FORSCHUNGSJOURNAL NSB 2/94 HMLJiJ Editorial zum Themenheft: Soziale Bewegungen und soziologische Theorie 2 Klaus-Dieter Opp Der 'Rational Choice'-Ansatz und die Soziologie sozialer Bewegungen 11 Richard Münch Von der Moderne zur Postmoderne? Soziale Bewegungen im P r o z e ß der Modernisierung 27 Klaus Eder Die Institutionalisierung kollektiven Handelns. Eine neue theoretische Problematik in der Bewegungsforschung 40 Niklas Luhmann Systemtheorie und Protestbewegungen. Ein Interview. 53 Piotr Sztompka Jenseits von Struktur und Handlung: Auf dem Weg zu einer integrativen Soziologie sozialer Bewegungen 70 Forschungsbericht: Werner Bergmann/Rainer Erb Eine soziale Bewegung von rechts? Entwicklung und Vernetzung einer rechten Szene in den neuen B u n d e s l ä n d e r n 80 Pulsschlag Bericht, Forschungsbericht 99 Treibgut Material, Hinweise, Notizen, Termine 104 Nachgefragt: Wie ist die Energiewende möglich? Interview mit Dr. Franz Alt 109 Bewegungsliteratur: Rezensionen 110 Aktuelle Bibliographie 122 Abstracts 123 FORSCHUNGSJOURNAL N S B Bewegungsforschung beginnt, sich als 'normale Wissenschaft' zu begreifen, auch wenn ein einheitliches Paradigma noch nicht in Sicht ist' Zumindest sind seit geraumer Zeit 'Aufräumungsarbeiten' (Kuhn) im Gange, die den Stand der Forschung bilanzieren, Gemeinsamkeiten feststellen und Defizite aufspüren, die es zu beheben gilt - und das nicht erst seit der Greven-Kritik. 2 Angefangen hat es spätestens damit, daß sich der Ressourcenmobilisierungsansatz, der bei der Beobachtung sozialer Bewegungen vor allem Social Movement Organizations ( S M O s ) im Auge hat und mit Rational Choice-Überlegungen operiert, darauf aufmerksam machte, daß es nicht ausreiche, lediglich auf 'strukturelle Spannungen' und 'relative Deprivationen' hinzuweisen, die in jeder Gesellschaft allgegenwärtig sind, um Entstehung und Entfaltung sozialer Bewegungen zu erklären. Dazu bedürfe es weitergehender 'constraints', die auf günstige bzw. ungünstige Bedingungen verweisen, über die soziale Bewegungen auf der einen Seite selber verfügen, wie Geld, Qualifikation, Erfahrung etc., und die auf der anderen Seite in deren Umwelt vorhanden sind, wie Massenmedien, Partizipationsrechte, demokratische Herrschaftsordnung usw. Demnach ist die Entstehung und Entfaltung sozialer Bewegungen vor allem davon abhängig, „how burgeoning movement organizations seek to mobilize and routinize - frequently by tapping lucrative elite sources of support - the flow of resources to ensure movement survival. " Vor allem nach der Einführung und rasanten Verbreitung des Ressourcenmobilisierungsansatzes setzten jedoch verstärkt Anstrengungen ein, die Einheit des Fachs herzustellen und eine Annäherung bzw. Abgleichung zwischen den beiden Ansätzen Collective Behavior ( C B ) und Resource Mobilization ( R M ) in Angriff zu nehmen. Konsolidierungstenden3 4 5 2/94 zen waren gleichwohl schon vorher festzustellen. In den 80er Jahren folgten dann Vorschläge, die im wesentlichen auf eine Synthese des in Amerika verbreiteten RM-Ansatzes mit dem in Europa entwickelten New Social Movement-Ansafö ( N S M ) drangen. Hierbei ging es vorrangig darum, das rationale Kalkül mit bestimmten sozialpsychologischen Annahmen wieder zu versöhnen. Diese Bemühungen um Verständigung wurden auch von RM-Theoretikern unterstützt. Daneben kam es auch zu einer Reihe von Abwehrreaktionen gegenüber dem RM-Ansatz, die sich zumeist gegen die Vereinnahmung/Ersetzung des Bewegungsbegriffs, mit besonderer Verengung auf den Bereich des Politischen, durch den Begriff der SMO aussprachen und demgegenüber betonten, daß SMOs allein niemals eine soziale Bewegung als solche ausmachen, sondern allenfalls einen Teil davon. „As a consequence, a single Organization, whatever its dominant traits, is not a social movement." Mehr noch: Es wurde wieder Wert gelegt darauf, daß soziale Bewegungen zu einem nicht unwesentlichen Teil aus spontanen Massenereignissen bestehen, die nur bedingt, wenn überhaupt, mit SMOs in Verbindung gebracht werden können. Gerade das unorganisierte, plötzliche Auftreten sozialer Bewegungen wurde in den Vordergrund gestellt, wie in den besten CB-Zeiten." Schließlich wurden auch Stimmen lauter, die selbst in der Verbindung von RM und NSM noch Defizite anmeldeten und Ergänzungsvorschläge aus dem 'Social Construction 'Umfeld als weiteren Aspekt ins Gespräch brachten. Dazu sind vor allem die 'Frame Alignment'-Arbeiten von DavidA. Snow et al. zu zählen, aber auch der 'Political Discourse'-Ansatz von William A. Gamson. Nicht zuletzt liegen selbst erste Arbeiten zu einer umfassenden Systematisierung sämtlicher Ansätze vor, die es in der Bewegungsforschung bisher zu einem gewissen Renommee 6 7 8 9 10 12 13 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 gebracht haben." Mit anderen Worten: Seit mehr als 10 Jahren sind ernsthafte Bemühungen ersichtlich, dringend anfallende 'Aufräumungsarbeiten ' zu erledigen, die Einheit des Fachs herzustellen und zur 'normalen Wissenschaft' überzugehen. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich jedoch die Frage, in welcher Form sich die Einheit des Fachs überhaupt erfassen läßt. Zum einen könnte man dazu sicherlich auf das Mikro/Makro-Schema zurückgreifen, wie es etwa bei Doug McAdam, John D. McCarthy und Mayer N. Zald Anwendung fand. Gleichwohl bleibt zu klären, was damit eigentlich gemeint ist. Johann August Schälein illustriert die Unterscheidung von Mikro- und Makroebene anhand der Unterscheidung von „ 'Froschperspektive', die aus der Optik konkreter Interaktionen analysiert" , und „ 'Vogelperspektive', die aus der Optik der Gesellschaft als ganzer analysiert". Was hinter dieser Unterscheidung steckt, ist die Metapher von Ganzem und Teil: Während die 'Vogelperspektive' das Ganze in Augenschein nimmt, begnügt sich die 'Froschperspektive' mit einem Teil davon. Mit dieser Unterscheidung operiert auch James S. Coleman. Coleman unterscheidet zwischen zwei Ebenen: dem System als Einheit und seinen Komponenten. Dabei konstituieren die Komponenten, etwa Individuen, auf der Mikroebene, was sich auf der Makroebene, etwa Gesellschaft, als die Einheit des Systems darstellt. Das Verhältnis von Mikro- und Makroebene entspricht somit der Metapher von Teil und Ganzem: Das Ganze besteht aus seinen Teilen, und die Teile verweisen immer aufs Ganze. Eben dieses Bild leitet auch viele Arbeiten in der Bewegungsforschung an, die sich zumeist einer der beiden Seiten zuordnen lassen und von da aus ab und zu einen Blick auf die andere Seite werfen. 15 16 17 18 Mit der einfachen Mikro/Makro-Unterscheidung ist es in der Bewegungsforschung insgesamt jedoch nicht getan. So unterscheiden McAdam/McCarthy/Zald noch eine dritte Ebene, „ intermediate between the macro and the micro" , oder wie Hanspeter Kriesi es ausdrückt: „ The notion of the 'social movement'provides us with an 'intermediary' conceptual tool facilitating the link between the macro- and the micro-levels. " Friedhelm Neidhardt und Dieter Rucht sprechen von „meso-level" , Jürgen Gerhards und Dieter Rucht untersuchten „Mesomobilization" . Unstrittig ist, daß sich eine Reihe von Untersuchungen leichthin auf der Mikroebene, die die Individuen umfaßt, andere wiederum auf der gesamtgesellschaftlichen Makroebene ansiedeln lassen. So sei nur auf die Vielzahl von Studien verwiesen, die auf der Makroebene nach gesamtgesellschaftlichen Ursachen für die Entstehung sozialer Bewegungen suchen. Dazu gehört auch das Konzept der politischen Gelegenheitsstruktur. '' Demgegenüber wurde auch auf der Mikroebene beträchtlicher Aufwand getrieben, um individuelle Ursachen und Gründe aufzufinden, die gleichermaßen die Entstehung und Entfaltung sozialer Bewegungen zu erklären versprechen. Hier entspricht das Mikro/Makro-Schema also der Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft. Zugleich gibt es Untersuchungen, die sich mit der Frage beschäftigen, wie soziale Bewegungen etwa Anhänger werben und mobilisieren. Hier würde das Mikro/Makro-Schema der Unterscheidung von Individuum und Bewegung entsprechen. Außerdem gibt es Arbeiten, die nach dem Verhältnis von Bewegung und Gesellschaft fragen, so daß sich die Bewegung diesmal auf der Mikroebene befinden würde und Gesellschaft auf der Makroebene. Was hier passiert, ist ein Wechsel der Systemebene, die erst entscheidet, was Ganzes und was Teil ist. Einmal ist das Ganze die 19 2 0 21 22 23 2 25 26 27 FORSCHUNGSJOURNAL N S B Gesellschaft und das Teil ein Individuum, dann ist das Ganze die soziale Bewegung und das Teil wieder ein Individuum, schließlich ist das Ganze wieder die Gesellschaft und die soziale Bewegung ein Teil davon. Es gibt somit drei Ebenen, auf denen die Bewegungsforschung sich bewegt: Die Ebene der Individuen, die Ebene der Bewegungen und die Ebene der Gesellschaft, wobei die mittlere Ebene der sozialen Bewegungen je nach Bedarf einmal aus der 'Froschperspektive' und dann wieder aus der 'Vogelperspektive' wahrgenommen wird. Vor diesem Hintergrund könnte deshalb unterschieden werden zwischen drei Ebenen: der Mikroebene der Individuen, der Mesoebene der sozialen Bewegungen und der Makroebene der Gesellschaft. 28 Neben dieser vertikalen Unterscheidung nach dem Mikro/MesolMakro-Schema ließe sich zum anderen an die eher horizontal angelegte Einteilung Joachim Raschkes anschließen, der zwischen einem strukturanalytischen, einem sozialpsychologischen und einem interaktionistischen Ansatz unterscheidet. Danach gibt es Arbeiten, die soziale Bewegungen aus objektiv bestehenden Problemlagen, die in der Sozialstruktur einer Gesellschaft potentiell veranlagt sind, zu erklären suchen. Doch ist diesem Unternehmen nur zum Teil Erfolg beschert, da es immer mehr Anlässe gibt, die die Systembildung sozialer Bewegungen objektiv nahelegen, als tatsächlich der Fall ist: „Die Geschichte der Gesellschaften ist eine Geschichte von sozialen Bewegungen, die nicht stattgefunden haben obwohl die Probleme ihrer Gesellschaften gute Gründe zur Mobilisierung gaben. " Insofern bedarf es zusätzlicher Bedingungen, die zur Erklärung sozialer Bewegungen beitragen, um die Kon tingenz des Erklärungsanspruchs einzuschränken. Zumindest muß gewährleistet sein, daß vermeintlich 29 30 31 2/94 objektiv gegebene Problemlagen auch subjektiv wahrgenommen werden, etwa in Form konkreter Betroffenheit und akuten Identitätskrisen, gewissermaßen der „Rohstoff individueller Mobilisierungsgründe " , damit es überhaupt zur Mobilisierung sozialer Bewegungen kommt. Doch auch der sozialpsychologische Ansatz hat mit dem Kontingenzproblem zu kämpfen: „ Grievances are everywhere, movements not. " Ein Ausweg verspricht die Überlegung, ob objektive Problemlagen, die auch subjektiv wahrgenommen werden, zu guter Letzt nicht dazu ßhren, daß man sich verständigt und sich darüber Mobilisierungseffekte einstellen. „But if (this) dissatisfaction is shared by, and communicated to, others in the society, a social movement may develop. " Das schließt nicht aus, daß es möglicherweise auch zu Problemdefinitionen ohne Problem kommt. In jedem Fall kann diese Form der Problemkonstruktion und Mobilisierungskommunikation ebenso auf der Ebene einfacher Interaktionen stattfinden, in der Kneipe, unter Freunden oder an der Universität, wie über zentral organisierte Werbekampagnen, die zur Teilnahme an Demonstrationen aufrufen, was sich insbesondere SMOs zurechnen ließe. Mit anderen Worten: Mit dem handlungstheoretischen Ansatz wäre zuletzt ein Stadium erreicht, in dem es endlich zu gelingen scheint, eine lose Kombination von Bedingungsfaktoren, die je ßr sich durchaus notwendig sind aber nur zusammen hinreichen, um die Entstehung und Entfaltung sozialer Bewegungen auch angemessen zu erklären, in eine rigide Form zu überßhren, die die anfängliche Unbestimmtheit der Erklärungsleistung quasi durch ein kumulatives Rekonstruktionsverfahren ('value added'-Modell) überwindet. Von Ansatz zu Ansatz schließt sich der Kreis, immer mehr Facetten ergänzen das Bild und am Schluß könnte es gelingen, die Entstehung und Entfaltung sozialer Bewegungen lückenlos zu 32 33 34 35 36 37 38 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 5 erklären: Ein Kontinuum von den Bedingungen der Möglichkeit bis zur Mobilisierung sozialer Bewegungen. Vor diesem Hintergrund bleibt indes die Frage, wie es um die Vereinbarkeit all dieser Paradigmen, Ansätze, Schemata und Unterscheidungen bestellt ist. Betrachtet man etwa den Anlaß, der dem frühen Relative Deprivattovi-Ansatz ( R D ) zugrunde lag, so könnte man den Anspruch, mit dem dieser auftrat, auch als Irrationalismus-Vorwurf beschreiben: Es war der Versuch, sozialen Bewegungen mehr rationales Kalkül zuzutrauen, als dies im Collective Behavior-Ansatz gemeinhin der Fall war. Der Ressourcenmobilisierungsansatz begegnete dem RD-Ansatz dagegen mit dem Kontingenz-Vorwurf: Allein die Tatsache von Erwartungsenttäuschungen, denen sich im Grunde jeder ausgesetzt sieht, erklärt nicht, weshalb es überhaupt zur Mobilisierung sozialer Bewegungen kommt. Demgegenüber sieht sich gerade der RM-Ansatz dem Rationalismus-Vorwurf gegenüber, da dieser sozialen Bewegungen mehr Rationalität unterstellt, als ihnen tatsächlich zusteht. Dem Selbsterzeugungsargument läßt sich wiederum entgegenhalten, daß strukturelle Voraussetzungen gleichwohl „ eine entscheidende Variable mit eigenständigem Gewicht" bilden. Letztlich geht es um die Frage, welche Theorie dem Phänomen soziale Bewegung am ehesten gerecht wird, ob es nur einer oder mehrerer bedarf, und wenn mehrerer, wie sich mehrere Theorien angemessen miteinander kombinieren lassen. 39 zuletzt wurden selbst von der Theorie sozialer Systeme seit den 80er Jahren vermehrt Vorschläge unterbreitet, wie sich soziale Bewegungen auch systemtheoretisch beschreiben lassen. Andererseits heißt es bei Raschke: „Es gibt keine auf gegenwärtige Gesellschaft bezogene Gesellschaftstheorie, die eine Systemanalyse sinnfällig verknüpfte mit einer Analyse der Sozialstruktur, geschweige denn mit einer Analyse kollektiver Akteure auf der Handlungsebene. " Auch Gerald Marwell und Pamela Oliver nehmen kein Blatt vor den Mund: „ The concept 'social movement' is a theoretical nightmare. " Von daher konstatieren Neidhardt/Rucht bei der Bestandsaufnahme der Bewegungsforschung auch eine „ disproportion between the sheer quantity of publications and their relevance for the cumulation of theoretical and analytical knowledge. " Erscheint es somit gerechtfertigt, mit Stöss in der Frage theoretischer Grundlagen der Bewegungsforschung immer noch von einem Elend der NSB-Forschung zu sprechen ? 42 4 3 44 45 40 41 Fest steht einerseits, daß eine Reihe von Theoriearbeiten ihre Brauchbarkeit ßr Bewegungsforschung durchaus unter Beweis gestellt haben. So ist unzweifelhaft davon auszugehen, daß sich Strukturtheorien ebenso bewährt haben wie sozialpsychologische oder handlungstheoretische Theoriefiguren. Nicht Der Themenschwerpunkt dieses Heftes möchte einen Beitrag zu dieser Fragestellung leisten. Die Konzeption verfolgt gleichwohl eine bescheidenere Intention: Es geht darum, Theorieansätze größerer Reichweite, die vor allem außerhalb der Bewegungsforschung zuhause sind, dazu aufzufordern, sich speziell mit sozialen Bewegungen zu beschäftigen. Freilich wurden dabei auch Autoren angesprochen, die soziale Bewegungen mehr oder weniger schon einmal zum Gegenstand ihrer theoretischen Anstrengungen gemacht haben. Das trifft sicherlich ßr Karl-Dieter Opp oder Klaus Eder zu, aber auch auf Niklas Luhmann, wenngleich nicht in systematischer Weise. Eine Ausnahme davon bildet Richard Münch, wohl auch Piotr Sztompka. 6 Karl-Dieter Opp bringt am deutlichsten zum Ausdruck, was brennendes Problem der Bewegungsforschung ist: „ D i e mittlerweile kaum mehr z u überblickende Literatur über soziale Bewegungen und politischen Protest ist, vor allem im deutschen Sprachbereich, überwiegend nicht theoretisch orientiert." Aufgrund dieser Diagnose unternimmt Opp es auch, zumindest f ü r den Rational Choice-Ansatz zu zeigen, welchen Gewinn Bewegungsforschung daraus ziehen kann. Zuerst wird der Ansatz selbst dargestellt, mit jeweils kurzer Diskussion zentraler Annahmen und theoriebedingter Probleme, um dann in einem zweiten Schritt vorzuf ü h r e n , was der R C - A n s a t z f ü r die Bewegungsforschung zu leisten vermag. Dabei hält Opp ein Plädoyer f ü r eine 'weite' Theorie rationalen Handelns, was nicht nur die flexiblere Kopplung von Mikroannahmen mit Makrobedingungen einschließt. Denn der Lernprozeß, dem der R C - A n s a t z in den letzten Jahren selbst unterlag, hat dazu geführt, d a ß einige der gravierendsten E n g f ü h r u n g e n , denen der Begriff rationalen Handelns ausgesetzt war, revidiert wurden und einer offeneren Struktur gewichen sind, was dem Selbstbewußtsein von RC-Theoretikern freilich keinenAbbruch tut: „Jeder Vertreter des 'Rational Choice'-Ansatzes wird einräumen, daß dieser Ansatz eine Reihe ungelöster Probleme aufweist. Trotzdem w i r d man diesen Ansatz dann zur Erklärung sozialen Handelns anwenden, wenn es keinen anderen Ansatz gibt, der dem R C A eindeutig überlegen ist. In der Soziologie sozialer Bewegungen ist ein solcher A n satz nicht in Sicht." Richard M ü n c h entwickelt vor dem Hintergrund einer an Parsons orienierten Strukturtheorie der Moderne eine besondere Ansicht sozialer Bewegungen als gleichermaßen moderne w i e antimoderne Kräfte. A l s wichtige Determinante der Entwicklung der modernen Gesellschaft sind soziale Bewegungen ebenso Produkt wie Prämisse moderner Gesellschaft, FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 indem sie sich einerseits auf typisch moderne Prinzipien berufen w i e Emanzipation oder Gleichberechtigung, andererseits aber auch Kritik leisten an der Moderne, sofern diese über das selbst gesetzte Z i e l hinausschießt. A l s Demonstrationsobjekt wählt M ü n c h die Ökologiebewegung, der es paradoxerweise um Verzicht als Fortschritt geht: Weniger ist Mehr. Aufgrund dieser paradoxen Situation, in der gerade die sozialen Bewegungen jedoch durchweg stekken, werden sie Opfer eines Dilemmas, aus dem es kein Entrinnen gibt, w i l l die Moderne sich nicht in ihr Gegenteil verkehren. Klaus Eder geht es um die Rekonstruktion einer Entwicklung, die die Kontroverse makround mikrosoziologischer A n s ä t z e in der Bewegungsforschung betrifft. Danach sei eine Neue Bescheidenheit zu beobachten, die sich um die Versöhnung von nach außen hin so gegensätzlichen Positionen wie dem Ressourcenmobilisierungsansatz und dem Ansatz Neue Soziale Bewegungen bemüht, die die theoretisch angeleitete Diskussion innerhalb der Bewegungsforschung gleichsam wie auf einem 'Schlachtf e l d ' jahrelang bestimmt haben. So produktiv diese Dialogbereitschaft sich f ü r den Forschungsverlauf auch immer ausnehmen mag, hält Eder dennoch dagegen, daß es wieder neuer theoretischer ' K ä m p f e ' bedarf, da die Evolution der modernen Gesellschaft nicht stehenbleibt, sondern neue theoretische Herausforderungen, neue Konfliktlinien stellt. Sein Vorschlag zur Neustrukturierung dieses auch für Bewegungsforschung unabdingbaren Schlachtfeldes lautet, einerseits eine neo-institutionelle Perspektive zu propagieren, die sozialen Bewegungen eine neue, mehr diskursive Form institutioneller Rationalität zuspricht, die auch auf die etablierten Institutionen der modernen Gesellschaft zurückwirkt, andererseits eine konstruktivistische Perspektive zu verfolgen, die gleichfalls die kommunikative Natur sozialer Bewegungen betont, da das Selbstverständnis FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 sozialer Bewegungen weniger schon vorab vorhanden ist als vielmehr erst kommunikativ ausgehandelt wird.Von daher stellt sich die Vorstellung einer 'Bewegungsgesellschaft' zwar als Utopie dar, gleichwohl avancieren soziale Bewegungen z u einem „dauerhaften dynamisierenden Faktor" moderner Gesellschaft. Niklas Luhmann hat sich zu einem Interview bereit erklärt, das Mitte Februar in Bielefeld durchgeführt wurde. Gegenstand des Interviews waren seine bisherigen Veröffentlichungen und Überlegungen zu sozialen Bewegungen und der Versuch, diese kritisch aufzunehmen und auf theorieimmanente Z u s a m m e n h ä n g e hin zu befragen. D a die A n z a h l jener Beiträge, die soziale Bewegungen - nicht nur von ihm selbst systemtheoretisch zu beschreiben suchen, mittlerweile beträchtlich zugenommen hat, überdies Systemtheorie eine jener wenigen 'grand theories' darstellt, die gegenwärtig zur Verfügung stehen, kommt der systemtheoretischen Auseinandersetzung mit sozialen Bewegungen auch f ü r die Bewegungsforschung besondere Bedeutung zu. Es geht letztlich um die Frage, wie Bewegungsforschung die Einheit von Gegenstand, Begriff und Fach bestimmt, und an welcher Sozialtheorie, vor allem aber Gesellschaftstheorie sie sich orientiert, da sie selbst über keine eigenständige Theorie verfügt. Systemtheorie hat hierzu Angebote gemacht, die weit darüber hinausweisen, was soziale Bewegungen als spezifischen Gegenstand betrifft. Es bleibt abzuwarten, in welcher Form Bewegungsforschung dieses Angebot nachfragt. P i o t r Sztompka nimmt in seinerArbeit das, die fachinteme Theoriediskussion noch immer beherrschende Schisma zwischen Handlungs- und Strukturtheorie auf, das auch, wie gerade Eder dokumentiert, die Diskussion innerhalb der Bewegungsforschung maßgeblich bestimmt hat, um eine Synthese beider Positionen anzustreben. W i e schon Jean Cohen und andere vor ihm, w i l l Sztompka darauf aufmerksam machen, daß einerseits den beiden konkurrierenden Ansätzen Resource Mobilization und New Social Movements jeweils f ü r sich zuzugestehen ist, daß sie eine Seite sozialer Bewegungen sehr richtig beschreiben, es andererseits aber erforderlich ist, daß beide Ansätze zusammenarbeiten, da sie jeweils nuveine Seite sozialer Bewegungen auf den Begriff bringen. Sztompkas Vorschlag geht deshalb dahin, rationale und kommunikative Aspekte sozialer Bewegungen miteinander zu kombinieren und darüber eine 'dritte Soziologie' zu entwickeln, die er Social Becoming nennt, die den reellen Verhältnissen nicht nur sozialer Bewegungen eher gerecht zu werden sucht als das bisherige Schwarz/WeißDenken. Insofern reiht sich auch Sztompkas Arbeit injene Konsolidierungsbemühungen ein, wie sie, aufgrund unaufschiebbaren Theoriebedarfs, in der Bewegungsforschung zunehmend zu beobachten sind. Zusätzlich zumThemenschwerpunkt haben wir einen Forschungsbericht von W e r n e r B e r g mann und R a i n e r E r b aufgenommen, der sich mit der Frage auseinandersetzt, ob es eine soziale Bewegung von rechts gibt. Diese Fragestellung hat durch die vielen A u f m ä r s c h e und A n schläge von Rechtsextremen, Skinheads und Neofaschisten unweigerlich an Bedeutung gewonnen, so daß schon eine Reihe von Überlegungen und Veröffentlichungen dazu angestellt wurden. Bergmann/Erb gehen in ihrer Untersuchung der Entwicklung und Vernetzung einer rechten Szene in den neuen Bundesländern nach, mit dem lokalen Schwerpunkt Brandenburg. Sie bedienen sich dazu der Unterscheidung von M i k r o - und Mesomobilisierung, wie sie von Gerhards/Rucht vorgeschlagen wurde, und rekonstruieren anhand dieser Unterscheidung die Herausbildung eines rechten Milieus, dessen A n f ä n g e schon in der D D R zu finden sind. Es folgen der Versuch einer Begriffsbestimmung der rechten Bewegung, was nicht zuletzt A u s 46 RS FORSCHUNGSJOURNAL N S B Wirkungen hat auf das Selbstverständnis der Bewegungsforschung als NSB -Forschung, und die Beschreibung ihrer bewegungsinternen Infrastruktur. Schließlich fragen sie nach den 'constraints' einer rechten Bewegung. Ihr Fazit lautet, d a ß es eine rechte Bewegung gibt, und daß man sich hüten sollte, sie lediglich f ü r eine v o r ü b e r g e h e n d e Erscheinung zu halten. Kai-Uwe Hellmann Anmerkungen 2/94 1991: Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland. Campus 17. Kritisch Stöss, Richard 1984: Vom Mythos der 'neuen sozialen Bewegungen'. Neun Thesen und ein Exkurs zum Elend der NSB-Forschung, in: Falter, Jürgen W./ Fenner, Christian/Greven, Michael Th. (Hrsg.): Politische Willensbildung und Interessenvermittlung. Verhandlungen der Fachtagung der D V P W vom 11.