich gar kein
Element ist, das dazu beiträgt. Abgrenzungen
gegenüber der Umwelt und Kontinuitäten in
den Verkettungen der Kommunikation zu erzeugen. Bei schwierigen Situationen greift man
auf ein Ziel zurück, in der Jurisprudenz, in der
Auslegung von Gesetzen z u m Beispiel. Aber
wenn es eine Veränderung i n meiner Theorieentwicklung gibt, dann ist es ein gewisses Verschieben von funktionaler Spezifikation als
evolutionärem Mechanismus, den Vorteilen der
Arbeitsteilung oder Ä h n l i c h e m in Richtung auf
Codierung oder andere Formen von Unterscheidungen, die es erlauben, Kommunikationszus a m m e n h ä n g e zu bilden und abzugrenzen.
Rückt dann Funktion
an zweite
Stelle?
Es handelt sich u m einen zirkulären Sachverhalt. M a n w ü r d e einen Code nicht haben, wenn
der nicht eine bestimmte Funktion bediente,
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aber das sagt eine wissenschaftliche Theorie,
die darüber gelegt w i r d . M a n kann das so beschreiben. A b e r f ü r das praktische Operieren
eines Juristen oder eines Forschers oder eines
Politikers ist es ja keine Frage: Was f ü r eine
Funktion die Politik hat? - wenn er i m Wahlkampf etwa eine Rede halten m u ß . Nicht einmal bei der Ausarbeitung von Parteiprogrammen w i r d das interessant. Soweit ich das faktisch beobachte, gibt es ganz andere, näherliegende Kriterien und Unterscheidungen, und
so glaube ich auch, daß es den Protestbewegungen mit ihren jeweils spezifischen Thematiken so ergeht: D i e nehmen ihr Thema ernst
und sehen nicht die Funktion der Thematisierung.
Obgleich ich mich frage, ob das bei den Funktionssystemen
soviel anders ist. Das die, die
dort tätig sind, die Kommunikation,
die dort
stattfindet, nicht auch in gleicher Form ernstnehmen ?
Das wollte ich sagen. Es kann Grenzfälle geben. Was ist die Funktion etwa i m Verfassungsgerichtsbereich, was ist die Funktion von
Politik, was die Funktion der Rechtsprechung?
Das m u ß man getrennt halten, die Rechtsprechung darf nicht anstelle von Politik treten. Es
gibt also Fälle, w o solche Überlegungen i n die
unmittelbare juristische oder politische Argumentation eindringen, aber i m wesentlichen
geht es natürlich u m den Artikel so und so des
Grundgesetzes, u m rechtmäßig/rechtswidrig
oder verfassungsmäßig/verfassungswidrig, und
nur f ü r die wissenschaftliche Konstruktion wenn man wissen w i l l , weshalb bestimmte b i näre Codes Karriere machen in der Evolution
und weshalb sie uns praktisch aus der stratifizierten Gesellschaft herausgeführt haben - würde man die funktionale Spezifikation der gesellschaftlichen Probleme als Antwort benötigen. Ich denke also, f ü r die Theorie ist es
wichtig, daß man die theoretische Konstrukti-
on unterscheidet von dem, was i n der Realität
autopoietisch funktioniert. Aber wenn man wissen w i l l , wie eine Operation eine andere erkennt, wie also ein Jurist w e i ß , welche juristischen Folgen eine Entscheidung hat, oder eine
Forschung weiß: „Wenn w i r das beweisen können, mit den und den Methoden, können w i r
das so und so publizieren i n dem und dem
Kontext", oder wenn man an Familienbildung
oder Religion denkt...dann ist die Funktion der
Entscheidung, die Funktion Religion oder die
Funktion der Familie, kein kommunikatives
Thema.
Eine weitere Funktionsbestimmung
haben Sie
1984 in 'Soziale Systeme' mit dem Begriff des
Konflikt- bzw. Immunsystems
vorgenommen,
wobei soziale Bewegungen
auch die Funktion
von Immunsystemen
einnehmen können. Ist das
vereinbar mit der Funktionsbestimmung,
die
oben diskutiert wurde, und wie läßt sich das in
die Gesellschaftstheorie
einbauen?
Soziale B e w e g u n g e n
als Immunsysteme
Wenn man ein sehr generelles Konzept der
Immunologie in die Gesellschaftstheorie einbaut, geht es um die Erzeugung v o n K o n f l i k ten oder Widersprüchen i m kommunikativen
Sinne, also um Wider-Sprechungen, wenn man
so sagen darf, die Probleme anvisieren, die
letztlich i m Verhältnis von System und U m welt ihre Wurzeln haben, w o aber die Umwelt
für die Gesellschaft nicht zugänglich ist, es sei
denn i n der Form von Themen der K o m m u n i kation. In diesem Sinne kann man generell
sagen, daß Konflikte - also Widersprechungen, Neinsagen, Ablehnungen und so etwas die Funktion haben, die Realität präsent zu
machen, ohne i n die Umwelt ausgreifen zu
können oder zu müssen. In neueren Überlegungen formuliere ich das auch als eine A r t
von Realitätstest. Es gibt i n der Linguistik, bei
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den Dekonstruktivisten, die Formulierung, daß tes gehen, und dann werden mit solchen Thealle Realität durch „resistence of language an- men Selbstverständlichkeiten i n die F o r m eigainst language" getestet wird, also daß die nes Widerspruchs gebracht, und dazu gehört
Sprache der Sprache widersteht. Nicht, daß eben die generelle Annahme, daß Widerspruch
man sich irgendwo draußen aufhält und sich die Form ist, i n der w i r uns selbst der Realität
dann sozusagen kalte Füße holt, sondern daß bewußt werden, uns selbst der Realität aussetes gesagt werden m u ß . Wenn man das ganz zen, obwohl w i r auf U m w e l t nicht durchgreigenerell i n die Systemtheorie einbaut, hat man fen können mit unseren Kommunikationen.
u n g e f ä h r dasselbe, was ich mit Immunsystem Das ist also i n gewisser Weise eine theoretibezeichnen w i l l , n ä m l i c h den Realitätstest sche Neuentwicklung, die extrem konstruktidurch systeminterne Unterscheidungen, die vistisch gedacht ist...
nicht draußen angetroffen werden können. Diese Ü b e r l e g u n g verbreitert nochmals das, was Sie haben in diesem Kontext von
Folgeprobleich 1984 als Immunsystem formuliert habe, zu men funktionaler
Differenzierung
und der
der generellen Frage: K a n n man innen einen Funktion sozialer Bewegungen die Überlegung
Ersatz f ü r die Differenz von innen und außen angesprochen, daß funktionale
Differenzierung
schaffen, oder kann man innen die Welt in der an Grenzen stößt, Greitzen der Kapazität,
GrenForm v o n Realität - „ S o ist es!" - immer zen der Lösung von Problemen,
die sie selbst
voraussetzen, so daß der Test also als Wider- produziert. Könnte das darauf verweisen,
daß
stand abläuft, und nicht einfach in der Form das primäre Differenzierungsprinzip
moderner
von Hypothesen oder Beliebigkeiten?
Gesellschaft sich ändert? Könnten soziale Bewegungen vielleicht ein Indiz dafür sind, daß
entwickelt?
Und wie passen da soziale Bewegungen
hin- sich ein Engpaß
ein?
Zur Evolution moderner Gesellschaft
Soziale Bewegungen bieten die Chance eines
Realitätstestes der modernen Gesellschaft, die
sich i n den Funktionssystemen nur sehr selektiv selber beschreiben kann. Es gibt keine Gesamtbeschreibung, es gibt das, was die Massenmedien beschreiben, was also mit den sozialen Bewegungen eng zusammenhängt, also
was in F o r m von A l a r m , Konflikt, Neuigkeit,
Quantität, Lokales oder was immer als Selektionsprinzip funktioniert, und die sozialen Bewegungen haben dann die Funktion, Realitäten anderer A r t ins Gespräch zu bringen, indem sie Widerspruch anmelden, etwa i n der
Frage, wie die Frauen behandelt werden, oder
wie die Rüstungsindustrie auf Steuersubventionen reagiert. Es m u ß ja immer themenspezifisch sein, es m u ß um die Rüstungsindustrie,
um die atomare Problematik, um die Benachteiligung der Dritten Welt, um etwas Bestimm-
Keine Gesellschaft kann voraussehen, welcher
Differenzierungstyp nach ihr kommt. Einerseits kann ich mir selbst nicht vorstellen, wodurch man funktionale Differenzierung ersetzen könnte, außer i m Sinne einer Katastrophe,
die also das Lebensniveau deutlich absenkt
und dadurch die Menge der B e v ö l k e r u n g reduziert, was sich demographisch auswirken
müßte. Was aber zunimmt i n der gesellschaftlichen Realität, ist eine gewisse selbstkritische
Neuperspektivierung der Funktionssysteme
selbst, zum Beispiel i n der Ö k o n o m i e : Seitdem wir die Planwirtschaft nicht mehr neben
uns haben, haben w i r auch das Vertrauen in
die Marktwirtschaft verloren. Ich meine, das
wird sonntags nicht gesagt, aber bestimmte
P h ä n o m e n e deuten darauf hin w i e zum B e i spiel: Wie kriegt man das Geld zur Investition,
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was i n Massen da ist, aber nicht investiert
wird, oder i n der Politik: Was ist eigentlich die
Funktion v o n Staaten, was ist der Staat heute,
wenn man Somalia oder Jugoslawien oder Sudan ansieht? K a n n man das europäische M o dell überall hin generalisieren, auf tribale Verhältnisse drauflegen, so daß ein tribe die anderen mittels staatlicher Ä m t e r beherrschen kann?
Es gibt Tendenzen, Schwierigkeiten i n den einzelnen Funktionssystemen neu zu sehen, und
was auf die Soziologie z u k ä m e , w ä r e ein Einbau dieser Schwierigkeiten i n die Gesellschaftstheorie selber. Das hatte M a x Weber i n gewisser Weise angefangen, wenn er von Wertkonflikten, Lebensordnungen und tragischen Problemen oder v o n der Bürokratie, die wie ein
stählernes G e h ä u s e wirkt, sprach. Weber war
ja an einer pessimistischen Beurteilung der
Rationalität selber mit der Annahme beteiligt,
auch Bürokratie w ä r e überall, i n der Presse, in
den Parteien, i n allen Organisationen. Aber
das m u ß natürlich am Ende dieses Jahrhunderts anders formuliert werden als am Ende
des vorherigen Jahrhunderts, und an einem sehr
viel breiteren und auch abstrakteren Theoriegeriist a u f g e h ä n g t werden, das ist die einzige
Möglichkeit. Ich glaube nicht, daß die Soziologie, ohne völlig i n Utopien abzudriften, sagen könnte, wie die Welt aussehen wird; vielleicht, d a ß die Gesellschaft schließlich eine
große Organisation sein wird, w o keine NichtMitglieder vorhanden sind. Das wird dann alles völlig utopisch oder paradox - eine Utopie
ist ja eigentlich ein Paradox - also die Vorstellung, d a ß alles ü b e r Organisationen läuft, so
daß die Gesellschaft das Resultat von gesellschaftspolitischen Entscheidungen einer Organisation wäre. Das ist aber mit den sozialethischen Experimenten des Sozialismus erledigt,
so daß heute die historische Erfahrung dagegen spricht. Die Adelsgesellschaften des M i t telalters oder der f r ü h e n Neuzeit konnten sich
auch nicht vorstellen, wie es Ordnung geben
könnte ohne Hierarchie. Hierarchie war gleich-
bedeutend mit Ordnung. U n d w i r k ö n n e n uns
nicht vorstellen, wie die B e v ö l k e r u n g s m e n gen, das Lebensniveau, also die Errungenschaften der Moderne gehalten werden könnten,
wenn w i r funktionale Differenzierung aufgäben. D a hat man kein anderes M o d e l l i n Sicht.
Vor diesem Hintergrund vermehrt sich einstellender Kontingenzen,
auch in der
Selbstbeschreibung der Funktionssysteme:
Wie schätzen Sie da die Zukunft sozialer
Bewegungen
ein ?
Zur Zukunft sozialer B e w e g u n g e n
M a n könnte die Frage so stellen: Werden die
sozialen Bewegungen aufgesogen, werden sie
völlig in die Funktionssysteme aufgenommen?
Das sehe ich noch nicht. Vor allem sehe ich
einen zu engen Zusammenhang zwischen der
Rationalität der Funktionssysteme einerseits
und ihren fatalen Konsequenzen andererseits,
so daß dieser K o n f l i k t eigentlich nicht oder
nur als paradoxe Selbstbeschreibung innerhalb
der Funktionssysteme ausgetragen werden
könnte. Wenn man zum Beispiel die Unterscheidung Entscheider/Betroffene nimmt, und
davon ausgeht, daß ein Funktionssystem Opportunitäten, Gelegenheiten ja nur nutzen kann,
wenn es Risiken eingeht, wie w i l l man dann
den sozialen Bewegungen gerecht werden, die
nur die Betroffenheit thematisieren? W i e soll
das innerhalb des Entscheidungsmodus der
Funktionssysteme geschehen?
Indem man vielleicht vorsorgt, die
Ursachen,
die vermeintlich dafür herhalten müssen, daß
es zu Betroffenheit kommt, von vornherein
versucht auszuschalten ?
Ja, aber das geht wieder nur über Risiko, das
wiederum Betroffenheit erzeugt. M a n verzichtet auf Atomenergie, um dann zu sehen, daß
wir nach einiger Zeit kein Öl mehr haben oder
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den Zustand der Stratosphäre verschlimmert
haben. In meiner Vorstellung von Gesellschaftstheorie läuft das auf die Problematik der Paradoxie hinaus. Wenn man die Differenz von
Entscheidung und Betroffenheit aufheben würde, w ü r d e man ein paradoxes, ein nicht machbares, ein nicht auflösbares Entscheidungsprogramm haben, und dann m ü ß t e man wieder
Unterscheidungen anbieten...Das spricht dafür, daß sich ein gewisser T h e m e n f l u ß , also
eine gewisse Ü b e r n a h m e von Themen einstellt.
Das ist ja i n der Ökologie schon ganz deutlich
zu sehen: Die alte Vorstellung, man könnte
ö k o l o g i s c h e Belange nicht berücksichtigen,
ohne die Wirtschaft selbst zu ruinieren, ist fraglich geworden. Inzwischen entstehen ja Märkte und Aktienfonds f ü r Umweltindustrien. Da
ist sicherlich eine Reihe von Veränderungen
möglich, aber das kann nicht heißen, daß die
Problematik selbst durch die Funktionssysteme absorbiert wird.
Das heißt aber, daß soziale Bewegungen
die
Entwicklung
der modernen Gesellschaft
wahrscheinlich begleiten
werden?
Ja.
Es gibt eine neuere Arbeit von Friedhelm
Neidhardt und Dieter Rucht, die vom „ Weg in die
Bewegungsgesellschaft"
sprechen und damit
meinen, daß sich dieses Phänomen
stabilisiert,
wenn auch nicht institutionalisiert,
in Form
einer
Organisation."
Richtig, das ist jedenfalls das, was von der
Beobachtungsperspektive des Moments, von
der jetzigen Situation aus, die wahrscheinlichere Fassung ist, wahrscheinlicher als umgekehrt: D a ß alles letztlich innerhalb der Funktionssysteme aufgesogen wird, was man sich
natürlich vorstellen kann i m politischen Bereich: D a ß sich etwa die Parteienstruktur diesem P h ä n o m e n anpasst, daß es also Parteien
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gibt, die i m wesentlichen die Interessen der
sozialen Bewegungen zu ihren eigenen machen - aber die m ü ß t e n dann ja auch irgendwie regierungsfähig sein...
Das wird ja ziemlich unübersichtlich
in Zukunft, fiinf oder sechs
Parteien...
werden
Ja, und sie müssen alle ein Universalprogramm
haben, sie müssen ja auch f ü r die Außenpolitik, auch f ü r Bereiche, die mit der Protestthematik ihrem Ursprung nach nichts zu tun haben, Konzepte anbieten, und sie m ü s s e n K o alitionen eingehen können. Es scheint überall
das P h ä n o m e n zu sein, daß die Funktionssysteme gleichsam Dellen bekommen oder auch
beeindruckbar sind durch Probleme und ernsthafter experimentieren m ü s s e n mit Politiken
oder mit Wirtschaftsprogrammen, auf die sie
nicht von selbst gekommen w ä r e n , auf die sie
von außen gestoßen werden...aber ich glaube
nicht, daß das ausreichen wird, um die Regenerierung neuer sozialer Bewegungen zu verhindern, es w ä r e auch eigentlich fragwürdig,
warum.
Wenn man Ihre frühen Schriften
liest, dann
war eindeutig, warum sie nur ein
gefährliches
Moment moderner Gesellschaft darstellen. Sie
haben gesagt, es wäre ein beunruhigendes
Ereignis, daß es soziale Bewegungen
gibt.'
2
Ja, das ist es ja auch...
Ja, aber das kommt 1991 gar nicht mehr zum
Vorschein, da heißt es dann: Es ist ein historisches Verdienst, daß es sie gibt.
13
Ja, die Beunruhigung ist ja doch immer noch
aktuell. Ich müßte meine alten Sachen mal
lesen, um zu sehen, ob ich mir selbst widerspreche.
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Es ist so beobachtet
69
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worden von
anderen... *
1
Ja,ja, aber das sind sie doch auch...das m u ß
ich noch sagen: Ich habe ja nie wirklich systematisch auf diesem Gebiet gearbeitet, und
wenn ich zum Beispiel v o n beunruhigend spreche, dann ist das eine positive Ä u ß e r u n g , nicht
eine negative...
Es ist so eine Stimmung, die fi üher bei Ihnen
durchschlug und 1991 dann so revidiert wird,
daß man das Gefühl hat, daß Sie
allmählich
Ihren Frieden geschlossen
haben mit den sozialen
Bewegungen.
Wie kann man mit Fehlern 'Frieden schließ e n ' ? vieles ist i m übrigen Interpretation von
der anderen Seite, und vieles beruht immer
noch auf der Vorstellung, ich sei irgendwie in
Bezug auf die Gesellschaft zu affirmativ oder
zu konservativ eingestellt, und dann werden
kurze Ä u ß e r u n g e n wie etwa die genannte in
einer Weise interpretiert, wie sie eigentlich
nicht gemeint waren. M i r war seit jeher klar
gewesen, daß eine begrifflich durchkonstruierte Gesellschaftstheorie viel radikaler und viel
selbstbeunruhigender wirken w ü r d e als sich
punktuelle Kritiken, Kapitalismuskritiken zum
Beispiel, je vorstellen könnten.
Niklas Luhmann ist emeritierter Professor f ü r
Soziologie an der Universität Bielefeld.
Das Interview f ü h r t e Kai-Uwe
Hellmann.
vgl. Luhmann 1991: Protestbewegungen, in:
ders.: Soziologie des Risikos, de Gruyter 135-154
"vgl. Luhmann 1991: 135
vgl. Luhmann 1986: Ökologische Kommunikation: Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Westdeutscher
Verlag 237ff; Japp, Klaus P. 1986a: Kollektive
Akteure als soziale Systeme?, in: H.-J. Unverferth (Hrsg.): System und Selbstproduktion. Verlag Peter Lang 166-191: 178f
3
5
vgl. Ahlemeyer, Heinrich W. 1989: Was ist eine
soziale Bewegung? Zur Distinktion und Einheit
eines sozialen Phänomens, in: ZfS, Jg. 18, Heft 3,
175-191
vgl. Luhmann 1982: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Suhrkamp
vgl. Luhmann 1990: Gesellschaftliche Komplexität und öffentliche Meinung, in: ders.: Soziologische Aufklärung Bd. 5. Konstruktivistische Perspektiven. Westdeutscher Verlag 170-182
vgl. Luhmann 1986: 234
vgl. Luhmann 1987: Tautologie und Paradoxie
in den Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft, in: ZfS, Jg. 16, Heft 3, 161-174
vgl. Neidhardt, Friedhelm/Rucht, Dieter 1993:
Auf dem Weg in die 'Bewegungsgesellschaft'?
Uber die Stabilisierbarkeit sozialer Bewegungen,
in: Soziale Welt, Jg. 44, Heft 3, 305-326
vgl. Luhmann 1984: „Diese Effekterzeugung
durch nichtintendierte Effektkumulation gehört zu
den beunruhigenden Erscheinungen der modernen Gesellschaft, die schwer zu fassen und einzuordnen sind." (545)
vgl. Luhmann 1991: „Die Protestbewegungen
können sich das historische Verdienst zuschreiben, Themen entdeckt und ins Gespräch gebracht
zu haben." (153)
vgl. Rucht 1991: The Study of Social Movements in Western Germany. Between Activism
and Social Science, in: Neidhardt/Rucht (Ed.):
Research on Social Movements. The State of the
Art in Western Europe and the U S A . Campus/
Westview Press 175-202: 192; Rucht, Dieter/Roth,
Roland 1992: „Über den Wolken...". Niklas Luhmanns Sicht auf soziale Bewegungen, in: Forschungsjournal NSB, Heft 2, 22-33: 23
6
7
8
9
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11
12
13
14
Anmerkungen
vgl. Luhmann, Niklas 1984: Soziale Systeme.
Grundriß einer allgemeinen Theorie, Suhrkamp
488ff
vgl. Luhmann 1984a: Widerstandsrecht und politische Gewalt, in: Z f R S 6, Heft 1, 36-45; ders.
1988: Frauen, Männer und George Spencer Brown,
in: ZfS, Jg. 17, Heft 1, 47-71
1
2
70
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Piotr Sztompka
Jenseits von Struktur und
Handlung: Auf dem Weg zu einer
integrativen Soziologie sozialer
Bewegungen
1
1.
Zwei Soziologien in der
Bewegungsforschung
Die Soziologie sozialer Bewegungen ist ebenso
wie andere Disziplinen der Soziologie auf das
Engste mit Gesellschaftstheorie verbunden, und
das in Form einer Wechselbeziehung. Zum einen
Hegen der Beschäftigung mit sozialen Bewegungen immer - mehr oder weniger explizit - Vorstellungen von Gesellschaft zugrunde. Zum anderen neigt Bewegungsforschung dazu, im Forschungsprozeß bestimmte Gesellschaftsbilder zu
bestätigen, während andere bestritten werden. Mit
anderen Worten: Unterschiedliche Gesellschaftstheorien enthalten ebenso unterschiedliche Wahrnehmungen sozialer Bewegungen, wie unterschiedliche Gesellschaftstheorien durch Bewegungsforschung mehr oder weniger Bestätigung
erfahren.
So versteht die Entwicklungstheorie
(Historizismus), die dem historischen Prozeß eine bestimmte
Logik zuordnet, gleich einem 'ehernen Gesetz'
der Geschichte, soziale Bewegungen lediglich
als Symptome, Epiphänomene des fortlaufenden
sozialen Wandels. Sie erscheinen wie Fieber, in
Phasen sozialer Krisen, Zusammenbrüche oder
evolutionärer Durchbrüche. Die wirklichen Ursachen sozialen Wandels liegen jedoch woanders, im Bereich der historischen Notwendig-
keit. Die Post-Entwicklungstheorie
('post-developmentalist theory') konzentriert sich dagegen auf die kreative Rolle menschlicher Akteure
und verweist auf die kontingente, unabgeschlossene Natur des historischen Prozesses. Insofern
behandelt diese Theorie soziale Bewegungen in
einer vollständig anderen Weise: als Agenten,
Schöpfer, Konstrukteure, kurz: als die eigentlichen Akteure im historischen Prozeß.
Betrachten wir einmal die orthodoxe Version des
historischen Materialismus im Vergleich zur modernen Theorie der „Neuen Sozialen Bewegungen". A u f den ersten Blick hegt der Unterschied
vor allem in der Art und Weise, wie Kollektivitäten verstanden werden: als homogene ökonomische Klassen oder aber heterogene Interessengruppen, die klassenübergreifend organisiert sind.
In Wirklichkeit aber ist der Unterschied viel
grundlegender. In der marxistischen Theorie werden soziale Bewegungen, die ihre Wurzeln in
Klasseninteressen haben, als diejenigen verstanden, die Geschichte machen: Vermittler, Träger,
Ausführende der notwendigen evolutionären Tendenzen. Zumindest setzen sie den historischen
Prozeß frei oder beschleunigen ihn. Sie treten
mit der Unvermeidlichkeit universaler historischer Muster auf, sie tauchen zu vorherbestimmten Momenten auf, um ihre revolutionäre Missi-
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on zu erfüllen und anschließend die soziale Bühne wieder zu verlassen.
In der modernen Theorie sozialer Bewegungen
werden sie als eigentliche kausale Agenten des
sozialen Wandels und nicht bloß als Folgeerscheinungen eines autonomen historischen Prozesses gesehen. Sie führen Transformationen und
Revolutionen nicht nur aus, sondem produzieren, konstruieren, schaffen sie auch. Sie schreiben bewußt das Drehbuch der Geschichte, anstatt bloß vorgegebene Rollen einzunehmen. Deshalb erscheinen sie auch nicht automatisch dann,
wenn sie gebraucht werden, sondern müssen eigens erst rekrutiert und mobilisiert werden. Sie
kämpfen für kein absehbares, letztes Ende der
Geschichte, das allenfalls beschleunigt werden
kann, sondern f ü r bestimmte Anliegen, die bewußt gewählt werden.
Wenden w i r uns einem anderen Paar sich einander widersprechender Theorien zu. Innerhalb der Systemtheorie
der Gesellschaft (z.B.
des orthodoxen 'Strukturfunktionalismus')
werden soziale Bewegungen als Störungen,
Pathologien, abweichende Erscheinungen der
Unordnung oder sozialer Dysorganisation verstanden, die wiederum vom Gleichgewichtsmechanismus des sozialen Systems kompensiert werden m ü s s e n . Der moderne
RationalChoice-Ansatz
betrachtet soziale Bewegungen
dagegen als g e w ö h n l i c h e Mittel, um politische Ziele zu erreichen, als besondere Formen
politischen Handelns, wie sie von kollektiven
Akteuren zur Erreichung ihrer Ziele wahrgenommen werden, wenn sie von der Routine,
den institutionellen Wegen der Interessensvermittlung genug haben.
Zur Generalisierung und Vereinfachung dieser
Beispiele k ö n n e n w i r sagen, daß es zwei traditionell entgegengesetzte Vorstellungen von
Gesellschaft gibt, an die sich zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen von sozialen Bewe-
71
gungen anschließen. A l l a n Dawe zeigt die G e gensätze dieser beiden Soziologien auf, wenn
er sagt, „daß sich der grundlegende Dualismus
soziologischen Denkens und Forschens, auf
dem die gesamte Geschichte dieser Disziplin
beruht, geändert hat. Immer handelte es sich
um einen offenen Konflikt zwischen zwei A r ten sozialer Analyse, verschiedlich beschrieben als die Unterscheidung von organischen
und mechanischen A n s ä t z e n , methodologischem Kollektivismus und methodologischem
Individualismus, Holismus und Atomismus,
konservativen und emanzipatorischen Perspektiven, und so fort (...) Moderne Soziologie steht
zwischen dem Gegensatz von Systemtheorie
(oder Strukturtheorie, wie es neuerdings heißt)
und Handlungstheorie." (Dawe 1978: 366)
Es scheint, daß die 'zwei Soziologien' sozialer Bewegungen anhand ähnlicher Kriterien
unterschieden werden können. Das erste M o dell betont die Mobilisierung der Akteure: Soziale Bewegungen werden aus der Teilnehmerperspektive wahrgenommen, wenn Entfremdung, Enttäuschungen, Frustrationen soweit
zugenommen haben, daß ein kritischer Punkt
überschritten wird (Gurr 1970). Eine Variante
dieser Sichtweise legt das B i l d eines Vulkans
zugrunde (Aya 1979). Soziale Bewegungen
werden als spontane A u s b r ü c h e kollektiven
Verhaltens gesehen, die später erst Führerschaft, Organisation und Ideologie aufweisen
(Bewegungen gleichen Ereignissen). M a n c h mal herrscht eine unternehmerische oder verschwörungstheoretische Perspektive vor. Dann
wird soziale Bewegung verstanden als zielgerichtetes kollektives Handeln, bei dem Rekrutierung, Mobilisierung und Kontrolle von Führern und Ideologen geleistet werden, um bestimmte Ziele z u erreichen (in diesem F a l l sind
Bewegungen 'hergestellt') (Tilly 1978).
Das zweite, entgegengesetzte M o d e l l hebt den
strukturellen Kontext hervor, der die Entste-
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hung sozialer Bewegungen erleichtert oder erschwert; danach tauchen Bewegungen dann
auf, wenn die Bedingungen, Umstände, Situationen günstig sind. Eine Variante dieses M o dells arbeitet mit der Metapher des Sicherheitsventils: Das Bewegungspotential, wie es
in gewissem U m f a n g in jeder Gesellshaft vorhanden ist, bricht durch, wenn es vom Druck
von oben befreit ist, wenn die Beschränkungen, Blockaden und Kontrollen des politischen
Systems in ihrer Wirkung nachlassen (Skocpol 1979). Eine andere Variante betont den
Zugang zu Ressourcen; Bewegungen entstehen, wenn sich neue M i t t e l und Gelegenheiten
anbieten, die die Entstehung kollektiven Handelns u n t e r s t ü t z e n ( M c C a r t h y / Z a l d 1977;
Jenkins 1983). Meistens wird der gegenwärtige Zustand des politischen Systems - insbesondere die A u s p r ä g u n g der 'politischen Gelegenheitsstruktur' (Tarrow 1983) - sowohl im
Sinne von restriktiven als auch begünstigenden Bedingungen - als der entscheidende Faktor f ü r die Entstehung sozialer Bewegungen
gesehen.
2.
Die S u c h e n a c h Synthese
Seit neustem sind wir Zeugen einer fundamentalen Umorientierung innerhalb der allgemeinen
soziologischen Theorie: Der traditionelle Gegensatz zwischen Individuen und sozialen Einheiten
wird in einer moderneren Sprache reformuliert
als die Beziehung zwischen Handlungen und
Strukturen. Dabei fällt ein beträchtliches Ausmaß an Übereinstimmung auf, was die reziproke
Verbindung und die gegenseitige Abhängigkeit
beider Seiten voneinander betrifft. Es wird einerseits zugestanden, daß Strukturen nicht ohne
Handlungen auskommen, die sie produzieren und
unterstützen; ihnen kommt nur 'virtuelle E x i stenz" zu (Giddens 1984: 17). Andererseits wird
ebenso davon ausgegangen, daß Handlungen
grundsätzlich nicht ohne Strukturen möglich sind,
die sie erzeugen oder unterstützen; in diesem
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Sinne haben also auch Handlungen eine bloß
'virtuelle Realität'. Es gibt keine Strukturen ohne
Handlungen und keine Handlungen ohne Strukturen. Festzuhalten ist jedoch, daß Strukturen
mehr sind als die Summe der Handlungen, aus
denen sie bestehen; sie sind unabhängige Netzwerke, 'emergente Erscheinungen',
denen bestimmte Eigenschaften und Eigengesetzlichkeit
zukommen. Entsprechend sind auch Handlungen mehr als bloß strukturelle Effekte; bei ihnen
handelt es sich um 'emergente
Erscheinungen',
die nicht vollständig durch Strukturen determiniert sind und gleichfalls eigene Autonomie besitzen. Die „zwei Soziologien" sind somit einander näher gekommen.
Es herrscht ein günstiges intellektuelles K l i ma, um dieses Unternehmen d u r c h z u f ü h r e n .
Die Suche nach Synthese, Versöhnung, Offenheit, mehrdimensionalen Standpunkten zeichnet sich deutlich ab. Sicherlich sind die A n fänge dieser integrativen Absicht schon älteren Datums. Schon in den Sechzigern und Siebzigern war gelegentlich von Integration, Synthese, goldenem Mittelweg oder
Vermittlung
die Rede. Aber erst seit kurzem ist dieses Vorhaben auch bis in die theoretische Soziologie
vorgedrungen und wurde dort vorrangig. Zeitgenössische Beobachter legen davon einstimmig Zeugnis ab: „Überall in den Zentren der
westlichen Soziologie - in England und Frankreich, in Deutschland und den U S A - ist das
synthetische und nicht das polemische Theoretisieren die Losung des Tages." (Alexander
1988a: 77). „Eine große Bandbreite theoretischer Anstrengungen ist in der zeitgenössischen
soziologischen Theorie auf den Weg gebracht.
(...) Das Einverständnis in der soziologischen
Theorie besteht darin, neue Theorien durch
eine Vielzahl von synthetischen Überlegungen
zu schaffen." (Ritzer 1989: 36-37). Diese Tendenz der theoretischen Suche nach Synthese
hat sich auch in der Soziologie sozialer Bewegungen niedergeschlagen. So hat Bert K l a n -
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dermans gesagt, d a ß der starke strukturelle (organisatorische) B i a s des en vogue befindlichen Ressourcenmobilisierungsansatzes dazu
führt, d a ß die individuelle, sozialpsychologische Dimension vernachlässigt wird. Dem kann
nach Klandermans nur abgeholfen werden, indem die sozialpsychologische Theorie selber,
etwa durch die Betonung von Zweckrationalität, Konsensusmobilisierung und Handlungsmobilisierung, überarbeitet und mit einem entsprechend in seine Schranken verwiesenen Ressourcenmobilisierungsansatz verbunden wird.
„Die Theorie, wie sie hier vorgestellt wird,
zielt darauf, sowohl mit den traditionellen sozialpsychologischen Ansätzen als auch mit der
Ressourcenmobilisierungstheorie zu brechen,
sofern diese sozialpsychologische Analysen
außer A c h t läßt." (Klandermans 1984, 596-7)
M y r a M a r x Ferree und Frederick M i l l e r haben
einen ähnlichen Versuch unternommen, die Perspektive des Ressourcenmobilisierungsansatzes dadurch zu ergänzen, daß sie die subjektive Komponente einführen. Sie haben dazu zwei
psychologische Prozesse hervorgehoben, die
typisch sind f ü r reformorientierte oder revolutionäre Bewegungen. Der eine Prozeß betrifft
die Systemzuschreibung, h ä u f i g in Form von
Politisierung, was bedeutet, daß Unzufriedenheit und Protest eher an institutionelle Strukturen als an Personen (Entscheidungsträger)
adressiert werden. Der andere P r o z e ß beschäftigt sich mit den Bindungseffekten von Bewegungsteilnehmern, was auf jene B e w e g g r ü n d e
zielt, die ausschlaggebend sind f ü r Rekrutierung und kollektives Handeln. A u s diesem
B l i c k w i n k e l heißt das, den psychologischen
Ansatz z u verbessern und in die strukturellorganisatorischen Theorien einzuführen, um sie
gehaltvoller z u machen. „ N i m m t man kognitive sozialpsychologische Annahmen anstelle der
Incentive-Terminologie in den Ressourcenmobilisierungsansatz mit auf, könnte das dazu
beitragen, sowohl die Beziehungen zwischen
1
Bewegungen und Gesellschaft als auch z w i schen Evolutionsprozessen und dem Wachstum, dem Bewegungsorganisationen ausgesetzt
sind, besser zu verstehen." (Fenee/Millerl985:55)
Noch auffälliger ist der Versuch, die ' K l u f t
zwischen kollektivem Handeln und Ressourcenmobilisierung z u ü b e r b r ü c k e n ' , wie es
Ralph Turner als einer der f ü h r e n d e n Vertreter
der Theorie kollektiven Handelns formuliert
hat. Turner anerkennt die kognitiven Errungenschaften, die dem Ressourcenmobilisierungsansatzes z u verdanken sind, hält dem jedoch entgegen, d a ß es sich dabei nicht um
eine unvereinbare Alternative zu dem mehr
traditionellen Ansatz von Park, Blumer, Smelser und ihm selbst handele. E r gesteht zu, daß
die Ressourcenmobilisierungstheorie zentrale
Einsichten für drei bisher unbeantwortete Fragen der gängigen Theorie kollektiven Handelns geliefert hat. So richtet sich eine Frage
an das 'Außerinstitutionelle': Warum verlassen Menschen etablierte institutionelle Wege?
Eine zweite beschäftigt sich mit der ' Ü b e r f ü h rung von G e f ü h l in Handlung': Warum setzen
Menschen außerinstitutionelle Dispositionen in
Handlung um? D i e dritte Frage betrifft das
Rätsel des 'gemeinschaftlichen Handelns':
Warum kommen Menschen zusammen, um
gemeinsam ihre G e f ü h l e und B e d ü r f n i s s e zum
Ausdruck zu bringen? Festzuhalten ist somit,
daß beide Theorien ihr relatives Recht behalten, um „eine vollständigere und ausgewogenere Theorie sozialer Bewegungen in A n g r i f f
zu nehmen, die die wesentlichen Positionen
beider Seiten inkorporiert." (Turner 1987: 1)
Überdies wird auch jenseits des theoretischen
Schismas die Bereitschaft zur Zusammenarbeit signalisiert. D i e eigentlichen ' V ä t e r ' des
Ressourcenmobilisierungsansatzes,
Doug
M c A d a m , John McCarthy und M a y e r Zald,
haben eine Übersicht des theoretischen Feldes
sozialer Bewegungen vorgenommen, die mit
[74
einem Manifest der Versöhnung beginnt: „Nur
wenn es gelingt, die unterschiedlichen konzeptionellen Ansichten der neueren und älternen
Ansätze miteinander zu kombinieren, können
wir hoffen, ein volles Verständnis der Bewegungsdynamik zu gewinnen." ( M c A d a m / M c Carthy/Zald 1988: 695) Ihre Zuversicht rührt
daher, daß sie einseitige Erklärungen zurückweisen, ob diese nun 'von oben' her, d.h. strukturorientiert, oder 'von unten' her, d.h. handlungsorientiert, beobachten. Stattdessen erhellen sie die Verbindungen zwischen makrostrukturellen Bedingungen politischer, ökonomischer
und organisatorischer Natur und der Mikrodynamik entstehender Bewegungen. „Der Punkt
ist, daß w i r soziale Bewegungen weder nur vom
Individuum noch nur vom Gesellschaftsprozeß
her konstruieren können. Wir glauben, daß die
wichtigen Prozesse auf einer dritten Ebene stattfinden, die zwischen dem Individuum und den
Makrobedingungen liegt, die sie umgeben."
(McAdam/McCarthy/Zald 1988: 709)
Bezugnehmend auf den Gegensatz der momentan dominierenden Ansätze - 'Ressourcenmobilisierung' und 'Neue Soziale Bewegungen' kommen Friedhelm Neidhardt und Dieter Rucht
zu einem aufschlußreichen Kommentar: „Im
ganzen gesehen ergänzen sich die verschiedenen Perspektien und Interessensgebiete beider
Ansätze eher als d a ß sie sich widersprechen."
(Neidhardt/Rucht 1991: 442) Diese Suche nach
Synthese und Versöhnung scheint richtig und
angemessen zu sein. Soziologische Weisheit ist
nicht von nur einer Theorie oder Schule gepachtet. Die enorme Komplexität, die das Phänomen sozialer Bewegungen aufweist, erfordert unterschiedliche Formen der Aufklärung
und kann nur durch eine Mehrzahl von Theorien, oder letztlich, nur durch eine multidimensionale Theorie angemessen erklärt werden.
„Anstrengungen, eine Beziehung herzustellen
zwischen den unterschiedlichen Ansätzen, können uns dazu befähigen, eine umfassendere Idee
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von den sozialen Regelmäßigkeiten zu bekommen, die hinter dem Auftauchen, Bestehen und
Einfluß sozialer Bewegungen stehen." (Neidhardt/Rucht 1991:443)
Aber selbst wenn man das alles zugesteht, m u ß
man der Gefahr eines reinen Eklektizismus
gewahr werden, wenn völlig disparate Teile
aus den unterschiedlichen A n s ä t z e n in schlicht
additiver Weise z u s a m m e n g e f ü h r t werden, anstatt sie in einen systemisch ausgebreiteten
Theorierahmen einzubetten. Es ist jedoch zweifelhaft, ob die neuesten A n l ä u f e , diese Synthese in A n g r i f f z u nehmen, w i r k l i c h in der
Lage sind, dieser Gefahr zu entgehen.
3.
'Social B e c o m i n g ' als integratives
Konzept
Vor fast zwei Jahrzehnten hat Robert Merton
angesichts des unerläßlichen Pluralismus soziologischer Theorien die Forderung nach einem „disziplinierten Eklektizismus" (Merton
1976: 142) gestellt. Meiner Auffassung nach
bedeutet das, das Chaos von Theorien mit geringem Abstraktionsgrad durch allgemeinere,
umfassendere Theorien zu disziplinieren. K o n kret beinhaltet dies die Integration und Z u s a m m e n f ü h r u n g unterschiedlicher Theorien
durch einen gemeinsamen Fundus von Annahmen, fundamentalen Voraussetzungen oder
Konzepten. Die dabei entstehenden Modelle,
die den meisten soziologischen Theorien sozialer Bewegungen zugrunde liegen und auf
der grundsätzlichen G e g e n ü b e r s t e l l u n g von
Ganzheiten (Struktur) und einzelnen Teilen
(Handlung) oder von objektiven (strukturellen, organisatorischen, institutionellen) Rahmenbedingungen und subjektiven Absichten,
Haltungen, Motivationen aufbauen, scheinen
höchstens eine 'undisziplinierte', eklektische
Kombination von Komponenten solcher Theorien zu erzeugen (etwa durch das H i n z u f ü g e n
einiger psychologischer Einsichten in die Or-
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ganisationstheorie, oder durch den Aspekt der
Ergänzung der Motivationstheorie durch die
Verfügbarkeit von Ressourcen, oder die Bereicherung v o n Mikrostudien durch die Einbeziehung makrostruktureller Restriktionen). U m
eine wirkliche Synthese zu erreichen, m u ß das
integrative Rahmenwerk verbessert werden,
und zwar durch eine allgemeine Gesellschaftstheorie, die in der Lage ist, auf organische
Weise unterschiedliche Dimensionen der sozialen Welt miteinander zu vereinen.
Es besteht also ein Bedarf, die beiden noch unvollständigen Theoriesynthesen - sowohl einen
handlungsmäßig angereicherten 'Strukturahsmus'
als auch einen strukturell abgestützten 'Personalismus' - zu überwinden, um eine Synthese
dieser Synthesen zu gewinnen, die endlich den
wechselseitigen Bedingungsfaktoren (und der
wechselseitigen 'Autonomie') ebenso gerecht
wird wie der verblüffenden Tatsache einer sich
gegenseitig bedingenden virtuellen Existenz von
individueller und sozialer Sphäre. Zwei Überzeugungen, die fest in der intellektuellen Tradition verankert sind, verlangen somit dringend nach
einer Vereinigung: daß der Mensch ein soziales
Wesen darstellt und daß Gesellschaft ein menschliches Produkt ist. Die Anstrengung, beides zusammenzubringen, kann sich nicht auf bloße A d dition beschränken; es m u ß eine „dritte Soziologie" entwickelt werden, anstatt die beiden bestehenden Ansätze nur zu kombinieren.
Das Projekt einer 'dritten Soziologie' versucht,
letzte, radikale Implikationen aus der Erfahrung
von Dualität und Ambivalenz aufzuzeigen, wie
sie in der Alltagserfahrung und der soziologischen Theorie aufscheinen: Die Tendenz, das
Individuelle, Private und Persönliche dem Sozialen, Öffentlichen und Kollektiven gegenüberzustellen, Einzelpersonen und soziale Ganzheiten als separate Einheiten zu sehen und Individualität und Totalität als verschiedene 'Welten'
zu deuten. Welche Art von Realität muß unter-
75
stellt werden, um derartigen Auffassungen Rechnung zu tragen? Was ist die zugrundeliegende
Essenz menschlicher Gesellschaft, die solche Erfahrungen verständlich machen könnte?
Zur Beantwortung dieser Fragen bedarf es der
Zurückweisung einiger vermeintlich offensichtlicher Wahrheiten. Warum wird nicht erkannt,
daß weder das Individuum noch das Soziale als
getrennte Einheiten vorstellbar sind? Denn, so
G H . Cooley, „Individuum und Gesellschaft sind
Zwillinge". Es gibt keinen Weg, Menschen ohne
sozialen Kontext zu denken, weil schon die Definition des Individuums aufs Soziale verweist:
sei es Familie, Stamm, lokale Gemeinschaft, N a tion, Berufsgruppe usw. Ebensowenig ist es möglich, soziale Einheiten ohne Individuen zu denken, aus denen sie bestehen, weil schon die Definition des Sozialen die Bezugnahme auf seine
Komponenten, als Gruppenmitglieder, Positionsinhaber, Rollenträger usw. beinhaltet.
Das führt uns schließlich zu dem zentralen
Anspruch einer Theorie, die ich an anderer
Stelle unter dem Titel „Social becoming" (Sztompka 1991) vorgestellt habe: Was wirklich
existiert in der Gesellschaft, im eigentlich ontologischen Sinne, ist das einheitliche,
sozioindividuelle Feld, das sich im ständigen
Prozeß der Selbstverwandlung
befindet, die 'dritte Ebene der Realität' zwischen sozialen E i n heiten und Individuen, wie sie üblicherweise
begriffen werden. Soziale Einheiten und M e n schen führen nur scheinbar eine selbständige
Existenz; ihre Trennung und Gegenüberstellung ist das Produkt einer falschen, verzerrten
Vorstellung; sie gehen zurück auf alltagsweltliche Illusionen und theoretische wie metatheoretische Irrtümer.
Gesellschaft, verstanden als die u n a u f h ö r l i c h e
Transformation des sozio-individuellen Feldes,
besteht ausschließlich aus sozialen Ereignissen. Wieso Ereignissen? Weil sie die einzigen
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elementaren ontologischen Objekte sind, die
den Dualismus überbrücken, den w i r als illusionär und irrtümlich vorgefunden haben. In
ihrer eigenen Konstitution verschmelzen soziale Ereignisse Individuen und soziale E i n heiten, Dauer und Wandel miteinander. Ereignisse haben immer diese synthetische Qualität, indem sie zwei Seinsdimensionen zusammenbringen; sie sind angesiedelt am Schnittpunkt zweier Achsen, die die menschliche Erfahrung in der Gesellschaft organisieren. Welches Ereignis auch immer wir nehmen, ob auf
der Mikroebene ( z . B . Frühstücken) oder auf
der Makroebene (z.B. Kriegführen), grundsätzlich liegt immer eine Beziehung zwischen mindestens einer Person und einem sozialen K o n text vor, der durch die Handlung bekräftigt
oder verändert wird. Das Ereignis beinhaltet
einige aufeinanderfolgende Veränderungen,
aber stabilisiert auch eine gewisse Kontinuität
in der Natur des Gegenstandes.
Ereignisse stehen nicht unverbunden nebeneinander. Sie treten in Form von Clustern und
Reihen, Routinen und Prozeduren, Ketten und
Prozesssen auf; raum-zeitlich miteinander verbunden, v e r k n ü p f e n sie eine Vielzahl von Personen aus unterschiedlichen Kontexten miteinander. Die Totalität der direkt miteinander
verbundenen Ereignisse, die gleichzeitig in der
Gesellschaft ablaufen, soll als Praxis bezeichnet werden. Diese Idee repräsentiert den operationalen A b l a u f innerhalb des sozio-individuellen Feldes z u beliebiger Zeit. Hinzukommt
eine korrespondierende Idee, die den M ö g lichkeitsraum (Kapazität) des sozio-individuellen Feldes hinsichtlich der Bedingungen für
eine durchsetzungsfähige und folgenreiche Praxis angibt. Dies soll mit dem Begriff der Handlungsfähigkeit
('agency') bezeichnet werden.
H a n d l u n g s f ä h i g k e i t und Praxis sind zwei Seiten eines ständig ablaufenden sozialen Prozesses: H a n d l u n g s f ä h i g k e i t wird in der Praxis aktualisiert, w ä h r e n d Praxis die Handlungsfähig-
2/94
keit modifiziert, die sich wiederum in einer
veränderten Praxis reproduziert.
Der höchste Grad der Zusammenführung und
Komplikation wird durch die Einsicht erreicht,
daß sich das sozio-individuelle Feld nicht nur in
seinen Operationen reproduziert, sondern mit der
Zeit auch ausdehnt, manchmal bis hin zu den
Dimensionen der 'longue duree' historischer Epochen. Denn Ereignisse sind nicht nur ko-existent, sie sind auch miteinander verbunden durch
ihre bleibenden Effekte. Ereignisse zeitigen Effekte; materielle Residuen, Erinnerungsspuren,
strukturelle Kombinationen, institutionelle Formen usw., die eine historische Tradition ausbilden. Sie sind ebenso beabsichtigt wie unbeabsichtigt, bewußt wie unbewußt - aber zusammen
bilden sie die Umstände, Bedingungen, Situationen für nachfolgende Ereignisse (Praxis). Das
Netzwerk der Ereignisse reicht über eine direkte
Ko-Existenz in der Praxis hinaus und erlangt
Kontinuität dank der indirekten Verknüpfung der
Bedingungen, die aus vorangegangener Praxis
hervorgebracht wurden als Ausgangsbasis künftiger Praxis. A u f den Begriff gebracht ist das
gleichbedeutend mit Geschichte. Geschichte ist
die unaufhörliche Kette der Praxis, wie sie durch
Tradition vermittelt wird: Gegenwärtige Praxis
stellt sowohl das Produkt vergangener Praxis als
auch die Anschlußbedingungen f ü r zukünftige
Praxis dar. Entscheidend an Geschichte ist die
Ansammlung von Tradition, der permanent anwachsende Umfang des Erbes früherer Praxis,
die dadurch spätere Praxis ebenso beschränken
wie erleichtern kann.
4.
'Dritte S o z i o l o g i e ' und
soziale B e w e g u n g e n
Es gibt ein Gebiet der soziologischen Forschung,
wo die Emergenz des Sozialen ('social becoming') besonders sichtbar ist: Das Studium sozialer Bewegungen. Deshalb auch ist dieser Bereich geeignet, als ein 'theoretisches Dach' ('theo-
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retical umbrella') zu fungieren, unter welchem
verschiedene Ansätze zur Beschreibung sozialer
Bewegungen versammelt und miteinander verbunden werden können. Vor allem repräsentieren soziale Bewegungen die immanente Doppelstruktur der sozialen Realität: die Dialektik von
Individuum und sozialer Einheit, die die grundlegende Annahme der 'theory of social becoming' bildet. So glaubt Anthony Oberschall, daß
Prozesse, wie sie in sozialen Bewegungen von
Bedeutung sind, eine „Verbindung schaffen zwischen den M i k r o - und Makroaspekten der (soziologischen) Theorie." (Oberschall 1973: 21)
Und Zurcher/Snow stellen zurecht fest: „Nirgends
ist die Reziprozität zwischen dem Individuum
und der sozialen Struktur konzeptionell und empirisch offensichtlicher als im Handeln sozialer
Bewegungen". Deshalb gelte: „Das soziale Bewegungsmilieu bildet eine ausgezeichnete Möglichkeit, um zu beobachten, wie soziale Strukturen Handlungen beeinflussen und von ihnen beeinflusst werden." (Zurcher/Snow 1981: 447,
475) Somit bilden soziale Bewegungen ein intermediäres Phänomen in der statischen Struktur
sozialer Wirklichkeit.
Zum zweiten aber bilden soziale Bewegungen
auch ein intermediäres Element der dynamischen Entstehung sozialer Wirklichkeit, der
prozessualen Konstruktion sozialer Realität,
wie eine weitere wesentliche Annahme der
'theory of social becoming' besagt. Deshalb
erlaubt es das Studium sozialer Bewegungen,
soziale Wirklichkeit im statu nascendi zu erfassen. Diese intermediäre Eigenschaft sozialer Bewegungen bedeutet auf der einen Seite,
daß sie an der Herstellung, Konstruktion und
Veränderung der sie umgebenden Gesellschaft
beteiligt sind. Sie sind einer der wichtigsten
Einflußfaktoren, wenn es um gesellschaftlichen
Wandel und Strukturbildung geht. So sagt Alain
Touraine: „Soziale Bewegungen gehören zu
jenen Prozessen, durch die eine Gesellschaft
ihre Organisation, auf der Basis ihres Systems
mm
geschichtlicher A k t i o n , von Klassenkonflikten
und politischen Transaktionen produziert."
(Touraine 1977: 298) Diese Rolle wächst noch
in der modernen Gesellschaft aufgrund günstiger ökonomischer, politischer und ideologischer Bedingungen f ü r die Mobilisierung und
Funktionsfähigkeit sozialer Bewegungen. Im
Zeitalter der Moderne, in den f ü h r e n d e n ,
höchstentwickelten Gesellschaften, stellen sie
die wichtigsten Kräfte sozialen Wandels dar.
Adamson/Borgos stellen mit B l i c k auf die amerikanische Gesellschaft fest: „ B e w e g u n g e n auf
Massenbasis und der Konflikt, den sie vorantreiben, sind die wichtigsten Träger sozialen
Wandels." (Adamson/Borgos 1984: 12) A l l e s
in allem macht es die Erforschung sozialer
Bewegungen daher möglich, die Entstehung
und Veränderung sozialer Strukturbildung gesamtgesellschaftlichen A u s m a ß e s z u erfassen.
Sozialen Bewegungen kommt eine intermediäre Qualität aber auch insofern zu, als sie eine
Zwischenstellung einnehmen zwischen der
schieren A n h ä u f u n g von Handelnden und den
entwickelten, auskristallisierten sozialen Einheiten: „Bewegungen sind weder nur kollektives
Verhalten noch reine Interessengruppen (...).
Vielmehr weisen sie von beiden wesentliche
Merkmale auf." (Freeman 1973: 793) Sie sind
„dauerhafter und integrierter als M o b oder Massen, aber nicht organisiert wie Parteien und andere politische Vereinigungen." (Banks 1972:
8) Deshalb sind besonders soziale Bewegungen
geeignet, den intermediären Prozeß interner
Strukturbildung zu analysieren, und zu zeigen,
wie interne Bewegungsstrukturen entstehen und
sich verändern. Killian faßt diesen Punkt in einer Art und Weise zusammen, die der Sprache
der Theorie des 'social becoming' sehr nahe
kommt: „Das Studium sozialer Bewegungen ist
nicht das Studium stabiler Gruppen oder etablierter Institutionen, sondern von Gruppen und
Institutionen im Prozeß des Werdens." ( K i l l i an 1964: 427)
!78
Bringt man nun all diese Beobachtungen zusammen, so können wir feststellen, daß soziale
Bewegungen in der Tat ein besonderes Phänomen darstellen. Sie sind maßgeblich an der Herstellung gesellschaftlicher Strukturen beteiligt
und bauen sich zugleich selber auf; sie strukturieren sich selbst, um die Gesellschaft z u strukturieren (oder zu restrukturieren). Diese zentrale Eigenschaft kommt auch in Offes Diskussion
der sogenannten 'Neuen Sozialen Bewegungen'
und ihrer charakteristischen Funktionsweise zum
Ausdruck: „Zwei Aspekte sind dafür typisch:
Die A r t und Weise, wie Individuen miteinander
handeln, um ein Kollektiv zu konstituieren („interner Handlungsmodus") und die Methoden,
mit denen sie der äußeren Welt und ihren politischenn Widersachern begegnen („externer Handlungsmodus")." (Offe 1985: 829) Ähnlich bezeichnet Banks soziale Bewegungen als „sozial
kreativ", zugleich aber auch als „sich selbst
erschaffende" ('seif creative') Kollektive. (Banks
1972: 16) M a n kann diesen für sozialen Bewegungen typischen Prozeß 'doppelte Morphogenese' nennen. Eingebunden in den Prozeß doppelter Morphogenese erscheinen soziale Bewegungen als die herausragenden Träger von Strukturbildungen: sowohl interne als auch externe
Strukturen prägend, und das in interdependenten und gleichzeitigen Prozessen.
Die doppelte Morphogenese sozialer Bewegungen sollte jedoch nicht so verstanden werden,
daß eine zeitliche Abfolge besteht zwischen der
inneren Morphogenese (Entstehung bewegungseigener Strukturen) und der äußeren Morphogenese (Entstehung gesellschaftlicher Strukturen aufgrund der Einwirkung sozialer Bewegungen). Es w ä r e ein Fehler zu glauben, daß
die Bewegung zuerst ihr internes Strukturierungspotential aufbaut, um dann über externes
Strukturierungspotential zu verfügen, das
schließlich f ü r strukturelle Reformen eingesetzt
werden kann. Diese Annahme einer linearen
zeitlichen Abfolge und die Unterscheidung von
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'vorher' und 'später' sind aufzugeben.
Die soziale Bewegung produziert oder beeinflußt Veränderungen in der Gesellschaft nicht
nur, wenn sie ihren eigenen Strukturierungsprozeß endgültig abgeschlossen hat, sondern
schon während sie sich selbst aufbaut. Ebenso
wirken gesellschaftliche Veränderungen auf die
Entwicklung sozialer Bewegungen nicht erst
dann zurück, wenn sie abgeschlossen sind, sondern ununterbrochen werden A u f b a u , Karriere, Schwung, Geschwindigkeit und Richtung
sozialer Bewegungen von der Gesellschaft mitbeeinflußt. So hat Lauer mit Recht gesagt: „Bei
einer sozialen Bewegung haben w i r es mit
zwei Prozessen zu tun, die z u s a m m e n h ä n g e n
und sich beeinflussen: der Prozeß, den die Bewegung selbst darstellt, und jene Prozesse, die
in der Gesellschaft stattfinden, in der sich die
Bewegung bewegt." (Lauer 1976: x i v ) Zwei
aufeinander bezogene Prozesse der Strukturbildung - intern wie extern - laufen ständig
zugleich ab. D i e Entstehung einer Bewegung
und die Entstehung neuer sozialer Strukturen
ereignen sich in vielfacher und sich gegenseitig beeinflussender Weise, wobei sie sich sowohl stimulieren als auch behindern können.
Es gibt eine permanente Wechselwirkung z w i schen interner und externer Morphogenese.
Das verleiht dem P h ä n o m e n des 'social becom i n g ' durch den E i n f l u ß sozialer Bewegungen eine besondere Dynamik. Es ist vielleicht
keine Übertreibung, wenn man mit G . Marx
und J. Wood behauptet, d a ß „soziale Bewegungen dynamischer (sind) als die meisten anderen sozialen P h ä n o m e n e . " ( M a r x / W o o d
1975 : 394) Das ist wahrscheinlich auch die
Quelle der Schwierigkeit, jene Prozesse, die
innerhalb sozialer Bewegungen ablaufen, von
jenen Prozessen, die sich in der Gesellschaft
ereignen und « « / s o z i a l e Bewegungen zurückgehen, unter dem Gesichtspunkt von Kausalität und linearen Wirkungsketten auseinander-
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zuhalten. A b e r nur wenn es gelingt, diese komplexe, interdependente, wahrlich dynamische
Qualität sozialer Bewegungen und ihren kreativen E i n f l u ß auf sozialen Wandel zu erfassen,
kommen w i r der empirischen Realität näher
und sind in der Lage, unsere Modelle historisch angemessen zu gestalten.
Übrigens ist es gerade diese Komplexität und
Interdependenz, die das Studium sozialer Bewegungen nicht nur zu einer besonderen Herausforderung werden lassen, sondern es auch
besonders vielversprechend machen. Es steht
deshalb zu erwarten, daß dieses Unternehmen
Licht wirft auf die meisten fundamentalen Prozesse des ' S o c i a l becoming': D i e Produktion
der Gesellschaft durch Gesellschaft.
Piotr Sztompa ist Professor f ü r Soziologie an
der Universität von Krackau.
Die Übersetzung besorgten Kai-Uwe He Ilmann
und Dieter
Rucht.
Anmerkung
Anm. d. Ü.: Der Titel des englischen Originals
lautet: 'Toward the 'Third Sociology' of Social
Movements: Social Becoming as Integrative Concept'. Paper presented at the Closing Plenary Session Reassessing Social Movement Theory der First
European Conference on Social Movements, Wissenschaftszentrum Berlin, October 29-31 1992.
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80
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Werner Bergmann/Rainer Erb
Eine soziale Bewegung
von rechts?
E n t w i c k l u n g u n d V e r n e t z u n g e i n e r r e c h t e n S z e n e in d e n n e u e n
Bundesländern
Die soziologische Bewegungsforschung hat mit
dem B e g r i f f der 'Neuen sozialen Bewegungen' eine normative Entscheidung zugunsten
links-libertärer, emanzipatorischer Bewegungen getroffen, die gleichsam eine „Bewegungsfamilie" darstellen. A l s historische Vorläufer
werden von ihr nur die Emanzipationsbewegungen des 19. und f r ü h e n 20. Jahrhunderts,
wie die Arbeiter- oder die Frauenbewegung,
anerkannt, w ä h r e n d antimoderne Bewegungen
unter diesem B l i c k w i n k e l unbeachtet bleiben,
obwohl völkisch-antisemitische und faschistische Bewegungen historisch äußerst wirkungsmächtig gewesen sind. Die historische Protest- und Bewegungsforschung, die weniger
evolutionstheoretisch als die Soziologie denkt,
hat dagegen nicht nach der Differenz emanzipatorisch/antimodern ausgewählt. W i l l die Soziologie sozialer Bewegungen angesichts der
gegenwärtigen Entwicklungen im rechten politischen Spektrum nicht ihre Interpretationskompetenz einbüßen, sollte sie ihre Festlegung
auf Emanzipationsbewegungen aufgeben und
historische wie heutige antimoderne Bewegungen in ihre Analysen einbeziehen. E i n U m denken in diese Richtung ist im Augenblick
zu beobachten. So haben Friedhelm Neidhardt
und Dieter Rucht bei ihrer Suche nach beweg u n g s a u s l ö s e n d e n strukturellen Spannungen
und Modernisierungsproblemen die A u f l ö s u n g
der segmentären Nationalstaatsgliederung und
1
2
die Globalisierung der Ö k o n o m i e als ein anstehendes Problem identifiziert, das bei bestimmten Bevölkerungsgruppen zu einem 'defensiven Nationalismus' f ü h r t . Verbinden sich
diese Internationalisierungsprozesse mit massenhafter Migration, dann sind ihrer Meinung
nach Bedingungen d a f ü r entstanden, daß in
den beteiligten Nationalstaaten z . B . die ' A u s länderfrage' virulent w i r d . Rechte Bewegungen oder Parteien, die heute in fast allen europäischen Ländern existieren, dramatisieren hier
ein 'soziales Problem', das sie einerseits leicht
mit anderen sozialen Problemlagen anreichern
können, das andererseits sehr gut mit den auf
der Rechten seit langem existierenden Ideologemen zu interpretieren ist. Dies spräche dafür, daß wir im Augenblick in Deutschland die
Formierung einer rechten sozialen Bewegung
erleben. Doch ist es bisher unter Bewegungsforschern umstritten, ob es sich bei den zu
beobachtenden P h ä n o m e n e n um 'kollektive
Episoden' oder um die Entstehung einer sozialen Bewegung handelt. Dieser Dissens ist
vor allem auch darin begründet, d a ß bisher
theoretisch reflektierte Analysen fehlen.