-13. Oktober 1983 in Mannheim. Westdeutscher Verlag 548-559 vgl. McCarthy, John D./Zald, Mayer N . 1977: Resource Mobilization and Social Movements: A Partial Theory, in: American Journal of Sociology, Vol. 82, No. 6, 1212-1241: 1215 vgl. McAdam, Doug 1988: Micromobilization Contexts and Recruitment to Activism, in: International Social Movement Research, V o l . 1,125-154: 126 vgl. Turner, Ralph H . 1981: Collective Behavior and Resource Mobilization as Approaches to Social Movements: Issues and Continuities, in: Research in Social Movements, Conflict and Change, Vol. 4, 1-24; Zürcher, Louis A./Snow, David A . 1981: Collective Behavior: Social Movements, in: Rosenberg, M./Turner, R . H . (Ed.): Social Psychology. Sociological Perspectives. N Y , Basic Books 447-482 3 4 Zwar sprechen Klandermans/Tarrow bei ihrer Diskussion des amerikanischen Ressourcenmobilisierungsansatzes und des europäischen Ansatzes 'Neue Soziale Bewegungen 'gleich von „two major new paradigms", vgl. Klandermanns, Bert/Tarrow, Sidney 1988: Mobilization into Social Movements: Synthesizing European and American Approaches, in: International Social Movement Research, Vol. 1, 1-38: 2. Doch gerade Neidhardt/Rucht meinen, daß „the theoretical substance of both approaches has been too weak to form a solid paradigm", vgl. Neidhardt, Friedhelm/Rucht, Dieter 1991: The Analysis of Social Movements: The State of the Art and Some Perspectives for Further Research, in: Rucht, Dieter (Hrsg.): Research on Social Movements. The State of the Art in Western Europe and the U S A . Campus/Westview Press 421-464: 442; siehe auch Melucci, Alberto 1989: Nomads of the Present. Social Movements and Individual Needs in Contempory Society. Temple University Press 42. Vielleicht sollte man es in Anbetracht des Forschungsstands mit Melucci halten und von einem ,,'sceptical paradigm'" (Melucci 1989: 22) sprechen, ganz abgesehen davon, daß es eigentlich überraschen muß, wie wenig schon auszureichen scheint, damit aus einer 'Partial Theory' (FN 3) und einem 'Concept' (FN 10) gleich zwei Paradigmen werden. 1 5 vgl. Killian, Lewis M . 1973: Social Movements: A Review of the Field, in: Evans, Robert R. (Ed.): Social movements. A reader and source book. Rand McNally College Publishing Company 9-53 vgl. Cohen, Jean L . 1985: Strategy or Identity: New Theoretical Paradigmas and Contemporay Social Movements, in: Social Research. Volume 52, Number 4, 663-716; Melucci, Alberto 1985: The Symbolic Challenge of Contemporary Movements, in: Social Research. Volume 52, Number 4, 789-816 vgl. McAdam, Doug/McCarthy, John D./Zald, Mayer N . 1988: Social Movements, in: Smelser, Neil J. (Ed.): Handbook of Sociology. Sage 695737 vgl. Jenkins, J. Craig 1983: Resource Mobilization Theory and the Study of Social Movements, in: Annual Review of Sociology 527-553; Marwell, Gerald/Oliver, Pamela 1984: Collective Action Theory and Social Movements Research, in: Re6 7 8 9 vgl. den Aufsatz von Greven, Michael Th. 1988: Zur Kritik der Bewegungswissenschaft, im Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 4/88, 51-60, und die sich dort abspielende Debatte; siehe auch Roth, Roland/Rucht, Dieter (Hrsg.) 1987, 2 IINGSJOURNAL N>R 2 search in Social Movements, Conflict and Change, Vol. 7, 1-27; Ferree, Myra Marx/Miller, Frederick D . 1985: Mobilization and Meaning: Toward an Integration of Social Psychological and Resource Perspectives on Social Movements, in: Sociology Inquiry, V o l . 55, No. 1, 38-61; Kitschelt, Herbert 1991: Resource Mobilization Theory: A Critique, in: Rucht, Dieter (Hrsg.): Research on Social M o vements. The State of the Art in Western Europe and the U S A . Campus/Westview Press 323-347 vgl. Diani, Mario 1992: The concept of social movement, in: The Sociological Review, Vol. 40, No. 1, 1-25: 14 vgl. Zygmunt, Joseph F. 1986: Collective Behavior as a Phase of Societal Life: Blumer's emergent Views and their Implications, in: Research in Social Movements, Conflicts and Change, Vol. 9, 2546; Oliver, Pamela E. 1989: Bringing the Crowd back in: The Nonorganizational Elements of Social Movements, in: Research in Social Movements, Conflict and Change, V o l . 11, 1-30 vgl. Turner 1981; Klandermanns/Tarrow 1988; Melucci 1988: Getting Involved: Identity and Mobilization in Social Movements, in: Klandermans, Bert (Ed.): International Social Movement Research, V o l . 1, 329-348 vgl. Snow, David A./Rochford, E . Burke Jr./ Worden, Steven K./Benford, Robert D. 1986: Frame Alignment Processes, Micromobilization and Movement Participation, in: A S R , V o l . 51, 464-481; Gamson, William A . 1988: Political Discourse and Collective Action, in: Klandermans, Bert (Ed.): International Social Movement Research, V o l . 1, 219-244 10 11 12 13 " v g l . Raschke, Joachim 1985: Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß. Campus; Neidhardt, Friedhelm/Rucht, Dieter 1991: The Analysis of Social Movements: The State of the Art and Some Perspectives for Further Research, in: Rucht, Dieter (Hrsg.): Research on Social Movements. The State of the Art in Western Europe and the U S A . Campus/Westview Press 421-464; dies. 1993: A u f dem Weg in die 'Bewegungsgesellschaft'? Über die Stabilisierbarkeit sozialer Bewegungen, in: Soziale Welt, Jg. 44, Heft 3, 305-326 15 16 Vi '14 vgl. McAdam/McCarthy/Zald 1988: 698 vgl. Schülein, Johann August 1983: Mikrosozio- logie. Ein interaktionsanalytischer Zugang. Westdeutscher Verlag 14 vgl. Coleman, James S. 1991: Grundlagen der Sozialtheorie. Band 1: Handlungen undHandlungssysteme. Oldenbourg 2 vgl. Nagel, Ernest 1984: Über die Aussage: »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«, in: Topitsch, Ernst (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften. Athenäum 241-251 vgl. McAdam/McCarthy/Zald 1988: 709, 711, 729 vgl. Kriesi, Hanspeter 1988a: The Interdependence of Structure and Action: Some Reflections on the State of the Art, in: Klandermans, Bert (Ed.): International Social Movement Research, Vol. 1, 349-368: 354 vgl. Neidhardt/Rucht 1991: 448 vgl. Gerhards, Jürgen/Rucht, Dieter 1992: Mesomobilization: Organizing and Framing in Two Protest Campaigns in West Germany, in: AJS, V o l . 98, No. 3, 555-595 vgl. Habermas, Jürgen 1981: Neue soziale Bewegungen. Ein Exkurs, in: Ästhetik und Kommunikation, Heft 45/46, 158-161; Brand, Karl-Werner/ Büsser, Detlef/Rucht, Dieter 1986: Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik. Campus; Berking, Helmuth 1990: Die neuen Protestbewegungen als zivilisatorische Instanz im Modernisierungsprozeß?, in: Dreitzel, Hans Peter/Stenger, Horst (Hrsg.): Ungewollte Selbstzerstörung. Reflexionen überden Umgang mit katastrophalen Entwicklungen. Campus 47-61 17 18 19 20 21 2 2 2 3 vgl. Tarrow, Signey 1991: Kollektives Handeln und politische Gelegenheitsstruktur in Mobilisierungswellen: Theoretische Perspektiven, in: KZfSS, 43. Jg., Heft 4, 647-670; Kriesi 1991: The Political Opportunity Structure of New Social Movements: Its Impact on Their Mobilization. Discussion Paper FS III 91-103. W Z B vgl. Zurcher/Snow 1981, Raschke 1985; Meyer, Thomas/Müller, Michael 1989: Individualismus und neue soziale Bewegungen, in: Leviathan, Jg. 17, Heft 3, 357-369 vgl. Klandermans 1984: Mobilization and Participation: Social-Psychological Expansions of Resource Mobilization Theory, in: A S R , V o l . 49,58324 25 2 6 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 600; Snow/Rochford/Worden/Bendford 1986 vgl. Touraine, Alain 1981: The Voice and the Eye. A n analysis of social movements. Cambridge University Press; ders. 1988: Return of the Actor. Social Theory in Postindustrial Society. University of Minnesota Press Die Mesoebene schließt die Sozialstruktur sozialer Bewegungen, d.h. die neue Mittelschicht, mit ein. vgl. Raschke 1985: 124ff vgl. Hirsch, Joachim/Roth, Roland 1980: ' M o dell Deutschland' und neue soziale Bewegungen, in: Prokla, Heft 40,14-39; Habermas 1981; Brand/ Büsser/Rucht 1986; Melucci 1985; Berking 1990 vgl. Neidhardt 1985: Einige Ideen zu einer allgemeinen Theorie sozialer Bewegungen, in: Stefan Hradil (Hrsg.): Sozialstruktur im Umbruch. Karl Martin Bolte zum 60. Geburtstag. Opladen, 193204: 198; siehe auch Etzioni, Amitai 1975: Die aktive Gesellschaft. Eine Theorie gesellschaftlicher und politischer Prozesse. Westdeutscher Verlag: „Zu jeder Zeit gibt es viel mehr Ideen und viel mehr 'Zellen' als Mobilisierungskampagnen mit gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen." (422) vgl. Neidhardt/Rucht 1993: 307 vgl. Killian 1973; Zurcher/Snow 1981; Koslowski, Peter 1987: Die postmoderne Kultur. Gesellschaftlich-kulturelle Konsequenzen dertechnischen Entwicklung. Beck vgl. Japp, Klaus P. 1984: Selbsterzeugung oder Fremdverschulden. Thesen zum Rationalismus in den Theorien sozialer Bewegungen, in: Soziale Welt, Heft 35, 313-329: 316 vgl. Klandermans 1984; Snow/Rochford/Worden/Bendford 1986 vgl. Killian 1973:20; siehe auch Neidhardt 1985: „Soziale Bewegungsmöglichkeiten entstehen erst dann, wenn diese Erfahrungen und Gefühle über Gruppen- und Netzwerkzusammenhänge aggregiert, kollektiviert und dann auch sozial bearbeitet werden können." (198) Ich ziehe es vor, hier von einem handlungstheoretischen und nicht interaktionistischen Ansatz zu 27 2 8 2 9 30 31 3 2 3 3 34 3 5 3 6 3 7 2/94 sprechen, um vor allem auch den Ressourcenmobilisierungsansatz mit einzubeziehen, dem letztlich ein Rational Choice-Konzept zugrunde liegt, was ihn der handlungstheoretischen Denkweise zuweist. vgl. Gerhards, Jürgen 1993: Neue Konfliktlinien in der Mobilisierung öffentlicher Meinung. Eine Fallstudie. Westdeutscher Verlag 39 vgl. Gurney, Joan Neff/Tierney, Kathleen J. 1982: Relative Deprivation and Social Movements: A Critical Look at Twenty Years of Theory and Research, in: The Sociological Quarterly 23, 3347: 44 " v g l . Japp 1984: 314 vgl. Neidhardt 1985: 198 Zusammenfassend Hellmann, Kai-Uwe 1993: Soziale Bewegungen unter dem 'Systemskop'. Erträge und Probleme systemtheoretischer Bewegungsforschung, in: Forschungsjournal NSB, 3-4/ 93, 139-158 vgl. Raschke 1985: 413 vgl. Marwell/Oliver 1984: 4 vgl. Neidhardt/Rucht 1991: 436 * vgl. Holthusen, Bemd/Jänecke, Michael 1991: Thesen zur neueren Entwicklung des Rechtsextremismus in beiden Teilen Berlins und in den fünf neuen Ländern. Diskussionspapier 1-12; Butterwegge, Christoph 1993: Rechtsextremismus als neue soziale Bewegung?, in: Forschungsjournal N S B 2/93, 17-24; Jaschke, Hans-Gerd 1993: Formiert sich eine neue soziale Bewegung von rechts? Über die Ethnisierung sozialer und politischer Konflikte, in: Mitteilungen des Instituts für Sozialforschung, Heft 2, 28-44; Otto, Hans-Uwe/Merten, Roland (Hrsg.) 1993: Rechtsradikale Gewalt imvereinigtenDeutschland.Jugendimgesellschaftlichen Umbruch. Bundeszentrale für politische B i l dung; Wank, Ulrich (Hrsg.) 1993: Der neue alte Rechsradikalismus. Mit Beiträgen von Longerich, Peter/Piper, Ernst/Schily, Otto/Schmid, Thomas/ Schoeps, Julius H./Tibi, Bassam. Piper vgl. F N 22 38 41 4 2 4 3 44 45 4 7 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 Karl-Dieter Opp Der 'Rational Choice'-Ansatz und die Soziologie sozialer Bewegungen D i e mittlerweile kaum mehr zu überblickende Literatur über soziale Bewegungen und politischen Protest ist, vor allem im deutschen Sprachbereich, ü b e r w i e g e n d nicht theoretisch orientiert. Dies bedeutet zum einen, daß erklärende Fragen, z . B . nach den Ursachen oder Wirkungen bestimmter Protestformen, nicht gestellt werden. So findet man eine Vielzahl beschreibender Studien, in denen 'Bewegungsmilieus' oder der Prozeß der Entstehung konkreter Bewegungen, Protestgruppen oder die Entwicklung von Protest in Gesellschaften im Zeitablauf dargestellt werden. 'Theorielosigkeit' bedeutet zum zweiten, d a ß dann, wenn erklärt wird, dies ad hoc geschieht. D.h. einzelne Faktoren werden herausgegriffen und als Ursachen deklariert, ohne daß die - meist implizit - angewendeten theoretischen Annahmen deutlich werden. Vorliegende theoretische A n s ä t z e werden also nicht explizit zur Beantwortung der gestellten Fragen angewendet. Was sind die Ursachen der Theorielosigkeit der Soziologie sozialer Bewegungen? Viele Sozialwissenschaftler, die sich mit sozialen Bewegungen befassen, sind entweder nicht an e r k l ä r e n d e n Fragen interessiert oder haben nicht gelernt, systematisch Theorien zur Beantwortung theoretischer Fragen anzuwenden. Es besteht auch kein Anreiz, solche Kenntnis- se zu erwerben, da ja die meisten Kollegen nicht theorieorientiert arbeiten. E i n anderer Grund f ü r die verbreitete Theorielosigkeit ist vermutlich, daß viele Forscher meinen, daß die vorliegenden Theorien nichts oder nur wenig zur Beantwortung erklärender Fragen beitragen. Wenn diese M e i n u n g vorherrscht, dann wäre zu erwarten, daß die M ä n g e l vorliegender Theorien im einzelnen herausgearbeitet werden, und daß versucht wird, die Theorien zu verbessern. Wie schlecht oder gut sind die vorliegenden theoretischen Ansätze zur Beantwortung von erklärenden Fragen, die im Zusammenhang mit sozialen Bewegungen stehen? In diesem A u f satz steht der 'Rational Choice'-Ansatz ( R C A ) im Mittelpunkt. Zunächst wird dieser Ansatz dargestellt. Sodann wird skizziert, inwieweit dieser Ansatz im Problembereich 'Soziale Bewegungen' bereits angewendet wurde und welche Fragen mit diesem Ansatz behandelt werden können. Abschließend wird der R C A kurz mit anderen theoretischen Ansätzen verglichen. 1. Der'Rational C h o i c e ' - A n s a t z Im folgenden soll zunächst kurz das zentrale methodologische Postulat des R C A dargestellt werden. Sodann werden die Kern- und Z u - 12 FORSCHUNGSJOURNAL N S B satzannahmen der Theorie rationalen Handelns behandelt, die dem R C A zugrundeliegen. Der restliche Teil dieses Kapitels befaßt sich mit einer Reihe von Problemen des Ansatzes. 1.1 D a s Postulat des methodologis c h e n Individualismus Der R C A besteht zum einen aus einem methodologischen Postulat, dem Postulat des methodologischen Individualismus: Soziale Phänomene sollen erklärt werden, indem eine Theorie über das Handeln individueller A k teure i m sozialen Kontext angewendet wird. Wenn also z . B . die Entstehung sozialer Bewegungen erklärt werden soll, dann w ü r d e ein Vertreter des R C A die Entscheidungen der individuellen Akteure einbeziehen und zeigen, wie das zu erklärende P h ä n o m e n aus dem Z u sammenspiel der individuellen Entscheidungen resultiert. 1 1.2 Die Kernannahmen der Theorie rationalen Handelns W i l l man das genannte Postulat realisieren, benötigt man eine Theorie individuellen Handelns. G e g e n w ä r t i g wird im allgemeinen die Theorie rationalen Handelns verwendet. Während das Postulat des methodologischen Individualismus weitgehend von Vertretern des genannten Ansatzes akzeptiert wird, gibt es unterschiedliche S t r ö m u n g e n hinsichtlich der Art der Theorie rationalen Handelns, die die einzelnen Vertreter bevorzugen. D i e folgenden drei Kernannahmen dürften aber von allen Vertretern dieses Ansatzes akzeptiert werden. Die erste Annahme - ich nenne sie die Motivationshypothese - behauptet, daß menschliches Handeln u.a. durch Präferenzen bedingt wird. Diese Annahme steht im Gegensatz zu kollektivistischen Ansätzen wie der Systemtheorie, dem Funktionalismus oder Marxismus, die individuelle W ü n s c h e und Ziele bei der Erklä2 2/94 rung gesellschaftlicher Prozesse weitgehend vernachlässigen. Die zweite Kernannahme - die Hypothese der Handlungsbeschränkungen - geht davon aus, daß menschliches Handeln u.a. durch E i n schränkungen oder Möglichkeiten bedingt ist. Damit sind Ereignisse gemeint, die die menschliche Zielrealisierung behindern oder fördern. Z u den H a n d l u n g s b e s c h r ä n k u n g e n gehören z . B . das v e r f ü g b a r e Einkommen, die Preise am Markt, aber auch Rechte, die durchgesetzt werden. Handlungsbeschränkungen oder Handlungsmöglichkeiten werden oft auch als Kosten oder Nutzen oder auch als Anreize bezeichnet. Die Hypothese der H a n d l u n g s b e s c h r ä n k u n g e n ist unvereinbar mit der in der Soziologie üblichen Betonung von Werten oder Normen zur Erklärung sozialen Handelns. E i n Vertreter des R C A wird sich z . B . bei einer Erklärung der Veränderung des Freizeit Verhaltens nicht mit dem Hinweis auf veränderte Wertvorstellungen zufriedengeben. E r wird im einzelnen versuchen herauszufinden, welche Handlungsmöglichkeiten sich verändert haben. Vor allem die dritte Kernannahme stößt bei vielen Sozialwissenschaftlern auf Kritik: die Annahme der Nutzenmaximierung. Es wird davon ausgegangen, daß Akteure versuchen, ihre eigenen Ziele in höchstmöglichem M a ß e zu erreichen - unter Berücksichtigung der Handlungsbeschränkungen. Ohne diese Annahme ist nicht verständlich, warum Personen sich f ü r eine bestimmte Handlung oder Handlungssequenzen entscheiden: Sie tun das, was aus ihrer Sicht am besten erscheint. Bevor man die Annahme der Nutzenmaximierung kritisiert, sollte man z u ermitteln versuchen, wie andere theoretische A n s ä t z e menschliches Handeln erklären. Unsere These ist, daß FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 ein ähnliches Prinzip in allen Ansätzen, die menschliches Handeln erklären, angewendet wird - wobei die Anwendung dieses Prinzips meist stillschweigend erfolgt. W i e entscheidet z . B . der M e n s c h der interpretativ-hermeneutischen Soziologie? Wenn er die Situation im Lichte seines Alltagswissens interpretiert hat: ist es ihm dann völlig gleichgültig, ob eine Handlung seine eigene Wohlfahrt erhöht oder nicht? 1.3 Z u s a t z a n n a h m e n Vermutlich w ü r d e jeder Vertreter des R C A die genannten Kernannahmen akzeptieren. Unterschiede bestehen allerdings darin, welche Zusatzannahmen getroffen werden. Weiter werden die genannten Kernannahmen unterschiedlich interpretiert. Ich werde im folgende einige meines Erachtens wichtige strittige Zusatzannahmen darstellen und dabei meine eigene Position deutlich machen. - 'Weiche' vs. 