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A u f der Basis von Feldforschungen in Berlin
und im Land Brandenburg seit dem Fall der
Mauer soll im folgenden die Struktur und Entwicklungsdynamik im rechtsextremen M i l i e u
analysiert werden, um die Frage nach dessen
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Bewegungscharakter beantworten z u können.
Wir konzentrieren uns dabei auf die MesoEbene der Gruppen-, Organisations- und Netzwerkformation. D i e makrosozialen Bedingungen, d.h. die Modernisierungskrise der D D R
seit den f r ü h e n 80er Jahren, deren kritische
Zuspitzung im P r o z e ß der deutschen Einheit
und der Masseneinwanderung, der Verlust an
Bindungswirkung in den sozialen Milieus, die
geringe Akzeptanz der implantierten Parteien
sowie der zeitweilige A u s f a l l der sozialen K o n trollorgane in den neuen B u n d e s l ä n d e r n f ü h ren w i r als Hintergrundannahmen ebenso mit
wie die sich daraus f ü r die Individuen ergebenden Deprivationserfahrungen und Teilnahmemotive (micromobilization potential). In den
letzten Jahren sind in der Bewegungsforschung
eine ganze Reihe von theoretischen Konzepten entwickelt worden, um die K l u f t zwischen
der M a k r o - und der Mikroebene durch intermediäre Strukturen zu schließen. Wir werden
im folgenden an die von D o u g M c A d a m und
Jürgen Gerhards und Dieter Rucht entwickelten Konzepte der M i k r o - und Mesomobilisierung anschließen, um die Zwei-Ebenen-Struktur der Protestmobilisierung im rechten M i l i e u
zu analysieren. A u f der unteren Ebene
(micromobilization context) gibt es die einzelnen 'micromobilization actors', d.h. voneinander weitgehend u n a b h ä n g i g e Gruppen mit
eigenen Zielen, deren Funktion es ist, Individuen zur Teilnahme an Protestaktivitäten zu
mobilisieren. D i e Individuen, die zum Z i e l solcher M o b i l i s i e r u n g s b e m ü h u n g e n werden, nennen Gerhards/Rucht
'Mikromobilisierungspotential'. Das Potential dieser Akteure ist jedoch gering, so daß f ü r eine quantitativ bedeutende Mobilisierung wiederum die 'micromobilization actors' miteinander verbunden und
integriert werden müssen, um eine Art 'en bloc
recruitment' zu erreichen. Dies ist die A u f g a be von koordinierenden Gruppen oder Organisationen, die Gerhards/Rucht als 'mesomobilization actors' bezeichnen und f ü r die die
8
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Gruppen auf der Mikroebene das ' M e s o m o b i lisierungspotential' darstellen. D i e Akteure auf
der Mesoebene besitzen neben der Aufgabe
der strukturellen Integration
(Vernetzung der
Gruppen, Beschaffung von Ressourcen, P R Arbeit, Vorbereitung der Protestaktionen) auch
noch die der kulturellen Integration, indem sie
f ü r die verschiedenen Mikroakteure und Netzwerke einen gemeinsamen Interpretationsrahmen (master frame) entwickeln.
Für das rechtsextreme M i l i e u läßt sich diese
doppelte intermediäre Struktur zeigen. W i r beobachten zunächst einmal eine Vielzahl lokaler Gruppen, die zunehmend Mitglieder und
Sympathisanten gewinnen und sich partiell
auch vernetzen, und w i r finden Neonazi-Organisationen und rechtsextreme Parteien, die
als Akteure auf der Mesoebene f ü r größere
Protestaktivitäten die strukturelle und kulturelle Integration übernehmen. In diesem A u f satz werden wir anders als Gerhards/Rucht
nicht abgeschlossene Protestkampagnen analysieren, sondern ihr Konzept benutzen, um
den seit Ende 1989 zu beobachtenden Entstehungsprozeß eines rechten Milieus, bestehend
aus einer Vielzahl von Mikroakteuren, und seine Verknüpfung mit 'mesomobilization actors'
zu beschreiben. Eine Protestbewegung ist insgesamt also nicht als ein kollektiver Akteur zu
begreifen, sondern als ein lose organisiertes,
multipolares Handlungssystem, das zahlreiche
Subsysteme mit je eigenen organisatorischen
Zuständen und politischen Zielen umfaßt. Legt
man etwa die weite Definition von M a r i o D i a ni zugrunde, die sich aber nicht von denen
anderer Bewegungsforscher wie Ruud K o o p mans oder Friedhelm Neidhardt unterscheidet,
daß „a social movement is a network of informal interactions between a plurality of individuals, groups and/or organizations, engaged
in a political or cultural conflict, on the basis
of a shared collective identity" , dann m u ß
man heute wohl von der extremen Rechten als
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von einer sozialen Bewegung in ihrer Formierungsphase sprechen.
1.
Die Herausbildung
eines rechten Milieus
(1) M i t dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft und der A u f l ö s u n g ihrer gesellschaftlichen Organisationen ( F D G B , F D J usw.) öffneten sich in Ostdeutschland Handlungsfelder
und Organisationschancen, die auch von j u gendlichen Subkulturen genutzt wurden. Die
Wendesituation kann als 'kognitive Befreiung'
begriffen werden, die f ü r die Jugendlichen ein
neues ' G e f ü h l f ü r Wirksamkeit', f ü r ein E i n klagen von Veränderungen gegenüber einer als
i m m o b i l empfundenen Ordnung ('bleierne
Zeit') entstehen l i e ß . Zugleich bedeutete die
Entwertung der elterlichen Autorität und der
Verlust des durch Schule und Betrieb 'organisierten Sozialmilieus', d a ß für die Jugendlichen auch die alltagskulturellen Netzwerke
nicht mehr trugen und Umorientierungen nötig wurden, die offenbar einem binären M u ster folgten: Aktivität/Passivität, links/rechts,
Deutsche oder A u s l ä n d e r . Bereits seit Mitte
der 80er Jahre hatte sich die Identifikation mit
der sozialistischen Gesellschaft in der Jugend
der D D R stark gelockert. Sie differenzierte sich
subkulturell aus, darunter waren auch nationalistische, antisozialistische und fremdenfeindliche Gruppen, die mit dieser Ausrichtung gegen die sozialistische Gesellschaft protestierten. Sie bildeten das rechte Spektrum der D D R Opposition. Es existierte damit bereits ein protesterfahrenes Netzwerk, in das sich aktionsbereite Jugendliche einklinken konnten." Der
Fall der Mauer und der weitgehende A u s f a l l
der sozialen Kontrollorgane boten diesen Gruppen günstige Entwicklungschancen , während
konkurrierende linke Gruppen politisch in die
Defensive geraten waren bzw. sich aufgelöst
hatten. Bürgerrechtsgruppen, Jugendliche mit
kirchlicher, ö k o l o g i s c h e r oder pazifistischer
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Orientierung waren, soweit sie am politischen
Wandlungsprozeß teilhaben wollten, von Diskussionen 'an Runden Tischen' absorbiert und
stellten f ü r aktionsorientierte Jugendliche kein
attraktives Angebot dar. Anders hingegen die
rechten Gruppen, deren Attraktivität nicht von
ihren 'phantastischen' politischen Vorstellungen ausging, sondern von ihren A k t i o n e n .
Entsprechend ihrem ü b e r k o m m e n e n Feindbild
und ihren Krawallerfahrungen konnten diese
Gruppen konkrete Handlungsziele anbieten. Ihr
Gegner war nicht ein abstraktes System, sondern hatte ein Gesicht und einen Ort, wo man
ihn aufsuchen konnte. D i e historische Situation des Umbruchs stellte f ü r dieses Protestpotential immer neue Konfliktthemen (issues) und
Gegner 'zur V e r f ü g u n g ' . W ä h r e n d der Demonstrationen im Herbst 1989 wendeten sie sich
gegen die linke DDR-Opposition, die f ü r eine
eigenständige D D R eintrat, im Wahlkampf im
März 1990 protestierten sie gegen diejenigen,
die gegen Auftritte westdeutscher Politiker in
Ostdeutschland protestierten, usw. Das ' A u s länder- und Asylthema' bildete somit ein Thema in einer Kette von bereits abgearbeiteten
bzw. historisch überholten Themen. Diese
Handlungserfolge im lokalen Rahmen festigten die bestehenden Gruppen und zogen neue
Mitglieder an. Im Gegensatz zur D D R - Z e i t , in
der diese Gruppen aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen gewesen waren, konnten sie sich
jetzt offen präsentieren, selbst über ihre Größe
vergewissern und f ü r ein breites Publikum
sichtbar werden. Subkulturelle M o d e - und
Stilmerkmale sowie die Besetzung von Treffpunkten (Jugendtreffs) senkten die Zugangsbarrieren zu diesen bisher marginalisierten
Gruppen.
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Wer beteiligte sich an den Aktivitäten? Die
Bewegungsforschung hat auf die besondere
Bedeutung der 'strukturellen Verfügbarkeit'
hingewiesen, also das Fehlen sozialer Pflichten, andere Aktivitäten, g e n ü g e n d Zeit u.ä. Ne-
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ben dieser biographischen Verfügbarkeit, die
erklärt, wieso sich in Bewegungen vor allem
j ü n g e r e , sozial ungebundene Personen engagieren, sind f r ü h e r e Protestaktivitäten und die
Affinität in den Einstellungen zentrale Voraussetzungen f ü r die Rekrutierung. Diese Bedingungen waren bei vielen DDR-Jugendlichen
gegeben, denen die strukturelle und ideologische Einbindung in sozialistische Organisationen entweder verlorengegangen war oder die
sie nie erworben hatten. F ü r viele Jugendliche
bedeutete die staatliche Vereinigung die ' A b wicklung' ihrer vertrauten Einrichtungen. Sie
empfanden dies als M i ß a c h t u n g ihrer Ansprüche, und etliche reagierten darauf, indem sie
versuchten, ihre Ziele selbst durchzusetzen.
Diesem Partizipationsverlangen konnten rechte Gruppen ein konkretes Angebot zur Mitarbeit machen, z u m a l freie Träger f ü r Jugendarbeit vielfach nicht vorhanden waren. B e i den
Mitgliedern dieser aktiven Gruppen handelte
es sich keineswegs um soziale Außenseiter,
sie r e p r ä s e n t i e r t e n vielmehr den sozialen
Durchschnitt der DDR-Gesellschaft. Erst in einer zweiten Phase, in der diese Gruppen öffentliche Sichtbarkeit gewannen, schlossen sich
ihnen auch deviante Personen an. So konnte
bei Beobachtern der Eindruck entstehen, das
Krawallmilieu b e s t ä n d e vor allem aus Arbeitslosen oder orientierungslos gewordenen Jugendlichen aus zerrütteten Familienverhältnissen.
19
(2) U n a b h ä n g i g davon entstanden in der Wendezeit überall im Lande Jugendcliquen, die
mit dieser Gesellungsform auf die U m b r ü c h e
in ihrer sozialen Umwelt reagierten. Teilweise
politisierten sich diese freizeitorientierten C l i quen und ü b e r n a h m e n Gewaltaktionen als
Handlungsmuster von den politischen Gruppen, wobei die verbreitete A b l e h n u n g von
' A u s l ä n d e r n ' bzw. Asylbewerbern den Katalysator bildete. In dieser Radikalisierungsphase
setzte eine starke Fluktuation in den Cliquen
ein, denn viele Mitglieder waren nicht bereit,
diesen Weg mitzugehen und blieben w e g .
Wer in den Gruppen blieb, durchlief einen
Lernprozeß hin z u einer größeren Gewaltbereitschaft und stärkeren Ideologisierung; die
Übernahme gruppenrhetorischer Argumentationen bewirkt ein starkes G e f ü h l der Z u g e h ö r i g keit. Diese altershomogenen Gruppen blieben im lokalen Rahmen und waren autonom.
Eric L . Hirsch hat diese Phase der Rekrutierung und der Erzeugung von 'commitment'
als 'consciousness raising' beschrieben, ein
Gruppenprozeß, der begünstigt w i r d von einer
nicht-hierarchischen, lose strukturierten Gruppenstruktur und von 'face-to-face'-Interaktionen, die isoliert sind von einflußreichen Personen. Die Existenz von 'preexisting Communications networks' ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung f ü r
die Formierung einer sozialen Bewegung. Es
müssen 'organizing cadres' (Ideologen, B e wegungsunternehmer, 'core groups') hinzukommen, und die Gruppen m ü s s e n f ü r die Ideen und Aktionen kooptierbar sein. Diese Entwicklung findet in der nächsten Phase statt.
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(3) Die bis dahin lokal agierenden Gruppen
beginnen, sich miteinander zu vernetzen. D a bei lassen sich zwei Komponenten unterscheiden: 1) Ansätze einer Strukturbildung durch
die Definition gemeinsamer sozialer Orte (Focus-Bildung), 2) der E i n f l u ß rechtsextremer
Organisationen aus Westdeutschland, die als
Mobilisierungsakteure auf der Meso-Ebene
fungieren, d.h. f ü r soziale und kulturelle Integration sorgen. W i r haben in diesem Zusammentreffen von westdeutschen Organisationen
und einer sich entwickelnden rechten Szene in
den neuen Bundesländern die historisch w o h l
einmaligen Entstehungsbedingungen f ü r eine
rechte Bewegung vor uns. In der alten B u n desrepublik war es rechtsextremen Parteien und
Organisationen bis dahin nie gelungen, einen
größeren Kreis von A n h ä n g e r n und Sympathi-
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santen z u gewinnen; sie blieben sektenhaft abgeschlossene Z i r k e l .
ad 1) In fast allen Städten der noch bestehenden D D R bildeten sich gewaltbereite, rechtsorientierte und damit f ü r Bewegungsunternehmer kooptierbare Gruppen. Der Anspruch auf
Dauerhaftigkeit dieser Zusammenschlüsse wird
mit der Annahme eines Gruppennamens unterstrichen. In Kneipen, Jugendzentren und
B a h n h ö f e n schufen sie sich regelmäßige Treffpunkte. Dort wurden subkulturelle Ausdrucksformen durchgesetzt, Rechtsrock-Musik,
Mode, Tätowierungen, Tragen von N a z i - E m blemen, Glatzköpfigkeit, die mit ihrem Signalcharakter öffentlich sichtbar waren und weitere Sympathisanten anzogen. M i t dem Wegfall
anderer sozialer Angebote entstanden hier neue
Foci, d.h. soziale und physische Einheiten, um
die herum gemeinsame Aktivitäten eines homogenen Teilnehmerkreises organisiert werden konnten. Diese Foci oder Ursprungsnetzwerke bildeten als soziale Verdichtungen A n 24
25
Shtif Deutscher *
wsein' -Sp2-t
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laufstellen f ü r ein größeres Einzugsgebiet oder
„Drehpunkte der Vernetzung", wie Friedhelm
Neidhardt (1985) sie genannt hat. D i e Vernetzung profitierte von der nach Ö f f n u n g der M a u er sprunghaft gestiegenen Mobilität der D D R Bürger. Konzerte, Feten oder andere attraktive
Veranstaltungen zogen Besucher aus allen Landesteilen an. Damit wurde eine große K o n taktdichte von rechtsorientierten Jugendlichen
erreicht, die sozialisatorische Effekte hatte:
Feindbilder, Wissen, Verhaltensmuster wurden
gelernt, so daß sich zunächst nur subjektive
Einstellungs- und Handlungsmuster zu einem
intersubjektiv geteilten Gruppenstandard aggregierten.
ad 2) M i t dem F a l l der Mauer rechneten sich
die Neonazigruppen Westdeutschlands große
Rekrutierungschancen in der D D R aus und verlegten ihre Aktivitäten f ü r Monate dorthin.
Erleichtert wurde die Kontaktaufnahme z w i schen Neonazi-Kadern aus dem Westen und
dem M i l i e u in Ostdeutschland durch die E x i stenz von Vermittlern. Diese R o l l e
spielten ehemalige
DDR-Häftlinge,
die in den 80er Jahren von der B u n desregierung f r e i gekauft
worden
waren und die sich
in Westdeutschland
Neonazi-Gruppen
angeschlossen hatten. Sie konnten
nach Ö f f n u n g der
Mauer unmittelbar
auf ihre lokalen Bezugsgruppen
zurückgreifen
und
den West-Ost-Kontakt herstellen. Die
erste Kontaktphase
26
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85
war gekennzeichnet durch einen hohen Nachholbedarf an Information und durch eine große Assimilationsbereitschaft bezüglich der Vorgaben der westdeutschen Organisationen.
Diese Anfangserfolge führten bei den westdeutschen und österreichischen Neonazi-Kadern zu der Vorstellung, die F ü h r u n g der ostdeutschen Basis ü b e r n e h m e n zu können. Sie
förderten den A u f b a u von Parteiorganisationen, so d a ß in Ostdeutschland nahezu flächendeckend potentielle 'social movement organizations' ( S M O s ) entstanden; sie gaben H i l f e stellung bei der Formulierung von Programmen, bei der Schulung von Kadern bis hin zur
Abfassung von Flugblättern. Ihre politische
Strategie zielte auf die Radikalisierung von
sozialen Problemen (Arbeit und Wohnen) und
deren V e r k n ü p f u n g mit der ' A u s l ä n d e r f r a g e ' .
27
Wir haben hier einen sehr spezifischen Fall
der Bewegungsformation vor uns, da die 'mesomobilization actors', denen in Westdeutschland ein größeres Mikromobilisierungspotential noch fehlte, von außen dazukamen und im
Osten auf eine bereits bestehende, aber noch
atomisierte Struktur von 'micromobilization
actors' trafen, f ü r deren soziale und kulturelle
Integration sie sorgten. Die westdeutschen
Neonazis ü b e r n e h m e n die Funktion der ' B e wegungsmanager', die Organisationen führen
und als Ideologen einen Interpretationsrahmen
anbieten.
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Sehr gefördert wurde die Etablierung von Organisationen durch die Bereitstellung von Ressourcen auf verschiedenen Ebenen:
-
In g r o ß e m U m f a n g wurden Schriften verbreitet, darunter solche, die aufgrund des
Verbots in der D D R bereits einen besonderen Reiz besaßen (Kriegsbücher und Landser-Hefte), und solche, die f ü r die D D R neue
Themen enthielten, z . B . die 'Auschwitzlüge';
-
Technisches Gerät, wie Computer, Programme und Kopierer;
-
Schulungskurse und die Vermittlung von
Kontakten in Westeuropa, darunter auch solche zu potenten Geldgebern;
-
Der gesamte Bereich der 'symbolischen Ressourcen': Musikkassetten mit ' N a z i r o c k ' ,
Bekleidung, A u f n ä h e r usw.;
-
Das Management von Konzerten mit S k i n head-Bands, f ü r die in Ostdeutschland leichter Auftritte zu organisieren waren.
Zum Know-how der Westdeutschen zählte auch
der Umgang mit den Medien. Aktionen und
A u f m ä r s c h e sowie der Einsatz von Prestigepersonen aus der Naziszene wurden als spektakuläre Pseudoereignisse in Szene gesetzt. In
der politischen Umbruchsphase wollten sich
die Neonazi-Organisationen damit als Teil des
politischen Spektrums etablieren und ihre bisherige politische Marginalisierung überwinden.
Der Öffentlichkeit sollte ihre P r ä s e n z gezeigt
werden, den eigenen und potentiellen A n h ä n gern die ständig zunehmende Bedeutung, E i nigkeit, gesammelte Stärke und Zukunftswillen. Die Öffentlichkeit, die ja zugleich Z i e l gruppe, Kontrollinstanz und Verstärker sein
kann, spielt f ü r die stark u m w e l t a b h ä n g i g e n
sozialen Bewegungen in jedem F a l l eine große Rolle. Dies gilt f ü r die rechten Gruppen in
verstärktem M a ß , da ihnen g r o ß r ä u m i g e Protestrelais oder 'Gastgeber-Organisationen' (wie
Universitäten, Kirchen etc.) fehlen und sie deshalb das 'Kontaktpotential elektronischer K o m munikationstechniken' als Relais nutzen m ü s sen. In den rechten Gruppen wurden die M e dien in doppelter Weise genutzt:
a) Durch ihre Aktionen, die die normalen A l l tagsroutinen provokativ durchbrachen und
sichtbar inszeniert wurden (uniformierte
86
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
Marschkolonnen mit Fahnen und Trommelschlag), konnten sie die Aufmerksamkeit der
Massenmedien gewinnen. Dies diente der
Selbstvergewisserung der eigenen Stärke und
Bedeutung und zugleich der Stabilisierung
und der Rekrutierung neuer A n h ä n g e r (bandwagon effect) sowie der Adressierung des politischen Systems.
29
30
b) D i e Rechtsradikalen stellten außerdem selbst
Videos über Demonstrationen und Gewaltakte
her, die sie in der Szene kreisen ließen. Dies
verstärkte G e f ü h l e der Macht und des Handlungserfolgs wirkte zudem integrativ über die
Durchsetzung gemeinsamer Symbole, K o n struktion einer Geschichte usw. Angesichts der
'Sprachlosigkeit' in der rechten Szene, verglichen mit den linken, stärker intellektuell geprägten Bewegungen, kommt der Verwendung
dieser leicht verständlichen Bildmedien eine
wichtige Funktion f ü r die normative Integration z u .
(4) Diese erste Phase des Organisationsaufbaus dauerte bis ca. Herbst 1990. Der A n fangserfolg, getragen von irrealen Erwartungen, konnte nicht stabilisiert werden. Den organisierten Neonazis gelang es nicht, das
rechtsextreme Gewaltmilieu auf Dauer organisatorisch zu binden. Der Spagat zwischen
kontinuierlicher Parteiarbeit, die auf legale Teilnahme am politischen Leben (Wahlen) gerichtet war, und dem Zwang, dem Gewaltmilieu
ständig Handlungsziele f ü r deren Aktionismus
zu bieten, scheiterte. Der mißglückte Versuch,
sich im Oktober 1990 an den Kommunalwahlen und an der Bundestagswahl zu beteiligen,
machte deutlich, d a ß sie ihren bis dahin erreichten Organisationsgrad überschätzt hatten.
Der im Zuge der Einigung aufbrechende Gegensatz von Ost- und Westdeutschen führte
auch im rechten Spektrum zu Konflikten, da
sich die Ostdeutschen nicht länger durch westdeutsche Kader dominieren lassen wollten.
2/94
(5) Das M o d e l l einer einheitlichen Organisation mit hierarischem A u f b a u schlug somit fehl,
und die Neonazis reagierten darauf mit der
Etablierung kleiner lokaler autonomer Gruppierungen unter ostdeutscher F ü h r u n g . Die
seit 1992 einsetzenden Verbote von Neonaziorganisationen verstärkten in der rechten Szene die Strategie 'Kameraden in autonomen
Gruppen', die im ganzen L a n d aktive politische Arbeiten leisten und Kontakte intensivieren sollen (vgl. taz 1/93, S.49). D i e in der
ersten Sammlungsphase hergestellten Kontakte blieben erhalten und konnten jetzt anlaßbezogen aktiviert werden. 'Weak ties' (häufig:
Mehrfachmitgliedschaften) fungierten als Brükke auf der Mesoebene. Es entstand so eine
horizontale Segmentierung mit lokalen Schwerpunkten, die auf der Basis der gemeinsamen
Ideologie immer wieder zu symbolisch bedeutsamen Großaktionen zusammenkamen. D i e
Vorbereitung solcher überregionaler Ereignisse, wie der ' R u d o l f - H e ß - G e d e n k m a r s c h ' oder
das 'Heldengedenken' auf dem Soldatenfriedhof in Halbe, findet auf Koordinationstreffen
lokaler Neonaziführer statt. Der Verfassungsschutz beobachtet, ausgelöst durch den Verfolgungsdruck gegenüber Neonazi-Organisationen
seit Winter 1992, daß diese ihre organisatorisch-strategischen Differenzen zurückstellen
und sich mittels moderner, von außen kaum
kontrollierbarer Kommunikationstechniken
(Mailbox, Funktelefone, etc.) immer stärker
miteinander vernetzen. D i e seit kurzem entwickelte Anti-Antifa-Strategie erfüllt dabei einen doppelten Z w e c k : E i n m a l k ö n n e n die
Kleinstparteien ihre Differenzen zugunsten dieses gemeinsamen Ziels/Feindes zurückstellen,
zum anderen werden die lokalen Cliquen ( M i kroebene) wieder aktiviert, indem sie Informationen über linke Gegner sammeln, die von
der Zentrale im Ausland, die somit dem Z u griff der deutschen Behörden entzogen bleibt,
ausgewertet, veröffentlicht und den 'rechten
31
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
2/94
Aktionisten' zur 'freien Verwendung' wieder
zugänglich gemacht werden.
32
Großereignisse und überregionale Treffen sind
selten, die Hauptaktivitäten finden im lokalen
Rahmen statt. Dies entspricht der f ü r Bewegungen typischen lokal segmentären Differenzierung, da f ü r funktionale Differenzierung die
Voraussetzungen (Hierarchiebildung, Organisation) fehlen. Neben diesen gut vorbereiteten und langfristig geplanten Mobilisierungen
der Neonazis, wie die P r o p a g a n d a m ä r s c h e in
Wunsiedel, Halbe oder Fulda, entstanden die
aufruhrähnlichen Ausschreitungen in Hoyerswerda, Quedlinburg, Rostock und andernorts
situativ aus der Gewaltbereitschaft jugendlicher Subkulturen. Mobilisierungen dieses Typs
erfolgen nicht zentral gesteuert, sondern auf
bestimmte Hinweisreize hin, worauf dann das
habitualisierte Gewaltprogramm abgespielt
wird.
33
34
Wie gezeigt, ist die organisatorische Integration von Skinheads und gewalttätigen Jugendgruppen in den parteiähnlichen Rechtsextremismus nicht gelungen. Dennoch besteht z w i schen beiden eine spezifische Form der Verbindung, die offenbar in der letzten Zeit enger
w i r d . Die gemeinsame Basis bilden Feindbilder, rechte Ideologiefragmente und eine ausgeprägte Aktionsorientierung, die im Unterschied zu linken Bewegungen nicht gegen Institutionen oder gesellschaftliche Strukturen
gerichtet ist, sondern gegen konkrete, unterlegene Gruppen. D i e ü b e r w i e g e n d e Zahl der A n griffe auf Ausländer und Asylbewerber wird
aus diesen fremdenfeindlichen Jugendgruppen
heraus begangen. Deren Motive sind mehrschichtig: Sie reichen von Aggressionsabbau
über Erlebniskonsum bis hin zu rassistischen
Einstellungen. D i e Initiative f ü r solche A n griffe geht v o n den Cliquen selbst aus und
m u ß nicht von den Neonazi-Organisationen
gesteuert werden. Letztere liefern die ideolo35
gische Rechtfertigung. D i e Kleinparteien werben aus dem Gewaltmilieu Mitglieder an, die
lebensweltlich der Szene verhaftet bleiben und
somit zu Brückenfiguren
(liaison persons) z w i schen M i l i e u und Organisation werden. N e ben der politisch-ideologischen N ä h e bildet die
Zugehörigkeit z u einer gemeinsamen Subkultur ein zentrales Verbindungsglied. D i e Neonazis haben eine Infrastruktur aufgebaut, um
die Nachfrage nach subkulturellen Angeboten
zu bedienen. Geplant ist der A u f b a u einer 'nationalen Gegenkultur von rechts'. Erste Formen einer spezifischen 'Bewegungskultur' sind
bereits zu erkennen. Sie organisieren Konzerte
mit Skinhead-Bands, und Parteimitglieder betreiben einen Versandhandel mit M u s i k , Schriften und Bekleidung. Damit hat sich der früher
sektiererische, stark völkisch-traditionalistische
Rechtsextremismus durch den A n s c h l u ß an
populäre Kulturformen modernisiert (symptomatisch der Titel eines Fanzines: Moderne Z e i ten). Durch seine Angebotsorganisation gibt
er seinerseits dieser rechten Subkultur eine Infrastruktur. Für diese Verbindung ist eine eigentümliche Mischung von subkulturell adaptierter Popularkultur und völkischer Ästhetik
charakteristisch: so werden M u s i k f o r m e n des
Punks mit nationalistischen und rassistischen
Texten verwendet, ist es in den Publikationen
eine Mixtur aus Trivialmythen H o l l y w o o d s
(wie z . B . Conan, der Barbar) und N a z i - Ä s t h e tik ( S A - K ä m p f e r ) .
36
Die Cliquen besitzen entsprechend eine ideologisch-subkulturelle Doppelgestalt, indem sie
über ideologisch geprägte Feindbilder (Ausländer, Linke, Antifa, Spießer) eine stabile K o n fliktkonstellation aufbauen, andererseits über
ihr subkulturelles Angebot auch f ü r unpolitische Jugendliche attraktiv sind. Diese übernehmen durch ihre Teilnahme im L a u f e der
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
Zeit auch ideologische Elemente (s.o. 'consciousness raising'). Umgekehrt agieren auch
in unpolitischen Cliquen zunehmend organisierte Neonazis, die f ü r einen außenstehenden
Beobachter schwer auszumachen sind.
37
Die Grenzen dieser rechtsdominierten Subkultur zur sozialen Umgebung sind nicht streng
gezogen. Dies gilt f ü r Themen wie Personen.
Im Gegensatz zum organisierten Neonazismus
in Westdeutschland handelt es sich hier nicht
um marginalisierte oder stigmatisierte A u ß e n seiter. Sie sind als Schüler, Lehrlinge, Wehrpflichtige oder Berufstätige in ihrer Mehrheit
sozial integriert und über ' M e i n u n g s b r ü c k e n '
mit den Anschauungen ihrer Berufskollegen
und Verwandten verbunden. Uber 'weak des'
existiert somit in der E x - D D R ein größeres
Mobilisierungs- und Rekrutierungspotential
(man denke an das Dorf Dolgenbrod). Das
Mobilisierungspotential der Rechtsextremen,
das hinsichtlich des Ziels 'Ausländer raus' in
der B e v ö l k e r u n g recht groß sein dürfte, wird
allerdings durch die Gewalt als M i t t e l der
Durchsetzung sehr stark wieder eingeschränkt.