'harte'Anreize. Wir haben die Motivationshypothese so formuliert, daß jegliche A r t von Motivation f ü r die Erklärung menschlichen Handelns prinzipiell in Betracht gezogen werden kann. Für Soziologen ist es eine Selbstverständlichkeit, daß die Motive der Menschen äußerst unterschiedlich sind und sich im Zeitablauf wandeln. Im M o d e l l der neoklassischen Ö k o n o m i e w i r d dieser Vielfalt menschlicher M o t i v e nicht Rechnung getragen. So w i r d durchweg davon ausgegangen, daß Menschen egoistisch sind. F ü r viele Verhaltensweisen, z . B . im Rahmen von Verwandtschaftsbeziehungen, trifft diese Annahme jedoch nicht zu. Menschen sind vielmehr daran interessiert, auch das Wohlergehen anderer, z.B. der eigenen Kinder, zu fördern. Eine egoistische Motivation m u ß streng von der Annahme der Nutzenmaximierung unterschieden werden. Letztere besagt, daß M e n - 13 schen das tun, was sie selbst in höchstem M a ß e zufriedenstellt. Dies ist oft auch dann der F a l l , wenn man die Wohlfahrt anderer fördert. Obwohl z . B . ein M ö n c h sich vor allem um das Wohlergehen anderer b e m ü h t , maximiert er damit seinen eigenen Nutzen in dem Sinne, daß es ihm Glück oder Befriedigung verschafft, anderen zu helfen - wenn man einmal davon absieht, daß er vielleicht auf Belohnungen im Jenseits hofft. Im Englischen w i r d der Unterschied zwischen Egoismus und dem Ziel, den eigenen Nutzen z u maximieren, treffend mit den Wörtern 'selfishness' und 'seif interest' bezeichnet. Weiter wird in der neoklassischen Ö k o n o m i e oft nicht berücksichtigt, d a ß M e n schen das Z i e l haben, nach bestimmten Normen zu handeln oder Erwartungen von B e zugspersonen zu erfüllen. Es erfüllt einen M e n schen mit Befriedigung, wenn er z . B . etwas getan hat, das er moralisch f ü r geboten hielt. Ein schlechtes Gewissen stellt sich ein, wenn man bestimmte Normen gebrochen hat. Weiter hat man ein gutes G e f ü h l , wenn man so gehandelt hat, daß Bezugspersonen das Verhalten billigen. Im Alltagsbereich ist man daran interessiert, negative Reaktionen der sozialen Umwelt oder 'wichtiger' Personen zu vermeiden, und schätzt Zuwendung. Wenn man die A r t der Präferenzen, die bei der Erklärung menschlichen Handelns berücksichtigt werden dürfen, einschränkt, dann schränkt man gleichzeitig die möglichen Restriktionen bzw. Anreize ein. Restriktionen bzw. Anreize sind ja definitionsgemäß Ereignisse, die die Bedürfnisbefriedigung ermöglichen oder behindern. Schließt man z . B . eine P r ä f e r e n z für soziale Zuwendung aus, dann sind positive soziale Sanktionen auch keine Anreize. Entsprechend werden in der neoklassischen Ö k o n o mie solche weichen Anreize nicht zugelassen. M a n konzentriert sich auf harte Anreize, die leicht beobachtbar sind. Hierzu gehören ins- 14 besondere materielle bzw. finanzielle Nutzen und Kosten, aber z . B . auch staatliche Strafen. Welche Probleme treten auf, wenn man die Art der zulässigen Restriktionen und Präferenzen beschränkt? Angenommen, bestimmte A r ten menschlichen Handelns werden durch M o tive verursacht, die f ü r die Erklärung nicht berücksichtigt werden dürfen. Folgende M ö g lichkeiten bestehen: (1) M a n behauptet, d a ß nur die im Erklärungsmodell zulässigen M o t i v e bedeutsam waren. So könnte man annehmen, daß Eltern ihre K i n der nicht aus altruistischen Motiven unterstützen, sondern nur deshalb, um später von ihren Kindern ebenfalls unterstützt zu werden. M a n 'deutet' also Situationen so, daß man den A k teuren die zulässigen Präferenzen unterstellt. Die Konsequenz ist eine falsche Erklärung. (2) M a n setzt fest, daß das Handlungsmodell nur in solchen Situationen angewendet werden darf, in denen die zulässigen M o t i v e und H a n d l u n g s b e s c h r ä n k u n g e n vorliegen. G e m ä ß dieser Strategie wird man etwa Familienbeziehungen nicht zum Anwendungsbereich der Theorie zählen. M a n beschränkt sich z . B . auf Situationen, in denen materielle Güter bzw. Belohnungen die herrschenden Anreize sind. Diese Strategie kommt einer A u s h ö h l u n g des Informationsgehalts des Modells gleich. Das M o d e l l gleicht einem Schweizer Käse: D i e L ö cher sind die sozialen Situationen, in denen es nicht angewendet werden kann. Grundsätzlich ist es keine sinnvolle Strategie, eine Theorie nur in solchen Situationen anzuwenden, in denen sie brauchbar erscheint. Es ist vorzuziehen zu versuchen, die Theorie so zu modifizieren, d a ß sie generell soziales Handeln erklären kann. Warum werden in der neoklassischen Ö k o n o mie weiche Anreize ausgeschlossen? E i n im- FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 mer wieder angeführtes Argument ist, daß das M o d e l l dann, wenn man weiche Anreize zuläßt, tautologisch wird. Damit ist gemeint, daß es möglich wird, ad hoc, d.h. beliebig, irgendwelche Präferenzen als Ursachen anzuführen. So könnte man die Mitarbeit in einer sozialen Bewegung dadurch ' e r k l ä r e n ' , daß man behauptet, die betreffenden Personen strebten eine politische Karriere an, ohne d a ß man f ü r diese Behauptung irgendwelche Belege anführt. Solche ad-hoc-Erklärungen, so wird behauptet, seien deshalb möglich, w e i l weiche Anreize nicht meßbar seien. A u c h zirkulären Erklärungen wäre Tür und Tor geöffnet. So könnte man ein Ansteigen der Spenden f ü r Länder der Dritten Welt auf eine Zunahme der altruistischen Motivation zurückführen. A u f die Frage, woher man wisse, d a ß die altruistische M o tivation angestiegen ist, könnte die Antwort lauten: Sehen Sie denn nicht, daß das Spendenaufkommen gestiegen ist? Nehmen wir zunächst einmal an, weiche Anreize seien nicht direkt meßbar. Dies ist nun keineswegs ein Argument dafür, weiche A n r e i z e aus einer Theorie auszuschließen. In den Naturwissenschaften wurden oft Theorien formuliert, die erst später geprüft werden konnten, weil zunächst die Instrumente, die z u ihrer P r ü f u n g notwendig sind, noch nicht entwickelt waren. Es w ä r e sicherlich keinem Naturwissenschaftler eingefallen, eine Theorie deshalb als unbrauchbar, tautologisch oder ad hoc zu bezeichnen, w e i l sie noch nicht n a c h p r ü f b a r ist. Wenn entsprechend Sozialwissenschaftler weiche Anreize - noch - nicht messen können, dann gibt es keinen Grund, solche Anreize von theoretischen Analysen auszuschließen. Es ist vorzuziehen, entsprechende M o d e l l e zu formulieren und zu versuchen, Instrumente zu entwickeln, mit denen die Modelle geprüft werden können. D a ß in dieser Situation die Möglichkeit besteht, ad hoc weiche Anreize als Ursachen zu behaupten oder zirkuläre Erklärungen vorzuschlagen, ist unzweifelhaft. S o l - FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 che m ö g l i c h e n Praktiken werden jedoch normalerweise durch allgemein akzeptierte Regeln wissenschaftlichen Arbeitens ausgeschlossen. So besteht eine Regel wissenschaftlichen Arbeitens darin, empirische Behauptungen durch empirische Untersuchungen zu überprüfen. Wenn also die b l o ß e Möglichkeit besteht, weiche Anreize ad hoc einzuführen, dann w i derspricht dies dem allgemein akzeptierten K a non wissenschaftlichen Arbeitens. Entsprechend sollten solche Praktiken negativ sanktioniert werden. Es ist aber wenig sinnvoll, daß man wegen möglicher ad-hoc-Behauptungen oder zirkulärer Erklärungen relevante A n reize aus der Betrachtung ausschließt. - Objektive vs. subjektive Handlungsbeschränkungen. In dem M o d e l l der neoklassischen Ö k o n o m i e wird angenommen, daß objektive d.h. aus der Sicht eines Beobachters vorliegende Restriktionen - das Handeln der M e n schen beeinflussen. So wird in der ökonomischen Kriminalitätstheorie das Bestrafungsrisiko durch die Rate der aufgeklärten Delikte gemessen. Selbstverständlich wissen Ökonomen, d a ß f ü r die Begehung eines Deliktes u.a. die wahrgenommene Wahrscheinlichkeit einer Strafe von Bedeutung ist. Es wird nun angenommen, daß sich langfristig objektive und subjektive Wahrscheinlichkeit angleichen. Diese Annahme ist aus mehreren G r ü n d e n problematisch. (1) Es ist oft unklar, wie man die objektive Wahrscheinlichkeit von Handlungsbeschränkungen ermittelt. Wie ermittelt man z . B . die objektive Wahrscheinlichkeit eines 'harten' Polizeieinsatzes bei einer Demonstration? (2) Es ist anzunehmen, daß die genannte empirische Annahme - objektive und subjektive Wahrscheinlichkeiten gleichen sich an oft nicht zutrifft. Wenn z . B . ein Straftäter die Bestrafungswahrscheinlichkeit überschätzt und deshalb keine Delikte begeht, werden sich seine subjektiven Bestrafungserwartungen kaum ändern. D i e Annahme, daß die objektiven und nicht die subjektiven H a n d l u n g s b e s c h r ä n k u n gen von Bedeutung sind, wird oft damit gerechtfertigt, daß subjektive Sachverhalte nicht oder nur schwer meßbar sind. Wie w i r später sehen werden, ist diese These unzutreffend. Aber selbst wenn sie zutrifft: Probleme der Messung einer Variablen sind, wie gesagt, kein Argument dafür, eine Variable aus der Theorie auszuschließen. Entsprechend erscheint es sinnvoll, subjektive H a n d l u n g s b e s c h r ä n k u n g e n als Variablen der Theorie rationalen Handelns einzubeziehen. Zusätzlich lassen sich dann H y pothesen darüber formulieren, unter welchen Bedingungen objektive und subjektive Wahrnehmungen übereinstimmen oder, allgemeiner, unter welchen Bedingungen sich subjektive Überzeugungen bilden. - Vollständige Information vs. subjektiver Wissensbestand. Wenn man von wahrgenommenen Handlungsbeschränkungen ausgeht, dann folgt daraus, daß die kognitiven Ü b e r z e u g u n gen der Menschen nicht die Realität exakt w i derspiegeln müssen. Genau diese Annahme erscheint plausibel im Lichte neuerer psychologischer Forschungen, nach denen die kognitiven Fähigkeiten von Menschen weitaus geringer sind, als man früher annahm. Entsprechend erscheint die Annahme der neoklassischen Ökonomie, daß Menschen vollständig informiert sind, wenig sinnvoll zu sein. B e i Erklärungen menschlichen Handelns sind die tatsächlich existierenden W i s s e n s b e s t ä n d e von Bedeutung. - Kalkulation vs. 'Als-ob-Theorie'. O f t wird die Theorie rationalen Handelns kritisiert, weil sie angeblich ein 'rationalistisches Menschenb i l d ' voraussetzt: Menschen kalkulieren bewußt die Nutzen und Kosten von Handlungen. Diese Annahme trifft f ü r viele Entscheidungen nicht zu, z . B . bei Gewohnheitshandeln, und sollte fallengelassen werden. Es reicht aus anzunehmen, daß Personen durch Anreize ge- FORSCHUNGSJOURNAL N S B steuert werden, d.h. d a ß sie handeln, 'als ob' sie kalkulierten. M i t dieser Annahme handelt man sich zwar wieder Schwierigkeiten der Messung von Restriktionen und Präferenzen ein, diese Schwierigkeiten erscheinen aber lösbar (vgl. Opp 1990). - Meßbarkeit vs. Nichtmeßbarkeit von subjektiven Sachverhalten. Eine Reihe von Zusatzannahmen des neoklassischen 'homo oeconomicus' wird, wie w i r sahen, damit begründet, daß subjektive P h ä n o m e n e nicht zuverlässig m e ß b a r sind. K e i n Kenner der Methoden der empirischen Sozialforschung wird bestreiten, daß die Messung subjektiver P h ä n o m e n e mit Problemen behaftet ist. Diese Probleme sind jedoch je nach Situation unterschiedlich. Weiter gibt es eine Vielzahl von Strategien, M e ß fehler z u vermeiden oder in der statistischen Analyse zu berücksichtigen (etwa durch die Berechnung von Strukturgleichungsmodellen). Entsprechend ist eine generelle Behauptung, subjektive P h ä n o m e n e seien nicht zuverlässig meßbar, unhaltbar. - Quantitative Forschung vs. Methodenvielfalt. Kritiker des R C A e s nehmen oft fälschlicherweise an, daß die Theorie rationalen Handelns eine unauflösliche Verbindung mit der quantitativen Forschung eingegangen ist. Die Forschungen der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, w i e sie etwa von Douglas North betrieben werden, benutzen historische Quellen zur Ü b e r p r ü f u n g ihrer Erklärungen. Entsprechend sind auch Forschungen, die sich mit sozialen Bewegungen befassen und einen R C A zugrundelegen, keineswegs nur unter Verwendung quantitativer Methoden möglich. - Erklärung von Handeln vs. Erklärung von Präferenzen und Handlungsrestriktionen. Das M o d e l l rationalen Handelns kann nicht die Ä n d e r u n g von Präferenzen erklären. Hierzu müssen andere sozialpsychologische Theorien 2/94 herangezogen werden, etwas das Ajzen-Fishbein-Modell (vgl. A j z e n 1988). Nebenbei sei hier angemerkt, daß in der Soziologie auch keine Theorie der Präferenzen existiert. Es ist jedoch möglich, Handlungsrestriktionen zu erklären. Dies geschieht z . B . , wenn man die Entstehung von Rechten, Institutionen oder Organisationen erklärt. 3 Resümee: Plädoyer ßr eine 'weite' Theorie rationalen Handelns. Unsere bisherigen Überlegungen sprechen dafür, die genannten einschränkenden Annahmen der Theorie rationalen Handelns fallenzulassen. E i n solches 'weites' M o d e l l geht von der 'subjektiven Rationalität' individueller Akteure aus. Es wird angenommen, daß Personen so handeln, wie dies aus ihrer eigenen Sicht - d.h. angesichts ihrer Ziele und wahrgenommenen Handlungsbeschränkungen - sinnvoll erscheint. E i n solcher Ansatz wird unerläßlich, wenn man den Anwendungsbereich der Theorie nicht auf bestimmte Arten von Situationen beschränken w i l l . Es mag plausibel sein, d a ß die genannten einschränkenden Annahmen oft zutreffen, wenn es sich um Situationen handelt, in denen die Entscheidung ßr eine von mehreren Handlungen mit hohen Kosten verbunden ist. Dies gilt etwa f ü r die G r ü n d u n g eines Unternehmens, für den K a u f eines Hauses oder f ü r eine Heirat (insbesondere dann, wenn die Kosten der Scheidung hoch sind). Proteste sind jedoch oft sog. low-cost-Situationen. Wenn man z . B . an einer Demonstration teilnimmt, ist dies normalerweise mit niedrigen Kosten verbunden. Solche Handlungen können nicht mit einem engen neoklassischen 'homo oeconomicus' erklärt werden. A u c h die Nachteile eines solchen Ansatzes dürften in den vorangegangenen Überlegungen deutlich geworden sein: Der Forscher m u ß sich in weit stärkerem M a ß e als ein Vertreter des neoklassischen Modells mit der Messung von wahrgenommenen Handlungsbeschränkungen und Präferenzen befas- FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 sen. Weiterhin werden Erklärungen komplizierter, da stark vereinfachende Annahmen fallengelassen werden. D i e Vorteile eines ' w e i ten' R C A sind jedoch ebenfalls klar: Es entstehen 'realistische' Modelle, die empirischen Ü b e r p r ü f u n g e n zugänglich sind und wirklich über reale Sachverhalte informieren. 2. Was leistet der 'Rational Choice'A n s a t z für die Soziologie sozialer Bewegungen? Im folgenden wird zunächst generell gezeigt, wie der R C A zur Beantwortung der Fragen, die in der Soziologie sozialer Bewegungen gestellt werden, angewendet werden kann. Sodann w i r d ein kurzer Überblick über bisherige Forschungen über soziale Bewegungen gegeben, in denen der R C A angewendet wurde. 2.1 Die Anwendbarkeit der Theorie rationalen Handelns zur Erklärung politischen Protests Die Theorie rationalen Handelns weist eine Reihe von Eigenschaften auf, die sie für die Erklärung politischen Protests besonders geeignet erscheinen läßt. (1) D i e Theorie rationalen Handelns ist eine ü b e r p r ü f b a r e Theorie mit hohem Informationsgehalt. Dies bedeutet, daß die genannte Theorie beliebige Arten von Protesthandlungen erklären kann. D i e A r t politischer Partizipation oder auch Nichtteilnahme hängt von der A r t und dem A u s m a ß der Handlungsrestriktionen oder Präferenzen ab. D i e Aufgabe des R C A besteht darin, die A r t der Restriktionen oder Präferenzen zu beschreiben, die das zu erklärende Verhalten beeinflussen. Das Ergebnis einer solchen Erklärung heißt ' M o d e l l ' . In einem solchen M o d e l l ist die Theorie rationalen Handelns nur eine in einer Reihe von 'Annahmen', die f ü r die Erklärung eines Verhaltens oder einer Verhaltenssequenz von Bedeutung sind. Wenn wir sagen, die Theorie rationalen Handelns hat einen hohen Informationsgehalt, dann besagt dies weiter, daß die Theorie in allen sozialen Situationen anwendbar ist, also nicht nur in Demokratien westlichen Typs. Sie ist sowohl anwendbar zur Erklärung der Proteste in der D D R im Jahre 1989, aber auch zur Erklärung von Protesten gegen Atomkraftwerke in westlichen Gesellschaften. (2) Der R C A ist zur Erklärung von M a k r o und Mikro-Phänomenen verwendbar und verbindet die M i k r o - und Makro-Ebene. D i e f o l gende Abbildung 1 verdeutlicht diese These. D i e genannte Handlungstheorie erklärt das Handeln individueller Akteure. D i e erklärenden Variablen sind dabei, wie wir sahen, Handlungsmotivationen und wahrgenommene Handlungsrestriktionen. Die Handlungsrestriktionen eines Akteurs werden insbesondere durch drei Arten von Faktoren beeinflußt werden: 4 - Politische Entscheidungen. Hierzu gehören insbesondere Entscheidungen von Regierungen eines Landes oder anderer Länder. So erhöhte sich der wahrgenommene E i n f l u ß der D D R - B e v ö l k e r u n g , durch politisches Engagement bestimmte Ziele erreichen z u können, nachdem Polen und Ungarn Liberalisierungsmaßnahmen einführten (vgl. im einzelnen Opp, Voß und Gern 1993). Der 'wahrgenommene E i n f l u ß ' gehört zu den wahrgenommenen Handlungsrestriktionen; -Interaktionsstrukturen. Eine zentrale Annahme in vielen Erklärungen des R C A ist, d a ß die Kosten oder der Nutzen von Handlungen bestimmter Akteure von den Handlungen anderer Akteure abhängen, d.h. von bestehenden Interaktionsstrukturen bzw. sozialen Netzwerken. F ü r den R C A sind Interaktionsstrukturen insofern von Bedeutung, als durch Kontakte Belohnungen oder Informationen ausgetauscht 18 FORSCHUNGSJOURNAL N S B werden. Dies impliziert, daß man nicht davon ausgehen kann, daß Integration in soziale Netzwerke per se politisches Engagement erhöht wie die Perspektive der Ressourcen-Mobilisierung behauptet. Vielmehr ist von Bedeutung, inwieweit im Rahmen sozialer Netzwerke ' p r o t e s t f ö r d e r n d e A n r e i z e ' auftreten; 2/94 delns wird oft durch sog. politische Unternehmer vorgenommen. Wie das Beispiel der D D R zeigt, gibt es Anreize, die zu unorganisiertem, d.h. spontanem gemeinsamen politischen Handeln f ü h r e n (vgl. im einzelnen Opp 1993). 5 G e m ä ß Abbildung 1 sind die Beziehungen zwischen den Makro-Faktoren nicht kausal. Die - Institutionelle Regelungen. Z u den wichtig- Beziehungen können vielmehr durch Prozesse sten Handlungsrestriktionen gehören Regelun- auf der individuellen Ebene erklärt werden. gen, die von staatlichen Instanzen durchge- D.h. Beziehungen auf der Makro-Ebene gelsetzt werden. Hierzu gehört z . B . das Verbot ten nur, wenn sie in bestimmter Weise mit jeglicher kritischer politischer Betätigung in individuellen Anreizen in Beziehung stehen. linken und rechten Diktaturen bzw. die Er- So haben die politischen Liberalisierungsprolaubnis einer Vielzahl von Arten politischen zesse unter Gorbatschow, in Polen und in U n Engagements in westlichen Demokratien. garn nur deshalb in der D D R zu spontanen Protesten im Herbst 1989 geführt, weil es in der D D R umfangreiche kritische Abbildung 1: Der "Rational Choice" Ansatz und die Erklärung persönliche Netzwerke gab, und weil sozialer Bewegungen 'institutionelle Faktoren' in Form der Friedensgebete den Anreiz setzten, sich Politische EntscheiSoziale BeweMakro-Ebene: dungen/! nteraktimit anderen kritischen Personen an eigung/Gemein(Struktureller onsstrukturen/lnstisames politiAnsatz) nem bestimmten Tag zu einer bestimmtutionelle Regeln sches Handeln ten Zeit zu versammeln. Individuelle Anreize Individuelle politische Aktionen Abbildung 1 illustriert einen weiteren wichtigen Tatbestand: G e m ä ß dem R C A ist eine reine M a k r o - E r k l ä r u n g unbefriedigend. Wenn man z . B . die Politik Gorbatschows als eine Ursache f ü r die Revolution in der D D R im Jahre 1989 nennt, wird ein Vertreter des R C A fragen, inwieweit die Politik Gorbatschows die individuellen Anreize z u Protesten so verändern konnte, daß die individuellen Akteure gemeinsam politisch handelten. Entsprechend bezeichnet man den R C A auch als strukturell-individualistischen Ansatz, da hier M i k r o - und M a kroebene integriert werden. Bei diesen Faktoren handelt es sich um Makro-Faktoren, d.h. um Eigenschaften von K o l lektiven. In Abbildung 1 wird deutlich, daß die Makro-Faktoren die individuellen Anreize verändern und entsprechend indirekt die Entscheidungen der Individuen beeinflussen. A b bildung 1 zeigt weiter, daß aus den individuellen Entscheidungen das resultiert, was man als 'Soziale Bewegungen' bezeichnet. Individuelle Entscheidungen haben allerdings nur dann Unsere bisherigen A u s f ü h r u n g e n implizieren diesen 'Aggregationseffekt', wenn Anreize vor- nicht, daß reine Makro-Hypothesen immer liegen, die die Einzelentscheidungen koordi- falsch sind. So ist die Hypothese, daß die Polinieren. D i e Koordination individuellen Han- tik Gorbatschows einen Beitrag zur Revoluti- FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 on in der D D R geleistet hat, nicht falsch. Sie ist aber unvollständig: Es fehlt die Mikro-Ebene und die Verbindung der M i k r o - mit der Makro-Ebene. D i e bisherigen A u s f ü h r u n g e n beziehen sich nur auf die Erklärung von Protesten. Z u zwei anderen Fragen gibt es kaum Untersuchungen: Unter welchen Bedingungen sind Proteste erfolgreich? Inwieweit verändert der E r f o l g von Protesten das A u s m a ß dieser Proteste? Befassen w i r uns zunächst mit dem E r f o l g von Protesten, d.h. mit dem A u s m a ß , in dem die politischen Ziele der Akteure erreicht werden. Inwieweit soziale Bewegungen erfolgreich sind, hängt zum einen von den Aktionen und der Zusammensetzung der Teilnehmer der Bewegungen und deren Unterstützung ab, zum anderen aber auch von Politikern oder Beamten, die über die Realisierung der Ziele entscheiden. Diese wählen - genauso wie die Teilnehmer an sozialen Bewegungen - zwischen Handlungsalternativen aus und entscheiden sich f ü r diejenige Alternative, die aus ihrer Sicht ihren eigenen Nutzen maximiert. Diese zentrale Einsicht, die direkt aus der Theorie rationalen Handelns folgt, ist der Ausgangspunkt der Neuen Politischen Ö k o n o m i e - auch ' P u b l i c Choice'-Theorie oder ' Ö k o n o m i s c h e Theorie der Politik' genannt. Klassische Vertreter dieses Ansatzes sind Anthony Downs, James Buchanan und Gordon Tullock (vgl. einführend K i r s c h 1993). In diesem Ansatz wird insbesondere der vor allem von Politikern selbst propagierte Gemeinnutzen-Mythos durch eine realistischere Annahme ersetzt: Politiker maximieren wie jede andere Person ihren eigenen Nutzen. D a dies nur möglich ist, wenn sie an der Macht bleiben, handeln sie so, daß ihre Möglichkeiten, durch ihr A m t ihren Nutzen zu maximieren, nicht gefährdet werden. Dies erreichen sie, indem sie die Unterstützung einer hinreichenden A n z a h l von Bürgern suchen, so daß ihre Wiederwahl gesichert ist. T9j Dieser hier nur grob skizzierte Ansatz ergibt interessante Hypothesen f ü r die Soziologie sozialer Bewegungen. Zunächst einmal ist es nicht sinnvoll, lediglich nach Merkmalen von Protesten ( z . B . Legalität) zu suchen, die mehr oder weniger erfolgreich sind (vgl. Gamson 1990). Wichtig ist vielmehr das A u s m a ß , in dem eine Strategie aus der Sicht der Politiker ihre Wiederwahl gefährdet. So stört die seit etwa 30 Jahren auf die Macht abonnierte S o z i aldemokratie in Hamburg der laufende Protest der Studenten und Lehrenden der Universität gegen die laufende Reduzierung der Mittel überhaupt nicht. Vermutlich sind die Wähler an der Funktionsfähigkeit der Universität nicht interessiert. Eine weitere Folge dieser Ideen ist, daß f ü r den E r f o l g einer Bewegung nicht unbedingt die Unterstützung durch mächtige gesellschaftliche Gruppen von Bedeutung ist, wie die Perspektive der Ressourcen-Mobilisierung behauptet. Eine soziale Bewegung könnte ohne jegliche Unterstützung durch Interessengruppen (Kirche, Parteien, Verbände) die Unterstützung weiter Kreise der Bevölkerung erhalten, so daß Politiker sich gezwungen sehen, den Forderungen einer sozialen Bewegung nachzugeben. E i n Beispiel, in dem weite Teile der Bevölkerung spontan, d.h. ohne Organisation, protestierten und dabei E r f o l g hatten, ist die Revolution in der D D R im Jahre 1989. 6 Abbildung 1 vereinfacht insofern, als die Interaktionen zwischen sozialen Bewegungen und Politikern ein sozialer Prozeß sind, in dem sich die Anreize f ü r beide Seiten verändern. Angenommen, einer zunächst kleinen Protestgruppe von Studenten in Hamburg gelingt es zunehmend, Unterstützung in der Bevölkerung zu gewinnen: D i e Bevölkerung akzeptiert es in zunehmendem M a ß e , daß die Universität Hamburg erheblich besser ausgestattet werden m u ß . Dies mag dazu führen, daß Politiker G e spräche mit den Gruppen f ü h r e n . Dadurch 120 FORSCHUNGSJOURNAL N S B könnte sich die Unterstützung f ü r die Gruppen erhöhen. D i e Politiker könnten nun äußern, im nächsten Haushalt zusätzliche Mittel f ü r die Universität vorzusehen. Dadurch könnten sich die Anreize f ü r Protest erhöhen: M a n glaubt, nun durch noch stärkere Anstrengungen weit mehr erreichen zu können. Derartige Prozesse k ö n n e n durch Computersimulationen modelliert werden (vgl. M a r w e l l und Oliver 1993, Opp 1991). Dabei lassen sich Bedingungen formulieren, unter denen solche Prozesse in unterschiedlicher Weise ablaufen - abhängig z . B . v o n der Verteilung von Präferenzen in der B e v ö l k e r u n g f ü r die Ziele der Protestierenden. Solche Simulationen zeigen besonders deutlich, w i e der R C A zur Formulierung dynamischer M o d e l l e politischen Protests angewendet werden kann. Es liegen leider bisher keine empirischen Studien darüber vor, in denen versucht wird, die sich ändernden Anreize im Zeitablauf z u rekonstruieren. 2.2 Bisherige Theoriebildung und Forschung W i l l man die bisherige Anwendung des R C A zur E r k l ä r u n g politischen Protests diskutieren, dann ist zuerst zu fragen, ob man die Perspektive der Ressourcen-Mobilisierung ( P R M ) dem R C A zurechnen sollte. D i e grundlegenden A n nahmen, auf denen dieser Ansatz beruht, ist eindeutig die Theorie rationalen Handelns (siehe die Zitate in Opp 1993). Allerdings wird die P R M nicht systematisch und in klarer Weise zur Formulierung von theoretischen M o d e l len, in denen die Bedingungen f ü r den unterschiedlichen Verlauf von Protesten dargelegt werden, angewendet. D i e Forschungen von Vertretern der P R M sind normalerweise makrosoziologisch orientiert. Es fehlt also der explizite Bezug auf die individuellen Akteure. In anderen Forschungen, die explizit auf die Theorie rationalen Handelns Bezug nehmen, werden dagegen individuelle Akteure einbe- 2/94 zogen. Dabei ist die zentrale Frage, wie das sog. Trittbrettfahrer-Problem ('free rider Problem') gelöst werden kann. Damit ist folgendes gemeint. Soziale Bewegungen streben nach der Herstellung sog. Kollektivgüter. Darunter versteht man Güter, die, wenn sie einmal hergestellt sind, allen Mitgliedern eines Kollektivs zur Verfügung stehen. ' G ü t e r ' sind in ökonomischer Terminologie alle Sachverhalte, die Nutzen stiften. Beispiele f ü r Kollektivgüter sind saubere Umwelt, Frieden, aber auch Rechte. Die genannte Definition schließt nicht aus, daß ein bestimmter Sachverhalt - z . B . ein Gesetz - von einigen Mitgliedern eines K o l lektivs als ein kollektives ' G u t ' , von anderen dagegen als ein kollektives ' Ü b e l ' betrachtet wird. 7 8 E i n Problem bei der Herstellung von Kollektivgütern besteht darin, daß ein Anreiz f ü r 'strategisches Handeln' besteht: Wenn nämlich andere Personen das Gut herstellen, steht es jedem zur Verfügung, auch denen, die sich nicht an der Herstellung beteiligt haben. M a n könnte also 'strategisch' in dem Sinne handeln, daß man solange wartet, bis andere Personen das Gut hergestellt haben. E i n zweites Problem besteht insbesondere bei großen Gruppen. Der einzelne Bürger hat nur einen geringen Einfluß auf die Herstellung eines Kollektivgutes. Angenommen, 300.000 Demonstranten werden in Bonn bei einer Demonstration gegen eine EG-Richtlinie erwartet. E i n bestimmter Student könnte folgende Ü b e r l e g u n g anstellen: „ O b ich nun anwesend bin oder nicht, wird niemand bemerken. M e i n Beitrag zur Herstellung des Kollektivgutes ist also minimal. Außerdem könnte ich in der Zeit, die ich für die Demonstration aufwenden w ü r d e , andere wichtige Dinge tun, z . B . mich auf mein E x amen vorbereiten. Weiter profitiere ich ja von dem Kollektivgut auch dann, wenn ich nicht teilnehme. Es ist zwar richtig, d a ß die Demonstration nicht zustandekommt, wenn jeder so FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 denkt. Wenn aber jeder so denkt, dann kommt eine Demonstration sowieso nicht zustande. Und dann w ä r e ich blamiert, wenn ich als einziger demonstriere." Der individuelle Nutzen einer Teilnahme in einer großen Gruppe ist also gering - auf jeden F a l l geringer als die Kosten der Teilnahme. Entsprechend ist nicht damit z u rechnen, daß sich eine Person deshalb an einer gemeinsamen A k t i o n beteiligt, weil sie Interesse an der Herstellung des K o l lektivgutes hat. Wenn man sich beteiligt, dann nur deshalb, w e i l andere 'selektive' Anreize vorliegen, d.h. Nutzen oder Kosten, deren A u f treten von der Teilnahme (oder Nichtteilnahme) abhängen. So dürfte ein Anreiz f ü r die Mitgliedschaft im A D A C kaum die vom A D A C vertretene Verkehrspolitik sein. Vermutlich sind selektive Anreize wie Pannendienste, Versicherungen, eine Automobilzeitschrift u.ä. von Bedeutung. W i l l man diese Theorie auf die Entstehung politischen Protests anwenden, entstehen mehrere Fragen: (1) Trifft es zu, daß die Präferenz für ein Kollektivgut oder, anders ausgedrückt, politische Unzufriedenheit bei großen Gruppen keine Wirkung auf die Teilnahme an politischen Protesten hat? (2) Welche selektiven Anreize gibt es, die zur Teilnahme an sozialen Bewegungen führen? (3) Wie werden diese Anreize bereitgestellt, bzw. wie entstehen sie? Im folgenden sollen einige Antworten auf diese Frage angedeutet werden (vgl. ausführlicher Opp 1993). In der Theorie kollektiven Handelns wird von der Annahme ausgegangen, daß in einer großen Gruppe der tatsächliche E i n f l u ß individueller Akteure auch zutreffend wahrgenommen wird. Untersuchungen haben jedoch gezeigt, daß diese Annahme nicht zutrifft. Individuen glauben vielmehr in unterschiedlichem M a ß e , daß z . B . ihr Protest auch dann wirksam ist, wenn viele andere Personen teilnehmen. Ent- 21 sprechend ist die Unzufriedenheit keineswegs unbedeutend f ü r die Teilnahme an Protesten. Wichtig ist das A u s m a ß , in dem Individuen glauben, durch ihr Handeln den E r f o l g eines Protestes beeinflussen zu k ö n n e n . Selbst wenn die Unzufriedenheit f ü r die Entstehung politischen Protests eine R o l l e spielt, ist anzunehmen, daß im allgemeinen selektive Anreize zusätzlich bedeutsam sind. Welche Anreize könnten dies sein? Teilnehmer an Protesten erhalten keine preiswerten Versicherungen oder Pannenhilfe. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, daß 'weiche' Anreize f ü r die Teilnahme an Protesten eine wichtige Rolle spielen. Hierzu gehören moralische Anreize, d.h. das G e f ü h l moralischer Verpflichtung, sich in bestimmten Situationen engagieren z u m ü s sen. Der Slogan „Wenn Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht" drückt eine solche Norm treffend aus. Weiter sind soziale Anreize für die Teilnahme an Protesten wichtig, d.h. die Mitgliedschaft in protestfördernden Netzwerken. So zeigte sich, daß f ü r die Teilnahme an den Leipziger Montagsdemonstrationen vor allem von Bedeutung war, ob jemand kritische Freunde hatte. Schließlich wird normalerweise angenommen, daß Repression einen Abschreckungseffekt hat. Empirische U n tersuchungen haben jedoch gezeigt, daß eher ein Radikalisierungseffekt vorliegt: Je stärker die erwartete Repression ist, desto eher nimmt man an Protesten teil. Diese Beziehung tritt dann auf, wenn zunehmende Repression die positiven (selektiven) Anreize f ü r Protest erhöht (Opp, Voß und Gern 1993, Opp 1994). 3. Probleme des 'Rational C h o i c e ' Ansatzes und alternative theoretische A n s ä t z e Selbstverständlich ist der R C A - w i e jeder sozialwissenschaftliche Ansatz - umstritten. Mit dieser K r i t i k kann man sich in zweierlei Weise auseinandersetzen. M a n kann erstens 22 FORSCHUNGSJOURNAL N S B die einzelnen E i n w ä n d e diskutieren. Zweitens kann man fragen, inwieweit andere, konkurrierende theoretische Ansätze bessere Erklärungen liefern. Beide Fragen sollen im folgenden kurz diskutiert werden. 3.1 Zur Kritik d e s 'Rational C h o i c e ' Ansatzes Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, auf die K r i t i k des R C A im einzelnen einzugehen. Einige allgemeine Anmerkungen zu dieser K r i tik m ü s s e n ausreichen. E i n großer Teil der K r i tik richtet sich gegen ein enges neoklassisches M o d e l l rationalen Handelns. D a ein solches M o d e l l weder von mir noch von den meisten Soziologen vertreten wird, kann diese Kritik hier außer Betracht bleiben. Weiter beruht ein großer Teil der K r i t i k auf Mißverständnissen: E s werden Behauptungen kritisiert, die nur in der Phantasie der Kritiker des R C A vorgebracht werden. D i e wirklich ernst zu nehmende K r i t i k kommt aus den Reihen der Vertreter des R C A selbst: Es handelt sich um die sog. A n o m a l i e n (vgl. zusammenfassend Dawes 1988). Empirische Forschungen haben gezeigt, daß bestimmte Annahmen des R C A empirisch nicht haltbar sind. Viele der A n omalien sind Verletzungen von Annahmen, die wiederum nicht bei einem weiten, in diesem Aufsatz vertretenen M o d e l l entstehen. Weitere theoretische Ü b e r l e g u n g e n und empirische Untersuchungen sind erforderlich, um zu ermitteln, inwieweit das hier vertretene weite M o d e l l rationalen Handelns die in der Literatur behandelten Anomalien aufweist. Was auch immer die konkreten Probleme des R C A sein m ö g e n : Für die Beurteilung dieses Ansatzes ist von Bedeutung, ob es eine dieser Theorie eindeutig überlegene Alternative gibt. Diese Frage soll abschließend f ü r zwei besonders intensiv diskutierte A n s ä t z e behandelt werden: die P R M und der konstruktivistische Ansatz. 9 10 11 3.2 2/94 Die Perspektive der R e s s o u r c e n Mobilisierung Wir sagten, daß die Theorie rationalen Handelns der P R M zugrundeliegt. A u s der Sicht des R C A dürften folgende Annahmen der P R M problematisch sein (vgl. Opp 1993). (1) Die Theorie rationalen Handelns fungiert eher als Orientierungshypothese und wird nicht stringent zur Ableitung von Hypothesen angewendet. (2) Die P R M ist ü b e r w i e g e n d eine M a kro-Theorie. Es wird nicht gezeigt, wie bestimmte Änderungen auf der Makro-Ebene die Handlungsmöglichkeiten oder auch Präferenzen individueller Akteure und damit deren individuelles Verhalten verändern und welche Effekte diese wiederum auf der kollektiven Ebene haben. Die eigentliche Stärke des R C A , die M i k r o - und Makro-Ebene miteinander zu verbinden, wird nicht genutzt. (3) D i e Hypothesen der P R M konzentrieren sich auf westliche Industriegesellschaften. D i e grundlegende Annahme ist die eines Marktes von Ressourcen: Gruppen oder Individuen konkurrieren um eine bestimmte Menge von Ressourcen in Form von sozialer oder materieller Unterstützung. Dabei wird stillschweigend angenommen, daß die individuellen Entscheidungen durch politische Unternehmer zu gemeinsamem Handeln koordiniert werden. Andere Formen der Koordination, wie sie z . B . bei den Leipziger M o n tagsdemonstrationen, insbesondere im Herbst 1989, auftraten, können nicht erklärt werden. 3.3 Der konstruktivistische A n s a t z Die Vertreter des konstruktivistischen Ansatzes (vgl. zusammenfassend M o r r i s und M c C l u r g Mueller 1992) geben vor, eine Alternative zum R C A und zur P R M z u sein. Dabei bleibt offen, ob der konstruktivistische Ansatz ( K A ) einerseits und der R C A und die P R M andererseits miteinander verbunden werden können. U m die Thesen beider A n s ä t z e mit- FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 einander vergleichen z u können, ist zunächst zu fragen, welches genau die empirischen H y pothesen des K A sind. Hier beginnen die Schwierigkeiten eines Vergleiches der Ansätze. D i e Ä u ß e r u n g e n von Vertretern des K A sind bisher eher Programm und Orientierungshypothesen als klare, empirisch p r ü f b a r e Aussagen. So f ü h r e n M o r r i s und M c C l u r g M u e l ler (1992) aus, dem K A gehe es insbesondere um „die Entwicklung einer umfassenden Sozialpsychologie sozialer Bewegungen. Im M i t telpunkt steht die Definition des Akteurs, der soziale Kontext, innerhalb dessen sich Bedeutungen entwickeln und verändern, der kulturelle Inhalt sozialer Bewegungen" (S. 4, Übersetzung von mir). D a r ü b e r hinaus geht es um die 'soziale Konstruktion' von Bedeutungen und sozialen Bewegungen. O f f e n bleibt, wie genau diese 'umfassende Sozialpsychologie' aussieht, wie sich genau in einem sozialen K o n text 'Bedeutungen' entwickeln und wie bzw. in welchem Sinne soziale Bewegungen 'konstruiert' werden. Wenn der K A eine Alternative zum R C A und zu der P R M ist, dann fragt es sich, welche M ä n g e l diese A n s ä t z e nach Meinung der Vertreter des K A aufweisen. D i e am R C A geäußerte K r i t i k ist in dreierlei Hinsicht fragwürdig: (1) D i e Kritik am R C A richtet sich, wie gesagt, gegen einen engen neoklassischen A n satz, der von kaum einem Soziologen vertreten wird. (2) D i e K r i t i k beruht zum großen Teil auf Mißverständnissen. So impliziert das obige Zitat, daß der R C A nicht die Definition des Akteurs oder den sozialen Kontext berücksichtigt. Das Gegenteil ist richtig. (3) Die alternativen Hypothesen des K A scheinen oft lediglich eine Reformulierung von Hypothesen des R C A zu sein. So wird behauptet, der K A 'ersetze' das „ f r e e rider paradox" (Morris und M c C l u r g Mueller 1992, S. 5). In welchem Sinne erfolgt eine 'Ersetzung'? Rekonstruiert man die Kritik der Autoren, dann zeigt sich, 23 daß sie - in der Terminologie Olsons - eine Reihe von selektiven Anreizen aufzählen, die nach ihrer Meinung dazu führen, d a ß Personen auch in einer großen Gruppe gemeinsam handeln, um ihre Ziele zu erreichen. U m allerdings die Thesen der genannten Autoren empirisch überprüfen zu können, m ü ß t e n sie zunächst erheblich präzisiert werden. (4) D i e Vertreter des K A lehnen offensichtlich das Prinzip der Nutzenmaximierung ab. W i e lautet die Handlungstheorie des K A ? A u c h die Akteure des K A handeln, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Versuchen sie dann nicht auch, im Rahmen gegebener Handlungsbeschränkungen ihre Ziele in höchstmöglichem M a ß e z u realisieren? Oft scheinen Vertreter des K A anzunehmen, daß man nicht den eigenen Nutzen, sondern den Nutzen der Gruppe maximiert. Es widerspricht der Theorie rationalen Handelns keineswegs, wenn man altruistische Präferenzen annimmt. Allerdings behauptet der R C A , daß auch Altruisten ihren eigenen Nutzen maximieren, d.h. ihnen verschafft es Befriedigung, anderen Personen zu helfen. A b e r selbst wenn man davon ausgeht, daß Personen nur den Nutzen anderer vermehren wollen, dann besteht das Trittbrettfahrer-Problem: In einer großen Gruppe erreichen sie dieses Z i e l nicht, da der einzelne kaum einen E i n f l u ß auf das Ergebnis gemeinsamen Handelns hat. D a Vertreter des K A anscheinend das Trittbrettfahrer-Problem 'ersetzen' wollen, fragt es sich, wie genau dies geschehen soll. (5) B e i Vertretern des K A bestehen Meinungsverschiedenheiten darüber, inwieweit R C A und K A miteinander verbunden werden können. Eine m ö g liche Verbindung könnte darin bestehen, daß die Faktoren, die die Konstruktivisten f ü r wichtig halten, intervenierende Variablen in einem R C A sind - siehe Abbildung 2. So könnte eine Veränderung von H a n d l u n g s m ö g l i c h k e i ten oder gesellschaftlichen Ressourcen dazu führen, daß Prozesse der Konstruktion neuer Bedeutungen in Gang gesetzt werden. Dies 24 FORSCHUNGSJOURNAL N S B könnte wiederum zur Ä n d e r u n g von Anreizen - i m Sinne des R C A - führen. Diese Anreize haben wiederum eine Veränderung individueller Handlungen zur Folge, deren Koordination zu bestimmten gemeinsamen Handlungen f ü h ren. Wenn dieses M o d e l l zutrifft, w ü r d e der K A eine fruchtbare Ergänzung des R C A darstellen. Ergäbe sich ein direkter Effekt der 'Prozesse der Bedeutungskonstruktion' auf 'individuelles Handeln', dann w ü r d e der R C A w i derlegt. 2/94 scheidung f ü r legale oder illegale Formen politischen Handelns? 