U m die Aufbruchsbereitschaft, die das 'nationale Lager' im Hinblick auf das Wahljahr 1994
ergriffen hat, nicht z u gefährden, distanziert
sich die etablierte Rechte von den mörderischen B r a n d a n s c h l ä g e n von Mölln und Solingen mit dem H i n w e i s , sie w ü r d e z u unrecht
d a f ü r verantwortlich gemacht.
38
2.
Problemdefinition seitens der
rechten B e w e g u n g
Soziale Bewegungen besitzen nicht von B e ginn an klare gemeinsame Ziele oder Zweckprogramme, sondern müssen ein Problem erst
selbst in seinen Umrissen konstituieren. In einem zweiten Schritt m u ß die Bewegung versuchen, ihre Problemsicht (frame) und ihre
Lösungsvorschläge in der Öffentlichkeit durchzusetzen, indem sie Unterstützung f ü r ihre Sa-
2/94
che mobilisiert und andere dazu motiviert, sich
ihrem Protest anzuschließen, da soziale Bewegungen - und dies gilt auch f ü r die Rechte kaum über andere Ressourcen wie Geld, Macht
oder politische Verbindungen v e r f ü g e n . B e züglich der Rechtsextremen bildete vor allem
die Gewaltorientierung und das ' A c t i o n - M o tiv' der Subkultur eine Ressource. D i e zunächst
noch richtungslose Gewalt (diffuse Opferstruktur) wurde in einem rasch ablaufenden D e f i n i tionsprozeß von Cliquenführern, die ihrerseits
den öffentlichen Asyldiskurs aufgriffen, auf
die Asylbewerber ausgerichtet. Für die rechtsextremen Organisationen und das gewaltbereite M i l i e u stellte die Ausländer- und A s y l diskussion so etwas wie einen 'master frame'
dar, der die ideologischen Differenzen im rechten Lager übergreifen konnte und zugleich im
Prozeß des 'frame bridging' mit aktuellen sozialen Fragen wie Wohnungsnot, Kriminalität
und Arbeitslosigkeit v e r k n ü p f b a r war. Weitere wertbesetzte B r ü c k e n t h e m e n sind etwa der
Tierschutz mit der Wendung gegen das Schächten bei Muslimen und Juden sowie die kulturellen Bilder von Männlichkeit, die den jungen Mann als Beschützer vor Fremden, K r i minellen und Konkurrenten auch zur Gewaltanwendung legitimieren.
39
40
Ein 'frame' m u ß , um erfolgreich zu sein, drei
Funktionen erfüllen: er m u ß eine glaubhafte
Diagnose der Situation liefern, er m u ß eine
Handlungsmotivation
enthalten und eine m ö g liche Lösung oder Prognose andeuten. Das
' A u s l ä n d e r t h e m a ' kann alle drei Funktionen
erfüllen. Der 'diagnostische frame' liefert eine
Identifikation des Problems und attribuiert die
Schuld oder Ursache auf bestimmte Akteure.
Ausländerfeindliche Einstellungen hat es in der
Geschichte der Bundesrepublik und der D D R
seit langem gegeben, sie haben sich auch in
einzelnen Gewaltaktionen geäußert, sie konnten sich aber nicht zu einer ausländerfeindlichen Bewegung verdichten, die die Definition
41
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
2/94
der ' A u s l ä n d e r ' als zentrales soziales Problem
öffentlich hätten durchsetzen können. In der
D D R hatten dem staatlichen Selbstbild widersprechende B e v ö l k e r u n g s m e i n u n g e n keine
Chance, die Öffentlichkeit zu erreichen. In der
Bevölkerung gab es jedoch klare Vorstellungen über Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit. Den als privilegiert angesehenen Ausländern in der D D R wurde das Recht des Zugriffs
auf das knappe Güterangebot abgesprochen.
Es existierten in der D D R mithin zwei konfligierende Interpretationsrahmen (competing frames): die staatlich verordnete Ideologie der
Solidarität und V ö l k e r f r e u n d s c h a f t und eine
gesellschaftliche Ausländerfeindlichkeit. Nach
Ö f f n u n g der Mauer war die Erwartung verbreitet, daß nun die ausländischen Werktätigen das L a n d rasch verlassen w ü r d e n . Statt
dessen kamen weitere Ausländer ins Land, da
die neuen B u n d e s l ä n d e r Ende 1990 verpflichtet wurden, eine bestimmte Quote der Asylbewerber unterzubringen. Diese Zuwanderergruppe stieß auf massive Ablehnung, weil ihnen
pauschal kriminelle Absichten zugeschrieben
wurden und ihre sozialstaatliche Versorgung
ohne entsprechende Vorleistungen als Verletzung elementarer Gerechtigkeitsnormen empfunden wurde. Das Thema Ausländer und A s y l
bot die Möglichkeit, ü b e r k o m m e n e Haltungen
mit den vielfachen Problemen des politischsozialen Umbruchs der deutschen Vereinigung
zu v e r k n ü p f e n (frame bridging). D i e ' A u s l ä n der' wurden als die Schuldigen an allen Notständen interpretiert. Erstmals in der Geschichte
der Bundesrepublik konnte die Rechte damit
eine 'soziale Frage' aufgreifen, in der sie mit
großen Teilen der Bevölkerung übereinstimmte , die wie auch einige Politiker bereit waren, die Ausschreitungen als ' A u s w ü c h s e ' eines im Grunde berechtigten 'sozialen Protests'
der Ostdeutschen z u sehen. Von den Rechtsextremen wurde dieses Thema weiter zugespitzt, dramatisiert und zum zentralen Problem
gemacht, dessen L ö s u n g keinen Aufschub dul42
43
89[
dete. Zugleich erwiesen sich in den A u g e n
der Rechtsextremen, aber auch weiter Bevölkerungskreise, die Parteien als unfähig, dieses
Problem politisch zu lösen. In dieser blockierten Situation - man kann von einer positiven
Veränderung der politischen Gelegenheitsstruktur sprechen - drängte sich der Gedanke auf,
man sei quasi dazu delegiert, die L ö s u n g der
Probleme selbst in die Hand zu nehmen. Es
gab also ein 'motivational framing', das Handlungsmotive f ü r spezifische Protestaktivitäten
bereitstellte. Den bereits existierenden Gewaltgruppen spielte diese Situation mit den A s y l bewerbern ein neues A n g r i f f s z i e l zu, das im
Gegensatz zu den bisherigen Opfern (Polen,
Russen, Vietnamesen) noch weniger integriert
und noch weiter außerhalb der „span of sympathy" (Lewis Coser) lag und in dem man die
'Ursachen' f ü r die wahrgenommenen sozialen
M i ß s t ä n d e direkt und erfolgreich angreifen
konnte. M i t den Parolen „Ausländer raus" und
„Deutsche zuerst" wurden überdies L ö s u n g s möglichkeiten angeboten (prognostic framing),
die leicht in Handeln zu übersetzen waren.
Die ausländerfeindliche Gewalt war doppelt
legitimiert: einerseits durch die Zustimmung
in Teilen der Bevölkerung, als deren a u s f ü h rendes Organ man sich f ü h l e n konnte, andererseits durch die Interpretation der Rechtsextremen, die die Zuwanderungsfurcht zu einer
generellen Überfremdungsangst radikalisierten.
Es fand eine Generalisierung der aktuellen Z u wanderungssituation statt, indem Theoreme des
völkischen Rassismus und des Kulturpessimismus der Zwischenkriegszeit als Interpretationsrahmen gewählt wurden. In diesem Rahmen fanden Nationalismus und Abwehrrassismus (Wohlstandschauvinismus) die größte R e sonanz in der Bevölkerung, w ä h r e n d der E i n fluß von weitergehenden Gesellschaftsmodellen der Neonazis, insbesondere antidemokratische und volkssozialistische Ideen, auf das
M i l i e u begrenzt blieb.
44
45
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FORSCHUNGSJOURNAL N S B
D i e Deutung der sozialen Wirklichkeit mit
Metaphern des Verfalls, der A u f l ö s u n g und des
Untergangs, etwa durch Ü b e r f r e m d u n g , N i vellierung kultureller Unterschiede, Rassenmischung, Knappheit an Lebensraum, durch
rechtsradikale Ideologen bestimmt die Form
ihrer Politik als Abwehrreaktion, Schutz, ja
als ' N o t w e h r ' . D i e Dramatisierung der Situation bis hin zur Verwendung apokalyptischer
Bilder begründet die Dringlichkeit von Geg e n m a ß n a h m e n und rechtfertigt die Anwendung von Gewalt und das Außerkraftsetzen
demokratischer Verfahren. D i e rechte Bewegung benutzt damit die Form der Angstkommunikation, die auch f ü r die neuen sozialen
Bewegungen typisch ist. A u c h die A n t i - A t o m bewegung, die Friedens- und Ökologiebewegung organisierten sich um apokalyptische
Deutungen (atomarer Holocaust, Umweltkatastrophe: zwischen W ä r m e - und Kältetod der
Erde u.ä.). Soziale Bewegungen scheinen diese Orientierung auf Katastrophenpotentiale zu
benötigen, um ihre kollektive Identität z u gewinnen und sich gegen die als gefährlich, fremd
und verantwortungslos kolorierte Gegenseite
(für die Rechten: das Bonner System, linke
Chaoten, Bonner Judenrepublik, Lizenzpresse) abzugrenzen. Hirsch spricht in diesem
Zusammenhang vom Prozeß der Polarisierung,
Snow et al. von der Notwendigkeit, einen ' i n justice frame' zu verwenden, um die Aktionen
gegen einen Gegner z u legitimieren . Der
chaotischen, unüberschaubaren, polykontexturalen (in unserem F a l l : multikulturellen, 'durchrassten') Gegenseite steht die Bewegung als
homogene, solidarische und moralische E i n heit gegenüber. D i e entsprechende Einheitssemantik ist in der rechten Bewegung im Begriff
der Kameradschaft konzentriert, mit dem sich
weitere Einheitsformeln wie Treue und Festigkeit verbinden lassen.
47
2/94
teilnehmer auswählen. D i e Option gegen A u s länder m u ß nicht notwendig mit einer Übernahme völkisch-rassistischer Theorien verbunden sein, sie führt jedoch in diese Richtung.
A u f der ideologisch entwickelteren Ebene konkurrieren verschiedene Deutungsmuster miteinander, woraus die typische Konflikthaftigkeit der rechten Szene resultiert, in der sich
aus größeren Organisationen immer wieder
kleine, sektenhafte Gruppen abspalten. Trotz
aller ideologischen, taktischen und persönlichen Differenzen m u ß von einem einheitlichen M i l i e u der rechten Bewegung gesprochen werden. Fluktuationen zwischen den
Gruppen und persönliche Bekanntschaften vernetzen die verschiedenen Gruppierungen und
integrieren das M i l i e u , so daß etwa Abgrenzungsbeschlüsse gegenüber Extremisten, wie
die 'Republikaner', auf unteren Parteiebenen
als wenig erfolgversprechend einzuschätzen
sind. Der Verfassungsschutz beobachtet zudem
eine 'zunehmende Intellektualisierung der Szene'. Er befürchtet, daß 'rechtsextreme Vordenker' eine Brückenfunktion zum Neokonservatismus bilden könnten, die die Szene in weiteren Kreisen h o f f ä h i g machten (Der Tagesspiegel 22.11.1993).
51
48
49
50
Das rechte Spektrum bietet ein vielfach gestuftes Ideologieangebot, aus dem Bewegungs-
3.
Infrastruktur
U m sich nach Mobilisierungsphasen nicht einfach aufzulösen, m ü s s e n soziale Bewegungen
bestrebt sein, eine eigene Infrastruktur aufzubauen. Im rechten M i l i e u bestand diese zunächst in der sozialen Markierung bestimmter
Orte und Zeitpunkte. A u s wiederholten Treffen in Lokalen und Discos, an Kiosken usw.
bildeten sich feste Anlaufpunkte. K ä m p f e in
Jugendclubs führten bei siegreichem Ausgang
zur Definition des Clubs als 'rechts'. A u c h
Sportgruppen, wie in Solingen der 'Deutsche
Hochleistungskampfkunstverband' ( D H K K V ) ,
können einen Rahmen f ü r die Vernetzung und
für Kontakte bieten. Zum Teil kopierte man
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
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'linke M u s t e r ' , z . B . in der Imitation der Hausbesetzerszene in Berlin. B e i den etablierten
Rechtsextremisten gibt es mittlerweile Gaststätten und Hotels, in denen man sich trifft
und in denen r e g e l m ä ß i g Veranstaltungen und
Vorträgen stattfinden. A u c h die Neonazis haben feste Orte, an denen sie ihre Koordinationstreffen und Feierlichkeiten abhalten. E t l i che dieser Adressen haben bundesweite Bedeutung. Daneben hat sich im rechtsextremen
Spektrum ein 'Festkalender' herausgebildet.
A n bestimmten Terminen wird r e g e l m ä ß i g
mobilisiert. E s versichert sich seiner Ursprünge, indem es sich seiner 'Ahnenreihe' erinnert
und ' F ü h r e r s Geburtstag' und den Todestag
seines Stellvertreters begeht. M i t den Sonnenwendfeiern w i r d auf vorchristliches, religiösgermanisches Erbe rekurriert. Damit sind ein
räumlich-zeitlicher Rahmen und Ansätze einer
eigenen Bewegungskultur gegeben, die eine
gewisse Verstetigung der Bewegung sichern.
Zusätzliche Veranstaltungen, wie Grillfeste,
Konzerte u.a., füllen diesen Rahmen weiter
aus.
Neben dieser symbolischen Infrastruktur f i n den sich A n s ä t z e einer materiellen Reproduktion in einer rechten Schattenökonomie. Parteien und Organisationen unterhalten Verlage
und Versandabteilungen. Zahlreiche Neonazis
sind auf den Handel mit Militaria und N S Artikeln spezialisiert. In den letzten Jahren hat
das G e s c h ä f t mit S k i n - M u s i k zunehmend an
Bedeutung gewonnen. Etliche Jugendliche haben Jobs in rechten Kneipen gefunden oder
bekamen A B M - S t e l l e n im Rahmen der Jugendsozialarbeit. Eine Grauzone bilden Beschäftigungsverhältnisse in Firmen, deren Besitzer in
irgendeiner Weise mit der Szene sympathisieren. Der Rechtsextremismus erscheint heute
vergleichbar mit der noch schwach entwickelten Struktur des Gegenmilieus in der Studentenbewegung. Hier wie dort sind die K o m m u nikationsmöglichkeiten der Protestbewegung
52
91
noch stark in die Aktionspraxis
eingebunden,
die als Medium der Herausbildung kollektiver
Identität dient.
53
Hinzu kommt auch eine medial vermittelte Vernetzung über Druckerzeugnisse und Videos.
A l l e größeren Ereignisse und Parteitage können heute auf Videokassette bezogen werden.
Neben den zahlreichen Periodika der Parteien
und Grüppchen haben vor allem die Fanzines
eine hohe Attraktivität f ü r die Jugendlichen
gewonnen. Seit dem letzten Jahr werden in
der rechten Szene auch elektronische K o m munikationsmedien zur Vernetzung eingesetzt.
So versteht sich das „Nationale Info-Telefon"
(NIT) in Wiesbaden bzw. M a i n z als „ K o m m u nikationszentrale des nationalen Lagers" (taz
1/93, S.49). Sieht man von den rechtsextremen Parteien ab, die durch die Wahlkampfkostenpauschale und Zuwendungen ihrer M a n datsträger größere finanzielle Ressourcen besitzen, so m ü s s e n die anderen Gruppen ihre
Aktivitäten und Publikationen vor allem durch
die Opferbereitschaft ihrer Mitglieder finanzieren. Es ist jedoch insgesamt ein Interaktionsgeflecht entstanden, das f ü r eine gewisse
Dauerhaftigkeit der rechten Bewegung spricht.
4.
'Constraints' für eine
rechte B e w e g u n g
Nach den großen Erfolgs- und Mobilisierungsphasen 1990-1992 scheint die rechte Szene
heute in die Defensive geraten zu sein. D i e
Bewegung scheint sich in einer Phase der L a tenz zu befinden. In der Tat gibt es eine Reihe
von Faktoren, die ihrer Entwicklung entgegenstehen. Es hat sich ein ' M e t a k o n f l i k t ' entwickelt, in dem die Bewegung selbst, und zwar
in negativer Hinsicht, zum Thema geworden
ist. Dies gilt vor allem f ü r die Kontrollagenturen und die Massenmedien, aber auch in der
Bevölkerungsmeinung gehören Rechtsextremi-
92
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
sten zur am stärksten abgelehnten sozialen K a tegorie.
54
a) Die Erfolge der rechten Bewegung hatten
gerade i m Osten Deutschlands auf der „absence of repression" beruht. Dies hat sich inzwischen geändert. Der A u f b a u der Polizei und
Justiz, die B i l d u n g von Sonderkommissionen
zur Verfolgung rechtsextremistisch motivierter Straftaten und die energischer ausgeübte
politische F ü h r u n g der Kontrollorgane haben
das Betätigungsfeld der Extremisten erheblich
eingeschränkt. Einige Neonaziorganisationen
sind mittlerweile verboten worden, viele M i t glieder der Szene sehen sich als Angeklagte
den Gerichten gegenüber. D i e gesamte Szene
steht damit unter Illegalitätsdrohung, so daß
Mobilisierungen unter die Kategorie der 'high
risk mobilization' fallen und das erreichbare
Potential entsprechend begrenzen. D i e Organisationen der Neonazis haben sich auf die
Weiterarbeit in der Illegalität offenbar bereits
eingerichtet bzw. unterlaufen die Verbote, indem sie lockere, sogenannte Bewegungsstrukturen ausbilden, die über Informationsvernetzung ihren Zusammenhalt sichern.
55
56
b) War Gewalt in der ersten Phase eine wichtige Ressource f ü r den A u f b a u der Bewegung
gewesen, so ist diese Taktik an eine Grenze
gestoßen. Gewalt schränkt das Potential an
Sympathisanten ein, da sie die Grenzen sozialer Beziehungen scharf markiert. Das kulturell
geltende Gewalttabu wird verletzt und fordert
entsprechen Sanktionen des Staates heraus.
c) D i e rechten Organisationen finden zwar Resonanz bei vielen Jugendlichen, die Parteien
genügend Wähler, um die 5% H ü r d e zu überwinden, doch gelingt es ihnen nur in geringem
Umfang, diese Wähler als aktive Parteimitglieder an sich z u binden. Der Rechtsextremismus bleibt insgesamt im „multiorganizational f i e l d " isoliert, da er mit Organisatio57
2/94
nen außerhalb des eigenen Lagers keine K o alitionen bilden kann, w e i l diese sich verweigern. Zwar schreitet die politische Professionalisierung im rechten Lager voran, doch eine
systematische Eliterekrutierung gelingt bisher
nicht. Versuche, etwa Streikbewegungen in ostdeutschen Betrieben zu kooptieren, scheiterten am Widerstand der Arbeiter. Der Rechtsextremismus sieht sich vielmehr einer Phalanx
von politischem System, Kontrollorganen,
Massenmedien und Gegenbewegungen (Antifa-Gruppen, Lichterketten usw.) gegenüber, die
ihn aktiv b e k ä m p f e n . In dieser Hinsicht ist
auch die starke Medienabhängigkeit von Nachteil, zumal die Rechtsextremen keine sympathisierenden Journalisten (gatekeeper) in den
Prestigemedien besitzen.
d) D i e demokratischen Parteien nehmen dem
Rechtsextremismus die wirksamen Themen
weg, etwa wenn sich die C S U gegen eine zu
enge europäische Integration und gegen die
' E s p e r a n t o - W ä h r u n g E C U ' wendet, wenn die
C D U das Thema innere Sicherheit zum zentralen Wahlkampfthema f ü r 1994 erhebt, oder
wenn das Asylrecht in einem Konsens der großen Bundestagsparteien geändert w i r d . Es f i n det ein Thementransfer vom politischen Rand
zur Mitte hin statt, ohne d a ß eine Koalition
mit den Rechten erfolgen m ü ß t e . Dieser Transfererfolg gefährdet nicht die demokratische Stabilität des Landes, schwächt aber seine innere
Liberalität.
5.
Schluß
Wenn hinter dem A u f k o m m e n sozialer Bewegungen ein genereller Kulturwandel steht, dann
ist zu vermuten, daß die Etablierung der rechten Szene Ausdruck einer tiefergehenden Veränderung der politischen Kultur in Deutschland, aber auch in anderen westlichen Demokratien ist. Michael Minkenberg hat eine 'Neue
Rechte' in Deutschland ausgemacht, die in Re-
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
93
2/94
aktion auf die dominante linke, postmaterialistische Kultur eine neue Konfliktlinie gezogen
hat, die einen Wertewandel indiziert und quer
durch die alten sozialen wie politischen Lager
hindurchschneidet. Diese Neue Rechte ist das
Resultat eines Generationenwechsels und
kommt nicht aus 'der Mitte der Gesellschaft',
sondern aus dem alten und neuen Konservatismus. Diese neue 'cleavage'-Struktur, die auf
einem Wertewandel und dem Aufkommen neuer issues (Ökologie, Einwanderung) beruht, ist
jedoch nicht allein ein deutsches Phänomen,
sondern gilt f ü r alle fortgeschrittenen Industriegesellschaften, in denen sich rechtsaußen
'cross-class-parties' bilden. A u c h Jaschke sieht
die westlichen Gesellschaften am Beginn einer 'historischen, keineswegs kurzlebigen Phase', in der es z u einer Ethnisierung sozialer
Konflikte, zu einem historischen Revisionismus, der die politisch-moralischen H e m m schwellen nach rechts abbaut, und zur Formierung eines rechten Protests als soziale Bewegung kommt. Wenn diese Analysen richtig sind, dann ist die gegenwärtige ' D ä m p f u n g ' des rechtsextremen Milieus nur eine vorübergehende Erscheinung, eine Latenzphase
in einer rechten Gegen- und Bewegungskultur, die zur Zeit von gewalthaftem Protest auf
Propaganda umgeschaltet hat. D i e rechte Szene, die die rechtsradikalen Parteien ('Republikaner', N P D , D V U , D L ) , die organisierten
Neonazigruppen und die subkulturellen Gruppen und Vereine u m f a ß t , ist organisatorisch
und ideologisch zwar heterogen, doch sind die
Tendenzen zur Vernetzung und Kooperation
unübersehbar.
58
59
Werner Bergmann, Dr. phil., ist WissenschaftUcher Assistent am Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin.
Rainer Erb, Dr. rer. pol., ist wissenschaftlicher
Angestellter am Zentrum f ü r Antisemitismusforschung Technische Universität Berlin.
Anmerkungen
Zu diesem Begriff der „social movement family" vgl. Della Porta, Donatella/Rucht, Dieter 1991:
Left-Libertarian Movements in Context: A Comparison of Italy and West Germany, 1965-1990,
Discussion Paper No. FSIII91-102, W Z B , Berlin
Diese normative Vorentscheidung hat dazu geführt, daß Analysen zum gegenwärtigen Rechtsextremismus weder dem theoretischen noch dem
empirischen Standard der Bewegungsforschung
entsprechen.
Vgl. Neidhardt, Friedhelm/Rucht, Dieter 1993:
„Auf dem Weg in die Bewegungsgesellschaft"?
Uber die Stabilisierbarkeit sozialer Bewegungen,
in: Soziale Welt 44, 305-326: 312f. Auch andere
Bewegungsforscher sehen einen Wandel in der
politischen Chancenstruktur in den europäischen
Gesellschaften („conservative backlash"), der zu
einer Dominanz der politischen Rechten und des
Nationalen geführt hat, siehe McAdam, Doug
1988: Micromobilization Contexts and Recruitment to Activism, in: International Social Movement Research, V o l l , 125-154: 129.
1
2
3
Mit Ruud Koopmans ist festzuhalten, daß jede
„Bewegungsfamilie" eine andere „political opportunity structure besitzt". D.h. politische Situationen, die rechtsextreme Bewegungen zur Mobilisierung stimulieren, können für links-libertäre völlig irrelevant oder sogar hemmend sein, vgl. K o opmans, Ruud 1993: The Dynamics of Protest
Waves: West Germany, 1965 to 1989, in: A S R
58, 637-658: 638.
4
In der Tat scheint die „Gefährdung der Nation
oder Gemeinschaft" als das zentrale Problem. Typischerweise wird neben der Immigration und dem
Konzept des Multikulturellen vor allem die europäische Einigung, d.h. die Aufgabe von Souveränitätsrechten bekämpft. Dies gilt ja nicht nur für
die extreme Rechte, sondern bis hinein in die etablierten Parteien. A u f ihrem Parteitag im Oktober
1993 hat etwa die C S U das Konzept eines „Europas der Nationen" vorgestellt, das gegen eine zu
weitgehende politische Union gerichtet ist. In Italien formiert sich mit der Lega Lombarda eine
regionalistische Bewegung gegen die „extracomunitari", die die eigene „imagined community" ge5
94
fährden, d.h. setzt sich sogar noch vom gesamtitalienischen Nationalstaat ab. V g l . Schmidtke, O l i ver/Ruzza, Carlo E . 1993: Regionalistischer Protest als „Life Politics". Die Formierung einer sozialen Bewegung: die Lega Lombarda, in: Soziale
Welt 44, 5-29.
Hans-Gerd Jaschke sieht günstige Bedingungen
für die Entstehung einer rechten sozialen Bewegung, da gegenwärtig eine Ethnisierung sozialer
und politischer Konflikte zu konstatieren sei und
damit Themen des rechtskonservativen Spektrums,
wie Volk und Nation, ins Zentrum der politischen
Debatte rücken, vgl. Jaschke, Hans-Gerd 1993:
Formiert sich eine neue soziale Bewegung von
rechts? Über die Ethnisierung sozialer und politischer Konflikte, in: Institut für Sozialforschung,
Mitteilungen, Heft 2, 28-44.
6
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
2/94
sozialer Bewegungen an, vgl. McAdam 1988:
127ff.
vgl. McAdam 1988: 125-154. Siehe auch dazu
die Diskussion in Gerhards, Jürgen/Rucht, Dieter
1992: Mesomobilization: Organizing and Framing
Two Protest Campaigns in West Germany, in:
AJS 98, 555-595: 556ff.
vgl. Diani, Mario 1992: The Concept of Social
Movement, in: The Sociological Review, 1-25:
13. Siehe auch Neidhardt, Friedhelm 1985: Einige Ideen zu einer allgemeinen Theorie sozialer
Bewegungen, in: Hradil, Stefan (Hrsg.): Sozialstruktur im Umbruch. Karl Martin Bolte zum
60.Geburtstag, Opladen 193-204 und Koopmans
1993: 637.
10
11
Zu diesem Prozeß der „cognitive liberation" als
Voraussetzung für Mikromobilisierung vgl.
Mit Recht lehnt Christoph Butterwege Interpre- McAdam 1988: 132. Diese Befreiung besitzt drei
tationen ab, die in den Neonaziaktivitäten eine Aspekte: Erfahrung eines Legitimitätsverlust des
Rebellion von Jugendlichen gegen die Gängelung Systems, den Übergang von Fatalismus zum Einund Diskriminierung irgendwie eigenständigen klagen von „Rechten" und Wandel, den Glauben
Verhaltens (wie Ute Osterkamp) oder gar Züge an die Möglichkeit, die Verhältnisse zu ändern.
einer „Sozialrevolutionären Bewegung" (wie Wolfvgl. Kühnel 1993: 397 und 404.
gang Brück) sehen wollen, vgl. Butterwege, ChriFür diese Jugendlichen stellten Gewaltaktionen
stoph 1993: Rechtsextremismus als neue soziale bereits zu DDR-Zeiten ein zentrales HandlungsBewegung?, in: Forschungsjournal NSB, 2/93, 17- schema dar, weil ihnen ein anderer Ausdruck po24. Es kann bei der Frage, ob wir die Formierung litisch abweichender Meinungen (Versammlungen,
einer rechten sozialen Bewegung erleben, jedoch Veröffentlichungen etc.) verwehrt war. Eine hohe
nicht darum gehen, Ähnlichkeiten in den Zielset- Gewaltakzeptanz und -bereitschaft war also bezungen und Grundwerten mit linken Bewegungen reits in der D D R erworben worden.
zu suchen oder abzustreiten, sondern nur eine
Ingo Hasselbach beschreibt in seinem Buch „Die
Strukturanalyse kann hier nähere Auskunft ge- Abrechnung. Ein Neonazi steigt aus" (Berlin 1993,
ben.
S. 44) die enorme Beschleunigung des Aufbaus
Von dieser Bindungsschwäche profitieren im der rechten Szene in Ostdeutschland nach dem
Osten bei den jungen Leuten vor allem die GRÜ- Fall der Mauer und das sich Auftun völlig ungeN E N und auch die „Republikaner", wobei sich wohnter Freiräume für die Parteiarbeit.
ein Bildungsbias zeigt: Während die GRÜNEN
Vor allem die systemtheoretischen Ansätze der
von Jugendlichen mit hohem Bildungsstatus prä- Bewegungsforschung betonen den Primat der
feriert werden, finden die „Republikaner" vor al- Handlungsorientierung gegenüber vorformulierten
lem bei den Lehrlingen Anklang, vgl. Kühnel, Zielen oder zugrundeliegenden sozialen ProbleWolfgang 1993: Jugend in den neuen Bundeslän- men. Die Selbsterzeugung einer Bewegung wird
dern: Veränderte Bedingungen des Aufwachsens, in der Verknüpfung von Kritik und HandlungsGewalt und politischer Radikalismus, in: Berliner vorschlag gesehen, die vom Sender selbst praktiJournal für Soziologie, Heft 3, 385-408: 385.
ziert wird und damit MobilisierungskommunikaMcAdam sieht unter anderem „absence of re- tion auslöst, die als selbstreferentielles Elemenpression" und „suddenly imposed grievances" als tarereignis sozialer Bewegungen angesehen wird.
politische Makro-Bedingungen für die Entstehung Vgl. dazu: Ahlemeyer, Heinrich W . 1989: Was ist
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eine soziale Bewegung? Zur Distinktion und Einheit eines sozialen Phänomens, in: Z f S 18, 175191; siehe auch Japp, Klaus P. 1984: Selbsterzeugung oder Fremdverschulden? Thesen zum Rationalismus in den Theorien sozialer Bewegungen,
in: Soziale Welt 35, 313-329: 324.
Wir knüpfen hier an eine Überlegung von Japp
an, der das übliche Kausalschema von Thema und
Protest umkehrt: Die neuen sozialen Bewegungen
setzen nicht von einem Konfliktthema ausgehend
kollektiven Protest in Szene, sondern umgekehrt
konsolidieren sie die kollektive Widerspruchsbereitschaft und suchen dann nach Themen, mit denen sich die Gesellschaft kritisieren läßt. Durch
Selbstrationalisierungen wird dieser Prozeßverlauf
von den Bewegungen wieder umgekehrt: Man reagiert auf gesellschaftliche Probleme und sieht die
auslösende Funktion voreingestellter Protestbereitschaft nicht mehr, vgl. Japp 1993: Die Form des
Protests in den neuen sozialen Bewegungen, in:
Baecker, Dirk (Hrsg.): Probleme der Form, Frankfurt a.M. 230-251: 23lf.
17
In der D D R war die Mitgliedschaft in den rechten Gruppen sehr riskant, so daß die Gruppen auf
„strong ties" eingeschränkt waren. Mit dem Wegfall der Illegalitätsdrohung fiel diese Einschränkung, und es konnten auch losere soziale Beziehungen (weak ties) wirksam werden, was das M o bilisierungspotential stark vergrößert hat.
" Belege für den raschen Einstellungswandel seit
der Wende finden sich bei Förster, P. et al. 1992:
Jugendliche in Ostdeutschland 1992. Politische
Einstellungen, rechtsextreme Orientierungen/Gewalt, Verhältnis zu Ausländern, lebenswerte Lebensbefindlichkeiten, Forschungsstelle Sozialanalysen Leipzig.
Zu dieser bewegungstypischen Abgrenzungsform, wonach dissentierende Mitglieder einer Bewegung nicht ausgeschlossen werden, sondern von
selbst wegbleiben, so daß sich in dem Bewegungsmilieu eine Staffelung von „hartem Kern", Mitläufern und bloßen Sympathisanten ergibt, vgl.
Japp 1993: 235. Dies führt zu einer Diffusität der
Grenzen einer Bewegung, was sich für das rechte
Spektrum sehr gut beobachten läßt. Japp interpretiert diese Form der Konfliktvermeidung in der
Bewegung selbst als Latenzschutz, d.h. die Bewe18
20
95
gung vermeidet so die Thematisierung von Aspekten, die ihr Thema und damit den Protestanlaß
entziehen könnten. D.h. die kollektive Handlungsfähigkeit wird mit hoher Rigidität erkauft.
Lena Inowlocki hat dieses Sich-selbst-Hineinreden der Jugendlichen in ihr rechtsextremes E n gagement beobachtet, in dem diese sich durch
Behauptungen über historische Zusammenhänge
immer mehr von dessen Richtigkeit und Notwendigkeit überzeugten, vgl. Inowlocki, Lena 1992:
Zum Mitgliedschaftsprozeß Jugendlicher in rechtsextremistischen Gruppen, in: Psychosozial 15.
Diese Gruppen stellen nach Hirsch eine Art
Zuflucht (haven) dar, in der Bedürfnisse artikuliert und Kritik eingeübt werden kann, vgl. Hirsch,
Eric L . 1990: Sacrifice for the Cause: Group Processes, Recruitment, and Commitment in a Student Social Movement, in: A S R 55, 243-254: 245.
vgl. dazu Freeman, Jo 1983: On the Origins of
Social Movements, in: dies.(ed.), Social Movements of the Sixties and Seventies, New York,
London 9f.
Zu einer Auswahl dieser Gruppennamen von
B D M Ost-Berlin über Greifswalder Nationale Sozialisten bis zur SS-Teutonenstaffel Zwickau vgl.
Erb, Rainer 1994: Gruppengewalt und Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. 3,140-164.
vgl. zur Focus-Theorie von Scott L . Feld Ohlemacher, Thomas 1991: Persönliche Netzwerke und
die Mobilisierung politischen Protests, Discussion Paper FS II 91-104, Wissenschaftszentrum Berlin 29f. Foci können ganz verschiedene Formen
annehmen: Es können Personen oder Gruppen sein,
aber auch bestimmte Plätze oder Veranstaltungen, um die herum sich gemeinsame Aktivitäten
entwickeln. Personen, die sich um einen Focus
organisieren, weisen nach Feld eine große Homogenität hinsichtlich sozialstruktureller Faktoren auf.
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24
25
Man kann diesen Vorgang als einen Kooptationsprozeß beschreiben, in dem die Neonazi-Organisationen Verbindung zu einem Set von lokalen Gruppen suchten, die kongruente oder komplementäre Ziele und Ideologien besaßen.
Dafür spricht, daß es den ostdeutschen Gruppen
völlig gleichgültig war, von welchem rechtsextremen Absender das Material stammte. Die „Natio26
27
96
nalzeitung" wurde ebensogern genommen wie
Schriftenmaterial der „Republikaner" oder Flugblätter der F A P .
Die neonazistischen Parteien und Organisationen verfolgten dabei zunächst andere Ziele, sie
strebten eine Inkorporation der Gruppen in ihre
hierarchisch organisierte Struktur an. Dies ist jedoch weitgehend mißlungen.
Hirsch spricht vom Gruppenprozeß der „collective empowerment" durch Protestaktionen, vgl.
Hirsch 1990: 245; siehe auch Kühnel 1993: 404,
der den Bedeutungsgewinn für die Jugendlichen
und die sich daraus ergebende Eskalationsspirale
hervorhebt.
vgl. dazu Schmitt-Beck, Rüdiger 1990: Über
die Bedeutung der Massenmedien für die Mobilisierung sozialer Bewegungen, in: K Z f S S 42, 642662, der vier Funktionen beschreibt: Rekrutierung,
Stabilisierung, das Gewinnen von Bündnispartnern und die Wahrnehmung durch das politische
System. Der ehemalige Neonazi Hasselbach (1993,
S.120) berichtet, wie ihn aufgrund seiner Bekanntheit durch Medienberichte Jugendliche auf der
Straße ansprachen, die in der rechten Szene mitmachen wollten.
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eine auf die Aktion begrenzte Führung ergeben
sich aus der Intensität der Aktionsbeteiligung. Eine
vorher festgelegte Rollenverteilung ist kaum vorhanden, vgl. Kühnel 1993: 402.
Insofern ist die gängige Alternative „spontan"
oder „gesteuert" irrig. Sie verfehlt mit ihrer Unterscheidung von Organisation oder „Masse" den
spezifischen Charakter sozialer Bewegungen.
Koopmans (1993: 649) sieht in den Protestwellen
von 1965-1989 immer wieder Phasen, in denen
ein „unorganisierter Protest" aus den informellen
Netzwerken heraus entstand und der typischerweise einen hohen Grad an Konfrontationen aufwies, wobei „unorganisiert" hier nur bedeutet, daß
diese Aktionen nicht das Resultat der Mobilisierung durch Bewegungsorganisationen (SMO) waren. Die Steuerung durch SMOs hat zumeist einen pazifizierenden Einfluß auf die Aktionsformen.
34
Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Werthebach beobachtet eine Zunahme der
systematischen Vernetzungstendenzen sowohl zwischen den lokalen Skinheadgruppen wie zwischen
diesen und den Neonazis (Der Tagesspiegel vom
22.11.1993).
Die Mobilisierungserfahrung in Ostdeutschland
In der Bewegungsforschung spricht man von
löste bei den westdeutschen Neonazis trotz dieser „like-minded people" (Neidhardt 1985) oder von
organisatorischen Mißerfolge einen Motivations- „catnets", d.h. Netzwerken aus Personen der gleich
schub aus, den die Kader in größere Anstrengun- sozialen Kategorie.
gen in Westdeutschland umsetzten.
In der Außensicht auf diese Gruppen wird dieDiese doppelte Zielsetzung sprechen die Initia- ser Doppelcharakter zumeist verkannt: Die Gruptoren deutlich aus: „Wir wollen die nationale So- pen werden entweder als überzeugte Neonazis etilidarität beschwören und die A N T I - A N T I F A - A r - kettiert oder als Radaugruppen bezeichnet, bei debeit als übergreifend und überparteilich verstan- nen kein gefestigtes rechtsextremes Weltbild festden wissen. Hier hat Gezänk und dogmatische zustellen sei. Demgegenüber ist einerseits die
Abgrenzungen (sie!) nichts verloren ... Die A N T I - Gleichzeitigkeit beider Aspekte und andererseits
ANTIFA-Arbeit muß geradezu das Bindeglied der der Charakter eines Sozialisationsprozesses zu beWiderstandskraft jeder einzelnen Vereinigung, tonen. Unabhängig von den individuellen MotiPartei und Organisation sein", vgl. Der Einblick. ven, die zum Anschluß an die Gruppen geführt
Die nationalistische Widerstandszeitschrift gegen haben, werden mit zunehmender Dauer der Mitzunehmenden Rotfront- und Anarchoterror, N r . l , gliedschaft szenetypische Ansichten und VerhalNov. 1993, Randers, Dänemark 4.
tensweisen übernommen.
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3 7
3 2
V g l . Neidhardt 1985. Jugendforscher haben in
den Gruppen keine festen und hierarchischen
Strukturen und keine fixierten Gruppennormen
gefunden. Aktionsentscheidungen werden mehrheitlich getroffen und getragen, das Prestige und
3 3
Noch während der Welle von Ausschreitungen,
die im August in Rostock ihren Anfang genommen hatte, hatten 15% der Befragten in Ostdeutschland „Verständnis für die Leute, die solche Anschläge verüben", weitere 16% waren un3 8
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entschieden (Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach vom Okt. 1992).
Es wurde in der Ausländer- und Asyldiskussion
darüber gestritten, ob wir es mit einem „restricted
master frame" zu tun haben, der nur für die Rechte gilt oder ob es Meinungsbrücken zum Konservatismus und zu einer breiteren Bevölkerungsmeinung gibt.
Ein gutes Beispiel dafür, wie durch Modernisierung des Kontextes ein frame bridging vom
Völkischen zum linken „Antikapitalismus-Frame"
versucht wird, liefert der nach Argentinien emigrierte ehemalige Goebbels-Pressereferent: „Wir
müssen unsere Aussagen so gestalten, daß sie nicht
mehr ins Klischee der 'Ewig-Gestrigen' passen...
In der Fremdarbeiter-Frage etwa erntet man mit
der Argumentation 'die sollen doch heimgehen'
nur verständnisloses Grinsen. Aber welcher L i n ke würde nicht zustimmen, wenn man fordert:
'Dem Großkapital muß verboten werden, nur um
des Profits willen ganze Völkerscharen in Europa
zu verschieben. Der Mensch soll nicht zur Arbeit,
sondern die Arbeit zum Menschen gebracht werden'. Der Sinn bleibt der gleiche: 'Fremdarbeiter
Raus!' Die Reaktion der Zuhörer wird aber grundverschieden sein", vgl. Purtscheller, Wolfgang
1993: Aufbruch der Völkischen. Das braune Netzwerk, Wien 116.
3 9
40
vgl. Snow, David A./Benford, Robert D. 1988:
Ideology, Frame Resonance and Participant M o bilization, in: International Social Movement Research, B d . 1, 197-218.
Nachdem der Vorwurf des „Asylmißbrauchs"
auf breite Zustimmung in der Bevölkerung gestoßen ist, formulieren die Rechtsparteien eine „nationale Sozialpolitik", in der Ausländerfeindschaft
explizit nicht mehr vorkommen muß, da sie in
allen Programmpunkten, die „allein den Deutschen
dienen", impliziert ist. In der „strategischen Skizze zum 94er Feldzug", die in der gesamten Rechtspresse verbreitet wird, stellt ein Dr.Reinhold Oberlercher „Zehn Ziele" auf, darunter z.B. „Die A r beitslosigkeit beseitigen!", „Den Rauschgiftkrieg
gewinnen!", „Die deutsche Kulturkatastrophe aufhalten", vgl. Europa vorn, Nr.57, 1993, 4.
41
4 2
Als zentrale Bedingung erweist sich nicht die
Sympathie mit den Aufrührern, sondern die A n 4 3
97
nahme, daß der Aufruhr der Ausdruck eines erlittenen Unrechts oder einer Notlage ist, vgl. Jeffries, Vincent/Turner, Ralph H.T./Morris, Richard
1971: The Public Perception of the Watts Riot as
Social Protest, in: A S R 36, 443-451.
Wir finden hier eine ähnliche Generalisierung
wie in der sogenannten „Judenfrage" des Kaiserreiches, die als „soziale Frage" („Verjudung")
umdefiniert worden und nur durch „Entjudung"
zu lösen war. Die Parallele wird in dem folgenden Text deutlich angesprochen: „Die Generalmaßnahme der Entausländerung Deutschlands versteht sich von selbst, weil alle Notstände durch
die Verausländerung herbeigeführt wurden", vgl.
Die Nordlichter, Ausgabe 1, August 1992, S.5.
44
Das Gefühl, mit den Gewaltaktionen den Bevölkerungswillen in der Asyldebatte zu erfüllen,
konnte sich durchaus auf die Erfahrungen von
Resonanz in der Bevölkerung stützen. Dem Statement: „Ich bin nicht für Gewalt, aber offensichtlich muß man erst Rabbatz machen, damit sich
überhaupt etwas tut" stimmten im Herbst 1992
25% der Befragten in Westdeutschland und 30%
in Ostdeutschland zu, vgl. Köcher, Renate 1992:
Demokratie braucht Unerbittlichkeit. Institut für
Demoskopie, Allensbach.
4 5
Dabei ist wichtig zu sehen, daß die Betonung
des „Deutschen" nicht allein auf materielle Interessen abzielt, sondern zugleich einen Wertgesichtspunkt meint. Die Integration der rechten Bewegung läuft wie die in anderen Bewegungen auch
nicht über Programme sondern über „Werte".
Deutschsein, Deutschtum etc. bildet den zentralen
Werthorizont, in den Tugenden wie Fleiß, Ordnung, Sauberkeit usw. hineingehören. Dazu zählt
auch der Anspruch auf nationale Souveränität, die
angeblich von Fremdherrschaft bedroht ist.
46
„Dringlichkeit" ist jedoch nur eine von mehreren framing-Strategien, mit denen eine Mobilisierung erreicht werden soll. Weitere sind z.B.: das
Ausmaß des Problems, die Erfolgsaussichten für
eigenes Handeln und die Betonung der moralischen Teilnahmeverpflichtung.
vgl. Japp 1993: 240f. Die rechte Bewegung
erwehrt sich mit diesem Interpretationsmuster auch
konkurrierender Situationsdeutungen. Die Einwände der Linken oder der Politiker werden als fremd4 1
4 8
98
bestimmt abqualifiziert (Lizenzparteien, Presse als
„Rotationssynagoge" oder „Kartellmedien", für die
die Rechten als „Schmuddelkinder" abgeschaltet
bleiben; vgl. Junge Freiheit, September 1993). In
der politischen Rechten ist die Ausbreitung eines
rechtsökologischen Diskurses zu beobachten, der
in apokalyptischen Öko-Katastrophen eine Chance sieht, Individualismus und Demokratie zugunsten einer Öko-Diktatur abzuschaffen. In diesem
Diskurs werden Ökologie und „Ausländerfrage"
so kombiniert, daß die „Übervolkung" zu einer
Überlebensfrage der deutschen Nation hochstilisiert werden kann, vgl. Ökologie in der Programmatik der politischen Rechten, in: Ökologische
Briefe 37, September 1993, 7-9.
vgl. Hirsch 1990: 245; siehe auch Snow, David
A./Rochford, E.Burke/Worden, Steven K./Benford, Robert D. 1986: Frame Alignment Processes, Micromobilization, and Movement Participation, in: A S R 51, 464-481: 466.
Neben der Einheitssemantik findet sich auch
eine Wahrheitssemantik, die erklärt, wieso die
Mehrheit der Minderheitsbewegung nicht (oder
noch nicht) folgt: Sie wird als durch das System
korrumpiert angesehen, so daß sie ihre „wahren
Interessen" nicht sehen kann.
Es gibt immer wieder Versuche, dieses Milieu
in einer Sammlungsbewegung zusammenzufassen.
Rechtsintellektuelle Skeptiker verweisen auf die
bereits vielfach gescheiterten Versuche und plädieren für eine Strategie eher unabhängiger Gruppen, womit letztlich eine breitere „Angebotsstruktur" erreicht würde. Wahlerfolge von Parteien aus
diesem Spektrum wirken temporär wie eine Sammlungsbewegung, indem sie einerseits Mitglieder
aus dem Milieu und von außen anziehen, andererseits einen Mobilisierungseffekt für die gesamte
Szene auslösen.
4 9
50
51
Hinsichtlich der ökonomischen und finanziellen Ressourcen der rechten Szene ist man bisher
auf wenige Informationen und Impressionen angewiesen. Es lassen sichjedoch Ähnlichkeiten mit
der frühen Phase der „alternativen Ökonomie"
Ende der 60er Jahre erkennen, in der linke Kneipen, Verlage, Buchläden eine Gegenöffentlichkeit schaffen wollten.
5 2
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
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vgl. Roth, Roland 1987: Kommunikationsstrukturen und Vernetzungen in den neuen sozialen
Bewegungen, in: Roth, Roland/Rucht, Dieter
(Hrsg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M., New
York 68-88.
Im Dezember 1992 lehnten in Westdeutschland
77%, in Ostdeutschland 79% der Befragten Rechtsextremisten als Nachbarn ab. A u f einer Liste mit
sozial stigmatisierten Gruppen (Drogenkranke,
Alkoholiker, Immigranten, Linksradikale, Juden
u.a.) wurden sie damit am stärksten abgelehnt,
vgl. Institut für Demoskopie, Umfrage Nr. 5074,
1992.
vgl. McAdam, Doug 1986: Recruitment to HighRisk Activism: The Case of Freedom Summer,
in: AJS 92, 64-90.
Soziale Kontrolle dieser Art kann jedoch zu
unerwünschten Nebeneffekten führen: zur Radikalisierung der Mitglieder bis hin zum Terrorismus, Solidarisierungen des Bewegungsumfeldes
und Werbeeffekte durch Zensur- und Verbotsmaßnahmen, z.B. von Nazi-Rock und Fanzines.
Welche Effekte erzeugt werden, hängt unter anderem von der Totalität, der Schwere und der
Breite der Kontrollmaßnahmen ab (completeness,
severity, extensiveness), vgl. Wilson, John 1977:
Social Protest and Social Control, in: Social Problems 24, 469-481: 475ff. Bei den verbotenen
Neonazi-Parteien sind terroristische Bestrebungen
einzelner Kader nicht auszuschließen, da ohne
Wählerorientierung bei ihnen der Verbürgerlichungseffekt verloren geht. Zur Rolle der Repression beim Übergang in den Terrorismus vgl. K o opmans 1993: 641.
5 3
54
5 5
5 6
vgl Curtis, Russell L./Zurcher, Louis A . 1973:
Stahle Resources of Protest Movements: The M u l ti-Organizational Field, in: Social Forces 52, 5361.
vgl. Minkenberg, Michael 1992: The New Right
in Germany. The Transformation of Conservatism and the Extreme Right, in: European Journal
of Political Research 22, 55-81.
vgl. Jaschke 1992: 34ff.
5 7
5 8
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FORSCHUNGSJOURNAL N S B
Bericht
Grüne und
Technik
In der öffentlichen Diskussion
stellt sich das Verhältnis der
Grünen zur Technik nach wie
vor als ein grobes Mißverständnis dar. Ingenieurwissenschaftler wie Günter Ropohl sprechen
vom Kulturchauvinismus der
Partei, von der mangelnden Bereitschaft, Einfühlungsvermögen
in die tatsächlichen Problemstellungen der Technik zu entwikkeln und sich befreit von soziokulturellen Scheuklappen zu artikulieren. Den Sozialwissenschaftlern tragen die Grünen ein
Zuviel an Moralität in die technischen Debatten. Bei Ulrich
Beck zeigen sich die Grünen in
technikrelevanten Fragen gar als
Abstraktionsartisten, die auf den
Drahtseilakt der Metaebenen f i xiert sind, ohne einen pragmatischen und kurzfristigen Beitrag
zur Gestaltung technischer Entwicklungslinien zu leisten. Und
nach wie vor gilt das Verdikt
einer Forschungsgruppe um U l rich v. Alemann, die den Grünen im Vergleich zu den anderen Parteien keinerlei Interventionsbereitschaft im technikpolitischen Bereich abgewinnen
konnte.
Spiegeln diese Aussagen die
Vorbehalte einer bestimmten
Autorenschaft wider oder streifen sie grün-altemative Realitäten? Existiert Grüne Technikpo-
2/94
litik? Wenn ja, in welchen Bereichen, zu welchen Konditionen und mit welchen politischen
Zielsetzungen? Im Rahmen einer Themenanalyse Grüner A n fragen im Deutschen Bundestag
wurde diesen Fragestellungen
nachgegangen. Die Analyse bezog sich auf den Zeitraum der
10. und 11. Legislaturperiode
(1983-1987 und 1987-1990) des
Deutschen Bundestages.
1. Technikpolitische
Anfragetätigkeit im
parlamentarischen
Vergleich
Anfragen sind ein oppositionelles Medium zur Kontrolle der
Regierungsaktivitäten. Gezielt
wird auf Probleme und Defizite
in Einzelbereichen verwiesen,
oftmals werden unbequeme Antworten verlangt. Obwohl die
Anfrage ein traditionsreiches
Mittel darstellt, ist sie in der Geschichte des bundesdeutschen
Parlamentarismus unterschätzt
und teilweise sogar ignoriert
worden. Ausgelöst durch die
Grüne Fraktion erlebte der Deutsche Bundestag zwischen 1983
und 1990 jedoch eine wahrhafte
Hut von Anfragen, die die Bundesregierung und die nachgeordnete Ministerialbürokratie vor
ein Erklärungs- und Professionalisierungsproblem
stellte.
Technikrelevante Anfragen waren hierbei ein zentrales Arbeitsund Aktionsfeld der Grünen
Bundestagsfraktion. Für die A b schnitte der 10. und 11. Wahlperiode konnten nahezu 700
Grüne Anfragen mit einem technikpolitischen Hintergrund codiert werden. Dies entspricht
99]
etwa 25% aller parlamentarischen Anfragen dieses Zeitraumes!
Vor einem eher qualitativen Hintergrund zeigt sich die Grüne
Anfragetätigkeit geprägt durch
thematische Kontinuität. Über
den achtjährigen Untersuchungszeitraum weist das Anfrageprofil keine einschneidende Wandlung auf, mit den Komplexen
Energie/Kernenergie, Verkehr,
Chemie und Entsorgung treten
vor allem traditionelle Technikbereiche in den Blickpunkt.
Knapp 80% aller erfaßten A n fragen behandeln Techniksysteme, die schon seit Jahrzehnten
im Anwendungszusammenhang
stehen und mit ihren unverhohlenen Risikopotentialen die öffentliche Diskussion dominieren.
Gleichzeitig sind diese Themenbereiche auch die Themen der
Grünen und spiegeln das technikkritische Risikobewußtsein
der sozialen Bewegungen und
Initiativgruppen wider.
Gegenüber den neuen Technologien, insbesondere den Informations- und Kommunikationstechniken (IuK-Technik), der zivilen Raumfahrt und auch der
Gentechnik fehlt diese hohe Interventionsbereitschaft. Erst mit
der Perspektive der industriellen
Verwertungsmöglichkeiten dieser Sachsysteme und dem Entstehen von Protestbewegungen
wandelt sich dieses Bild in der
11. Wahlperiode. Dies gilt insbesondere für den Themenbereiche Gentechnik, Datenschutz
und digitale Vernetzungsstrategien der Deutschen Bundespost/
Telekom, die die Grünen in ei-
100
ner offensiven Auseinandersetzung problematisierten.
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
positionelle Rolle; zugleich haben sie sich aber auch auf parlamentarische Arbeitszusammenhänge eingelassen. Das wissenschaftliche Niveau der Anfragetexte verweist zudem auf strikte
Arbeitsteilung von Fraktion und
wissenschaftlicher Politikberatung. Arbeitsteilige Effizienz
und verstetigtes, zielorientiertes
Arbeiten deuten auf eine Grundhaltung des Pragmatismus hin,
der in den Auseinandersetzungen der Gesamtpartei mit dem
Stichwort der „schleichenden
Realisierung der Fraktion" (Verena Krieger) thematisiert wurde.
Die Dynamik, mit der sich die
Grünen in dem achtjährigen
Zeitabschnitt äußerten, spitzt
sich mit Blick auf die anderen
Parteien des Bundestages weiter
zu. Bei den Regierungsfraktionen spielten Anfragen erwartungsgemäß kaum eine Rolle.
Gleichzeitig befaßten sich die 25
Anfragen, die für den gesamten
Zeitraum codiert wurden, vornehmlich mit den neuen Techniken und scheinen somit das
selbstgewählte Image von der
Fortschritts- und Zukunftsbezogenheit zu illustrieren. Ganz anders die SPD. Gerade in der 10. Ob eine derartige Einschätzung
Wahlperiode vermittelt die Par- zutreffend ist, kann nicht abtei den Eindruck, als Avantgar- schließend geklärt werden. Festde der Gestaltung neuester Tech- zuhalten bleibt jedoch ein schrittnologien zu agieren. Potentielle weises Abrücken der Fraktion
Risikobereiche, wie die Atom- von jenen Strategien, die in unkraft oder die Chemiepolitik, äu- terschiedlichen Kreisen der Parßern sich hierbei als Marginalie. tei zur Debatte standen. Bestes
Diese Gestaltungsfixierung, vor Beispiel dafür ist die Technikallem mit Blick auf Fragen der folgenabschätzung (TFA). Vom
Arbeitsgesellschaft, bleibt in der Grünen Fundamentalismus und
11. Legislaturperiode aus. Mit den sozialistischen Strömungen
ihren 55 Anfragen legt die SPD als bürokratisierter Debattierzirein nahezu deckungsgleiches kel der Technikaffirmation abBild zum Anfrageprofil der Grü- getan, hat die Fraktion in ihren
nen vor: Mit Kernenergie, Che- Anfragen kaum eine Gelegenheit
mie und ungelösten Entsor- ausgelassen, um auf die Notwengungsfragen treten die Folgeko- digkeit einer parlamentarisch-insten des technischen Fortschritts stitutionalisierten T F A zu verin den Mittelpunkt sozialdemo- weisen. Eine derartige Institutikratischer Aktivitäten. Grüne on, so die Hoffnung der FraktiThemen diffundieren in der Par- on, sollte einen breitenwirksateienlandschaft.
men Aufklärungsauftrag übernehmen, Rahmensetzungen eines
perspektivischen Technikeinsat2. Grüne Dissonanzen
zes definieren und gesellschaftIn ihrer technikpolitischen A n - lich legitimieren. Daß eine derfragetätigkeit definierten die artige Institution 1989 in AnsätGrünen eine eigenständige, op- zen realisiert wurde, kann als Er-
2/94
folg Grüner Technikpolitik gewertet werden, der im Katzenjammer des Wahldesasters vom
Dezember 1990 und zahllosen
Zwistigkeiten untergegangen ist.
Die Verselbständigung der Fraktion von der Gesamtpartei läßt
sich auch im Themenbereich der
IuK-Techniken nachweisen. In
ihren programmatischen Debatten hatte die Partei weitreichende Boykott- und Ausstiegsstrategien formuliert und ihre ablehnende Zielorientierung mit
Positionen des Datenschutzes,
der Kontrolle und der herrschaftsstützenden Durchschaubarkeit gesellschaftlicher Zusammenhänge begründet. Ganz anders die Fraktion. Zwar wird
auch hier auf die zweifelhafte
Perspektive des Überwachungsstaates aufmerksam gemacht,
doch die politischen Vorzeichen
weisen deutlich in Richtung
Pragmatismus und Techniknutzen. Zielgerichtet werden die Informationstechniken von der
Fraktion als Medium der eigenen Öffentlichkeitsarbeit eingesetzt. Ebenso zielgerichtet tritt
der Aspekt der digitalen Überwachung in den Blickpunkt,
wenn es gilt, ökologische Zusammenhänge in adäquater Form
zu kontrollieren.
In ihrer Technikpolitik hat sich
die Grüne Fraktion von programmatischen Ansätzen und von den
parteiinternen Diskussionszirkeln der frühen Jahre abgesetzt.
Die Parteienforschung (z. B .
Raschke) konnte dem Grünen
Parlamentarismus im Vergleich
zur Gesamtpartei nur in Superlativen begegnen. Raschkes
FORSCHUNGS JOURNAL N S B
Stichworte der Effizienz, Interventionsbereitschaft, Themenkontinuität und des Pragmatismus spiegeln sich auch in der
technikpolitischen Anfragetätigkeit der Partei wider. Parlamentspräsidenten und Ministerialbürokratie beklagten sich bitter über den Arbeitseifer der
Fraktion, die Detailtreue und das
nahezu stupide „Festkleben" an
einem Thema. In krassem Mißverhältnis zu den detaillierten
Anfragen der Partei stand die
Beantwortungspraxis der Fachressorts und der Ministerialbürokratie, die sich häufig auf Ja/
Nein-Floskeln und stereotype
Leerformeln wie „Über Risiken
ist nichts bekannt" beschränkte.
Gerade vor diesem Hintergrund
muß die Wirkungsreichweite der
Grünen Anfragen eher nüchternd
bewertet werden. Die Selbstaufklärung der technisch formierten Gesellschaft konnte und
wollte nicht stattfinden. Die Vorstellung einer offenen, allseits informations- und rechenschaftsbereiten Demokratie wird mit
dem selbstgefälligen Modell einer „Herrschaft kraft Wissen"
kontrastiert.
Der vorliegende Text ist eine
stark komprimierte, um Literatur, Methode und Tabellen gekürzte Zusammenfassung einer
Forschungsarbeit. Die vollständige Studie zur Grünen Technikpolitik ist über die TU-Berlin, Inst. f. Politikwissenschaft,
Ernst Reuter-Platz 7, 10587 Berlin, oder über den Autor (Tel.:
030-626 71 13) zu beziehen.
Peer Donner, Berlin
101
2/94
Forschungs
b e ric ht
Potsdamer Forschungen zur
Entwicklung der
politischen
Ökologie in
Frankreich
Ohne Zweifel ist die Bewältigung gravierender ökologischer
Probleme für die Menschheit zu
einer Überlebensfrage geworden,
deren Dimensionen auch in dem
sich vereinigenden Europa weiter an politischer Relevanz gewinnen werden. Die daraus erwachsenden mannigfaltigen wissenschaftlichen,
politischen,
wirtschaftlichen und sozialen
Fragen werden zunehmend von
einem breiten Spektrum politischer Organisationen und Parteien aufgegriffen. Die sich in
Frankreich am Ende der 70er
Jahre Ökologiebewegung und
ihre Entwicklung zu einer eigenständigen politischen Kraft in der
80ern sind aber nicht nur ein
Anzeichen gewachsener Sensibilität für Umweltfragen in der
französischen Öffentlichkeit. Sie
verdeutlichen zugleich die Unzufriedenheit über den Platz ökologisch-sozialer Fragestellungen
auf der Prioritätenliste von Staat
und etablierten Parteien sowie
über die damit verbundenen un-
zureichenden Lösungsansätze.