4. R e s ü m e e Jeder Vertreter des 'Rational Choice'-Ansatzes wird einräumen, daß dieser Ansatz eine Reihe ungelöster Probleme aufweist. Trotzdem wird man diesen Ansatz dann zur Erklärung sozialen Handelns anwenden, wenn es keinen anderen Ansatz gibt, der dem R C A eindeutig überlegen ist. In der Soziologie sozialer Bewegungen ist ein solcher Ansatz nicht in Sicht. Der gegenwärtig - neben dem Abbildung 2: Eine Verbindung des "Rational Choice" und des konstruktivistischen Ansatzes R C A - dominierende Erklärungsansatz ist die Perspektive der Ressourcen-Mobilisierung. D a die grundlegenden H y Veränderung von Soziale BeweHandlungsmöglichgung/Gemeinpothesen dieses Ansatz die Theorie rakeilen/Ressourcen sames politisches Handeln tionalen Handelns ist, ist die Perspektive der Ressourcen-Mobilisierung keine echte Konkurrenz f ü r den R C A . Der konstruktivistische Ansatz ist, wie wir sahen, bisher eher ein Forschungsprogramm als ein ausgereiftes und überProzesse Veränderung Individuelle der Bedeu». von Nutzen *• politische prüftes theoretisches System, das eine tungskonund/oder ErAktionen Vielzahl ungelöster Probleme aufweist, struktion Wartungen für die der 'Rational Choice'-Ansatz Lösungen bereitstellt. Es bleibt abzuwarten, inSo plausibel dieses M o d e l l auch auf den erwieweit der konstruktivistische Ansatz den von sten B l i c k sein mag, die wichtigsten Fragen ihm geäußerten Anspruch, eine überlegene A l sind ungeklärt: Welche A r t von Änderungen ternative zum 'Rational C h o i c e ' - A n s a t z zu von H a n d l u n g s m ö g l i c h k e i t e n führen zu welsein, empirisch belegen kann, oder ob die Vercher A r t von Bedeutungskonstruktionen? Weltreter des konstruktivistischen Ansatzes ihren che Bedeutungskonstruktionen f ü h r e n zu welM u n d zu v o l l genommen haben. chen Arten von Anreizen? (6) W i e löst der K A d a s Mikro-Makro-Problem? Wenn eine Integration des K A und R C A entsprechend A b - Karl-Dieter Opp ist Professor f ü r Soziologie bildung 2 möglich ist, benötigt der K A keine an der Universität Leipzig eigene L ö s u n g dieses Problems. (7) Inwieweit kann der K A den E r f o l g sozialer Bewegungen erklären und R ü c k w i r k u n g e n des Erfolges auf das A u s m a ß politischen Engagements? Hierzu liegen meines Wissens keine Forschungen vor. (8) Inwieweit kann der K A spezifische Arten politischen Handelns erklären, z . B . die Ent- \ \ / / FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 Anmerkungen V g l . zu diesem Postulat u.a. Wippler/Lindenberg 1987; Opp 1979, 1985, 1988; Raub/Voß 1981, Vanberg 1975. Dieses Modell wird oft 'Rational Choice Theorie' oder auch 'Ökonomisches Modell' bzw. M o dell des 'homo oeconomicus' genannt. Der zuletzt genannte Ausdruck erklärt sich daraus, daß das genannte Modell vorwiegend in der Wirtschaftswissenschaft angewendet wird. Das genannte Modell und eine Vielzahl von Erklärungsfragen, zu deren Lösung das Modell angewendet wird, findet man in folgenden Schriften: Coleman 1990; Esser 1993; Frey 1990; Kirchgässner 1991; Ramb/Tietzel 1993; Weede 1992. Vgl. hierzu z.B. Schriften zur 'New Institutional Economics'. Die Zeitschrift 'Journal of Theoretical and Institutional Economics', hrsg. von Rudolf Richter, Universität Saarbrücken, veröffentlicht jährlich ein Sonderheft, das grundlegende Arbeiten dieses Ansatzes enthält. V g l . hierzu insbes. Opp 1992; Opp, Voß/Gern 1993, Kap. X V ; Opp und Gern 1993. V g l . zur Überprüfung und Bestätigung dieser Überlegung Opp 1989 und die in Anmerkung 4 genannten Schriften. V g l . hierzu Opp/Voß/Gern 1993, insbes. Kapitel XI. Hier wird neben der Entstehung der spontanen Proteste erklärt, warum das SED-Regime nicht entschieden hat, die Proteste niederzuschlagen. Viele, dem R C A verpflichtete Untersuchungen oder theoretische Überlegungen stammen von Politikwissenschaftlern oder Ökonomen. Aus Raumgründen sei hier auf die Übersicht bei Opp 1993 verwiesen. V g l . weiter das von J. Goldstone und K . - D . Opp herausgegebene Sonderheft der Zeitschrift 'Rationality & Society' (Bd. 6, Heft 1, 1994). V g l . hierzu und zum folgenden insbesondere die Argumentation von Olson 1965. ' Eine Vielzahl von Argumenten werden diskutiert in Opp 1979. V g l . insbesondere die Diskussionen in der Zeitschrift 'Rationality and Society'1 2 3 4 5 6 7 8 V g l . für die Soziologie sozialer Bewegungen z.B. Fireman und Gamson 1979 und meine Diskussion in Opp 1989. Dies gilt z.B. für die Kritik von Ferree 1992. Eine Diskussion kritischer Einwände von feministischer Seite findet man bei Friedman/Diem 1993. 10 11 Literaturverzeichnis Ajzen, Icek 1988: Attitudes, Personality, and Behavior. Open University Press: Milton Keynes Coleman, James S. 1990: Foundations of Social Theory. Cambridge, Mass., and London: Belknap Press of Harvard University Press (in deutscher Übersetzung erschienen im Verlag Oldenbourg, München). Dawes, Robin M . 1988: Rational Choice in an Uncertain World. San Diego: Harcourt Brace Janovich Esser, Hartmut 1993: Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt am Main: Campus Ferree, Myra Marx 1992: The Political Context of Rationality: Rational Choice Theory and Resource Mobilization, in: Frontiers in Social Movement Theory, hrsg. von Morris, Aldon D./McClurg Mueller, Carol, New Häven: Yale University Press 29-52 Fireman, Bruce/Gamson, William 1979: Utilitarian Logic in the Resource Mobilization Perspective, in: The Dynamics of Social Movements, hrsg. von Zald, Mayer N./McCarthy, John, Cambridge, Mass.: Winthrop 8-44 Frey, Bruno 1990: Ökonomie als Sozialwissenschaft. Die Anwendung der Ökonomie auf neue Gebiete. München: Vahlen Friedman, Debra/Diem, Carol. 1883: Feminism and the Pro- (Rational) Choice Movement: Rational-Choice Theory, Feminist Critiques, and Gender Inequality, in: Theory on Gender. Feminism on Theory, hrsg. von England, Paula, New York: Aldine de Gruyter 91-114 Gamson, William A . 1990: The Strategy of Social Protest. Belmont, California: Wadsworth Publishing Company Kirchgässner, Gebhard 1991: Homo Oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Ver- 26 haltens und seine Anwendung in den Wirtschaftsund Sozialwissenschaften. Tübingen: J.C.B. Mohr Kirsch, Guy 1993: Ökonomische Theorie der Politik. Düsseldorf: Werner Verlag Marwell, Gerald/Oliver, Pamela 1993: The Critical Mass in Collective Action. A MicroSocial Theory. New York: Cambridge University Press Morris, Aldon D./McClurg Mueller, Carol (eds) 1992: Frontiers in Social Movement Theory. New Häven: Yale University Press Olson, Mancur 1965: The Logic of Collective Action. Cambridge, Mass.: Harvard University Press Opp, Karl-Dieter 1979: Individualistische Sozialwissenschaft. Arbeitsweise und Probleme individualistisch und kollektivistisch orientierter Sozialwissenschaften. Stuttgart: Enke Opp, Karl-Dieter 1985: Sociology and Economic Man, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics 141: 213-243 Opp, Karl-Dieter 1988: The Individualistic Research Program in Sociology, in: Cenlripetal Forces in the Sciences. 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Stuttgart: KlettCotta Ramb, Bernd-Thomas/Tietzel, Manfred (Hrsg.) 1993: Ökonomische Verhaltenstheorie. München: Verlag Franz Vahlen Raub, Werner/Voss, Thomas 1981: Individuelles Handeln und gesellschaftliche Folgen. Das Individualistische Forschungsprogramm in den Sozialwissenschaften. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand Vanberg, Viktor 1975: Die zwei Soziologien. Individualismus und Kollektivismus In der Sozialtheorie. Tübingen: J.C.B. Mohr Weede, Erich 1992: Mensch und Gesellschaft. Soziologie aus der Perspektive des methodologischen Individualismus. Tübingen: J.C.B. Mohr Wippler, Reinhard/Lindenberg, Siegwart 1987: Collective Phenomena and Rational Choice, in The Micro-Macro Link, hrsg. von Alexander, Jeffrey C./Giesen, Bernhard/Münch, Richard/Smelser, Neil J., Berkely: University of California Press 135-152 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 27 Richard Münch Von der Moderne zur Postmoderne? S o z i a l e B e w e g u n g e n im P r o z e ß d e r M o d e r n i s i e r u n g Einleitung Soziale Bewegungen sind ein elementarer Bestandteil der Moderne. Ihnen verdankt sie einen erheblichen Teil ihrer Kraft der unablässigen Erneuerung, aber auch einen Teil ihrer Beharrungskraft. In den sozialen Bewegungen spiegelt sich auch das eigenartige Spannungsverhältnis von Moderne und Antimoderne. Beide sind unauflöslich in die Dialektik der M o dernisierung eingespannt, tragen selbst zur Entfaltung des modernen Lebens unter gleichzeitiger Zerstörung natürlicher und soziokultureller Lebenswelten bei und k ö n n e n das Programm der Moderne nur um den Preis ihres Wandels zur wirklichen Postmoderne umschreiben. E i n tiefergehendes Begreifen der sozialen Bewegungen der Gegenwart m u ß über die Spezialfragen der soziologischen Erklärung einzelner Aspekte hinausgehen und im Rahmen einer Theorie der Moderne zu diesen Fragen vorstoßen. 1. Elemente einer Theorie sozialer Bewegungen Die Soziologie kann soziale Bewegungen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten, mit den entsprechenden Paradigmen auch unterschiedliche Aspekte herausarbeiten und einem Verständnis sowie einer Erklärung näherbringen. Strukturtheoretisch kann sie diese aus Strukturwidersprüchen, strukturellen Spannungen oder Verwerfungen erklären, funktionalistisch als Reaktion auf funktionale Integrationsdefizite oder als Frühwarnsysteme, die eine rechtzeitige Reaktion auf neue Probleme ermöglichen, deprivationstheoretisch unter dem Gesichtspunkt der Reduktion von Deprivationen, ressourcentheoretisch im Hinblick auf die Steigerung des Nutzens bei gegebenen Ressourcen und dargebotenen Alternativen, konflikttheoretisch in der Perspektive der Durchsetzung von Zielen mit gegebenen Machtmitteln innerhalb einer bestehenden Machtstruktur, verhandlungstheoretisch als kollektiven Akteur in Verhandlungen mit politischen Instanzen unter Verwendung von Anreizen und Macht, interaktionstheoretisch als Eingreifen in den öffentlichen K a m p f um die Definition der Situation, identitätstheoretisch als Identitätsabgrenzung und Identitätsbildung, aktionstheoretisch als Instrument der gesellschaftlichen Erneuerung und Selbstproduktion, kommunikationstheoretisch als Suche nach guten Gründen f ü r neue Lebensformen, kulturtheoretisch als symbolhafte Repräsentation und als avantgardistisches Einüben in neue Lebensformen (Smelser 1963; Obershall 1973; M c Carthy/Zald 1977; Wilson 1973; M ü l l e r / O p p FORSCHUNGSJOURNAL N S B 28 1986; Jenkins 1983; Klandermans 1984; M c A dam 1982; Tilly 1978, 1985; Touraine 1977, 1981, 1985; Cohen 1985; O f f e 1985; Eder 1985; Gamson 1975; M e l u c c i 1985, 1989; Brand 1982, 1985; Brand, Büsser und Rucht 1983; Schimank 1983; Japp 1984; Habermas 1981; Luhmann 1981, 1986). Soziale Bewegungen haben viele Aspekte und sind in viele Z u s a m m e n h ä n g e des gesellschaftlichen Lebens eingespannt. Deshalb können sie auch sehr verschieden gedeutet und erklärt werden, je nachdem, auf welchen Aspekt das Erkenntnisinteresse abzielt. Ich streite keinem der genannten A n s ä t z e einen Zugang zum Verstehen und Erklären sozialer Bewegungen ab. Ich verleihe aber auch keinem von ihnen das Prädikat der Vollständigkeit. Wer sich mit sozialen Bewegungen beschäftigt, wird deshalb je nach Erkenntnisinteresse aus dem Arsenal soziologischer Theorien schöpfen. D i e Theorien stehen in keiner wirklichen Konkurrenz zueinander, sondern ergänzen sich, weil sie sich auf ganz unterschiedliche Aspekte sozialer Bewegungen beziehen. Wenn ich aus der Sicht eines neoparsonianischen Ansatzes einen Beitrag zu einer allgemeinen Theorie sozialer Bewegungen leisten sollte, dann w ü r d e ich von dieser Multidimensionalität sozialer Bewegungen ausgehen und den allgemeinen Bezugsrahmen dieses Ansatzes benutzen, um die verschiedenen Teiltheorien in ein geordnetes Ganzes einzufügen, in dem ihre jeweilige Erklärungsleistung, die von ihnen erfaßten Aspekte, ihre Relation zu anderen Aspekten und ihre Stellung im gesamten G e f ü g e besser erkennbar werden. Der klassische Beitrag von Smelser w ü r d e in diesem Bezugsrahmen auch nach Smelsers eigenem Verständnis nur einen spezifischen Teil ausfüllen, in dem unser Interesse der Erklärung kollektiven Verhaltens als Reaktion auf strukturelle Spannungen unter Berücksichtigung der 2/94 verfügbaren Mittel, der Motivation, der Normen und Werte des Handelns gilt (Smelser 1963). A u f dem Wege der Entwicklung einer allgemeinen Theorie sozialer Bewegungen durch das Z u s a m m e n f ü g e n der verschiedenen Ansätze innerhalb eines allgemeinen Bezugsrahmens werden die einzelnen A n s ä t z e auf die von ihnen am besten erfaßten Aspekte zugespitzt. Zugleich wird aber auch der allgemeine Bezugsrahmen in seinem Bedeutungsgehalt und seiner Erklärungsreichweite verändert und fortentwickelt. Ich habe diese Art des Theoriebaus an anderen Stellen verfolgt (Münch 1982/1988, 1994; v g l . Parsons 1937/1968, 1967,1969,1977,1978) und w i l l sie hier nicht im einzelnen in bezug auf eine allgemeine Theorie soziale Bewegungen ausführen. Statt dessen m ö c h t e ich einer begrenzteren und thematisch zugespitzteren Fragestellung nachgehen, die nicht weniger wichtig ist. Es handelt sich dabei nicht um eine allgemeine Theorie sozialer Bewegungen, sondern um den Versuch, soziale Bewegungen im Rahmen einer Theorie der Moderne in ihrem Sinn zu verstehen, in ihrer Bedeutung zu erfassen, ihr A u f treten zu erklären und ihre Wirkungen abzuschätzen. Dabei interessieren mich soziale Bewegungen als aktiver Teil des Modernisierungsprozesse, und ich suche die Erklärung ihres Auftretens in der Dialektik der Modernisierung und das Verstehen ihres Sinnes in der Spannung zwischen Moderne und Tradition, Moderne und Antimoderne ( M ü n c h 1991/ 1992a, 1984/1992c, 1986/1993a, 1993b; v g l . Weber 1920/1972; Parsons 1971). 2. Soziale B e w e g u n g e n : modern und antimodern Soziale Bewegungen sind ein nicht wegzudenkender Bestandteil der Moderne. Sie treten überhaupt nur in der Moderne auf, haben nur hier einen legitimen Platz. Sie können Bewegungen der Modernisierung, aber auch anti- FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 moderne Bewegungen der Re-Traditionalisierung sein. Modernisierungsbewegungen stützten sich auf die allgemeine, von der A u f k l ä r u n g inthronisierte Idee einer Gesellschaft der Freiheit, der gleichen Rechte f ü r alle, der unablässigen Wohlstandsmehrung und der Gesellschaftsgestaltung nach den universellen Maßstäben der Vernunft. A l s Inklusionsbewegungen zielen sie auf die E r k ä m p f u n g gleicher Rechte für bislang benachteiligte oder ausgeschlossene Gruppen der Gesellschaft. Ihr Z i e l ist die Inklusion in die freie Bürgergemeinschaft. Angefangen mit der Bewegung des Bürgertums und der bürgerlichen Revolution haben immer wieder neue Inklusionsbewegungen die Verwirklichung der Idee einer freien Gemeinschaft von Bürgern mit gleichen Rechten vorangetrieben: die Arbeiterbewegung, die Frauenbewegung, die B ü r g e r r e c h t s b e w e g u n g der Schwarzen in den U S A , Bewegungen anderer ethnischer Minderheiten, regionalistische Bewegungen und die Bewegungen von Homosexuellen, Lesben und Alten. D i e Virulenz und Lebensdauer dieser Bewegungen hängt davon ab, wie v o l l ständig ihr Inklusionsbestreben verwirklicht wurde. Je mehr dies der F a l l ist, um so mehr erlahmen sie. Solange g e n ü g e n d Diskrepanz zwischen legitimen Rechten und gesellschaftlicher Realität besteht, können die Bewegungen ihre Mitgliedermobilisierung auf das Gruppeninteresse an Inklusion und ihre gesellschaftliche Anerkennung auf die allgemein verbrieften Rechte gründen. Von den Inklusionsbewegungen sind Prinzipienbewegungen als weitere Modernisierungsbewegungen zu unterscheiden. Diese setzen sich f ü r die Verwirklichung der allgemeinen Leitideen der Moderne ein, von denen alle Mitglieder der Gesellschaft zumindest in bestimmten Rollen - z . B . als Konsumenten oder als Erholungssuchende - profitieren und nicht 29 nur spezifische Gruppen. Dazu zählen Verbraucherschutzbewegungen, A n t i - A K W - B e w e g u n gen, Umweltschutzbewegungen, Naturschutzbewegungen, Ö k o l o g i e b e w e g u n g e n und Friedensbewegungen. Diese Prinzipienbewegungen können sich auf ein breites Interesse und auf allgemeingültige Leitideen berufen. D a sie jedoch keine spezifische Gruppe ansprechen, die sich im K a m p f gegen andere Gruppen formieren kann, und da die entsprechenden Interessen auch mit anderen Interessen kollidieren, wirkt sich das Gesetz der großen Z a h l besonders kraß aus: A l l e sind interessiert, aber niemand ist motiviert, etwas zu tun, weil der E f fekt von Einzelbeiträgen verschwindend gering ist (Olson 1965). Initiativgruppen können nur einen kleinen Teil der Interessenten f ü r begrenzte Zeit mobilisieren. D a f ü r handelt es sich um Prinzipien, die nie vollständig in die Tat umgesetzt werden können, so d a ß immer wieder A n l a ß f ü r die Mobilisierung von U n terstützung gegeben ist. Für diese Bewegungen ist es deshalb typisch, daß sie in Wellen auftreten. Modernisierungsbewegungen entstehen aus dem Grundwiderspruch zwischen den kulturellen Leitideen der Moderne und der davon abweichenden Realität. Im Unterschied z u den traditionalen Gesellschaften, in denen Kultur und Gesellschaft, Leitidee und Realität in eins zusammenfallen und deshalb kein legitimes Motiv der Veränderung und Entwicklung existiert, greifen in modernen Gesellschaften seit der A u f k l ä r u n g die kulturellen Leitideen stets über die real existierende Gesellschaft hinaus. Daraus resultiert ein ständiger Druck der Veränderung in die Richtung der A n n ä h e r u n g an die kulturellen Leitideen. W ä h r e n d die konservativen Kräfte die kulturellen Leitideen benutzen, um die bestehenden Institutionen der Gesellschaft zu legitimieren, stützen sich die sozialen Bewegungen auf dieselben Leitideen, um die Illegitimität bestehender Institutionen 30 nachzuweisen. D i e moderne Gesellschaft ist deshalb durch den unauflöslichen K a m p f z w i schen beharrenden und bewegenden, konservativen und progressiven, orthodoxen und heterodoxen K r ä f t e n geprägt. Verfestigungen früherer Modernisierungen geraten in Widerspruch zu neuen, extensiveren Auslegungen der kulturellen Leitideen und werden zum Objekt neuer Modernisierungsbewegungen. Modernisierung baut auf vorausgegangener Modernisierung auf. Wenn man so w i l l , kann man diesen Vorgang als reflexive Modernisierung bezeichnen. Antimoderne Bewegungen wehren sich gegen die A u f l ö s u n g traditionaler Lebenswelten und G l a u b e n s b e s t ä n d e durch die umfassende Ö k o nomisierung, Politisierung und Rationalisierung (Säkularisierung) des modernen Lebens. Sie involvieren meist Gruppen, die von der Modernisierung in ihrem Status bedroht werden. Sie treten vor allem dann auf, wenn neue Schübe der Modernisierung besonders kraß und schnell traditionelle Autoritätsverhältnisse, Besitzstände, Lebensweisen, Solidargemeinschaften, Wissens- und Glaubensbestände zu verdrängen drohen: - Kleinbürgerliche Schichten: Bewegungen des Handwerks gegen die Industrie, des Kleingewerbes und Kleinhandels gegen große Gewerbefirmen, Handelsketten und Warenhäuser. Sie suchen Bestandsschutz durch Konkurrenzminderung; FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 - Bildungsschichten: Bewegungen gegen die Kommerzialisierung der Kultur, die Verdrängung der Hochkultur durch die Massenkultur, gegen den sozialen Abstieg des Bildungsbürgertums durch die Entwertung von Bildungszertifikaten im Zuge der Demokratisierung und Verfachlichung der Bildung. Bewegungen gegen die Verdrängung des Kulturwissens durch technisches Fachwissen. Sie zielen auf die Bewahrung des klassischen Kulturwissens; - Regionale Gruppen: Bewegungen gegen die Kolonialisierung der Peripherien durch die Industrie und Verwaltung des Zentrums, gegen industrielle Konkurrenz, politische Zentralisierung und kulturelle Vereinheitlichung, gegen die A u f l ö s u n g traditionaler Solidaritäten, gegen die Überlagerung durch die Zuwanderung von Führungsschichten aus dem Zentrum. Ihr Z i e l ist die Verteidigung der regionalen Identität gegen die Überlagerung durch das Zentrum; - Statusgefährdete Gruppen aller Schichten: Bewegungen gegen die Globalisierung der ökonomischen, politischen, solidarischen und kulturellen Verflechtungen, gegen Zuwanderung und Ü b e r f r e m d u n g . Sie fordern die Abschließung der Nation nach außen; - Arbeiterschichten: Albeiterbewegungen gegen technische Rationalisierungen, die Arbeitsplätze beseitigen. Sie streben nach Arbeitsplatzgarantien; - Traditionale Gemeinschaften, Nachbarschaftsgemeinschaften: Bewegungen gegen die Verdrängung von traditionalen Gemeinschaften durch die moderne Gesellschaft im Zuge von Schüben der Kommerzialisierung, Politisierung, Rationalisierung, Verrechtlichung und Individualisierung. Ihr Bestreben ist die Erhaltung traditionaler Lebenswelten gewachsener Gemeinschaften. - Industrielle Schichten: Bewegungen gegen die wachsende Konkurrenz von außen. Sie wollen Kontingentierung, Protektion, Subventionen, Bestandsgarantien, Standortvorteile; Soziale Bewegungen haben ü b e r w i e g e n d moderne Ziele oder ü b e r w i e g e n d antimoderne. Sie können aber auch beide in unterschiedlicher Gewichtung in sich vereinigen. Aber was FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 ist modern, was antimodern? Modern ist der ständige Ausbau von Freiheitsrechten, Gleichheitsrechten, Wissen und technischer Beherrschung der Welt einhergehend mit einem wachsenden materiellen Wohlstand. Dieses Fortschrittsprogramm ist von der A u f k l ä r u n g formuliert und von sozialen Bewegungen, ausgehend von den bürgerlichen Revolutionen, i m mer weitergehender eingefordert worden. A n timodern ist dagegen das Festhalten an den Formen des traditionalen Lebens und seinen Besitzständen, Autoritätsverhältnissen, Solidargemeinschaften, Glaubens- und Wissensbeständen. Antimoderne Bewegungen k ä m p f e n für die Bewahrung oder Wiederherstellung traditionaler Gemeinschaftsbeziehungen gegen moderne Gesellschaftsbeziehungen (Tönnies 1887/ 1963). Inklusionsbewegungen sind in dem M a ß e modern, in dem sie gleiche Rechte f ü r alle einfordern, deren Wahrnehmung eine Sache der einzelnen Individuen ist, von deren Leistung es abhängt, was sie daraus machen. Sie sind antimodern, wenn sie den Status der ganzen Gruppe gegen Konkurrenz durch die feste Zuteilung von Privilegien, unabhängig von individuellen Leistungen anstreben. - Eine Druckergewerkschaft, die einen Sozialplan f ü r die Opfer des technischen Strukturwandels e r k ä m p f t , der auf das Umlernen und den Erwerb neuer, gefragter Qualifikationen abzielt, handelt modern. Sie agiert antimodern, wenn sie eine Arbeitsplatzgarantie durchsetzt, die eine Unterbindung der technischen Rationalisierung zur Folge hat; - Eine regionalistische Bewegung, die Rechte der Selbstbestimmung erstreitet, ist modern, wenn dies eine Dezentralisierung und Föderalisierung des politischen Entscheidungsprozesses mit erweiterten Partizipationschancen impliziert. Sie wird antimodern, wenn sie die 31 Verfügung über Rechte an die ethnische Zugehörigkeit bindet und andere Gruppen davon ausschließt. Sie ist antimodern, wenn die ethnische Zugehörigkeit als Zugang zu Privilegien dient. W i l l die Bewegung ihr traditionales Leben gegen das Eindringen der fortgeschrittenen Zentrumskultur verteidigen, dann stellt sie sich antimodern dar; - Die Frauenbewegung ist modern, wenn sie den Frauen dieselben Rechte erschließt, wie sie auch Männern offenstehen. Sie wird antimodern, wenn sie an das Frausein Privilegien knüpft, die Männern nicht zugänglich sind; - Es ist modern, Berufspositionen oder Sitze in Ausschüssen und Parlamenten allen Gruppen zu öffnen. Es ist antimodern, diese Positionen von vornherein nach einem Quotensystem zu vergeben. Die Formel „Bei gleicher Qualifikation erhält der Bewerber der Gruppe x, y oder z den Vorzug" wirkt antimodern, wenn sie den Suchprozeß nicht so weit führt, bis ein Kandidat seine bessere Qualifikation f ü r eine bestimmte Position bewiesen hat, sondern vorzeitig abbricht. Dies kann dazu führen, d a ß schon auf einem sehr niedrigen Niveau der Qualifikation die Gleichheit festgestellt wird und darüber hinausgehende Unterschiede unter den Tisch fallen. A u c h Prinzipienbewegungen gegen allgemeine Gefährdungen, die vom Modernisierungsprozeß erzeugt werden, können moderne und antimoderne Elemente enthalten. Eine Bewegung gegen den Bau einer Autobahn ist insofern modern, als sie die Rechte der Anwohner auf körperliche Unversehrtheit und auf eine gesunde, auch Erholung e r m ö g l i c h e n d e U m welt schützt. Sie ist insofern antimodern, als sie die davon betroffene Region vom allgemeinen Wirtschaftsverkehr abschneidet, ihren FORSCHUNGSJOURNAL N S B 32 ländlichen Charakter bewahrt und die Bevölkerung vom Wohlstandswachstum fernhält. 