Schließlich spiegeln sie einen,
wohl nicht nur für Frankreich
signifikanten Zweifel an der Effizienz der classe politique überhaupt wider. Andererseits stellen die Programme, Organisations- und Aktionsformen der politischen Ökologisten des Hexagons eine spezifische Reaktion
auf die sich in der modernen Gesellschaft vollziehenden politischen und strukturellen Veränderungen dar. Sie sollen den für
unbedingt notwendig empfundenen Wandel zu einem ökologischen, sozial gerechten und somit zukunftsorientierten gesellschaftlichen Zusammenleben beschleunigen und zielgerichtet
beeinflussen.
Die Forschungen zur Geschichte und Entwicklung der politischen Ökologie in Frankreich
sind relativ umfangreich und
vielfältig. Allerdings sind viele
Buch-, Zeitschriften- und Zeitungsveröffentlichungen SpezialStudien, zeit-, ereignis-, regionaloder detailbezogen und damit in
ihrer Aussagekraft begrenzt.
Wichtige Aussagen zur Problematik machen in ihren Veröffentlichungen die Aktivisten der
politischen Ökologie selbst, so
beispielsweise Waechter (Dessine-moi une planete. L'ecologie
maintenant ou jamais, Paris
1990), Lebreton (La Nature en
crise, Paris 1988), Dumont (Les
Raisons de la colere ou l'utopie
des Verts, Paris 1986), Lalonde
(Sur la vague verte, Paris 1981),
Brodhag (Objectif terre. Les
Verts, de l'ecologie a la politique, Paris 1990) oder Lipietz
(Vert esperance, Paris 1993). In
102
Frankreich wie auch in Deutschland liegen Gesamtdarstellungen
zu den Anfangsjahren der ökologischen Bewegungen vor. Für
Frankreich ist stellvertretend
Vadrot (L'ecologie, histoire
d'une Subversion, Paris 1978) zu
nennen.
Im Zusammenhang mit der
wachsenden Akzeptanz der französischen Ökologisten und ihren intensiven Bemühungen um
die Erarbeitung sozialer Alternativvorstellungen sind in den
letzten Jahren eine Reihe bemerkenswerter Monographien veröffentlicht worden, die sich in
starkem Maße (wie jüngst in
Deutschland Raschke mit 'Die
Grünen. Wie sie wurden, was sie
sind', Köln 1993) mit theoretischen Fragen der Ökologiebewegung beschäftigen (u.a. Alphandery/Dupont/Bitoum: L a Sensibilite ecologique en France, Paris 1991; Bennahmias/Roche:
Des Verts de toutes les couleurs.
Histoire et sociologie du mouvement ecolo, Paris 1992; Deleage: Histoire de l'Ecologie,
une science de l'homme et de la
nature, Paris 1991; Pronier/Le
Seigneur: Generation verte, Paris 1992; Sainteny: Les Verts,
Paris 1991). Wesentlich desirater ist der Forschungsstand hinsichtlich vergleichender Betrachtung ökologischer Bewegungen.
Zu verweisen ist vor allem - neben Nullmeier/Rubart/Schultz
'Umweltbewegungen und Parteiensystem' (Berlin 1983) - auf
Parkin: Green Parties. A n international guide (London 1989)
und Müller-Rommel (Hrsg.):
New Politics in Western Europe: The Rise and Succes of
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
Green Parties and Alternative
Lists (San Francisco&London
1989). Faktisch nicht vorhanden
sind vergleichende Forschungen
zur französischen und deutschen
Ökologiebewegung. Die Untersuchungen von Kiersch/Oppeln:
Kernenergiekonflikt in Frankreich und Deutschland (Berlin
1983), Oppeln: Die Linke im
Kernenergiekonflikt. Deutschland und Frankreich im Vergleich, (Frankfurt/New York)
sind älteren Datums und sind
vom Untersuchungsgegenstand
eingeengt.
Deutschsprachige Übersetzungen französischer Standardwerke zu ökologischen Problemen
- das gilt auch umgekehrt - sind
faktisch nicht vorhanden. Die
Arbeitsgruppe Frankreich an der
Universität Potsdam beschäftigt
sich seit dem Beginn der 90er
Jahre intensiv mit Studien zur
Geschichte und Gegenwart der
politischen Ökologie in Frankreich. Untersuchungen zu den
politisch wichtigsten Organisationen der französischen Ökologiebewegung verdeutlichen einerseits die bestehenden ideologischen, strukturellen und auch
soziologischen Unterschiede. Sie
zeigen aber zugleich, daß es hinsichtlich der ökologisch-sozialen
Zielstellungen der Parteien und
Gruppierungen einen relativ
breiten Konsens gibt. Dessen
Relevanz wird von der Binnendifferenzierung der einzelnen
Organisationen, dem politischen
Konkurrenzkampf zwischen den
Parteien, Gruppen und Bewegengen und nicht zuletzt von paralysierenden Querelen zwischen
führenden Persönlichkeiten der
2/94
politischen Ökologie in Frankreich erheblich eingeschränkt.
(Vgl.Fuchs/Scholze: V o n der
Politisierung der Ökologie.
Frankreichs Grüne zwischen
Rechts und Links, in: Lendemains 64/1991, S. 138-145;
Fuchs/Scholze: Brice Lalonde
und die Generation ecologie, in:
Lendemains 66/1992, S. 113-118
sowie Zimmermann: L'alternative rouge et verte ( A R E V ) eine weniger bekannte ökologische Partei Frankreichs, in: Lendemains 67/92, S. 143-148).
Ein vom Deutschen Akademischen Austauschdienst vergebenes einjähriges Forschungsstipendium ermöglichte den Beginn der Zusammenarbeit mit
der unter Leitung von Daniel
Boy stehenden Groupe d'Etudes
des Mouvements Ecologistes an
der Maison des Sciences de
l'Homme (Paris). A l s erstes Resultat dieser Zusammenarbeit
entstanden einige Texte, die aktuelle Entwicklungen innerhalb
der französischen Ökologiebewegung analysieren. So galt den
Ursachen der ökologistischen
Wahlerfolge bei den Regionalwahlen 1992 (Vgl. u.a. Fuchs/
Scholze: Marianne sympathisiert
mit Grün, in: Geschichte Erziehung Politik 10/1992, S. 641644) ebensolche Aufmerksamkeit wie den Fraktions- und Flügelkämpfen innerhalb der verschiedenen ökologistischen Organisationen, die nach dem Debakel der diesjährigen Legislativwahlen ausbrachen (Vgl.
Fuchs/Scholze: Das Wahldebakel der französischen Ökologisten und seine Folgen, demnächst in: Lendemains).
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
2/94
Unzweifelhaft dürfte sein, daß
die Perspektiven der politischen
Ökologie in unserem Nachbarland nicht nur durch die als mangelhaft empfundene Effizienz
der dortigen classe politique bestimmt werden. Vor allem der
Grad der Akzeptanz, den die
öko-politische und soziale Programmatik der Ökologisten
durch die französische Öffentlichkeit erfährt, wird deren künftigen Platz im politischen Leben
des Hexagons bestimmen. Das
in diesem Bereich existente Forschungsdefizit wurde durch die
von der Potsdamer Arbeitsgruppe vorgelegten Analysen nur zu
einem Teil aufgefangen ( V g l .
Fuchs/Scholze: Soziale Alternativvorstellungen der französischen Umweltbewegung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: Frankreich - Jahrbuch
1992, Opladen, S. 157-168, und
dies.: Die Dritte Welt in der Programmatik der französischen
Grünen, in: Entwicklungspolitik
1/1993, S. 29-31). Die bisherigen Untersuchungen der Potsdamer Arbeitsgruppe kulminieren
in einer kurzen Geschichte der
Ökologiebewegung in Frankreich, die noch 1993 in den Handel kommt. Der Band stellt die
historischen Wurzeln der Bewegung, ihren schwierigen Weg zu
politisch handlungsfähigen Organisationsformen und die Differenziertheit der Zielvorstellungen ebenso dar, wie die (bisherigen) Erfolge und Grenzen ökologistischer Politik (Vgl. Fuchs/
Scholze: Der lange Marsch in
die Politik. Zur Geschichte der
politischen Ökologie in Frankreich). Nachdem sich die Forschungen fast ausschließlich na-
tional bezogen mit mannigfaltigen Problemen der politischen
Ökologie beschäftigt haben, soll
nun ein gemeinsames Forschungsprojekt der Arbeitsgruppe Frankreich an der Universität
Potsdam, einer Arbeitsgruppe
am
Centre
d'Analyse
et
dTntervention
Sociologiques
(Paris) und dem Centre de Recherche Administratif Politique
et Social (Lille) Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie deren Ursachen in der Genesis, den
Triebkräften, Strukturen, Strategien, der Stellung im politischen
System und der realen Wirksamkeit der Grünen bzw. des Bündnis 90/Die Grünen einerseits und
Les Verts/Generation ecologie
andererseits untersuchen. Für einen solchen Vergleich scheinen
die Ökologiebewegungen Frankreichs und Deutschland wegen
ihrer Geschichte und auch durch
den in den letzten Jahren - aus
unterschiedlichen Gründen - anhaltenden Zwang zur programmatischen Auseinandersetzung
geeignet zu sein. Mit dem gemeinsamen Projekt, das von der
Robert-Bosch-Stiftung aus dem
„Programm zur Förderung der
deutsch-französischen Zusammenarbeit in den Geistes- und
Sozialwissenschaften" unterstützt wird, soll untersucht werden, in welchem Grad und mit
welcher Übereinstimmung Programm, Organisations- und A k tionsformen der politischen Ökologie in beiden Ländern die sich
vollziehenden ideologischen, politischen und strukturellen Veränderungen der modernen Gesellschaft widerspiegeln. Im Vergleich der durch die Ökologiebewegungen vertretenen Werte
H
l
soll deren Haltung zur weiteren
Entwicklung des menschlichen
Gemeinwesens und zur Moderne schlechthin erhellt werden. In
diesem Sinn will das Projekt, das
mit der Einbeziehung der neuen
Bundesländer in die Analyse sowohl an wissenschaftlicher Originalität als auch an politischer
Brisanz gewinnt, Antworten auf
die künftig mögliche Rolle der
Ökologiebewegung geben.
Günter Fuchs und Udo Scholze.,
Potsdam
104
Materia
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
CH-1211 Geneve20
10. CEFDIF, 25, Rue du
Charolais, F-75012 Paris
Die europäischen
Frauen-Netzwerke
11. ENWRAC, c/o Wesley
House, 4 Wild Court, GBLondon WC2B, 5. Av.
Frauen-Netzwerke können
zur Beteiligung der Frauen
am Aufbau eines Europas
der Gleichheit beitragen Frauen-Netzwerke als zusammenhängende Strukturen von Frauen, die miteinander in Verbindung stehen,
Informationen austauschen,
sich gegenseitige Hilfe zusichern. Inzwischen hat sich
ein vielfältiges Netz an länderübergreifenden FrauenStrukturen entwickelt.
12. c/o Arbeitsstelle Friedensforschung, Beethovenallee 4, 53173 Bonn
Kontaktadressen
1. EG-Kommission, Rue de
la Loi, 200, B-1049-Bruxelles
2. WISE, Heidelberglaan 2,
NL-3584 C S Utrecht
3. EFMD, 40 Rue Washington, B-1050 Bruxelles
4. FEM, Stationsstraat 2,
NL-7475 Am Markelo
5. EAPS, Maison de
l'Europe, Hotel de Coulanges, 35/37 Rue des FrancsBourgeois, F-75004 Paris
6. EGB-Frauenausschuß,
Rue Montagne aux Herbes
Potageres, B-1000 Bruxelles
7. ECG, Rev. Christa Springe, Am Gonsenheimer
Spieß 6, 55122 Mainz
8. ÖFCFE, 174 Rue Joseph
II, B-1040 Bruxelles
9. IFFF, 1, Rue de Varembe,
13. c/o Elisa Rode, Pfuelstr.
2, 10997 Berlin
14. OWEN e. V , Chausseestraße 58, 10115 Berlin
Einrichtungen und
Projekte der
Friedensforschung
Berghof Forschungszentrum
für konstruktive Kontliktbearbeitung
2/94
Team von Kontliktberaterlnnen mit Vertreterinnen der
streitenden Parteien in vielfältigen Kommunikationsund Lernformen um die
konstruktive Transformation
eines Konflikts bemüht.
Kontaktadresse: Berghof
Forschungszentrum für
konstruktive Konfliktbearbeitung, Leitung: Dr. Norbert
Ropers, Aitensteinstr. 48a,
D-14195 Berlin-Dahlem,
Tel.: +49 (030) 831-8099,
8090, Fax: +49 (030)
315985.
Auswahlbibliographie
Rechtsextremismus
und Neonazismus
Die Arbeitsstelle NeonazisDas Berghof Forschungsmus an der Fachhochschule
zentrum für KonfliktforDüsseldorf hat in Zusamschung wurde 1. Juli 1993 in menarbeit mit dem Verein
Berlin eröffnet. Hier sollen
für Beratung und Weiterbilkonstruktive Modelle für die
dung in der Friedensarbeit
Bearbeitung ethnonationaler
e. V. zum zehnten Mal eine
und soziokultureller Konflikte umfangreiche Auswahlbiblioin Europa entwickelt und
graphie zum gesamten
erprobt werden. Auch die
Themenbereich erstellt. Sie
Umsetzung solcher Modelle
umfaßt ebenso Literaturhinin der Praxis wird von dieweise zu Programmatik,
sem Zentrum aus durch
Ideologie und Verbindungen
wissenschaftliche Begleitung rechtsextremistischer und
unterstützt. Im Mittelpunkt
neonazistischer Gruppierunsteht die Frage, wie Konflikte gen/Parteien wie zu den
auf der gesellschaftlichen
Ideologiemerkmalen NatioEbene bearbeitet werden
nalismus, Rassismus, Antikönnen. Den Ausgangspunkt semitismus und Fremdenbilden verschiedene Formen feindlichkeit. Darüber hinaus
von „Drittpartei-Konsultatiofinden sich bibliographische
nen", bei denen sich ein
Hinweise zum Rechtsextre-
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
mismus bei Jugendlichen,
zur Auseinandersetzung mit
dem Nationalsozialismus,
zur politischen Auseinandersetzung mit diesem Thema
in der Bundesrepublik
Deutschland, zu didaktischmethodischen Überlegungen
für Jugendarbeit und Schule
sowie zu neonazistischen
Computerspielen und zur
einschlägigen Musikszene.
Prof. Christiane Rajewsky
hat noch bis kurz vor Ihrem
Tod am 21. Mai 1993 diese
Auswahlbibliographie überarbeitet, konnte sie aber
nicht mehr abschließen. Die
Fertigstellung und Endredaktion übernahmen Adelheid
Schmitz und Ria Proske.
Bezug: Beratung und Weiterbildung in der Friedensarbeit e.V., c/o Ria Proske,
Hunsrückstraße 11, 50739
Köln
Schweizerische
Friedensstiftung
Bern, Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und
Konfliktanalyse der
ETH Zürich:
„Environment and
Conflicts Project"
Occasional Papers
- Günther Bächler: Konflikt
und Kooperation im Lichte
globaler humanökologischer Transformation,
2/94
Februar 1993, (Nr. 5);
- M. Abdul Hafiz/Nahid
Islam: Environmental
Degradation and Intra/
Interstate Conflicts in
Bangladesh, Mai 1993,
(Nr. 6);
- Stefan Klötzli: Der slowakisch-ungarische Konflikt
um das Staustufenprojekt
Gabcikovo, Juni 1993,
(Nr. 7);
- Volker Böge: Das SardarSarovar-Projekt an der
Narmada in Indien Gegenstand ökologischen
Konflikts, Juni 1993,
(Nr. 8).
Kontaktadressen: Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und Konfliktanalyse der ETH Zürich, 8092
Zürich- Schweiz, Tel.: +41
(1) 256 40 25, Fax:+41 (1)
63 91 96./ Schweizerische
Friedensstiftung Bern, Wasserwerkgasse 7, Postfach,
CH-3011 Bern, Tel.: +41
(31) 22 55 82, Fax:+41 (31)
22 55 83.
Forschungsregister
Die Arbeitsstelle Friedensforschung Bonn weist darauf
hin, daß sie im Rahmen
ihrer Auskunftstätigkeit ein
nationales und internationales Forschungsregister mit
derzeit 111 deutschen und
121 ausländischen Forschungseinrichtungen und
Forscherinnen unterhält.
Das Register wird - soweit
die Informationen der AFB
zugänglich gemacht werden
- ständig erweitert, auf
aktuellem Stand gehalten
und weist die Forschungsschwerpunkte der einzelnen
Einrichtungen und Personen
auf. Folgende Forschungsbereiche können abgefragt
werden: (1) Theorie des
Friedens / der Internationalen Beziehungen / Grundlagenforschung, (2) Globale
Gefährdungen (ökonomische und ökologische Fragen), (3) Kriegsursachenforschung, (4) Ost-WestBeziehungen (Sicherheit,
Wirtschaft, Kultur), (5) Sicherheitspolitik (Rüstungskontrolle, Abrüstung, Alternative Konzepte, Soziale
Verteidigung), (6) Rüstung
und Entwicklung, Rüstungsexport, (7) Konversion von
Rüstung und Standorten, (8)
Nord-Süd-Beziehungen
(Sicherheit, Wirtschaft,
Migration, Umwelt), (9)
Konflikt- und Entwicklungsdynamik in den Ländern des
Südens, (10) Innergesellschaftliche und ethnische
Konflikte (Nationalitätenkonflikte u.a.), (14) Historische
Friedensforschung, (15)
Friedenserziehung und
-Pädagogik sowie (16) Friedensethik, Gewaltfreiheit.
106
Materialien der Stiftung Entwicklung
und Frieden und
des Instituts für
Entwicklung und
Frieden: Interdependenz
- Toblas Debiel/Ingo Zander: Die Friedensdividende der 90er Jahre. Chancen und Grenzen der
Umwidmung von Militärausgaben zugunsten
ziviler Zwecke, Nr. 11,
1993;
- Norbert Ropers/Peter
Schiotter: Die KSZE Multilaterales Kontliktmanagement im weltpolitischen
Umbruch. Zukunftsperspektiven und neue Impulse für regionale Friedensstrategien, Nr. 12,
1993;
- Klaus Jürgen Gantzel/
Torsten Schwinghammer/
Jens Siegelberg: Kriege
der Welt. Ein systematisches Register der kriegerischen Konflikte 1985 bis
1992, Nr. 13, 1993.
Kontaktadressen: Stiftung
Entwicklung und Frieden,
Gotenstr. 152, D-53175
Bonn, Tel.: (0228) 376935,
Institut für Entwicklung und
Frieden (INEF) der Universität-GH-Duisburg, Geibelstr.
41, D-47057 Duisburg, Tel.:
(0203) 3792417.
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
2/94
Hamburger Institut
für Sozialforschung
- Projekt 1995
derts" ist der Titel einer
wissenschaftlich-politischen
Initiative des Hamburger
Instituts für Sozialforschung.
In einer Reihe von Publikationen und Diskussionen,
Tagungen und Forschungsprojekten, Ausstellungen
und politischen Interventionen sollen der Öffentlichkeit
in den nächsten zwei Jahren
Anregungen zum Nachdenken über unser Jahrhundert
gegeben werden. Dabei
steht die interdisziplinäre
Auseinandersetzung mit der
unübersehbaren Kumulation
von Gewalt und Destruktivität, deren Ursachen, Ausformungen und Nachwirkungen
im Vordergrund. Der Bezug
auf 1995 im Projekttitel hat
das Jahr 1945 zum Gegendatum. Der Rückblick auf
das Kriegsende vor 50 Jahren soll sich mit einem Ausblick auf die Signatur dieses
Jahrhunderts verbinden. Im
Mittelpunkt der Veranstaltungen wird 1995 eine Austeilung stehen, die den Zeitraum der „unbekannten 200
Tage" des Jahres 1945
zwischen der Befreiung von
Auschwitz und dem Atombombenabwurf auf Hiroshima zum Gegenstand hat.
Über die verschiedenen
Arbeitsvorhaben informiert
das „Bulletin 1995", das
regelmäßig als Beiheft der
Institutszeitschrift „Mittelweg
36" erscheint.
„Projekt 1995 - Zivilisation
und Barbarei. Zwischenbilanz zu einer Gewaltgeschichte des 20. Jahrhun-
Kontaktadresse: Zeitschrift
des Hamburger Instituts für
Sozialforschung, Redaktion:
Thomas Neumann (verant-
Forschungsstelle
Dritte Welt der Universität München:
Arbeitspapiere zu
Problemen der
Internationalen
Politik und der
Entwicklungsländerforschung
- Dieter Senghaas: Frieden
als Zivilisierungsprojekt,
Nr. 12/1993;
- Stefan A. Schirm: Mexiko
und die USA: Von konfliktiver Distanz zu freundschaftlicher Kooperation
in Politik, Wirtschaft und
Sicherheit, Nr. 13/1993;
- Peter J. Opitz: Flüchtlings- und Migrationsbewegungen: Herausforderungen für Europa, Nr.
14/1993.
Kontaktadresse: Forschungsstelle Dritte Welt,
Geschwister-Scholl-Institut
für Politische Wissenschaft,
Ludwig-Maximilian-Universität München, Ludwigstr. 10,
D-80539 München, Tel.:
(089) 2180-3046/3058.
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
wortlich), Gaby Zipfel; Redaktionsanschrift: Mittelweg
36, D-20148 Hamburg, Tel.:
+49 (40) 41409716 und
41409732, Fax: +49 (40)
41409711.
Dokumentation
„Gewalt in der
Gesellschaft"
Die von Gerhard Schönfeld
bearbeitete Dokumentation
„Gewalt in der Gesellschaft Eine Dokumentation zum
Stand der sozialwissenschaftlichen Forschung seit
1985" enthält rund 700
Kurzbeschreibungen von
Forschungsarbeiten und
Literatur aus dem deutschsprachigen Raum. Neben
theoretischen Konzepten der
Gewalt- und Aggressionsforschung werden Arbeiten zu
Erscheinungsformen von
Gewalt in den unterschiedlichsten Bereichen nachgewiesen: Staatliche Gewalt,
Gewalt gegen Staat und
Gesellschaft, Gewalt in Ehe
und Familie, gegen Frauen,
Kinder, alte Menschen,
gegen Ausländer und andere Minderheiten, Gewalt im
Zusammenhang mit Kriminalität, Sport, Medien, Jugend. Vorab beschreibt eine
Analyse von Dietrich Oberwittler „Quantitative Aspekte
der sozialwissenschaftlichen
Gewaltforschung 19851992". Roland Eckert und
Helmut Willems (Universität
Trier) geben einen Überblick
2/94
über den Stand der Gewaltforschung allgemein und
speziell zu „Politisch motivierter Gewalt". Susanne
Babl (ZUMA) präsentiert
eine Zusammenstellung
objektiver und subjektiver
Indikatoren zur Kriminalität:
„Mehr Unzufriedenheit mit
der öffentlichen Sicherheit
im vereinten Deutschland":
Kontaktadresse: Informationszentrum Sozialwissenschaften der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute e.V.,
Lennestraße 30, D-53113
Bonn, Tel.: +49 (228) 22810,
Fax: +49 (228) 2281-120.
Grundrechte-Komitee fordert Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe
Das Komitee für Grundrechte und Demokratievom 4.-6.
März 1994 in Bonn eine
öffentliche Anhörung zum
Thema „Staatliches Gewaltmonopol, bürgerliche Sicherheit, lebenslange und zeitige
Freiheitsstrafe" durchgeführt. Expertinnen und Experten trugen Kritik an der
lebenslangen Freiheitsstrafe
aus verfassungsrechtlicher,
kriminologischer und sozialpsychologischer Sicht vor.
Zum Abschluß der Tagung
wurde ein Manifest des
Komitees mit dem Titel „Die
Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe und die
Zurückdrängung der zeitigen-Freiheitsstrafen - Auf
dem Wege zu gewaltfreien
Konfliktlösungen".
Komitee für Grundrechte
und Demokratie e. V.
An der Gasse 1
64759 Sensbachtal
Telefon 06068/2608
Telefax 06068/3698
Climate Network
In Genf (7.2. bis 11.2.1994)
trafen sich Vertreter der
Unterzeichner-Staaten der
Konvention von Rio mit
Delegationen von NichtRegierungsorganisationen
(NGOs). Ihr Ziel: Die Rahmen-Konvention von Rio, die
bisher nur eine Absichtserklärung der Unterzeichnerstaaten ist, soll mit Inhalten
gefüllt werden. Bis Mitte
1995 sollen die Arbeiten
beendet sein. Dann wollen
die Unterzeichner in Berlin
auf der »Conference of the
Parties« erklären, wie sie die
C0 -Emissionen im Jahr
2000 auf dem Niveau von
1990 stabilisieren wollen.
Der Grundstein dafür aber
wird jetzt in Genf gelegt. Das
Öko-Institut hat gemeinsam
mit dem »Climate Network«
ein zentrales Papier formuliert, das Forderungen der
NGOs wiedergibt.
2
Öko-Institut
Institut für angewandte
Ökologie e.V.
Postfach 6226
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
79038 Freiburg
Telefon: 0761/473037
Telefax: 0761/475437
Neu in Bonn:
Institut für Wissenschaft und Ethik
Ein Prüfstand für das
Machbare
In Bonn ist jetzt das Institut
für Wissenschaft und Ethik
der Öffentlichkeit vorgestellt
worden. Es hatte Oktober
1993 seine reguläre Arbeit
aufgenommen und sich
insbesondere mit den Problemen der biomedizinischen Wissenschaft („Bioethik") und der Anwendung
technischer und naturwissenschaftlicher Forschung
beschäftigt, also der Technikfolgenabschätzung und
der „ökologischen Ethik".
Menschen nach mehr Umweltschutz durch einen
weltweiten Umweltrettungsplan zu verwirklichen.
Wir fordern deshalb: Die
Bundesregierung, die Europäische Gemeinschaft und
die Vereinten Nationen
verpflichten sich, bei der
ersten großen Nachfolgekonferenz von Rio - 1995 in
Deutschland - einen Ökologischen Marshallplan „Klimaschutz" und spätestens bis
zum Jahr 2000 die übrigen
Teilpläne des Ökologischen
Marshallplans „Rettung der
Wälder", „Bevölkerungsstabilisierung" und „Ost-WestUmweltkooperation" zu
etablieren.
Wir fordern weiterhin: Einzelelemente dieser Pläne müssen ab sofort schon im
internationalen und europäischen Rahmen in Angriff
genommen werden, auch
bevor es zu einer weltweiten
Vereinbarung kommt.
Die Initiatoren:
Aufruf zum
„Ökologischen
Marshallplan"
Viele Menschen engagieren
sich weltweit in ihrem Alltagsleben für eine Verbesserung der Umwelt. Zur Rettung der Ökosysteme auf
dem Planeten Erde und
damit der Umwelt unserer
Kinder und Kindeskinder
reicht das allein aber leider
nicht aus. Deshalb sind die
Regierungen jetzt aufgefordert, den Wunsch vieler
Franz Alt, Joschka Fischer,
Jo Leinen, Eva Quistorp,
Wolfgang Rauls, Lutz Wicke
Stiftung Naturschutz Berlin
Geschäftsstelle Marshallplan
Potsdamer Straße 68
10785 Berlin
Tel.: (030) 2626001
2626002
Fax.: (30) 2615277
2/94
Ende einer Zeitschrift
Nach 17 Jahren wurde die
Zeitschrift atom des Göttinger Arbeitskreises gegen
Atomenergie ihr Erscheinen
eingestellt.
Im Dezember 1976 hatte
sich der Arbeitskreis gegründet, „um auch in Göttingen
den Kampf gegen die Atomenergie aufzunehmen". So
nachzulesen in der ersten
Nummer der Zeitung, die am
15. April 1977 erschien und
noch Atom-Express hieß.
Ausgerechnet der Unfall von
Tschernobyl war dann der
Anfang vom Niedergang.
Eine „zweite Anti-AtomBewegung" entstand, so
hieß es nun, aber sie paßte
nicht ins Konzept. Mütter,
die sich um ihre Kinder
sorgten, hatten wenig Verständnis für Militanzrituale,
die Zeitung bemühte sich
vergeblich, das Phänomen
zu analysieren.
Münchner Kessel:
Bayern muß
Schmerzensgeld
zahlen
Die Einkesselung von Demonstranten beim Weltwirtschaftsgipfel in München vor
zwei Jahren war rechtswidrig. Die 9. Zivilkammer des
Münchner Landgerichts I
nannte den Polizeieinsatz
gestern „amtspflichtwidrig"
und wies den Freistaat an,
114 der 125 Demonstranten
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
mim
2/94
Schmerzensgeld in Höhe
von 159 Mark zu zahlen. In
elf Fällen wird das Verfahren
fortgesetzt.
Jugendliche
interessiert, aber
schlecht informiert
Jugendliche sind von Umweltproblemen stark bewegt
und fühlen sich für deren
Lösung verantwortlich. Doch
ihr ökologisches Grundwissen ist eher mangelhaft. Zu
diesem Ergebnis kommt
eine empirische Untersuchung der Universität Bielefeld. Wie Professor Axel
Braun berichtete, hat der
Wille der jungen Generation
zu umweltbewußtem Verhalten im Alltag seit 1980 zugenommen. Bei vielen Schülern fehle aber die Bereitschaft, sich über die Problematik umfassend und differenziert zu informieren. So
sei es zwar üblich geworden,
Altglas zu sortieren und auf
Plastiktüten zu verzichten,
dagegen sei aber das Wissen der Jugendlichen etwa
über die Möglichkeiten der
ökologischen Landwirtschaft
mangelhaft. Auch die ökonomischen Ursachen der Umweltzerstörung waren nur
einer Minderheit der Befragten bewußt. Unter der Leitung Brauns hatte ein Forscherteam in den Jahren
1980 und 1993 jeweils 600
Schüler an Hauptschulen
und Gymnasien befragt.
N a c h gefragt
Wie ist die
Energiewende
möglich?
Interview mit Dr. Franz Alt.
Sie haben Ihr Buch 'Die Sonne
schickt uns keine Rechnung. Die
Energiewende ist möglich' vorgestellt.' Was ist die Kernaussage?
Die Aussage ist, daß wir in etwa
30 Jahren eine solche Energiewende haben können, weil der
heutige Energiemix aus Atom,
Kohle, Gas und Öl komplett abgelöst wird durch einen neuen
Energiemix, der sich zusammensetzt aus Sonnenkraft, Windkraft,
Wasserkraft und aus Biomasseenergie. Das ist umweltfreundlich, und das wäre die Rettung
des Weltklimas.
Sehen Sie Widerstände, die heute
dagegen sprechen, daß diese
Wende zustandekommt?
Natürlich, ökonomische Widerstände. Die Energiewirtschaft hat
ein Monopol und wehrt sich, wie
jedes Monopol, gegen etwas Neues. Die Energiewirtschaft müßte
sich sehr umstellen: Energiedienstleister und nicht mehr Energieversorger im heutigen Sinne. Wenn wir dezentrale Strukturen kriegen, wo jeder Mensch,
der ein Haus hat, beispielsweise
wie ich, seinen Strom selber produziert mit einer Photovoltaikanlage oder mit Sonnenkollektoren sein Warmwasser bereitet,
dann verdienen die weniger. Das
wollen die nicht gern. Die zerstören lieber die Umwelt, als daß sie
weniger verdienen. Es ist eine
politische Aufgabe, die Strukturen zu verändern, und dann
kommt die solare Energiewende.