3. Die Dialektik der Modernisierung A l l e Modernisierung wird von der unauflöslichen Spannung zwischen guten Leitideen und schlechter Wirklichkeit in Bewegung gehalten. Im Lichte der großen Ideen der A u f k l ä rung herrscht immer zu wenig Freiheit, Gleichheit, Wissen, Beherrschung der Welt und Wohlstand. Dies ist die nicht versiegende Quelle aller sozialen Bewegungen. Zugleich wird die u n a u f h ö r l i c h e Modernisierung von der Beharrungskraft traditionaler Bestände und konservativer K r ä f t e und - wenn besonders krasse und schnelle Veränderungen drohen - von antimodernen Bewegungen gebremst. A u c h moderne Gesellschaften verdanken ihre Stabilität der Erhaltung traditionaler Bestände. Ohne diese B e s t ä n d e w ü r d e n sie in einen Strudel der ungebremsten Modernisierung gerissen, dem sie hilflos ausgesetzt wären. Vor allem treibt die ungebremste Modernisierung die Paradoxien der Moderne auf die Spitze: Neue Freiheitsrechte schaffen neue Zwänge, Gleichheitsrechte neue Ungleichheiten, neues Wissen zugleich Nichtwissen, Techniken der Weltbeherrschung auch unbeherrschbare Risiken, Wohlstandsmehrung zugleich Wohlstandseinbußen ( M ü n c h 1991/1992a, S. 27-48). Die E n t w i c k l u n g der Moderne ist zunächst durch Inklusionsbewegungen bestimmt worden, die den Fortschritt vorangetrieben haben. Jetzt werden die Paradoxien immer erkennbarer. Dementsprechend breiten sich Bewegungen aus, die einen A u s w e g aus den Paradoxien suchen. Gerade sie enthalten in erheblichem M a ß e auch antimoderne Elemente, und das nicht z u unrecht. Durch den P r o z e ß der Globalisierung wird das moderne Leben immer mehr aus traditional 2/94 gefestigten Beständen herausgerissen und in globale Wirtschaftskreisläufe, politische Ents c h e i d u n g s z w ä n g e , S o l i d a r i t ä t s g e b o t e und K o m m u n i k a t i o n s s t r ö m e hineingezogen. D a durch wachsen die Anforderungen an die Persönlichkeit des Menschen. Moderne Menschen müssen so viel Persönlichkeit entwickeln, daß sie sich außerhalb jeglicher ursprünglichen Gruppenbindung völlig frei gegen Konkurrenz behaupten, an Entscheidungen teilnehmen, sich vereinigen und kommunizieren können. Wer hier nicht mitkommt, wird an den Rand gespült und zum potentiellen Mitläufer radikaler antimoderner Bewegungen im G e w ä n d e neu erwachender Regionalismen und Nationalismen gemacht. Durch die globalen Verflechtungen setzt sich der Prozeß der Zerstörung gewachsener L e benswelten in steigendem Tempo, zunehmendem U m f a n g und größer werdender Brutalität fort. Das gilt sowohl f ü r die natürlichen L e bensgrundlagen als auch f ü r die soziokulturellen Lebenswelten. Lokale M ä r k t e sind mehr und mehr durch regionale, dann durch nationale Märkte ersetzt worden, die jetzt der vollen Entfaltung des europäischen Binnenmarktes und des Weltmarktes weichen m ü s s e n . D a mit einher geht eine explosionsartige Vermehrung, Globalisierung, Verdichtung und Beschleunigung der Verkehrs- und K o m m u n i k a tionsströme. W i r überziehen Europa im Zuge der Binnenmarktintegration und die ganze Welt im Zuge der globalen M a r k t - und K o m m u n i kationsentwicklung mit einem immer dichteren Netzwerk von Verkehrs- und K o m m u n i k a tionswegen zu Lande, zu Wasser und in der Luft, während das natürliche Leben unter A s phalt, Giftwolken, L ä r m t e p p i c h e n und Satellitenkreisläufen begraben wird. Zugleich werden die lokalen, regionalen und nationalen L e benswelten durch die Herausbildung eines globalen, vom sogenannten Jet-Set vorgelebten und von der Werbeindustrie massenhaft ver- FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 breiteten Lebensstils der rastlosen Erlebnishatz und des totalen Konsums verdrängt. Soziale Bewegungen, die sich gegen diese Flutwelle der Modernisierung wenden, werden z w a n g s l ä u f i g in die E c k e einer verspäteten Romantik verwiesen. A l l e i n schon durch den drohenden Verlust v o n Arbeitsplätzen und materiellem Wohlstand werden sie plattgemacht, wenn ihre Konzepte verwirklicht werden sollen. Sie sind dem D i l e m m a ausgesetzt, daß die Moderne zwar stets durch Tradition und antimoderne Bewegungen in ihrem Tempo gebremst, aber anscheinend nicht gestoppt werden kann. D i e Entwicklung der Moderne ist ein unablässiger Prozeß der Zerstörung des kleinräumigen und vertrauten Lebens durch die Expansion der großräumigen und unvertrauten Verflechtungen, der B e f r e i u n g von kleinräumigen Z w ä n g e n durch den A u f b a u großräumiger Z w ä n g e , der Entlastung durch neue Belastungen ( M ü n c h 1993b). 4. Im S p a n n u n g s f e l d von Entfaltung und Z e r s t ö r u n g : Soziale B e w e g u n g e n der Gegenwart Die sozialen Bewegungen der Gegenwart sind zunächst einmal Gegenbewegungen gegen den Zerstörungsprozeß der Moderne und Suchbewegungen nach neuen Konzepten, mit denen die Moderne dem Teufelskreis von Entwicklung und Zerstörung entkommen kann. A l s Bremser leisten sie ihren Beitrag zur Stabilisierung des modernen Lebens. Können sie aber auch den weitergehenden Anspruch einlösen, neue Lebensformen zu entwickeln, die aus dem Teufelskreis h e r a u s f ü h r e n ? Nichts deutet bislang darauf hin. Sie sind ein Bestandteil der Moderne und können deshalb nicht über sie hinausführen. A u c h die zunehmende Demokratisierung durch neue Formen der Partizipation löst die Dialektik von Entfaltung und Zer- 33 störung in der Moderne nicht auf. Im Gegenteil, je mehr Menschen immer mehr Rechte wahrnehmen, um so mehr beschleunigen sie den Entfaltungs- und Zerstörungsprozeß. Über die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen läßt sich noch leicht ein allgemeiner K o n sens erzielen, aber viel weniger über den Weg zu diesem Z i e l und über die Verteilung des notwendigen Verzichts auf Rechte der U m weltnutzung. Das D i l e m m a der gegenwärtigen Moderne spitzt sich in dem Widerspruch zu, daß w i r noch damit beschäftigt sind, Rechte auszubauen, wo sie schon längst wieder eingeschränkt werden müßten, wenn der Zerstörungsprozeß der Moderne in Grenzen gehalten werden soll. Betrachten w i r allein das gewaltige Wachstum der Verkehrsströme. Sie sind ein Ergebnis der Globalisierung von Märkten, der wachsenden und der damit einhergehenden massenhaften materiellen Wahrnehmung von Rechten in Form von Mobilität zu Zwecken des Erlebens, der Neugierbefriedigung, des Zusammenseins mit anderen Menschen, der Erholung, der B i l dung usw. Das Wachstumsmodell der modernen Wirtschaft ist d a f ü r das Paradigma. Es erlaubt die Einkommenssteigerung von K a p i tal und Arbeit zugleich. Wir erkennen mittlerweile jedoch mehr und mehr, daß dieses M o dell nicht allgemeingültig ist, daß aus der massenhaften Wahrnehmung von Rechten Belastungen hervorgehen, die uns die Grenzen des Wachstumsmodells aufzeigen. Nach der unablässigen Expansion von Rechten ist ihre Neuordnung und Einschränkung gefragt. D i e Frage ist nur: wie und mit welchen Konsequenzen? Wir haben ein Wohlstandsniveau erreicht, auf dem wir in der Wahrnehmung verbürgter Rechte die Zerstörung der natürlichen und soziokulturellen Lebenswelten in einem wachsenden Tempo betreiben. Nehmen w i r den mo- 34 demen Tourismus als Beispiel. E r überzieht die Erde mit einem zunehmend lärmenden, Abgase produzierenden und erderwärmenden Tempo, macht im Zuge des Autobahnausbaus, Hotel- und Appartementsbaus ganze Regionen platt, hinterläßt nicht mehr zu bewältigende M ü l l b e r g e und Abwässer, gräbt ganzen Regionen das Grundwasser ab und erdrückt gewachsene Lebenswelten unter Lawinen von neugierigen und genußsüchtigen Touristen. Kann die Ö k o l o g i e b e w e g u n g etwas gegen diese Entwicklung ausrichten? Sie kann sie nur abbremsen, aber nicht aufhalten. Warum? Letztlich, w e i l das Programm der Moderne auf Expansion ausgerichtet ist. D i e Moderne gerät in verschärftem M a ß e in das sogenannte CommonsDilemma (Hardin 1968): A l l e profitieren z . B . vom expandierenden Tourismus nach subjektiver Nutzenkalkulation, am Ende berauben sich jedoch alle ihrer Lebensgrundlagen. Profiteure des Tourismus sind die Touristen selbst, die Tourismusindustrie, vom Parkwächter am Flughafen ü b e r die Barfau an der Flughafenbar, die Stewardessen, die Z i m m e r m ä d c h e n , die Hotelmanager oder kleinen Pensionsinhaber bis zu den Campingplatzverwaltern sowie alle indirekt damit z u s a m m e n h ä n g e n d e n Industrien, Handwerksberufe und Gewerbe. Es wird schwierig sein, einen Wirtschaftszweig zu f i n den, der keinen Profit aus dem Tourismus saugt, bis hin zum Sachbuchautor, der über schöne Reisen berichtet oder auch vor den bösen F o l gen des Tourismus warnt. Jeder lebt unmittelbar oder mittelbar vom Tourismus. Zugleich leidet jeder direkt oder indirekt unter seinen Begleiterscheinungen und Folgen. Trotzdem entstehen nur in extremen A u s n a h m e f ä l l e n Motive zur Veränderung der Situation. Für den einzelnen stellt sich die Situation so dar, daß er z . B . den L ä r m t e p p i c h der Urlauberjets zu ertragen hat. Sein eigener Verzicht auf den Flug in den Urlaub ändert daran jedoch nichts. Für alle einzelnen sind die sogenannten Transaktionskosten zu groß, wenn sie etwas gegen FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 die Zerstörung der Lebenswelten durch den Tourismus unternehmen wollen, d.h. sie m ü s sen stets mehr Zeit und Energie aufwenden, als sie an Belohnungen in Form einer E i n schränkung des Tourismus zurückerhalten ( O l son 1965). Hier können Bürgerinitiativen und Umweltorganisationen - z . B . Greenpeace, R o b i n Wood oder World Wildlife Fund - durch unternehmerische Initiative dazu beitragen, daß Ressourcen mobilisiert und zusammengelegt werden, mit denen dann größere Effekte erzielt werden können, als wenn einzelne Akteure auf sich allein gestellt bleiben. Moralische Unternehmer (Giesen 1983) im Bereich des U m weltschutzes zeichnen sich durch eine stärkere Fixierung auf das Z i e l des Umweltschutzes aus als Durchschnittsbürger. Sie ziehen allein aus der Hingabe an die Aufgabe eine hohe Befriedigung. Durch ihre Vorleistung senken sie die „Transaktionskosten" f ü r jene Durchschnittsbürger, die mit kleinen Einlagen in das Unternehmen - durch Geldspenden oder Teilnahme an einzelnen Aktionen - größere E f fekte erzielen können, als wenn sie allein handeln würden. Moralische Unternehmer verändern die Situation so, daß es sich nunmehr für eine gewisse Zahl von Durchschnittsbürgern lohnt, sich zu engagieren. Schon der A u f r u f zu einer Demonstration durch eine Initiativgruppe verläuft nach diesem Muster. Je mehr die Initiativgruppe ihre Aktivitäten erweitert und sich mit anderen Initiativgruppen verständigt und zusammenschließt, um so mehr kann sich aus gelegentlichen Aktivitäten eine Bewegung entwickeln. D i e G r ü n d u n g einer Organisation stellt die Bewegung auf Dauer. D i e Organisation kann mit H i l f e von einzelnen Aktivitäten die Bewegung immer wieder aus der Latenz herausholen und in das B e w u ß t s e i n der Bevölkerung bringen. FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 A u f diese Weise mag eine soziale Bewegung lokal den B a u einer Bergbahn, eines Appartementskomplexes oder eines Golfplatzes verhindern, national die Verschärfung der Grenzwerte von Schadstoffen bewirken, global Gespräche über Abkommen zwischen Staaten zum Klimaschutz oder Artenschutz in Gang bringen und das B e w u ß t s e i n der Bevölkerung f ü r „ U m w e l t s ü n d e n " schärfen. D i e d a f ü r erforderlichen Entscheidungen k ö n n e n sie jedoch nur in Konkurrenz zu anderen Präferenzen von Bevölkerungen und Staaten herbeiführen. In demokratischen Gesellschaften m ü s s e n sie Mehrheiten gewinnen. Das können sie nur, wenn sie eine überzeugende Alternative anbieten. Innerhalb der westlichen Kultur kann diese Alternative nicht in der bloßen Botschaft der Einschränkung bislang beanspruchter Rechte bestehen, w e i l das Bewußtsein der M e n schen auf die kontinuierliche Erweiterung von Rechten eingestellt ist. Deshalb ist alle erfolgreiche Politik bislang darauf ausgerichtet, den Umweltschutz als Unterprogramm der Wohlstandssteigerung zu propagieren. Wirtschaftliches Wachstum erlaubt es, auch größere Summen f ü r den Schutz der Umwelt aufzuwenden. „Wer reich ist, kann sich auch mehr Umweltschutz leisten", so lautet die liberale Erfolgsformel. Das wird durch den Vergleich z w i schen armen und reichen Ländern sogar bestätigt. Es darf allerdings nicht weiter nach den Ursachen gefragt werden, wenn diese These Bestand haben soll. D i e reicheren Länder müssen natürlich auch deshalb mehr Umweltschutz betreiben, w e i l sie die Umwelt in größerem M a ß e belasten und von aktiveren Umweltschutzbewegungen dazu getrieben werden. Die größten Umweltbelastungen werden jedoch von denjenigen L ä n d e r n verursacht, die dem Wachstumsmodell der reichen Länder nacheifern, ohne deren Produktivität auch nur annäherungsweise zu erlangen. Von Ländern, die nicht den Weg zum Wohlstandsmodell der Moderne beschreiten und auf dem Niveau der 35 Subsistenzwirtschaft stehenbleiben, geht die geringste Belastung der U m w e l t aus. D a jedoch das Projekt der Moderne den Erdball umspannt, kann sich keine Gesellschaft ihrem Sog entziehen. Dieser Prozeß wird jetzt i m mer schärfer durch den Teufelskreis von Entwicklung und B e v ö l k e r u n g s v e r m e h r u n g bestimmt. D i e ersten Schritte der Entwicklung lassen die Bevölkerung exorbitant wachsen, so daß immer weitere und weitergehende Entwicklungsschritte erforderlich werden. D i e Entwicklungsländer entwickeln sichjedoch viel langsamer, als sich ihre Bevölkerung vermehrt. Für den größten Teil der Weltbevölkerung bedeutet dies auf absehbare Zeit ein Leben in Armut angesichts des Reichtums der fortgeschrittenen Industriegesellschaften. Für M a ß nahmen zum Schutz der Umwelt bleibt da wenig übrig. Wenn in dieser Situation die Ö k o l o g i e b e w e gung in den fortgeschrittensten Industrieländern die neue Bescheidenheit, den Verzicht und den neuen Einklang mit der Natur predigt, dann ist dies - weltweit gesehen - ein w i n z i ger Tropfen auf den heißen Stein. Ihr Z i e l kann sie auf absehbare Zeit vor allem deshalb nicht erreichen, weil dies nur mit einem Umschreiben des kulturellen Programms der Moderne auf die Antimoderne möglich wäre: von der Erweiterung zur Einschränkung von Rechten. Wer läßt sich aber Rechte nehmen, die ihm bislang als sakrosankt garantiert wurden, z . B . das Recht auf unbegrenzte Mobilität? D i e Frage ist, wie die moderne Gesellschaft von E x pansion auf Schrumpfen umgestellt werden kann. Wenn w i r z . B . die erwähnte Zerstörung natürlicher und soziokultureller Lebenswelten nicht wollen, dann m ü ß t e der Massentourismus erheblich zurückgefahren werden. Daran wagt jedoch kaum jemand zu denken. Im G e genteil, die Entwicklung ist uneingeschränkt auf weitere Expansion ausgerichtet (Steger 1993). Nach der Entwicklungslogik der M o - 36 derne werden sich die gegenwärtig von der World Tourism Organization jährlich gezählten T o u r i s t e n a n k ü n f t e von bald 500 Millionen auf f ü n f und mehr Milliarden steigern (United Nations 1992, S. 692, 724, 968). Wie sollen deren Auswirkungen durch rein technische Verbesserungen in Grenzen gehalten werden? Das ist schlicht undenkbar. Zumindest die Zerstörung der gewachsenen soziokulturellen Lebenswelten und eine weitere Destabilisierung des sozialen Lebens ist zu erwarten. Trotzdem gibt es keine Alternative zum gegenwärtigen Massentourismus, die i m Rahmen des modernen Denkens akzeptiert werden könnte. E i n Z u r ü c k f a h r e n des Massentourismus w ü r d e massenhaft Arbeitsplätze vernichten und den materiellen Lebensstandard in nicht vorstellbarem A u s m a ß zurückschrauben. In den Zentren des Massentourismus sind die alten Formen der Subsistenzwirtschaft längst verschüttet worden und nicht mehr wiederzubeleben. Aber auch zu den unzähligen Arbeitsplätzen in allen Wirtschaftszweigen, die mittelbar vom Tourismus leben, bieten sich keine gleichwertigen Alternativen an. Welche Arbeitsplätze sollen an deren Stelle treten? In großem U m f a n g könnte der Verlust an Arbeitsplätzen nur durch die neue Aufteilung der verbliebenen Arbeitsplätze unter der arbeitsfähigen Bevölkerung kompensiert werden. In den fortgeschrittenen Gesellschaften m ü ß t e aufgrund ihrer hohen Produktivität ein Arbeitsplatz von mehr Personen als zuvor besetzt werden, sollen die A r beitslosenzahlen nicht gewaltig steigen. Der A u f b a u neuer Arbeitsplätze m ü ß t e außerdem strengen Kriterien gehorchen: keine materiellen Produkte, die den M ü l l vermehren, die Umwelt vergiften und Lärm verursachen; z.B.: Nachbarschaftsvereine gründen, die gegen Entgelt M ä r c h e n s t u n d e n , Gesprächsrunden, K i n derspiele, T h e a t e r s t ü c k e , S p o r t w e t t k ä m p f e , Singen und M u s i z i e r e n organisieren. M a n könnte aber auch schlicht auf neue Arbeitsplätze verzichten, weil die neue Philosophie FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 des Verzichts ein erhebliches Schrumpfen der Einkommen erlaubt, ohne d a ß dies als Verlust empfunden wird: Wer kein Zweitauto braucht und nicht in die Karibik fliegen w i l l , kommt auch mit weniger Einkommen aus. Stellen wir uns vor, eine kleine Gemeinde, die bislang vom Tourismus gelebt hat, w ü r d e ihr Expansionsprogramm auf R ü c k b a u umschreiben. D i e Folgen w ä r e n abnehmende Konkurrenzfähigkeit gegenüber anderen Ferienzielen, sinkende Übernachtungszahlen, schrumpfende Einkommen, Schließung von Restaurants und Entlassung von Personal, das sich anderenorts nach neuen Stellen umsehen müßte. A u f begrenztem Niveau des Lebensstandards könnte die Gemeinde überleben. Sie wäre jedoch nach wie vor den Negativeffekten der Expansion anderer Regionen ausgeliefert, z . B . der Umweltvergiftung durch Abgase, dem Lärm durch steigenden Flugverkehr, den K l i maveränderungen. E i n nachhaltiger Wandel könnte nur auf nationaler Ebene und dies auch nur begrenzt erfolgen, weil die nationale Gesellschaft der internationalen Konkurrenz und den Auswirkungen des internationalen Wirtschaftswachstums ausgesetzt ist. A u f nationaler Ebene m ü ß t e n Mehrheiten f ü r ein Programm des Verzichts gefunden, auf internationaler Ebene entsprechende Absprachen getroffen werden. Hier stellt sich jeweils das Problem, daß niemand von sich aus motiviert sein wird zu verzichten, wenn daraus überhaupt kein subjektiver Gewinn hervorgeht. Das wird nur dann der F a l l sein, wenn im Gefolge von A u f k l ä r u n g s k a m p a g n e n sozialer Bewegungen die Bereitschaft wächst, kollektiv bindende nationale Mehrheitsentscheidungen und globale Absprachen zu akzeptieren, die zu einem solchen Verzicht zwingen. FORSCHUNGSJOURNAL N S B 5. 2/94 K ö n n e n soziale Bewegungen das P r o g r a m m der Moderne umschreiben? Bs w i r d eine g r o ß e Rolle spielen, ob der abverlangte Verzicht als gerecht empfunden wird. Grundsätzlich wird eine konsequente Umweltpolitik den Zugang zu den natürlichen und sozio-kulturellen Umwelten limitieren müssen. Welche Kriterien des Zugangs werden dabei als gerecht anerkannt, welche als ungerecht abgelehnt? K a n n darüber überhaupt Übereinstimmung erzielt werden, oder m u ß diese Frage dem politischen K a m p f um Mehrheiten allein überlassen bleiben? S o l l der Zugang zur Umwelt gleich verteilt werden, unabhängig vom v e r f ü g b a r e n Einkommen, oder soll er einfach an Zahlungen gebunden werden? Wenn wir nicht auch das Leistungsprinzip der Marktwirtschaft über Bord werfen wollen, dann wird sich eine Regelung des Zugangs zur Umwelt über Zahlungen nicht vermeiden lassen. Jede umweltbelastende Tätigkeit - z . B . die Fahrt ins K i n o , z u Freunden, der Flug in den Urlaub, Wäschewaschen, Süßigkeiten aus der Plastikverpackung naschen, Fernsehen - ist dann mit so hohen Abgaben zu versehen, daß in der Tat e i n k o m m e n s a b h ä n g i g unterschiedliche Grenzen der Umweltnutzung auferlegt werden. Wir kehren bei einem solchen M o d e l l in erheblichem M a ß zur Klassengesellschaft zurück. Es w ü r d e n sich auf nationaler Ebene wieder deutlicher Klassenunterschiede im Lebensstandard herausbilden. A u f internationaler Ebene h i e ß e dies, d a ß den bislang armen Ländern der A u f s t i e g in die Mittel- oder Oberklasse verwehrt bleibt. A n der formalen G e w ä h r u n g der Rechte w ü r d e nichts geändert, ihre materielle Wahrnehmung w ä r e jedoch erheblich eingeschränkt, und zwar ungleich nach der Höhe des v e r f ü g b a r e n Einkommens. Das Gegenmodell zur erneuerten Klassengesellschaft ist ein Kommunismus des Verzichts. 37 In diesem F a l l m ü ß t e n alle davon überzeugt werden, daß sie besser leben, wenn sie alle in gleichem Maße Verzicht leisten. Dann wären Einkommensunterschiede völlig irrelevant f ü r die Gestaltung des individuellen Lebens. Das Individuum m ü ß t e sich selbst aufgeben und der Gruppe unterstellen. F ü r Individualismus wäre in einer solchen Gesellschaft kein Platz. Bei diesem M o d e l l m u ß zwangsläufig ein niedrigerer Leistungsstandard in K a u f genommen werden. Fatal wird es, wenn Gesellschaften mit diesem M o d e l l mit kapitalistisch wirtschaftenden Gesellschaften mithalten m ü s s e n . Zwischen diesen beiden Extremen sind M i s c h formen mit unterschiedlicher Gewichtung denkbar, d.h. M o d e l l e eines bescheidenen Wohlfahrtstaates im Verzicht. N a c h diesen Modellen wird f ü r alle ein M i n i m u m der U m weltnutzung festgelegt. Was darüber hinaus an Nutzung noch freibleibt, ist sehr teuer und deshalb nur f ü r entsprechend zahlungskräftige Interessenten zugänglich. Die Ökologiebewegung steht vor der A u f g a be, einen Weg zwischen den beiden Extremen zu beschreiten, der zu einer wirklichen U m kehr hinleitet. U m sich nicht den Vbrwurf des Antimodernismus einzuhandeln, agiert sie meist vorsichtig und gibt sich mit dem Protest zufrieden, kann aber nicht offensiv f ü r ein umfassendes Programm des Verzichts werben, weil die entsprechenden E i n s c h r ä n k u n g e n der L e b e n s f ü h r u n g bislang von niemandem freiwillig akzeptiert werden. Das Klassenmodell gilt als ü b e r w u n d e n durch die Errungenschaften der Wohlstandsgesellschaft, das kommunistische M o d e l l als desavouiert durch den real existierenden Sozialismus vergangener Tage. Ein überzeugendes Mischmodell des Wohlfahrtsstaates im Verzicht ist noch nicht gefunden. Je mehr sich die Ö k o l o g i e b e w e g u n g um Mehrheiten b e m ü h t - wie die Partei der Grünen in der Bundesrepublik - um so mehr m u ß 38 sie sich der K o m p r o m i ß l i n i e der etablierten Parteien nähern. Diese Kompromißlinie verbleibt im Rahmen der Moderne und sucht die Negativeffekte des Wachstumsprogramms abzumildern, ohne daß es zu einschneidenden Verzichtsleistungen kommen m u ß . Es ist das Schicksal der Moderne, daß sie zwar antimoderne Bewegungen zulassen, aber sich selbst nicht in die Antimoderne verwandeln kann. A l s Bestandteil der Moderne bleiben auch die sozialen Bewegungen in diesem Dilemma gefangen. Eine Umstellung von Expansion auf Schrumpfung, von Anspruchssteigerung auf Verzicht, von der Erweiterung auf die Einschränkung von Rechten durch die Einführung einer neuen Klassengesellschaft des differenzierten Umweltschutzes oder eines K o m m u nismus des gleichverteilten Verzichts oder einer Mischung davon bedeutet einen Wandel von der Moderne zur Antimoderne. Zumindest die Gewichte würden sich ein Stück weit von der Moderne zur Antimoderne verlagern. Richard Münch ist Professor für Soziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Literatur Brand, Karl-Werner 1982: Neue soziale Bewegungen. Entstehung, Funktion und Perspektive neuer Protestpotentiale. Eine Zwischenbilanz. Opladen: Westdeutscher Verlag Brand, Karl-Werner (Hg.) 1985: Neue soziale Bewegungen in Westeuropa und den USA. Ein internationaler Vergleich. Frankfurt a.M.: Campus Brand, Karl-Werner/Büsser, Detlef/Rucht, Dieter 1983: Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Frankfurt a.M.: Campus Cohen, Jean L . 1985: „Strategy or Identity: New Theoretical Paradigms and Contemporary Social Movements", in: Social Research 52, S. 663-716 Eder, Klaus 1985: „The 'New Social Movements': Moral Crusades, Political Pressure Groups, or So- FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 cial Movements?", in: Social Research 52, S. 869900 Gamson, William A . 1975: The Strategy of Social Protest. Homewood. 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New York: Basic Books 40 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 Klaus Eder Die Institutionalisierung kollektiven Handelns E i n e n e u e t h e o r e t i s c h e P r o b l e m a t i k in d e r B e w e g u n g s f o r s c h u n g ? 1. Einleitung Soziale Bewegungen sind von zentraler B e deutung in der Sozialtheorie über die letzten 25 Jahre gewesen. Diese Bedeutung hat sogar noch zugenommen. So viele Bewegungen haben sich vervielfacht, und sie sind zu einem normalen P h ä n o m e n im sozialen Leben geworden. Warum werden sie dann aber als etwas Besonderes behandelt, das sich von 'normalen' Interessengruppen oder Parteien unterscheidet? Haben soziale Bewegungen etwas Einzigartiges an sich? Ich werde mit einer D i s kussion der neueren Kontroversen innerhalb der Theorie Sozialer Bewegungen ( T S B ) beginnen, die einen ersten Hinweis auf das Besondere der Sozialen Bewegungen liefert. A n schließend werde ich mit einer Diskussion von zwei Entwicklungen fortfahren, die gegenwärtig in der Analyse sozialer Bewegungen aufgetaucht sind. 2. Die alte theoretische Problematik 2.1 Die makrosoziologische Antwort: Touraine v e r s u s McCarthy/Zald Der erste Fragenkatalog betrifft vor allem die makrosoziologischen Perspektiven in der modernen Sozialtheorie und soziologischen Theorie. Welche theoretische Bedeutung kommt den Bewegungsanalysen f ü r die Erklärung der Entwicklung der modernen Gesellschaft zu? Was tragen Bewegungsforscher zum Verständnis des Modernisierungsprozesses moderner Gesellschaften bei? Eine erste, radikale Antwort hat A l a i n Touraine gegeben. E r argumentierte, daß soziale Bewegungen ein zentrales Element der Dynamik moderner Gesellschaften geworden sind und deshalb den Schlüssel zu einer soziologischen Analyse darstellen. A u s der Theorie der Gesellschaft wurde eine Theorie sozialer Bewegungen, die grundlegende Annahmen der modernen Sozialtheorie und der Gesellschaftstheorie in Frage stellte: - Soziale Bewegungen ersetzen Klassen; - Kultur wird ersetzt durch Orientierungsmuster kollektiver Akteure; - Identität wird durch kollektives Handeln geschaffen; - Institutionen sind f ü r das soziale Leben von sekundärer Bedeutung. Diese Annahmen entsprechen allerdings nicht mehr der Realität moderner Gesellschaften der letzten zwei Jahrzehnte. D a f ü r lassen sich f o l gende empirische Belege a n f ü h r e n : FORSCHUNGSJOURNAL N S B - Klasse ist noch immer eine wichtige Determinante sozialer Bewegungen, wie die These des Mittelklasse-Radikalismus zeigt; - Kultur orientiert sich weitaus mehr noch an Erinnerungen als an kollektiven Projektionen, die auf sozialen Wandel ausgerichtet sind (Bewegungen folgen sozialem Wandel mehr als das sie ihn anführen!); - Identitätskonstruktionen sind immer noch stärker in traditionellen Vorstellungen verankert, die beträchtlichen politischen E i n f l u ß haben, als in Identitätskonstruktionen sozialer Bewegungen. E i n Beispiel sind kons e r v a t i v - r e a k t i o n ä r e Identitätselemente in der Umweltbewegung (besonders in Deutschland); - Institutionen prägen die Gesellschaft mehr als dies Handlungen sozialer Bewegungen tun; die Teilnahme sozialer Bewegungen an der Reorganisation des institutionellen Systems moderner Gesellschaften zeigt, daß sie durch die Institutionen verändert werden (Eder 1993b). Das Gegenargument, das diese empirischen Daten nahelegen, lautet: Bewegungen werden viel mehr durch die soziale Wirklichkeit geformt als die soziale Wirklichkeit durch soziale Bewegungen. Dennoch hatTouraines Theorie die Bewegungsforschung der letzten 25 Jahre anleitenden Fragestellungen und Erklärungsansätze stark beeinflußt: der Wandel der Klassenstruktur, das A u f k o m m e n postmaterialistischer Werte, neue politische Identitäten, wie sie in der Idee der 'Neuen Politik' manifest werden, und der Niedergang der traditionellen politischen Institutionen, sei es der politischen Parteien oder des Staates als solchem. Forschung auf diesem Gebiet gibt es genug - und dem ist nicht mehr v i e l Neues h i n z u z u f ü g e n . Aber es bleibt ein Defizit, ein G e f ü h l von U n 1 41 2/94 vollständigkeit: Was haben soziale Bewegungen wirklich verändert? W i e haben sie zur D y namik der modernen Gesellschaften und ihrem Selbstmodernisierungsprozeß beigetragen? Die T S B ist einst eine Herausforderung an die Sozialtheorie gewesen und hat einen enormen Einfluß auf unser Verständnis der Dynamiken moderner Gesellschaften ausgeübt. Sie hat soziale Bewegungen als makrosoziale Akteure eingeführt und damit die Voraussetzung f ü r einen neuen Forschungsansatz gelegt (den sogenannten Neue Soziale Bewegungen ( N S B ) Ansatz). Sie ist Ausgangspunkt einer wichtigen theoretischen Kontroverse gewesen, die Kontroverse zwischen dem europäischen N S B Ansatz und dem amerikanischen Ressourcenmobilisierungsansatz, zwischen dem Identitätsparadigma und dem Organisationsparadigma, ohne jedoch, so w ü r d e ich behaupten, die realen Kräfte und Wirkungen zu erfassen. 2.2 Die mikrosoziologische Antwort: Zwei konkurrierende handlungstheoretische Sichtweisen Der erste Fragenkatalog bezieht sich auf m i krosoziologische Perspektiven, auf die der T S B zugrunde liegende Theorie sozialen Handelns. Die Handlungstheorie ist Gegenstand einer interessanten Diskussion gewesen, in der es um die Frage ging, wie die Entstehung kollektiven Handelns in sozialen Bewegungen erklärt werden kann. Warum engagieren sich M e n schen in kollektiven Aktionen wie sozialen Bewegungen? Zwei Positionen stehen sich innerhalb der T S B gegenüber: die rationalistische Erklärung und die verstehende Erklärung sozialen Handelns: Rationales Handeln (RC) ist an eine Situation der Wahl gebunden (wie sie die Rational Choice-Theorie formuliert) und Vernünftiges Handeln (CA) an eine Situation der gegenseitigen Anerkennung (wie sie in der Theorie kommunikativen Handelns entwickelt 42 FORSCHUNGSJOURNAL N S B wird). Beide Theorien ö f f n e n neue Wege, und sie tun dies in z w e i Hinsichten: 2 - - Z u m einen produzieren rationale und symbolische Handlungen besondere soziale interaktive Effekte; die exemplarische Situation i m Rational Choice-Ansatz ist das Gefangenendilemma, eine Situation, in der rationale Akteure, die in Interaktion miteinander stehen, versuchen, ihren Vorteil aus einer Situation der Unberechenbarkeit zu schlagen, da sie nicht wissen, wie der andere jeweils reagieren wird. Das Schlüsselereignis im anderen Ansatz ist dagegen die diskursive Situation, in der Handelnde gezwungen sind, ihre Handlungen durch k o l lektiv z u s t i m m u n g s f ä h i g e Argumente im Verlauf eines Argumentationsprozesses zu legitimieren. Z u m anderen k ö n n e n beide Ansätze als Idealmodelle der Handlungskoordination beschrieben werden. Im ersten F a l l ist es der Versuch, die beste Strategie herauszufinden f ü r alle, die an der Situation beteiligt sind. Im zweiten F a l l handelt es sich um den Versuch, eine kollektiv geteilte Interpretation der Sitaution z u finden (ein temporärer Konsens). D i e Koordinierungsmechanismen bestimmen z w e i einander entgegegensetzte Modelle der Handlungskoordination: Markt und Diskurs. Beide M o d e l l e erklären die Koordination sozialen Handelns, indem sie sich - um klassische soziologische Kategorien zu gebrauchen - entweder auf materiale oder auf ideelle Interessen beziehen. Das materiale Interesse ist es, eine Situation zum eigenen Vorteil zu benutzen (durch iterative Spiele (Axelrod 1984)). Das ideelle Interesse ist es, sich am moralischen Wert der menschlichen Existenz zu orientieren. Das ist die Perspektive von K o h l bergs und Habermas' Theorien der Entwick- 2/94 lung des moralischen Bewußtseins (Kohlberg 1981; Habermas 1983). Beide Interessen sind - wie Weber es uns gelehrt hat - gleichermaßen im historischen Leben präsent. Sie sind der Ort heftiger ideologischer Schlachten gewesen. Aber der Ort der theoretischen K ä m p f e hat sich verändert. 3 Ein erstes Anzeichen dafür findet sich in der Klärung des empirischen Status dieser idealisierenden Modelle. Das Problem besteht nicht einfach darin, daß Menschen in systematischer Weise von diesen Modellen abweichen. Das ist normal. Das Problem ist, daß es sozial strukturierte Muster bezüglich der Möglichkeit gibt, sich rational oder kommunikativ zu verhalten. Empirische Vorschläge, um mit dieser Problemstellung umzugehen, kommen ü b e r w i e g e n d von den Rational Choice-Theorien sozialen Handelns. Sie weisen darauf hin, daß Gruppenheterogenität (nicht -homogenität!) f ü r die Entstehung kollektiven Handelns konstitutiv ist; daß die G r u p p e n g r ö ß e eine wichtige Rolle spielt; daß eine kritische Masse von Aktivisten notwendig ist, damit kollektives Handeln aufkommt und Unterstützer mobilisiert werden. Aber auch die Theorie kommunikativen Handelns hat Vorschläge gemacht: so wenn behauptet wird, daß die Kapazität des öffentlichen Diskurses eine entscheidende Variable in der Konstitution sozialer Bewegungen darstellt, oder daß der kommunikative Charakter sozialer Bewegungen sie zum privilegierten Handlungsakteur in der Verteidigung der Lebenswelt gegenüber der Dominanz der Systemimperative macht. Diese allgemeinen empirischen Überlegungen lassen sich als k o m p l e m e n t ä r e Problemstellungen verstehen. Rational ChoiceAnnahmen vernachlässigen die kommunikative Natur kollektiven Handelns, Theorien kommunikativen Handelns die strategische Seite kollektiven Handelns. FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 43 M a n sieht: D i e T S B hat eine interessante theoretische Diskussion in der Theorie sozialen Handelns ausgelöst. D i e Konfrontation von Rational Choice-Theorien und der Theorie kommunikativen Handelns, die die theoretische Auseinandersetzung in den letzten Jahrzehnten bestimmt hat, liegt theoretisch auch der hitzigen Diskussion zugrunde, wie sie sich am sogenannten Paradigmenstreit in der Bewegungsforschung zwischen amerikanischen und europäischen Ansätzen, zwischen R M - A n satz und N S B - A n s a t z , beobachten läßt. Im wesentlichen besteht diese Diskussion aus einer Kritik des europäischen Ansatzes am amerikanischen Ansatz, die speziell auf das sogenannte Identitätsparadigma zurückgeht. Danach sind soziale Akteure nicht bloß durch rationale Interessen motiviert, sondern folgen oft auch den Normen und Werten, die sich gegen diese rationalen Interessen richten können. Sie verteidigen eine personale Identität, die in einer kollektiven Identität, in einer kollektiv geteilten Vorstellung vom guten Leben, verankert sind. Seitdem Identität strategisch benutzt werden kann und damit einen Ort hat im Rational Choice-Paradigma, und seitdem strategisches Handeln wiederum i m Identitätsparadigma untergebracht werden kann, hat sich der erbitterte Streit der beiden A n s ä t z e gelegt. D i e ideolgischen K ä m p f e nehmen ab. E i n breiter individualistischer Konsens zwischen Rational Choice und Kommunikativem Handeln breitet sich aus. 4 Der individualistische Konsens hat zu der paradoxen Situation geführt, daß es einen theoretischen Graben ohne theoretischen Streit oder Konflikt gibt. Analysen sozialer Bewegungen haben die großen theoretischen Auseinandersetzungen hinter sich gelassen. In dieser paradoxen Situation haben w i r zwei Optionen: zum Forschungsalltag z u r ü c k z u k e h r e n oder eine neue theoretische Grundlage vorzubereiten, um soziale Bewegungen unter den heutigen U m - ständen zu verstehen und zu erklären. Ich werde zuerst auf die erste Option eingehen und dann ein Argument zugunsten einer institutionalistischen Erklärung sozialer Bewegungen vorstellen. 2.3 Die neue Bescheidenheit Der gegenwärtige Zustand der T S B markiert das Ende der alten K ä m p f e . Dieses Ende ist durch das paradigmatische Übereinkommen der Bewegungsanalyse als eines normalen Feldes sozialer Forschung charakterisiert. W i r stehen im Mittelpunkt dieser Situation, die ich gerne als neue Bescheidenheit beschreiben m ö c h t e . Neue Bescheidenheit betont die Komplementarität der Perspektiven in der empirischen Forschung. Diese K o m p l e m e n t a r i t ä t der alten, theoretisch bedingten Teilung der Paradigmen, die der neuen Bescheidenheit bei der Erklärung moderner Protestaktivitäten zugrunde liegt, wird in Schema 1 z u s a m m e n g e f a ß t (siehe Kasten folgende Seite). Der theoretische Diskurs, der in der neuen Bescheidenheit auftaucht, thematisiert die parallele Struktur der theoretischen A n s ä t z e in der Bewegungsforschung und ihre partielle empirische Geltung; er synthetisiert diese Ansätze durch 'Kontextualisierung'. D i e parallele Struktur des großen theoretischen Grabens und die Voraussetzungen f ü r die Option, die ich 'neue Bescheidenheit' in der Bewegungsforschung nenne, ist von Neidhardt/Rucht (1991: 438) als eine Theorie expliziert worden, die Protestaktivitäten mit zwei Variablensets erklärt: mit Variablen, wie sie in der R M - T h e o r i e A n wendung finden (Mobilisierungspotentiale, soziale Bewegungsorganisationen) und mit V a riablen, die sich im N S B - A n s a t z finden (struktureller und kultureller makrosozialer Wandel). Seit sich die M a k r o - und die Mikroperspektive mehr oder weniger miteinander versöhnt 44 FORSCHUNGSJOURNAL N S B haben, hat sich der theoretische Diskurs einer Beobachtung der Mesoebene zugewandt, der Mesomobilisierung, der Bewegungsorganisation auf einem Meso-Niveau. Diese Perspektive zielt auf die Konzeptualisierung von Protest, indem sie die unterschiedlichen Handlungslogiken, die den theoretischen Streit genährt haben, dadurch miteinander vermittelt, daß sie ihnen relative empirische Bedeutung in vorgebenen sozialen Kontexten zuweist. Diese 'Kontexte' werden als 'Opportunitätsstruktur' beschrieben. D i e Idee der Opportunitätssruktur bleibt allerdings bloß deskriptiv. Sie wird als eine empirische Variable oder als ein Set von empirischen Variablen in der Umgebung von Protestaktivitäten behandelt. (Neidhardt/Rucht 1991: 447) Der Begriff 'politische O p p o r t u n i t ä t s s t r u k t u r ' bezieht sich auf Kontextvariablen, die die Dynamik kollektiven Handelns beschränken oder befördern, wie z.B. Wahlsysteme, nationale politische Kulturen, gegebene Parteiensysteme, legale Vorschriften, staatliche Repression usw. Das K o n zept der politischen Opportunitätsstruktur un5 2/94 terscheidet jedoch zu strikt zwischen dem Phänomen sozialer Bewegungen und ihrer U m welt, was auf eine mechanische Abgrenzung sozialer Bewegungen auf der einen Seite und des Kontexts auf der anderen hinausläuft und deren Interaktion nicht mehr greifbar macht. Eine weitere Entwicklung erfuhr das Konzept einer Opportunitätsstruktur mit dem 'Framing'Konzept. Der Begriff ' f r a m i n g ' bezieht sich auf kulturelle Definitionen dessen, was soziale Akteure miteinander verbindet, also das Framing von Issues oder das Framing von M o b i lisierung. Framing ist eine kulturelle Variable, die erklären soll, unter welchen kulturellen Kontextbedingungen soziale Akteure sich in kollektiven Aktionen engagieren. Damit wird die mechanische Trennung von politischen Opportunitätsstrukturen und kollektiver M o b i l i sierung, zwischen Kontext und kollektivem Handeln aufgehoben; denn Frames sind ebenso Teil der Umwelt kollektiven Handeln wie selbst kollektives Handeln. 