Haben Sie Vorschläge, um diese
Widerstände aufzubrechen, um
diese Verhältnisse - nicht die
technologischen - zu ändern?
Ich hoffe, daß wir das demokratisch hinkriegen. Demokratisch
heißt über Wahlen. Daß in diesem Superwahljahr die Menschen
nur noch Politiker und Parteien
wählen, die sich für diese solare
Energierevolution stark machen.
Denn ohne diese solare Energierevolution gehen das Klima kaputt und damit die Lebensgrundlagen für uns Menschen auf unserem Planeten.
Sehen Sie Anzeichen ßr ein Umdenken, bezogen auf die, die entscheiden müssen ?
Ich glaube, daß die nur eine Sprache verstehen, nämlich die Sprache des Stimmzettels. Wenn die
Politiker spüren, daß wir unten
eine andere Energiepolitik fordern, dann werden die eine andere Energiepolitik machen. Wenn
das Bewußtsein unten wächst,
kriegen wir oben eine andere
Politik. Da bin ich ganz sicher.
Meinen Sie das mit „Reformismus von unten"? Ist das Ihre
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
110
Vorstellung von diesem Prozeß?
Können Sie kurz erläutern, was
dahintersteckt?
Ich meine, wenn immer mehr
Menschen anfangen, auch heute,
wo es noch relativ teuer ist, eine
Solaranlage zu installieren, sofern sie sich das leisten können,
dann kriegen wir einen ganz neuen Industriezweig, dann wird die
Politik reagieren, das geht überhaupt nicht anders. Wenn die
Leute über den Stimmzettel deutlich machen: „Wir wählen die
Parteien, die Grünen oder die
ÖDP, die hier in ihrem Programm
eine Menge vorgesehen haben
für solare Energien und solare
Energie unterstützen, damit sie
auf den Markt kommt", dann bin
ich sicher, daß die Politiker umdenken, auch die Politiker der
etablierten Parteien. Das haben
die bei Wackersdorf bewiesen,
das haben die bei Kalkar bewiesen. Wenn von unten Druck gemacht wird, ändert sich die Politik. Das ist ein politisches Naturgesetz. Es wird noch nicht genügend Druck gemacht, da haben
Sie recht, das ist das Problem.
Und deshalb gibt es ja solche
Bücher, solche Fernsehsendungen.
Franz Alt ist Leiter und Moderatorder ARD-Zukunftsreihe 'Zeitsprung'.
Das Interview wurde durchgeführt von Kai-Uwe
Hellmann.
Anmerkungen
•R e z e n
's i o n e n
Gesellschaftstheorie und
Sozialstrukturanalyse
Stefan Hradil
Sozialstrukturanalyse in
einer fortgeschrittenen
Gesellschaft.
Von Klassen und Schichten zu Lagen und Milieus.
Leske+Budrich: Opladen 1987
Gerhard Schulze
Die
Erlebnisgesellschaft.
Kultursoziologie der Gegenwart.
Campus: Frankfurt/M 1992
Michael Vester, Peter
von Oertzen, Heiko Geiling, Thomas Hermann,
Dagmar Müller
Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel.
Zwischen Integration und
Ausgrenzung.
Bund-Verlag: Köln 1993
Franz Alt: Die Sonne schickt uns
keine Rechnung. Die Energiewende
ist möglich. Piper 1994
1
Im folgenden handelt es sich um
eine Sammelbesprechung
von
2/94
drei Sozialstrukturanalysen,
mit
dem Ziel, der
gesellschaftstheoretischen Relevanz
sozialstruktureller Analysen der modernen
Gesellschaft nachzugehen. Dazu
werden in einem ersten Schritt
einige
gesellschaftstheoretische
Grundüberlegungen
angestellt.
SodannfolgtdleBesprechungder
Sozialstrukturanalysen
von Hradil, Schulze und Vester et al. AbschließendwirdnachdemErtrag
der Ergebnisse dieser Untersuchungen flr die Theorie moderner Gesellschaft gefragt.
1. Moderne Gesellschaft
Moderne Gesellschaft läßt sich
von ihrer Superstruktur her als
primär funktional differenziert
beschreiben. Dabei bedeutet
funktionale Differenzierung, daß
Gesellschaft nach Maßgabe gesamtgesellschaftlich relevanter
Funktionen in spezifische Teilsysteme ausdifferenziert ist, denen je für sich die universale
Zuständigkeit zukommt, diese
spezifische Funktion in Gesellschaft adäquat zu erfüllen. Nur
Recht spricht Recht, nur Erziehung erzieht. Mit anderen Worten: Sämtliche Funktionssysteme
sind autonom insofern, als sie
selber bestimmen, was für sie
relevant ist und was nicht. Diese
Autonomie wird durch binäre
Codes gewährleistet. Die Funktion binärer Codes ist es, Welt jeweils unter einem besonderen
Gesichtspunkt zu beobachten und
zu behandeln, etwa Konfliktregulierung oder Knappheit. Der
Code eines Systems sorgt dabei
für die Einheit des Systems und
ist deshalb unersetzlich: Nur anhand der Unterscheidung von
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
2/94
Wahrheit und Falschheit konditioniert sich Wissenschaft; ohne
diese Unterscheidung geht die
Identität des Systems verloren.
Demgegenüber ist das Programm
eines Funktionssystems austauschbar, ohne damit auch die
funktionale Autonomie des Systems, und das heißt: funktionale
Differenzierung als solche zu
gefährden. So gibt es in Wissenschaft mehrere Theorien, die sich
aber alle an der Unterscheidung
von Wahrheit und Falschheit orientieren. Immer jedoch muß ein
Code mit einem bestimmten Programm gekoppelt sein: Geschlossenheit und Offenheit zugleich.
Denn während der Code nur entscheidet, was für das System informativ ist und was nicht, ist das
Programm dafür zuständig zu
entscheiden, wie diese Information weiter zu bearbeiten ist.
Funktionale Differenzierung ist
das primäre Differenzierungsprinzip der modernen Gesellschaft. Alles, was in der modernen Gesellschaft an Systembildung möglich ist, orientiert sich
direkt oder indirekt an funktionaler Differenzierung. Dabei ist das
Prinzip sozialer Differenzierung
generell die Form, in der Gesellschaft Weltkomplexität reduziert.
Drei Differenzierungsformen gibt
es: Segmentäre, stratifikatorische
und funktionale Differenzierung,
wobei jedem dieser Differenzierungsformen historisch spezifische Gesellschaften zuordbar
sind. So entspricht der einfachen
segmentären Differenzierung die
Vielzahl primitiver Gesellschaften, die aus untereinander gleichen Teilsystemen bestehen (Familien, Verwandschaftssysteme).
Dagegen kommt stratifikatorische Differenzierung erst antiken Hochgesellschaften zu, wie
den Griechen und Römern, aber
auch der europäischen Gesellschaft des Mittelalters bis etwa
ins 18. Jahrhundert, die Schichtungen aufweisen, die aus untereinander ungleichen Teilsystemen besteht (Adel/Volk). Funktionale D i f f e r e n z i e r u n g ist
schließlich das Formprinzip der
modernen Gesellschaft seit dem
18. Jahrhundert, das durch eine
Kombination von Gleichheit und
Ungleichheit charakterisiert ist:
Sämtliche funktionalen Teilsysteme sind insofern gleich, als sie
jeweils eine bestimmte Funktion
wahrnehmen, und ungleich, insofern sie jeweils eine andere
Funktion wahrnehmen.
III
ist das aber nur in zweiter Linie
von Bedeutung. Denn zuerst einmal ist moderne Gesellschaft
funktional differenziert.
Fragt man gegenüber funktionaler Differenzierung nach sekundären Differenzierungformen
moderner Gesellschaft, so bleibt
eine eindeutige Antwort aus. Bei
Luhmann werden zwar Schichtung und selbst der Begriff der
sozialen Klasse behandelt, doch
beide Male nicht im Sinne eines
sekundären Differenzierungsprinzips moderner Gesellschaft.
Zudem gesteht mittlerweile sogar die Sozialstrukturanalyse zu,
daß selbst die Verortung von
Schichten oder gar Klassen
schwerfällt, im Sinne eines dominanten Differenzierungsprinzips ganz zu schweigen. Heißt
das, daß es gegenüber funktionaler Differenzierung kein sekundäres Differenzierungsprinzip
moderner Gesellschaft gibt?
Mit der Entwicklung vom segmentären über den stratifikatorischen zum funktionalen Differenzierungstypus nimmt das Maß
an Eigenkomplexität zu. Es ist
jedoch keineswegs so, daß jede
2. Der letzte Schrei der
historisch spezifische GesellSozialstrukturanalyse:
schaft für sich nur eine DifferenSoziale Milieus
zierungsform aufweist. Vielmehr
Schon nach dem ersten Weltkrieg
ist von einem Nebeneinander albegannen klare Klassengrenzen
ler drei Formprinzipien auszugezu verwischen. Gesellschaft wurhen. Doch gibt es immer nur eine
de zunehmend komplexer, verprimäre Differenzierungsform
glichen mit dem 19. Jahrhundert.
für jede Gesellschaft, die die OrDennoch blieb die Bestimmung
ganisation dieser Gesellschaftbeder Sozialstruktur moderner Geherrscht. Alle anderen Differensellschaft mittels Stratifikation
zierungsformen sind dieser nachdominant. Spätestens in den 70er
geordnet und auf sie ausgerichJahren wurde aber auch in der
tet. Deshalb finden sich in der
Wissenschaft davon Abstand gemodernen Gesellschaftzwar Phänommen. Die 'NeueUnübersichtnomene, die durchaus auf seglichkeit' machte es zunehmend
mentäre oder stratifikatorische
schwieriger, die alten StrukturDifferenzierung hinweisen, wie
bestimmungen unverändert anFamilien oder soziale Ungleichzuwenden.
heit. Für moderne Gesellschaft
112
1987 veröffentlicht Stefan Hradil eine Studie über die 'Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft'. Darin
fordert er: „Wenn Klassenmodelle nur noch ausschnitthaft erklären können und ohnehin nicht
primär beschreiben sollen und die
Beschreibung durch Schichtmodelle viel zu eng, zu grob, zu starr
und zu lebensfern ausfällt, dann
brauchen wir neue, differenziertere Modelle." (8) Hradil begründet diese
,J)ifferenzierungsthese" (55) zum einen damit, daß
gegenüber sozialer Ungleichheit
in vertikaler Richtung soziale
Ungleichheit vermehrt auch in
horizontaler Richtung auftritt.
Vor allem Bildung macht Unterschiede. Zum anderen determinieren objektive Faktoren immer
weniger die subjektive Selbstbeschreibung, da diese beginnt, sich
verstärkt unabhängig zu orientieren. Knappheit ist nicht mehr
vordringliches Problem, neue
Freiheitsräume tauchen auf: das
'gute Leben' wird zum Thema.
Beide Tendenzen bringen moderne Gesellschaft weg von ehemals klaren Schicht- und Klassenunterschieden und komplizieren die Sozialstrukturanalyse. Vor
diesem Hintergrund fragt Hradil:
„Wenn es Klassen und Schichten
nicht (mehr?) gibt, wie haben wir
uns das Gefüge sozialer Ungleichheit in fortgeschrittenen Gesellschaften vorzustellen?" (139)
Sein Vorschlag lautet, Lebensziele als Kriterien sozialer Ungleichheit heranzuziehen: Diejenigen Lebens- und Handlungsbedingungen sind besser als andere, die die bessere Befriedigung von Lebenszielen erlauben."
(142) Lebensziele werden ver-
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
standen als„Zielvorstellungen im
Hinblick auf die Qualität des Lebens" (143), die sich nicht auf
die Privatsphäre beschränken,
sondern auch aufs politische Leben übergreifen: Sicherheit,
Selbstverwirklichung, Mitbestimmung. Damit gewinnt aber
der subjektive Faktor, im Sinne
von Indeterminismus, deutlich an
Übergewichtbei der Bestimmung
sozialer Ungleichheit: Man selber entscheidet mit, in welcher
Hinsicht man ungleich ist, nicht
mehr nur die Situation. Das heißt
nicht, daß alles kontingent wird.
Aber neben die Disposition über
Ressourcen treten vermehrt Risiken und selbst Ansprüche, die
sich allesamt äußerst unterschiedlich auf die soziale Ungleichheit
jedes einzelnen auswirken, je nach
Lebensziel. Fortschreitende Individualisierung ist die Folge.
Hradil reagiert auf diese Veränderung, indem er zuerst einmal
das Ensemblejener Faktoren, die
die individuelle Lebenslage von
außen bestimmen, danach sortiert, welche der möglichen Faktoren dominant sind und welche
nachgeordnet: Geld, Bildung oder
Beziehungen usw. Diese Konstellation gibt die soziale Lage
jedes Menschen wieder. Daran
schließt „issrelativ
eigenständige Umgehen der Menschen mit
'objektiven' Lebensbedingungen" (161) an. Hierbei wird der
Entscheidungsspielraum der Individuen jedoch flankiert durch
soziale Milieus: „Soziale Milieus
lassen sich definieren als Gruppen von Menschen, die solche
äußeren Lebensbedingungen und/
oder innere Haltungen aufweisen, daß sich gemeinsame Lebensstile herausbilden." (12) So-
2/94
ziale Milieus grenzen den Kontingenzspielraum ein und bilden
homogene Cluster an Entscheidungskriterien, man könnte sagen: mit der Funktion, Komplexität zu reduzieren. Es handelt es
sich dabei um „interaktive Interpretationsprozesse" (163), die
sich selbst reproduzieren und damit auch den Horizont von Lebenszielen, die soziale Milieus
voneinander unterscheiden. Somit repräsentieren soziale Milieus
angemessene Nachfolgemodelle
für die Sozialstrukturanalyse
moderner Gesellschaft. Es stellt
sichjedoch die Frage, ob es sich
dabei nur um ein „historisches
Ubergangsstadium
bestimmter
Gesellschaft" (175) handelt: Was
ist in 10 Jahren? Zudem bleibt
offen, wie die Reproduktion sozialer Milieus im einzelnen verläuft. Davon aber abgesehen, ist
festzuhalten: „Lagen- und M i lieumodelle sind letzten Endes
die Konsequenz aus der Einsicht,
daß die Geschlossenheit und Standardisierung der Struktur sozialer Ungleichheit nicht eingetreten ist, die von der Entwicklung
der Industriegesellschaften einmal erwartet worden war." (171)
Hradils Studie liefert dafür einen
überzeugenden Nachweis.
Auch Gerhard Schulze greift in
seiner 'Erlebnisgesellschaft' von
1992 wesentlich auf den Begriff
des sozialen Milieus zurück. Danach sind die dominanten Strukturparameternicht mehr Einkommen oder Herkunft, sondern A l ter, Bildung und Lebensstil (Sprache, Kleidung, Musik etc.). Aus
deren unterschiedlicher Konstellation ergeben sich fünf Milieus:
Die Grenzen liegen altersmäßig
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
2/94
etwa bei 40 Jahren und bildungsmäßig zwischen Hauptschulabschluß und Abitur. Ausgehend
von Leuten über 40 mit hoher
Bildung, dem Niveaumilieu, handelt es sich bei Leuten gleichen
Alters, aber niedriger Bildung um
dasHarmoniemilieu. Dazwischen
befindet sich noch das Integrationsmilieu, das zwar der gleichen
Altersstruktur a n g e h ö r t , b i l d u n g s m ä ß i g aber zwischen
Hauptschulabschluß und akademischem Grad steht. Demgegenüber spricht Schulze bei jüngeren Leuten mit niedriger Bildung
vom Unterhaltungsmilieu, während Leute gleicher Alterstruktur
mit hoher Bildung zum Selbstvenvirklichungsmilieu
gehören.
Zentral ist, daß jedes Milieu über
„erhöhte Binnenkommunikation"
(746) verfügt, die sich primär an
der „existentiellen Problemdefinition" (736), dem milieuspezifischen Lebensziel orientiert und
auf die „Frage, wozu man eigentlich da ist" (232), bezogen ist, die
aufgrund der milieuspezifischen
Konstellation von Alter, Bildung
und Lebensstil jeweils eine mi1 ieuspezifische Antwort erhält. So
gilt Rang für das Niveaumilieu
als Non plus ultra und entscheidender Maßstab der Selbst- wie
Fremdbewertung: Alles, was geschieht, hat sich dem unterzuordnen. Nicht anders für das Harmoniemilieu, dem esumGemütlichkeit geht („Nur nicht auffallen!"),
oder das Unterhaltungsmilieu, das
nur an Spannung interessiert ist
(„Where is the action?"). Für das
Integrationsmilieu ist ^Konformität („Ordnung ist das ganze
Leben."), w ä h r e n d sich das
Selbstverwirklichungsmilieu auf
der Suche nach Selbstverwirkli-
chung befindet („Ich muß authentisch sein!"). Jedes Milieu
richtet sein Hauptaugenmerk somit auf einen besonderen Wert,
der bestimmend ist für die milieuspezifische Selbst- wie
Fremdbeschreibung: Interessant
ist nur, was Selbstverwirklichung
verspricht; alles andere wird entweder abgelehnt, weil es diesem
Anspruch widerspricht, oder gar
nicht erst wahrgenommen. Das
heißt nicht, daß nicht auch andere
Werte vorkommen; aber nur ein
Wertistwirklichmaßgebend, hier
die Suche nach Selbstverwirklichung. Dabei verfügt gerade das
Selbstverwirklichungsmilieu
über besonders ausgeprägte Formen der Binnenkommunikation,
ist außerordentlich präsent in der
Öffentlichkeit, hat eine eigene,
dominierende Szene und stellt
momentan das wohl höchstentwickelste Milieu moderner Gesellschaft dar. Zudem gilt: „Das
Selbstverwirklichungsmilieu ist
das Kernmilieu sozialer Bewegungen." (319) Demgegenüber
sind bei allen anderen Milieus
deutliche Abstriche zu machen,
was die Präsenz und den Grad der
Binnenkommunikation betrifft;
am Unscheinbarsten ist noch der
Antipode des Selbstverwirklichungsmilieus, das Harmoniemilieu.
Für die zugrundeliegende Fragestellung ist entscheidend, daß
Schulze soziale Milieus zum einen mit Zentralwerten ausstattet
und ihnen zum anderen erhöhte
Binnenkommunikation zuspricht,
mittels der sich die Milieus über
ihre Zentralwerte ständig reproduzieren: „Soziale Milieus seien
demnach definiert als Personen-
gruppen, die sich durch gruppenspezifische Existenzformen und
erhöhte Binnenkommunikation
voneinander abheben." (174)
Soziale Milieus sind also weit
davon entfernt, bloß statistische
Artefakte zu sein, sondern stellen
kommunikative Ereignisse dar,
die in der Kommunikation die
Milieugrenzen sichern. Schwierig erscheint dagegen, den Primat milieuspezifischer Zentralwerte zu behaupten. So spielt
Selbstverwirklichung sicherlich
in allen Milieus eine nennenswerte, nur eben nicht die zentrale
Rolle. Hier scheinen die Grenzen
fließend. Zudem ist die Kombination theoretischer Grundlagen
zwar überraschend, aber auch
freischwebend in ihrer Anbindung an allgemeine Soziologie
und deshalb mit dem Risiko des
Absturzes behaftet. So geht
Schulze, ähnlich wie Hradil, von
einer Veränderung der individuellen Selektions weise aus, die sich
von objektiver Determiniertheit
zu zunehmender Entscheidungsfreiheit gewandelt hat: Man kann
wählen, wer man sein möchte.
Dadurch gewinnt Kontingenz an
Spielraum, objektive Faktoren
rücken in den Hintergrund. Diese
Verschiebung hat einen Hang zur
Erlebnisorientierung zur Folge,
die für alle gilt: Da der äußere
Handlungsdruck nachläßt, gerät
das eigene Erleben verstärkt in
den Mittelpunkt der Betrachtung.
Aufgefangen wird diese K o m plexitätssteigerung der Wahlmöglichkeiten durch soziale M i lieus, die jeweils eine bestimmte
Präferenz der Erlebnisorientierung verfolgen, gewissermaßen
Entscheidungshilfen geben, in
Korrespondenz mit einer spezifi-
114
sehen Konstellation von Alter,
Bildung und Lebensstil: Gleichfalls Rahmenbedingungen, die
aber kommunikativ ständig neu
ausgehandelt werden, zumal
selbst die Milieuzugehörigkeit
wählbar scheint. Inwiefern damit
einem verkappten Determinismus
der Einzug in die Theorie tatsächlich verwehrt ist, bleibt ungeklärt; immerhin sind Alter,
Bildung und auch Lebensstil als
Resultante kaum disponibel. Z u dem ist in derErlebnisgesellschaft
hierarchische Ungleichheit, abgesehen vom Bildungsgefälle,
nahezu verschwunden; die segmentäre Perspektive überwiegt.
Hiergegen läßt sich Widerspruch
anmelden.
Im Rahmen dieser Überlegungen
kann lückenlose Komplettwürdigung nicht geleistet werden; das
ist auch nicht der Zweck. Im
Vordergrund steht die Frage, wie
es Schulze gelingt, mit dem M i lieubegriff auf ein Defizit der
Sozialstrukturanalyse zu reagieren. Ungeachtet empirischer Bedenken, erscheint mir die Studie
von Schulze als ein interessanter
Entwurf, Aussagen in sozialstruktureller Absicht über die 'Neue
Unübersichtlichkeit' moderner
Gesellschaft zu machen. Die
Untersuchung ist ungewöhnlich
und gewagt, theoretische Schwächen sind jedoch unabweisbar.
Dazu ist der gesamte Komplex
Erlebnisorientierung
zu wenig
rückgekoppelt an eine ausgewieseneSozialpsychologieoder Theorie vom Sozialen. Zudem bleibt
die Frage nach dem gesellschaftstheoretischen Anspruch unbeantwortet, der unabweisbar verbunden ist mit einem Titel v/ieErleb-
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
nisgesellschaft. Gleichwohl zeugt
die Arbeit von Mut zum Risiko,
eine Kombination von Sozialstrukturanalyse und Konstruktivismus zu versuchen. Eine durchaus anregende Lektüre, wenngleich nicht ohne Mängel.
Auch in der jüngsten Veröffentlichung von Michael Vester, Peter von Oertzen, Heiko Geiling,
Thomas Hermann und Dagmar
Müller stehen soziale Milieus im
„Mittelpunkt" (124) der Untersuchung. Dabei lehnt sich ihre
Aufteilung eng an die Sinus-Studie 'Lebensweltforschung' an
und unterscheidet in der Vertikalen nach dem Klassenhabitus-Modell Bourdieus zwischen Oberklassen-, Mittelklassen und A r beiter-Habitus und in der Horizontalen im Sinne der Wertewandel-These zwischen traditioneller, teilmodernisierter und modernisierterHaltung. So kommen
Vester et al. nicht auf fünf, sondern auf neun Milieus: Das konservative gehobene (KON) und
das k l e i n b ü r g e r l i c h e M i l i e u
(KLB) sowie das traditionelle Arbeitermilieu (TRA) am traditionellen Pol, das technokratischliberale (TEC) und das aufstiegsorientierte Milieu ( A U F ) bzw.
das traditionslose Arbeitermilieu
(TLO) im teilmodernisierten Sektor und schließlich das alternative ( A L T ) , das hedonistische
(HED) und das neue Milieu der
Arbeiternehmer (NEA) als modernisierte Varianten. Bemerkenswert ist, daß die Autoren ähnlich wie Schulze - von einer
Steigerung des Kontingenzspielraums individueller Entscheidung
ausgehen, die mit Merleau-Ponty als „Öffnung des sozialen
2/94
Raums" (137) bezeichnet wird:
Die Wahlmöglichkeiten nehmen
zu, 'objektive' Faktoren an Einfluß ab. Von daher ist auch der
Milieubegriff von Vester et al.
weit davon entfernt, bloß ein statistisches Artefakt zu sein: „Unser Begriff des Milieus rückt das
aktive und gestaltende Moment
von sozialer Kohäsion in den
Vordergrund und verweist auf
reale alltagspraktische Lebenszusammenhänge." (130) Der M i lieubegriff selbst lehnt sich dabei
sehr an die frühe Begriffsbildung
der 'sozialmoralischen Milieus'
bei Lepsius an. Dabei kommt
sozialen Milieus die spezifische
Funktion zu, zwischen Individuum und Außenwelt zu vermitteln, um einen „Nexus zwischen
sozialstruktureller und subjektiver Perspektivenöffnung" (115)
herzustellen. Insofern sind soziale Milieus nach Vester et al. auch
als eine Form der Sozialintegration im Sinne Lockwoods zu verstehen.
Zentral ist, daß soziale Milieus
als „Interaktionszusammenhänge" verstanden werden, die sich
in ständiger „Dialektik von K o häsion und Abgrenzung" (76) in
Form von Kämpfen, Abgrenzungen und Ausgrenzungen anderer
Milieus selbst konstituieren. Insofern führen Milieus ein „Eigenleben, da sie nicht durch ' W i derspiegelung' objektiver Strukturen entstehen, sondern durch
das soziale Handeln der menschlichen Vergemeinschaftungen
produziert [...] werden." (108)
Vordiesem Hintergrund sprechen
Vester et al. auch von „relativer
Autonomie" (188), über die soziale Milieus ihrer Umwelt ge-
- MAL N S B
2/94
genüber verfügen. Materielle
Grundlagen bilden zwar unersetzliche Voraussetzungen, determinieren das Milieugeschehen aber
nicht.
Aus der „Gesamtlandkarte
sozialer Milieus" (30) stechen besonders die neuen 'Bewegungsmilieus' hervor. Sie stehen einerseits auf der Modernisierungsseite der Wertewandel-Skala, andererseits orientieren sie sich am
Oberschichtenhabitus. Dabei unterscheiden Vester et al. wiederum fünf Einstellungstypen oder
„Mentalitäten": den
Humanistisch-Aktiven Typus, den Ganzheitlichen Typus, denErfolgsorientierten Typus, den Typus der
Neuen Arbeiterinnen
und den
Typus der Neuen Traditionslosen
Arbeiterinnen,
die weitgehend
mit den entsprechenden Milieus
korrelieren ( A L T , H E D , A U F ,
N E A und T L O ) . Das verbindende Glied ist - hier wiederum eins
mitSchulzes 'Bewegungsmilieu'
- ein „Streben nach Autonomie
und Selbstverwirklichung" (135)
als Folge von Wertewandel und
Individualisierungsschub. Dabei
sprechen Vester etal. diesem Streben
getadezulntegrationsfunktion für dieses Quintett zu: „Die
Individualisierungsideologie hat
eine solche Integrationsfunktion:
Sie drückt ein gemeinsames Demokratie- und Emanzipationsinteresse aus, verdeckt aber auch
hierarchische Ungleichheiten und
Arbeitsteilungen in der Milieukoalition." Überhaupt sind es
auch für die anderen Milieus jeweils spezifische „Integrationsideologien, die den Interessenund Kulturgegensatz zu anderen
gesellschaftspolitischen Lagern
stabilisieren." (238) Das läuft
zwar nicht auf eine definitive
Wertbestimmung pro Milieu hinaus, aber durchaus in diese Richtung.
in die Sozialstrukturanalyse eingeführt und mit unterschiedlichen
Theorietraditionen in Verbindung
gebracht haben. Dabei stellt sich
jedoch die Frage, ob Bourdieus
Konzept von „Sozialraum" (18),
Webers „drei Ebenen des Beziehungshandelns" (132) oder
Thompsons Klassenbegriff nicht
nur für sich, sondern gerade auch
in Kombination miteinander,
noch angemessene Beschreibungspotentiale für die moderne
Gesellschaft darstellen. Vor allem hätte man sich aber gewünscht, in Anbetracht der „beunruhigenden Veränderungen der
sozialen Gesamtordnung" (14),
von denen anfangs ausgegangen
wird, mehr zu erfahren darüber,
welche Auswirkungen diese Veränderungen auf die soziale Gesamtordnung haben, und d.h.:
welcher Stellenwert der' Gesamtlandkarte sozialer Milieus' für
die Theorie moderner Gesellschaft zukommt. Davon abgesehen, erweist sich die Studie jedoch gerade für das Verständnis
der Sozialstruktur neuer sozialer
Bewegungen, also der 'Bewegungsmilieus', als ergiebig, wobei entscheidend bleibt, daß 'ein
Streben nach Autonomie und
Selbstverwirklichung' ihre maßgebliche Gemeinsamkeit bildet.
Von den theoretischen Grundlagen her stellt sich der Eindruck
eines lose gekoppelten, nicht systematisch auf Einheit bedachten
Arrangements dar. Neben der
Terminologie Bourdieus wie sozialem Raum, Habitus und Lebensstil finden sich auch Webers
Unterscheidung von Vergemeinschaftung, Vergesellschaftung
und Kampf oder Thompsons
Rede von Klassen als 'a very
loosely defined body' wieder,
wobei der kulturalistische A n satz auch für das Milieuverständnis grundlegend ist. Neben der
sozialstrukturellen Neubestimmung moderner Gesellschaft geht
es aber auch um zentrale Konfliktlinien, von denen die Autoren vier ausmachen: Die postindustrielle der Modernisierungsgewinner, die industrielle der traditionellen Arbeitnehmerschaft,
die ständisch-moralische der
Konservativen und eine vormoderne der Modernisierungsverlierer wie Alte, Kinder, Ausländer etc. Zum Schluß der Untersuchung werden noch die Politikund Gesellungsstile der Westdeutschen behandelt, die sich
Zusammenfassend läßt sich sawiederum im hohen Maße an der
gen, daß die SozialstrukturanalySinus-Studie anlehnen.
se mit sozialen Milieus durchaus
einen a d ä q u a t e n Ersatz f ü r
Bezogen auf die zugrundeliegen- Schichten und Klassen zur sozide Fragestellung nach Innovatio- alstrukturellen Beschreibung
nen der Sozialstrukturanalyse läßt moderner Gesellschaft gefunden
sich festhalten, daß Vester et al. hat. Daß insbesondere bei Vester
wie schon Hradil und Schulze et al. soziale Milieus mittels der
mit dem Begriff des sozialen Unterscheidung von System-und
Milieus eine alte Kategorie neu Sozialintegration erfaßt und dann
\mmm
als „große lebensweltliche M i lieus" (77) beschrieben werden,
wirft nochmals ein anderes Licht
auf die theorietechnischen Möglichkeiten, die diese Begriffsbildung in sich birgt. In jedem Fall
geht es bei sozialen Milieus nicht
um statistische Artifakte, sondern
um 'Interaktionszusammenhänge'.
3. Segmentäre Differenzierung in der modernen
Gesellschaft?
Es kann sich primär nicht darum
handeln, empirische Befunde zu
überprüfen, denn hier geht es um
Theoriebildung. Voraussetzung
ist daher, daß von der Richtigkeit
der Ergebnisse ausgegangen wird
und zu fragen bleibt, inwiefern
diese Ergebnisse geeignet sind,
soziale Milieus als sekundäres
Differenzierungsprinzip moderner Gesellschaft zu beschreiben.
Um soziale Milieus als sekundäres Differenzierungsprinzip der
modernen Gesellschaft zu beschreiben, ist es erforderlich, sie
vorerst als soziale Systeme zu
beschreiben. Soziale Systeme
werden hier verstanden als (1)
Kommunikationszusammenhänge, die (2) jeweils selbstselektiv
den Kontingenzspielraum für
weitere Kommunikationen vorgeben: A n Recht kann nur Recht
anschließen, an Liebe nur Liebe.
Andernfalls hört die Autopoiesis
des Systems auf und ein Wechsel
der Systemreferenz erfolgt, wiederum mit systemspezifischer Selektivitätfür anschlußfähige Operationen: A u f Recht folgt Politik,
auf Liebe Sport. Jedes selbstreferentielle soziale System - und
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
jedes soziale System ist ein selbstreferentiellesSystem-produziert
und reproduziert sich selber, und
zwar mittels seiner System/Umwelt-Differenz, anhand der allein entschieden wird, was anschlußfähig ist und was nicht.
Speziell Funktionssysteme verfügen (3) schließlich noch über
spezielle Formen, genauer: binäre Schematismen, ienCodes, die
die operative Selbstabschließung
leisten und damit die Autopoiesis
des Systems herstellen: Recht/
Unrecht oder Wahrheit/Falschheit. Nur der Präferenzwert, hier
Recht oder Wahrheit, ist anschlußfähig, während die andere
Seite die Funktion hat, als Reflexionswert auf Kontingenzen des
Anschlußwertes aufmerksam zu
machen: Es geht auch anders.
Aber auch ohne binären Schematismus ist ein soziales System bestandsfähig, solange es nur imstande ist, selbstselektiv die eigene Anschlußfähigkeit zu konditionieren und Beliebigkeit auszuschließen.
Schaut man nunmehr auf die Beschreibung sozialer Milieus, wie
sie insbesondere von Schulze und
Vester et al. vorgelegt wurden, so
läßt sich zeigen, daß es sich bei
sozialen Milieus nicht um statistische Artefakte, sondern um
soziale Systeme handelt, die sich
selbstselektiv zu ihrer Umwelt
verhalten und damit operativ geschlossen, mithin autopoietisch
sind. Ich werde mich dabei auf
jenes Milieu konzentrieren, das
das eigentliche Mobilisierungspotential neuer sozialer Bewegungen darstellt, das Selbstverwirklichungsmilieu.
2/94
Noch stärker als Hradil konzipieren Schulze und Vester et al. soziale Milieus nicht bloß als Syndrome objektiverRandbedingungen, sondern (1) als interaktives,
ja kommunikatives
Geschehen.
Insbesondere Schulze, zurückhaltender auch Vester et al., macht
darauf aufmerksam, daß soziale
Milieus sich vor allem wegen ihrer erhöhten Binnenkommunikation voneinander unterscheiden.
Die erhöhte Binnenkommunikation innerhalb eines sozialen M i lieus wird jeweils durch einen
milieuspezifischen Zentralwert
gesteuert, der eine grobe, hochgeneralisierte Orientierung für
alle Ereignisse, Kommunikationen und Interaktionen vorgibt,
die innerhalb eines Milieus relevant sind. Für Schulze ist dies
hinsichtlich des 'Bewegungsmilieus' üer Wert der Selbstverwirklichung. Das gilt auch für Vester
et al., selbst wenn sie eine weitere
Ausdifferenzierung in fünf 'Bewegungsmilieus' vornehmen.
Gemeinsam ist ihnen allen die
Orientierung an Selbstverwirklichung als Leitwert ihrer Selbstbeschreibung, Ausdruck ihrer
Identität in Differenz zu allem
anderen: „Für alle ist ein Streben
nach Autonomie und Selbstverwirklichung gegenüber gesellschaftlicherBevormundung, Einschränkung und Entfremdung
maßgeblich." (209) M i t Schulze
lassen sich sodann auch für alle
anderen sozialen Milieus funktional äquivalente Zentralwerte
anführen.
Versteht man soziale Milieus als
soziale Systeme, die sich jeweils
an einem Zentralwert orientieren
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
2/94
und dadurch den Kommunikationsprozeß selbstreferentiell steuern, dann scheint es möglich, sozialen Milieus (2) operative Geschlossenheit abzugewinnen, die
nur auf das reagiert und das zuläßt, was dem jeweiligen Leitwert entspricht. Speziell für die
Bewegungsmilieushießedas, daß
ihre gesamte Binnenkommunikation primär am Wert der Selbstverwirklichung ausgerichtet ist.
Alles weitere folgt daraus. Ob es
möglich ist, die Leitwerte sozialer Milieus selbst als (3) binäre
Schematismen zu beschreiben,
etwa Selbstverwirklichung vs.
Entfremdung oder Autonom ie vs.
Heteronomie, sei hier nur als
Anregung angedeutet. Wichtig
ist, daß alles, was innerhalb der
Binnenkommunikation der Bewegungsmilieus von Bedeutung
ist, seine Milieuzugehörigkeit manifest oder latent - durch die
gemeinsame Ausrichtung am
Zentralwert der Selbstverwirklichung erhält: Nur, was Selbstverwirklichungverspricht, ist anschlußfähig, alles andere Rauschen, oder mehr noch: Anlaß,
Selbstverwirklichung einzuklagen und den Anspruch darauf in
Form von Protest zu artikulieren.
Das würde mutatis mutandis auch
für alle anderen Milieus zutreffen.
Um wieder an den Anfang zurückzukehren, ist nunmehr zu fragen, ob soziale Milieus, verstanden als soziale Systeme, gegenüber funktionaler Differenzierung nicht ein sekundäres Differenzierungsprinzip modernerGesellschaft darstellen. A l s sekundäres Differenzierungsprinzip
moderner Gesellschaft würde es
sich bei diesen Milieus jedoch
weniger um Stratifikation handeln, wenngleich vertikale Differenzen hinsichtlich Bildung,
Einkommen und Kultur nicht geleugnet werden. Denn im Vordergrund stehen horizontale Differenzen, weshalb von segmentärer Differenzierung als sekundärem Differenzierungsprinzip
moderner Gesellschaft gesprochen werden könnte. Von segmentärer Differenzierung sollte
auch deshalb gesprochen werden,
weil soziale Milieus sich aufgrund
gleicher Komponenten, z.B. A l ter, Bildung und Lebensstil, nur
in unterschiedlicher Zusammensetzung, konstituieren; übrigens
operiert Schulze selbst mit einer
TheoriesegmentärerDifferenzierung. Überdies spricht für die
Bezeichnung segmentäre Differenzierung, daß soziale Milieus
eine gegenüber den traditionellen Teilsystemen segmentärer
Differenzierung, nämlich Familien, funktional äquivalente Rolle spielen-zumindest lassen sich
Paralellen aufweisen.
Familien leisten die Inklusion der
Vollperson. In der Familie ist jeder als ganze Person gemeint.
Nichts ist tendentiell ausgeschlossen, wenngleich nur ein Bruchteil davon tatsächlich zur Sprache kommt. Es ist jedoch davon
auszugehen, daß in der modernen Gesellschaft, in der ansonsten nur funktionssystemspezifische Inklusion in Form von Rollen erfolgt, Familie damit überlastet ist, allein die Inklusion der
Vollperson unausgesetzt zu leisten, gerade weil es nirgends
11/
sonstwo noch passiert. Es braucht
daher funktionale Äquivalente,
die gleichermaßen in der Lage
sind, die Inklusion der Vollperson sicherzustellen, gerade zur
Kompensation
von Defiziten
funktionssystemspezifischer Inklusion. Es wäre zu überlegen,
ob nicht soziale Milieus eine funktional äquivalente Form dafür
darstellen: Innerhalb eines M i lieus kann alles, was eine Person
betrifft, von Bedeutung werden.
Es ist im Prinzip nichts ausgeschlossen, wenngleich nicht auf
alles gleichermaßen intensiv/extensiv Bezug genommen wird.
Aber in der Binnenkommunikation sozialer Milieus kann die
Vollperson mit all ihren Eigenarten zur Geltung kommen: Der
Lebensstil umfaßt die ganze Person. Man genießt gewissermaßen
'Ideosynkrasienkredit'
(Neidhardt). Sicherlich bestehen
Unterschiede zur Familie, aber
die sind gradueller Natur. Insofernsind soziale Milieus funktionale Äquivalente zur Familie,
weshalb auch, gegenüber funktionaler Differenzierung, von
segmentärer Differenzierung als
sekundärem
Differenzierungsprinzip moderner Gesellschaft die
Rede ist.
Kai-Uwe Hellmann,
Berlin
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
Raschke, Joachim
Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind.
Mit Beiträgen von Gudrun
Heinrich, Christoph Hohlfeld, Björn Johnson, Manfred Knoche, Monika Lindgens, Frank Nullmeier,
Jürgen Oetting, Peter
Raschke, Roland Roth,
Helmut Wiesenthal.
Bund-Verlag, Köln 1993; 960 S.,
D M 68,Mit der fast tausendseitigen Analyse „Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind" hat der Hamburger Politikwissenschaftler
Joachim Raschke, gemeinsam mit
zehn Fachkollegen und -kolleginnen, die erste umfassende Gesamtdarstellung der „alternativen
Partei" vorgelegt. Die Studie, die
sich - geteilt in vier zentrale Bereiche - mit der ideologischen,
akteursbezogenen, organisatorischen und externen Strukturierung der „Öko-Partei" befaßt, läßt
dabei keine der die GRÜNEN
betreffenden Fragestellungen
unberührt.
Wie bereits in seiner kürzeren
Studie „Die Krise der Grünen",
1992 erschienen, sieht Raschke
das grüne Grundproblem im Auseinanderklaffen von Legitimität
und Effizienz. Die vom ihm konstatierte Tatsache, daß viele Grüne - einem Grundgefühl folgend
- sich bis heute mit dem Parteiprinzip nicht hätten abfinden können, habe dazu geführt, daß die
„Partei wider Willen" keine Lösung für das Spannungsverhältnis von Legitimität und Effizienz
finden konnte und diese letztlich
zu einem unvereinbaren Gegensatz geworden sind.
Roter Faden und zentrale Fragestellung von Raschkes Analyse
ist die schon im Untertitel des
Buches aufgegriffene Frage:
„Wer sind die GRÜNEN, und:
wie wurden sie, was sie sind?"
Dabei gilt Raschkes vorrangiges
Erkenntnisinteresse der Untersuchung, um was für einen Typus
Partei es sich bei den GRÜNEN
handelt, und wie sich dessen spezielle Erscheinungsform herausgebildet hat. Auf der Suche nach
einer wissenschaftlich fundierten
Antwort auf diese Frage werden
daher u.a. Strukturierungsprobleme, Programmatik, Strömungsgeschichte, Akteursvielfalt, organisatorischer Aufbau und gesellschaftliche Verankerung der
GRÜNEN analysiert. Keine der
heftigen Debatten und zentralen
Begriffe aus den eineinhalb Jahrzehnten grüner Parteigeschichte
wird dabei außer acht gelassen.
Basisdemokratie, Bewegungspartei, Professionalisierung und
„Verparlamentarisierung" sind
nur Stichworte für einige der Probleme, die sich in dieser Studie
umfassend behandelt wiederfinden.
Eine übergreifende These von
Raschkes Analyse ist, daß wir es
bei den GRÜNEN mit einer „postindustriellen Partei" zu tun haben. Die durch Nichteindeutigkeit, Heterogenität, Fragmentierungund Organisationsschwäche
gekennzeichneten GRÜNENhätten die Chance, die erste Partei zu
werden, die eine präzise Antwort
auf den Wandel zur postindustri-
2/94
ellen und postmodernen Gesellschaft gibt. Im Typus der „Professionellen Rahmenpartei" sieht
Raschke die Zauberformel, die
es der mitgliederschwachen Partei mit ihrer immanenten Mobilisierungsschwäche erlauben könnte, den Brückenschlag zwischen
Legitimität und Effizienz zu
schaffen. Raschkes Definition der
„Rahmenpartei": „Mit diesem
Parteityp wird ein Rahmen festgelegt, der das von der Legitimität her Wesentliche außerhalb
läßt, der aber auch soweit strukturiert ist, daß qualifizierte personelle und inhaltliche Angebote
gemacht werden können."(S.865)
Um den Herausforderungen des
sich zunehmend ausdifferenzierenden Parteiensystem der neunziger Jahre gerecht zu werden,
sei es jedoch notwendig, den Prozeß derDistanzierung von Selbstetikettierungen wie „Anti-Parteien-Partei", Sammlungspartei, Bewegungspartei, ganz abgesehen
von der inhaltslosen Etikettierung
als „Partei neuen Typs" fortzusetzten und überlebte Strukturen
zu erneuern. Im Blick hat der
Hamburger Politologe dabei vor
allem den „Identitätsbegriff Basisdemokratie" und den „Mythos
Bewegungspartei". Raschke hält
das basisdemokratische Modell
der alternativen Partei für gescheitert (an der Nichteindeutigkeit des Konzepts, den unüberwindlichen Ressourcendefiziten
und den Professionalisierungsanforderungen eines ausdifferenzierten Politiksystems). In den
Kapiteln über Parteistruktur und
die sich in vollem Gang befindliche Diskussion über eine Organisationsreform wird zurecht darauf verwiesen, daß von Beginn
TV",M-nr-\-r,>T'-it~<N;u N S R 2'04
an keine konsistente Theorie von
Basisdemokratie existierte, und
daß es auch kein gemeinsames
Konzept und keinen Konsens darüber gab, was konkret unter Basisdemokratie zu verstehen sei
und aufweiche „Basis" man sich
berufen wollte. Raschkes Fazit:
„Überspitzt läßt sich sagen: jeder
hat eine andere Vorstellung von
Basisdemokratie, aber gescheitert ist sie für alle."(S.577)
Eine ähnlich negative Bilanz zieht
die Studie über das Verhältnis
Bewegung/Partei. Raschke
spricht vom „ M y t h o s Bewegungspartei", der wenig geeignet
sei zur Charakterisierung der
GRÜNEN. Zwar seien die Bewegungen, aus deren Mitte die
GRÜNEN einst gegründet wurden, immer noch ein zentraler
Bezugspunkt für die „alternative
Partei", längst seien aber andere
wesentliche Bezugspunkte wie
Wähler, Parlamente und Öffentlichkeit hinzugetreten.
Zu den ertragreichsten Kapiteln
der durchweg informativen Studie gehört der umfangreiche Teil
über die Akteure und Strömungen der GRÜNEN. Hier untersuchen die Autoren u.a. die Problematik der ungewollten Elitenbildung. Vor allem Raschkes sechzig Seiten starke Zusammenfassung der Strömungsgeschichte
stellt - zusammen mit der sehr
hilfreichen Chronologie der Parteihistorie im Anhang des B u ches - eine aufschlußreiche Beschreibung der wechselvollen
Auseinandersetzungen und Richtungskämpfe innerhalb derGRÜN E N dar. Raschke verdeutlicht
die Widersprüche zwischen ba-
sisdemokratischen Ansprüchen
und grüner Wirklichkeit. Für den
PolitologensindProfessionalisierung und unfreiwillige Elitenbildung Beispiele für die Untragbarkeit grüner Parteistrukturen.
Personalisierung und Professionalisierung besaßen geringe Legitimität auf der grünen Werteskala, sogenannte „Promis" erlebten Mißtrauen und Demontage. Dies verhinderte jedoch grüne Elitenbildung keineswegs, im
Gegenteil: Prozesse der Verberuflichung und Karrierisierung
haben eingesetzt. Diegrüne Wirklichkeit entspricht somit weder
dem basisdemokratischen A n spruch, grüne Eliten zu verhindern, noch den Anforderungen
des parlamentarischen Systems
nach effizienten Führungsstrukturen. Raschkes Fazit: „Die basisdemokratische Partei wollte
keine Eliten, die wirklich entstandene Partei hat Eliten hervorgebracht. Aber sie sind fragmentiert, flukturierend und blokkiert. Ein Zweck ist erfüllt: es
macht keinen Spaß, bei den GRÜN E N Elite zu sein. So sind sie
denn auch frustiert. Die basisdemokratischen Regelungen haben
Elitenbildung nicht verhindert,
aber sie haben den Nutzen eingeschränkt, den eine Partei von ihrer Elite haben kann."(S.453)
Es gehört zweifellos zu den Vorzügen dieses Buches, daß es letztlich nicht auf der Ebene der Analyse verharrt, sondern einmündet
in Reformvorschläge und Langzeit-Perspektiven. Im Abschlußkapitel, das sich mit den „GRÜN E N in den 90er Jahren" beschäftigt, zieht Joachim Raschke
gemeinsam mit Helmut Wiesen-
cm
thal und Frank Nullmeier kritische Bilanz, wägt Zukunftschancen und fordert eine „zweite A u f bauphase der GRÜNEN": „Der
erste Versuch, eine Partei aufzubauen, ist fehlgeschlagen. Einen
Versuch haben die G R Ü N E N
noch frei. 'Basisdemokratie',
'Bewegungspartei', 'Antiparteienpartei' - alles Reaktionsbildungen ohne weiterführende Idee.
Zu suchen wäre eine Parteiidee,
die den postindustriellen und postmodernen Rahmenbedingungen
korrespondiert, deren spezifischer Ausdruck die GRÜNEN
sind, und die gleichzeitig unter
den tradierten Politikstrukturen
praktikabel ist... Mittelpartei, professionelle Rahmenpartei und
Partei postmoderner Vielfalt waren die Stichworte, mit denen eine
solche positive Parteiidee eingekreist wurde."(S,890)
Die Hoffnung Raschkes und seiner Mit-Autoren, die 90er Jahre
könnten die Zeit einer zweiten
Auf bauphase der GRÜNEN sein,
wird in der Studie ganz zentral an
den Begriff der „Postmoderne"
geknüpft. Raschkes Definition
der Begriffe „Postindustrialismus" und „Postmoderne" ist dabei durchaus problematisch. Er
betont, daß auch eine postindustrielle Gesellschaft Industriegesellschaft bleibt und er konstatiert, daß Postmoderne „zunächst
nur ein Debattenstichwort" ist,
das als Begriff „unsinnig" sei,
„da die meisten Bedeutungsvarianten unter Postmoderne keine
Zeit nach der Moderne, sondern
eine spezifische Weiterentwicklung und Radikalisierung der
Moderne im Auge haben"(S.855).
Angesichts dieser Adabsurdum-
120
Führung des Modebegriffs bleibt
es unverständlich, daß Raschke
ein „Debattenstichwort" dennoch
zu einer zentralen Kategorie seiner Analyse macht. Die Kapitel,
in denen der Politologe (wider
bessere Einsicht) mit diesem UnBegriff arbeitet, wirken denn auch
im Vergleich mit der sonstigen
Analyse merkwürdig schwammig, ja teilweise hilflos. Raschke
wäre gut beraten gewesen, sich
auf weniger modische, dafür aber
konkret faßbare Erklärungsmuster (Dienstleistungsgesellschaft
etc.) zu stützen, statt sich im babylonisch-soziologischen
Sprachgewirr von Postindustrialismus, Postmaterialismus und
Postmoderne zu verirren.
Eine ähnliche Einschränkung gilt
für Raschkes W o r t s c h ö p f u n g
„Rahmenpartei". Der hohe Stellenwert, den er diesem Begriff
einräumt, steht in seltsamen W i derspruch zu seiner radikalen
Abrechnung mit den „Mythen"
Basisdemokratie und Bewegungspartei. Wenn Raschke die
GRÜNEN als „ideologischeRahmenpartei", im Sinne einer Plattform für unterschiedlichste Ideologien kennzeichnet und den Typ
einer Partei fordert, der nur einen
offenen „Rahmen" bildet, „in dem
unter besonderer Beteiligung professioneller Gruppen komplexe
Vermittlungsarbeit geleistet
wird"(S.865), so steckt dahinter
in erster Linie ein Vielfaltspostulat. Vielfalt - Raschke nennt es
„radikale Pluralität" - will er jedoch andererseits gerade einschränken, denn darauf läuft der
konsequente Abschied von den
grünen Identitätsmerkmalen Basisdemokratie und Bewegungs-
FORSCHUNGSJOURNAL N S B
2/94
partei im Ergebnis notwendigerweise hinaus.
Manfred E. Neumann
Willi Schraffenberger
Hieraus ergibt sich eine Grundsatzfrage für die GRÜNEN: Ist
eine Liquidierung des basisdemokratischen Elements, daß zum
inhaltlichen Gründungskonsens
(ökologisch - sozial - gewaltfrei
- basisdemokratisch) der Partei
gehörte, möglich, ohne „grüne
Identität" zu vernichten? Wird
durch Raschkes Nachweis, daß
basisdemokratische Mechanismen in der angewendeten Form
nicht funktioniert haben, das
Konzept der Basisdemokratie
überhaupt widerlegt oder nur ein
irreales, übersteigertes MaximaiKonzept? Muß z.B. das urdemokratische Rotationsprinzip falsch
sein, nur weil die Idee einer zweijährigen Rotation offensichtlich
unrealistisch ist? Ist Basisdemokratie wirklich ein Mythos - oder
macht Raschke nur einen daraus?
Platte machen.
Basisdemokratie ist unbestreitbar
ein Stück grüner Identität. Auch
in dieser Hinsicht wäre ein reformistischer Weg (Veränderung der
basisdemokratischen Mechanismen) einer fundamentalistischen
Lösung (Abschaffung) vorzuziehen. Der Zwiespalt zwischen
Anspruch und Wirklichkeit kann
nicht durch Extreme überbrückt
werden. Weder „anspruchsvoll
und wirklichkeitsfern" noch „anspruchslos und wirklichkeitsnah"
sind Lösungen für die Probleme
der GRÜNEN.
Andreas Vogtmeier, Berlin
Vom Leben und Sterben
auf der Straße
Quell-Verlag: Stuttgart 1993,
118 S.
Niemand kennt ihre genaue Zahl,
aber es werden immer mehr: die
Bundesarbeitsgemeinschaft für
Wohnungslosenhilfe schätzt, daß
über eine Million Menschen in
Deutschland ohne festen Wohnsitz lebt. Der Großteil von ihnen
ist in Billigunterkünften, Übergangswohnheimen oder Anstalten untergebracht. Mehr als
130 000 Wohnsitzlose sind auf
Brücken, Parks, Tiefgaragen,
Gebäudeeingänge oder sonstige
Bleiben angewiesen, die die Bezeichnung „ N o t u n t e r k ü n f t e "
nicht mehr verdienen. Diese unsicheren Schätzungen zur Armut
in der Überflußgesellschaft können lediglich grobe Orientierungspunkte für ein Stück bitterer sozialer Realität sein. Sie trüben auch den Blickfürdie Schicksale, die sich hinter diesen Zahlen verbergen. Wirklichkeitsnahe Eindrücke von einem Leben
am absoluten Existenzminimum
können sie nicht vermitteln.
Um das zu erreichen, sind zwei
Mitarbeiter der Stuttgarter A m bulanten Hilfe e.V. einen anderen Weggegangen. Der Fotograf
Manfred E. Neumann und der
Sozialarbeiter Willi Schraffenberger haben sich um eine Innenperspektive des drückenden sozialen Problems bemüht, indem
rV'ftM I T N Y I N I ,i ks-.i
NSB
sie Wohnungslose befragt und
portraitartig ins Bild gerückt haben. „Unsere 'Klienten' sollten
selbst zu Wort kommen, sie sollten sagen, was ihnen wichtig ist,
und sie sollten so dargestellt werden, wie sie es selbst wünschten
und wie es die Achtung ihrer
persönlichen Würde gebot", heißt
es im Vorwort.
2/94
Der Band macht eindringlich
deutlich, daß es „den" Wohnsitzlosen nicht gibt. Der Verlust des
Arbeitsplatzes, Scheidung oder
die Kündigung der Wohnung
können Lebenskrisen auslösen,
die unmittelbar mit dem freien
Fall von der sozialen Leiter und
dem Beginn eines Teufelskreises
verbunden sind. „Ohne Wohnung
keine Arbeit, ohne Arbeit keine
Am Ende dieses Projektes steht Wohnung", beschreibt ein Bereine Sammlung von Lebensbi- ber den gesetzlichen Kurzschluß
lanzen, Situationsbeschreibun- im sozialen Netz, der ihm die
gen, Liebeserklärungen an Men- Rückkehr in die ersehnte Normaschen und Landschaften, Gesell- lität erschwert. „So, jetzt hänge
schaftskritik und lautem Nach- ich 'rum, und mein Ziel ist es,
denken über die eigene Zukunft. irgendwo eine eigene Wohnung
In einer oft unbeholfenen Spra- und feste Arbeit. Der Neid ist da,
che geben die Momentaufnah- es geht nicht weiter, man wird
men Einblick in den Alltag einer durch das Sozialamt festgehalRandgruppe, deren Leben auf die ten, man kann nichtweg, und hier
pure Existenz beschränkt ist. A r - passiert nichts. Man sitzt dann
mut, Isolation, gebrochenes hier, zum Beispiel sonntags, wenn
S e l b s t w e r t g e f ü h l , Krankheit, man da nach Stuttgart 'reinfährt,
Demütigung und Gewalt sind so gehen sie Hand in Hand mit
auch Ursachen für die seelische ihrem Kind, Eis essen und so
Entwurzelung und die Sehnsucht weiter, ne. Also man sieht das
nach Ruhe. „Wo kann man Ruhe alles, da könnte man so ab und zu
finden, im Friedhof, oder? Aber richtig aus sich raus und am liebich finde auch hier keine Ruhe. sten dazwischenprügeln. Ich weiß
Laufen Bullen hinter uns und je- nicht, das ist, ich würde gerne
desmal Strafzettel. Einmal habe wieder so leben. Ja, und das ist,
ich siebzig Mark gekriegt für glaube ich, bei vielen, die auf der
Schlafen. Hier ist verboten Schla- Straße leben, so."
fen, drei Stunden später wieder
siebzig Mark Strafzettel. Hun- Die weitgehend erhalten gebliedertvierzig Mark für drei Stun- bene Authentizität der Texte, die
den Schlafen. Na ja, hab' ich einfühlsamen Fotografien und die
gesagt, gut, wenn ich kann hun- ergänzende Reportage Hansdertvierzig Mark für drei Stun- Volkmar Findeisens zum „Penden zahlen fürs Schlafen im nertod auf der Straße" sind zwar
Schlafsack, dann besser i geh' in im „Musterländle" Baden-WürtHotel Intercontinental, dann kann temberg entstanden, könnten aber
ich mir auch das erlauben."Die ebenso in jedem anderen Teil
Stigmatisierung sorgt dafür, daß Deutschlands ihren Ursprung
der Alltag für Berber zum aufrei- haben. Arbeitsprogramme für
benden Spießrutenlauf wird.
Wohnsitzlose in Friedrichshafen
m
oder das bundesweit einmalige
„Sleep In" für obdachlose Jugendliche in Frankfurt am Main zeigen, daß es sich bei der „Neuen
Armut" um einen sozialen Brennpunkt mit Flächenwirkungfür das
ganze Land handelt.
In einer Zeit zunehmender Verteilungskämpfe und angespanntem gesellschaftliche Kima ist
Manfred E . Neumann und Willi
Schraffenberger ein Band gelungen, der Teilen des abgekoppelten Teils der Zwei-Drittel-Gesellschaft vielseitig und ehrlich
in Wort und Bild Gesicht verleiht.
Georg Weinmann, Tübingen
WSM
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FORSCHUNGSJOURNAL N S B
2/94
Klaus-Dieter Opp: The Rational Choice Approach and the sociology of social
movements, FJNSB 2/1994, 11-26
In the author's opinion, the research work on social movements and political protest is predominantly not
theoretically founded. The Rational Choice Approach (RCA) could be very useful for the research on
social movements. The approach is introduced relating to its possible value for research work. The author
proposes a 'broad' theory of rational action, including a more flexible combination of micro and macro
conditions. The R C A has undergone several periods of development in the past, so that the concept of
rational action was revised. Although the R C A s t i l l poses a number of unsolved questions, one should use
it as long as there is no other opproach superior to it. No such approach is in night for the sociology of social
movements, as the author concludes.
Richard Münch: From modernity to the postmodern? Social movements in the
process of modernization, FJNSB 2/1994, 27-39
The author's views of social movements bearing modern as well as anti-modern characteristics rest upon
a structural theory of modernity referring to Talcott P A R S O N S . Social movements are at the same time
products and premises of modern society: on the one hand they appeal to modern principies such as
emancipation or equal rights, on the other hand they criticize modernity on its own grounds. A striking
example is the ecological movement, renouncing progress: Less is more. Social movements are victims
to this dilemma. There is no Solution if modernity should not turn into its opposite.
Klaus Eder: The institutionalization of collective action. A new theoretical problem of
social movements research, FJNSB 2/1994, 40-52
The author reconstructs the controversy of macro vs. micro social approaches in social movements
research. A 'new modesty' is discernible that tries to harmonize opposite approaches such as the approach
of Ressource Mobilization and the New Social Movements approach. This willingness for dialogue is
productive for research; however, future theoretical 'battles' are necessary that respond to the evolution
ofmodern society. E D E R suggests two perspectives: the one is neo-institutional, ascribing a new, more
discursive form of institutional rationality to social movements which has retroactive effects on
established institutions. The other is constructivistic, also emphasizing the communicative nature of social
movements, because their way of seeing themselves is generated by communication. The concept of a
'society of movements' might be utopian; social movements, however, will remain a determinant of
modern society.
124
FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2 / 9 4
Niklas Luhmann: System theory and protest movements in interview, FJNSB 2/1994,
pp.
A n interview with L U H M A N N was recorded in the middle of February in Bielefeld. System theory is one
of very few 'grand theories' today, so its relevance for social movements research is undoubted. In
numerous essays L U H M A N N has tried to describe social movements by means of his theory. The fact that
social movements research does not dispose of a genuine theory leaves crucial questions unanswered:
What is the topic for social movements research? What sociological theory should it follow? The
possibilities of System theory exceed the specific field of social movements by far.
Piotr Sztompka: Beyond structure and action: On the way to an integrative sociology
of social movements, FJNSB 2/1994, pp.
The author aims at a synthesis of the competing approaches of Resource Mobilization and New Social
Movements. A n integrative sociology, a theory of ,Social Becoming", would be able to overcome the
schism. Rational and communicative aspects should be combined. The false opposite of a theory of
structures and one of actions must be dismantled.
Werner Bergmann/Rainer Erb: A social movement from the right? Development and
network of the extreme right in East Germany, FJNSB 2/1994, pp.
The research article investigates whether there is a new social movement from the political right. The
emphasis lies upon right-wing extremists in the East German Länder. The authors distinguish between
micro and macro mobilization ( G E R H A R D S / R U C H T 1993) and reconstruct the emergence of a new right
milieu that had its roots already in the G D R . What is 'the right movement', how elaborate is its
infrastructure? The authors conclude that there really is a right movement, and that it will not be merely
transitory.
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