6 Schema 1: Vergleich von Ressourcenmobiliserungsansatz (RM) und dem Ansatz Neue Soziale Bewegungen (NSB) RM: NSB: a) Kostenvorteile der Partizipation selektive Anreize b) Organisation a) Alte und neue M i ß s t ä n d e b) Antimoderne Werte, symbolisches Handeln, Anbindung an die Mittelklasse c) Erfolgserwartungen, kollektive Anreize d) Phasentheorie: Bildung des Mobilisierungspotentials, Aktivierung der Rekrutierungsnetzwerke, Motivierungsaktionen (Kampagnen zur Beeinflussung der Kostenvorstellungen) e) Konsensusmobilisierung/Aktionmobilisierung c) Reaktion auf Postmaterialismus d) Historische Einbettung: Neue Bewegungen als eine Reaktion auf j den Wohlfahrtsstaat oder als die Vorreiter eines neuen Typs von Gesellschaft e) Negativer Konsens: Identitätsängste, Lebensweltängste FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 45 E i n weiterer Schritt in diese Richtung besteht darin, ein komplexeres M o d e l l des Zusammenhangs von Bewegung und Kontext zu konstruieren. E i n solches M o d e l l zur Integration der Ansätze aktueller Bewegungsforschung (Neidhard/Rucht 1991: 457) ist auf die Idee eines Netzwerks kollektiver Akteure gegründet, zu dem kollektive Protestakteure = soziale Bewegungen als ein Element gehören. Dieses komplexe M o d e l l spezifiziert die Umwelt in Begriffen einzelner kollektiver Akteure, mit denen Protestgruppen interagieren. Was ist nun der theoretische Punkt dieses Modells? Welcher A r t ist die Sozialtheorie von Gesellschaft, auf die sich dieses M o d e l l gründet? Welche Art von Handlungstheorie liegt diesem M o dell zugrunde? Wie läßt sich die Dynamik dieses M o d e l l konzeptualisieren? Die neue Bescheidenheit der T S B hat keine Antwort auf diese Fragen. D i e Evolution der modernen Gesellschaft erfordert weniger bescheidene Antworten. Sie hat die Rolle der Bewegungen geändert, sie hat soziale H a n d l u n g s r ä u m e f ü r Bewegungen geschaffen, die vorher so nicht existierten. U n d sie hat diese H a n d l u n g s r ä u m e im öffentlichen Raum der modernen Gesellschaft miteinander integriert und sie z u einem Teil der institutionellen Strukturen gemacht, die diesen öffentlichen Raum kontrollieren. Das führt uns z u der Überlegung, daß die neuen theoretischen Auseinandersetzungen darüber sein werden, w i e w i r uns diese neuen Handl u n g s r ä u m e unter kulturellen und institutionellen Gesichtspunkten vorstellen. Ich m ö c h t e im folgenden argumentieren, daß der neue K u l turalismus und der neue Institutionalismus die neuen K o n f l i k t l i n i e n strukturieren. 7 3. Das Entstehen neuer theoretischer K ä m p f e 3.1 Die neue K o m p l e x i t ä t und ihre analytische Reduktion Die neo-institutionalistische Perspektive behauptet, daß Bewegungen Organisationen sind, die mit anderen kollektiven Akteuren in einem komplexen interorganisationellen Feld in Verbindung stehen und Normen und Werte teilen. Die den neuen Kulturalismus kennzeichnende konstruktivistische Perspektive behauptet, daß soziale Bewegungen durch die M e d i e n und die öffentlichen Diskurse gemacht sind und daß ihre Themen und Issues gleichfalls ein Konstrukt dieser Diskurse sind. Oder, um es in anderen Worten zu sagen: Issues und Institutionen ändern sich selbst im Verlauf komplexer Interaktionen der verschiedenen Akteure. Diese neuen Themen e r ö f f n e n neue K o n fliktlinien innerhalb der Sozialtheorie. Sie sind mehr als nur eine Ausweitung des gegenwärtigen 'state of the art'. Ich w ü r d e dagegen in eine andere Richtung argumentieren. Denn diese Entwicklungen werfen neue kontroverse theoretische Fragen auf, die das bestehende Bewegungsparadigma in Frage stellen. Sie zwingen uns, anders zu denken über die m i kro-sozialen Grundlagen kollektiven Protestes und seine makro-soziale Einbindung, sogar bezüglich des makrosozialen Kontexts als solchem, d.h. bezüglich der Theorie des öffentlichen Raumes. 3.2 Die neo-institutionalistische Perspektive Die neo-institutionalistische Perspektive bringt uns zu den makro-sozialen Aspekten der Bewegungsforschung zurück. D i e neo-institutionelle Theorie behauptet, daß die symbolische Repräsentation von dem, was Akteure tun, ein grundlegender Mechanismus ist, um Dynamik FORSCHUNGSJOURNAL N S B und Netzwerke kollektiver Akteure zu erklären. Angemerkt sei, daß eine Abkehr vom individualistischen Erklärungsparadigma stattfindet. Sobald ein Akteur sich auf eine symbolische Repräsentation von sich beziehen m u ß , m u ß er sicher gehen, d a ß der andere seine symbolische Repräsentation auch versteht. Das schließt ein, d a ß Akteure sich auf etwas beziehen müssen, das sie miteinander teilen (das ist es, was Institutionen bezeichnen: intersubjektiv geteilte Regelsysteme der gleichen Art). Zur selben Zeit versuchen Akteure, die Repräsentationen z u beeinflussen, umzudefinieren und z u ersetzen ; aber das ist nur möglich unter der Bedingung, daß diese B e m ü h u n g e n im Anderen Wirkung haben: der Andere sind die Öffentlichkeit und die mit ihr konkurrierenden kollektiven Akteure. 9 Die neo-institutionalistische Perspektive sensibilisiert f ü r die Tatsache, daß Organisationen und ihre Beziehung zu ihrer Umwelt bestimmt sind durch Handlungslogiken, die verschieden sind von dem, was diese Organisationen behaupten zu tun, nämlich rationale korporative Akteure z u sein. Organisationen sind chaotische und anarchische Systeme, die es irgendwie schaffen, sich selbst zu steuern. Aber sie lösen institutionelle Probleme, die diese korporativen Akteure koordinieren. Das gilt f ü r ö k o n o m i s c h e Institutionen, die ihre Transaktionskosten g e g e n ü b e r Formen, Märkten und Verträgen minimieren. Das gilt auch f ü r politische Institutionen (im engeren Sinne für staatliche Institutionen), die die Legitimität von Entscheidungen durch Verfahren gewährleisten. Wir haben auch eine Reihe von sozialen Bewegungen, die sich wie chaotische korporative Akteure benehmen. Aber ihre institutionelle Form und D y n a m i k ist kaum erforscht. A n statt sie bloß wie eine andere Form ö k o n o m i scher (wie der Ressourcenmobilisierungsansatz es tut) oder politischer Institutionen zu betrachten (wie es jene Theorie sozialer Be- 2/94 wegungen tut, die Bewegungen als unvollständige oder F r ü h f o r m e n von Parteien oder Interessengruppen versteht), gibt es die Möglichkeit, daß Bewegungen einen anderen Typ von Institutionen entwickeln, der sie in Beziehung setzt zu anderen korporativen Akteuren und ihrer institutionellen Umwelt. Der wichtigste Punkt der neo-institutionellen Theorie sozialer Bewegungen ist es, daß sie eine andere Beschreibung ihrer Rationalität entwickelt. Soziale Bewegungen brauchen nicht länger formale Rationalität (Rechtsregeln) oder substantielle Rationalität (Recht) als die kulturelle Form, mit H i l f e derer ihre Funktionsweise legitimiert ist. D i e Theorie geht davon aus, daß soziale Bewegungen charakterisiert sind durch die Tatsache, d a ß sie Diskursivität benutzen als die Art, wie sie ihre Funktionsweise beschreiben. Praktiken und Organisationsfomen sozialer Bewegungen sind als diskursive Praktiken institutionalisiert. 10 Die Elemente und Ebenen der neo-institutionellen Theorie der entstehenden institutionellen Ordnung, in der soziale Bewegungen nicht mehr bloß Umwelt sind, sondern konstitutives Element, kann in einem komplexen M o d e l l zusammengefaßt werden, das in Schema 2 präsentiert wird. Die entstehende neue institutionelle Ordnung könnte postkorporative Ordnung genannt werden, und das aus verschiedenen G r ü n d e n . Ihre charakteristischen Merkmale sind die zunehmende Entkopplung der Selbstorganisation ihrer institutionellen Ordnung vom Staat und dem Auftauchen einer Verhandlungsordnung jenseits von Markt und Staat. Der Diskurs wird zu einem Mechanismus, der eine moderne Gesellschft schafft. S i c h selbst jenseits von Markt und Staat ansiedelnd und nur auf den Diskurs bezogen, kann Bewegungsanalyse uns mit Möglichkeiten ausstatten, die dominante Theorie moderner Gesellschaft (und ihre post11 12 13 47 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2 / 9 4 modernen Varianten) zu kritisieren. Der Allgemeinplatz, d a ß soziale Bewegungen einen Prozeß der Institutionalisierung erfahren (worunter normalerweise die Integration in die bestehenden politischen und sozialen Institutionen verstanden wird), m u ß wenigstens korrigiert werden. D i e Institutionalisierung sozialer Bewegungen hat z u Effekten geführt, die das i n stitutionelle System als solches ändern. Indem soziale Bewegungen z u einer Institution werden, erreichen moderne Gesellschaft eine neue Stufe ihrer Evolution. 3.3 Die konstruktivistische Perspektive Die neo-institutionelle Perspektive hat schon die Bedeutung der Kultur betont. E s herrscht allgemeine Ü b e r e i n s t i m m u n g darüber, d a ß moderne Gesellschaften charakterisiert sind durch einen Zuwachs an kulturellen K ä m p f e n , und d a ß soziale Bewegungen die Träger dieses kulturellen Wandels moderner Gesellschaft sind. Solche Behauptungen sind nicht sehr erhellend. Ihnen ermangelt es an Präzision und einem analytischen Rahmen, der über bloße Beschreibung und empirische Feststellungen hinausgeht (hier beziehe ich mich auf die postmaterialistische Diskussion). Das ist der Punkt, Schema 2: Elemente der institutionellen Ordnung des entstehenden öffentlichen Raums Institutionen spezifische Umwelten Marktinstitutionen Zentrale Issues ö k o n o m i s c h e Issues Kollektivgüter-Issues n i c h t ö k o n o m i s c h e und moralisierbare Issues (wie Umwelt oder Abtreibung) Handlungsträger Unternehmen Parteien N G O s , Bewegungsorganisationen Handlungsweisen Verbraucherverhalten Wahlverhalten Bewegungen und Protestmobilisierung Soziale Einheiten Klassen Statusgruppen Moralgemeinschaften Kommunikationsmedien Geld Stimmen öffentlicher Diskurs Öffentlichkeit Verbraucher Wähler Meinungsmacher Staatsinstitutionen institutionelle L o g i k formale Rationalität Gerechtigkeit C i v i l Society-Institutionen Diskursivität |48 FORSCHUNGSJOURNAL N S B wo die Frame- und Framing-Konzepte von Interesse werden. Frames und Framing sind Konzepte, die Vorstellungen wie Werte oder Ideologien etc. ersetzen. Sie sind soziale (gegenüber Werten) und nicht-normative Kategorien (gegenüber Ideologien). Framing bedeutet, etwas als ungerecht, nicht tolerabel z u definieren, das korrigierender Handlungen bedarf. Framing ist die Zurechnung des schlechten Zustandes der Welt in Begriffen der Verursachung (real oder eingebildet) oder der Verantwortlichkeit (Framing mittels negativer Moralisierung ist besonders bei sozialen Bewegungen verbreitet!). U n d schließlich ist es Framing, das kollektivem Handeln erst Bedeutung gibt. Durch das Framing erschaffen kollektive Akteure sich selbst als Akteure, die imstande sind, die Welt zu verändern (oder nicht - mit negativen Konsequenzen f ü r das kollektive Handeln). 14 D i e konstruktivistische Perspektive führt uns zu einer neuen mikro-sozialen Konzeption des Akteurs, die weder an Rationalität noch an Vernünftigkeit orientiert ist. Diese Unterscheidung ist die zwischen R C - und CA-Theorien. Beide sind, wie j ü n g s t e Entwicklungen zeigen, z w e i Seiten einer Medaille. Manchmal engagieren sich Akteure in kollektiven Handlungen aus rationalen Erwägungen, manchmal wegen moralischer Verpflichtungen. D i e konstruktivistische Perspektive behauptet, daß Menschen nicht w i r k l i c h über ihre M o t i v e Bescheid wissen, ob sie nun v e m ü n f i g oder rational sind. Sie konstruieren ihre M o t i v e im Verlauf der Interaktion. Daher können solche Motivationen nicht den A n f a n g einer Erklärung bilden, sondern m ü s s e n selbst erst erklärt werden. Der Konstruktivismus sagt, daß kollektiv geteilte Definitionen von Normen, Interessen, Tatsachen usw. das Resultat sozialer Prozesse sind. Alles entsteht, indem man darüber redet (everything ist talking into being). 15 2/94 Eine 'mikro-soziale' Implikation des Konstruktivismus f ü r eine Handlungstheorie ist die K r i tik der Idee des Handlungsträgers, eines Handelnden mit freiem Willen, der das kollektive Handeln sozialer Bewegungen konstituiert. Diese individualistische Annahme ist eine Ideologie (eine romantische Idee, w i e Collins (1992) sagt). Nunmehr erreichen w i r die grundlegende theoretische Fragestellung, in welchem A u s m a ß das Konzept vom freien Willen oder das der sozialen Determination der richtige Weg sind, um kollektives Handeln z u konzeptualisieren. Je mehr w i r uns auf den Konstruktivismus einlassen (der den Eindruck einer generativen Kraft auf der Seite der sozialen Akteure vermittelt), desto mehr sind w i r gezwungen, die soziale L o g i k z u erkennen, die den sozialen Konstruktionen und der sozialen Determination jeder sozialen Handlung zugrunde liegt. Ausgehend vom Konstruktivismus, gewinnt die nicht-individualistische Sozialtheorie an B o den, was neue theoretische K o n f l i k t e ermöglicht und Raum f ü r neue K ä m p f e e r ö f f n e t . Durch den Konstruktivismus verlieren individualistische Erklärungen (ob nun auf rationale Annahmen oder Vermutungen über Vernünftigkeit beruhend) an Boden. N a c h dem Situationalismus (Knorr-Cetina 1988) kehren die harten sozialen Tatsachen zurück in den Vordergrund - das ist ebenso ein E f f e k t der Illusion, der die T S B zum Opfer gefallen ist. Die neue Konfrontation taucht innerhalb eines nicht-individualistischen Paradigmas auf. W i e viele Handlungsträger es gibt oder wie viele situative Begrenzungen w i r zu aktzeptieren haben, um soziales Handeln wie z . B . kollektive Protesthandlungen in einer sozialen Situation zu erklären, mag eine empirische Frage sein. Aber w i r k ö n n e n solche Fragen nicht beantworten, ohne einen angemessenen analytischen Rahmen zu entwickeln, der sich dafür eignet. Das Paradigma der intersubjektiv kon- FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2 / 9 4 stituierten Situationen ist ein Anfangspunkt, der auf zunehmend komplexer werdenden Ebenen der sozialen Wirklichkeit weiter entwikkelt werden kann. D i e Ebene der öffentlichen Debatte, des politischen Diskurses, der öffentlichen Agenda und des öffentlichen Raumes gehören z u den komplexesten Ebenen. Das weist erneut auf die Zentralität dieser neuen T S B , da soziale Bewegungen Akteure sind, die ein eindeutiges Interesse daran haben, diesen Raum z u schaffen und zu reproduzieren. Aber sie sind dabei nicht allein. D i e Idee einer Bewegungsgesellschaft bleibt eine Utopie, die interessant ist als eine Möglichkeit der Selbstbeobachtung der modernen Gesellschaft. Aber Selbstbeobachtung ist nur ein Teil der sozialen Wirklichkeit. E s ist der Konsens oder der K o n flikt der akteursspezifischen Wahrnehmungen sozialer Wirklichkeit, die entscheidend sind für die Konstitution jener Elemente, die den öffentlichen Raum schaffen als eine zentrale institutionelle Realität in der modernen Gesellschaft. 4. Schlußfolgerung 49 te Settlements) etc. sind Beispiele f ü r P h ä n o mene, die über den Staat hinausgehen. Deshalb schließt Institutionalisierung nicht notwendigerweise das Ende der sozialen Bewegungen ein; es bedeutet vielmehr die Stabilisierung der sozialen Bewegungsorganisation als einer Institution. Sofern diese Institution im Widerspruch steht zur L o g i k der Institution des modernen politischen Systems, sind soziale Bewegungen in der Lage, ein dauerhafter dynamisierender Faktor des sozialen Lebens zu werden. Es ist daher nicht ihr Status als ein historischer Gegenstand, sondern ihre institutionelle Form, die die historische Bedeutung von Protestzyklen definiert, die jede Gesellschaft durchdringen. Wir kommen nunmehr an einem Verständnis der Bewegungsanalyse an, das wieder anschließt an den großartigen theoretischen A n spruch, den Touraine vor zwei Jahrzehnten f ü r die Bewegungsforschung erhoben hat. Diesmal nimmt die Herausforderung aber eine andere Richtung; nicht länger mit Akteuren, sondern mit den Institutionen, die diese Akteure koordinieren. Akteure m ö g e n gehen; Institutionen bleiben. Mein Argument ist gewesen, d a ß soziale B e wegungen einen neuen Typ von Institution repräsentieren, der das institutionelle System Klaus Eder ist Professor f ü r Soziologie am dazu zwingt, diskursive Strukturen anzuneh- Europäischen Hochschulinstitut i n Florenz men. Sie schaffen Institutionen eines diskursiven Typs jenseits von Markt und Staat. Des- Die Übersetzung besorgte Kai-Uwe Hellmann halb gehen sie auch über die L o g i k der Koordinierung von Markt und Staat, der klassischen Aufgabe des Wohlfahrtsstaates, hinaus. D i e entstehende institutionelle Form, auf dem organisierten kollektiven Handeln in der öffentlichen S p h ä r e aufbauend, ist der Gebrauch des Diskurses f ü r ihre Legitimität. Daher f ü g e n sie einen neuen institutionellen Mechanimus hinzu, der die alten Mechanismen, die in den traditionellen politischen Institutionen zuhause sind, verdrängen. D i e Existenz der Verfahren der Mediation, der Vereinbarungen (dispu- 50 Anmerkungen Diese Formulierung meint nicht nur, daß soziale Bewegungen im Kontext gesehen werden müssen. Sie zielt mehr noch auf die Idee, daß Bewegungen ein wichtiger Teil der institutionellen Ordnung einer Gesellschaft geworden sind. Diese Unterscheidung kann zurückgeführt werden auf zwei verschiedene Logiken des moralischen Handelns: Handeln, das orientiert ist an den Konsequenzen, und Handeln, das orientiert ist an Pflichten oder Verpflichtungen (Mclntyre 1981, 1985). Beide können als analytische Elemente sozialen Handelns gesehen werden, die die Grundlage für eine einflußreiche Theorie sozialen Handelns bilden. Diese Theorie als solche ist immer noch zu formulieren. Parsons hat für eine Grundlegung gesorgt, aber sein Weg, die analytischen Elemente des Handelns miteinander zu verbinden, hat die soziale Analyse nicht inspiriert. Es ermangelt philosophischer Begründungen der analytischen Elemente ebenso wie einer adäquaten Theorie der Dynamik der sozialen Ordnung. Dieses sind alte Einwände, aber wert, daß man sie wiederholt. 1 2 Es ist festzuhalten, daß die Wendung zur M o dernität als eines kritischen Anlasses des Theoretisierens das alte theoretische Schlachtfeld teilweise hinter sich läßt. Dieses Interesse an Modernität mag eine Möglichkeit bieten, um zu einer anderen Problematik zu gelangen, die mit der Behandlung sozialer und kultureller Formen als sozialen Tatsachen zu tun hat, die das Medium und Ergebnis sozialer Handlungen sind. Collins (1992) hat das in die provokative Formel des 'Romantizismus der Handlung/Struktur-Unterscheidung' gebracht, deren Folgen für einen situationistischen Ansatz sprechen, in dem Handlung nichts anderes ist als eine Variable. 3 Ein gutes Beispiel für diese Identitätsorientierung ist die Mobilisierung der Studenten in China gegen die staatliche Repression 1989, das Tiananmen Platz-Ereignis (eine gute Diskussion bei Calhoun 1991). Dieser Begriff ist von Tarrow (1983) eingeführt worden. Zum Zwecke dieses Konzept vergleiche 4 5 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 unter anderem Kitschelt (1988) und Kriesi et al. (1992) . Der Begriff wurde von Gamson populär gemacht. Siehe Gamson/Modigliani (1989), Gamson et al. (1992) und Gamson (1992). Z u neueren Beiträgen zu dieser Debatte siehe auch Hunt/Benford (1992) und Benford/Hunt (1992) sowie Eder (1992a). Der neue Kulturalismus ist wiederzufinden zwischen Alexander (1990) und Alexander/Smith (1993) auf der einen Seite und Wuthnow (1987) auf der anderen. Siehe auch meine Diskussion in Eder (1992b). Der neue Institutionalismus, auf den ich mich hier beziehe, wird ausgeführt in March/Olsen (1984) und Powell/DiMaggio (1991). Das ist es, was Klandermans (1988) sagt. Dagegen siehe auch Klandermans (1992), wo er die neuen Themen explizit ohne weitere theoretische Rechtfertigung aufnimmt. Bezüglich dieses Arguments siehe besonders Swidler (1986). Ebenso gebraucht Bourdieu (1980) dieses Argument. Die Gegentheorie würde sein, soziale Bewegungen entweder als zyklische Ausbrüche kollektiver Mobilisierungen oder als Ausgangspunkt eines Entwicklungszyklus zu behandeln, der dann in eine andere soziale Form mündet. Die konkurrierenden Theorien können empirisch getestet werden. Dieser Begriff wird anderswo ausführlicher diskutiert (Eder 1993a). Ein interessanter Faden der Diskussion findet sich bei Ostrom (1990), der sich für den selbstorganisierenden Aspekt in den institutionellen Formen ausspricht, die auftauchen, wenn es um Probleme mit allgemeinen Gütern wie Umweltfragen geht. Siehe als Beitrag von der politikwissenschaftlichen Seite Majone (1989, 1993). Das Problem der Deliberation war immer ein zentrales Anliegen von Habermas (1981, 1992). Zu diesem Punkt siehe auch die Diskussion von DiMaggio/Powell (1991). Sie beziehen sich auch auf die parallelen Konzepte von Beschreibungen und Klassifikationen. Jenseits des ethnomethodologischen Radikalismus einer der neo-institutionalistischen Analysen besteht die Möglichkeit, ei6 7 8 9 10 11 12 13 14 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 nen neuen normativistischen Radikalismus zu entwickeln, der auf der Idee der diskursiven Koordination aufbaut. Das kann wiederum verbunden werden mit der grundlegenden strukturellen Vorstellung (feature) von Modernität als einer K u l tur, in der diskursive Prozesse eine zentrale Rolle in der Produktion und Reproduktion der Gesellschaft spielen (Habermas 1981). Diese radikale Schlußfolgerung ist relativiert worden durch eine Unterscheidung von Hunt/Benford (1992). Sie unterscheiden zwischen lokalem und überlokalem Konstruktivismus. Lokaler Konstruktivismus ist unabhängig von überlokalen Gegebenheiten; es handelt sich um totale Selbstkonstruktion. Extralokalismus (extralokalism) verwendet dagegen Kontextelemente, um eine geteilte Definition der Welt zu konstruieren. In der Bewegungsanalyse können wir uns nicht auf den Lokalismus beschränken, weil wir mit historisch definierten Situationen zu tun haben, die präjudizieren, was möglich ist (Lokalismus unterstellt geschichtsfreie Situationen wie elementare soziale Konstanten (encounter) der anthropologischen Natur). 15 Literatur Alexander, J. 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Sie haben mit Konfliktsystem und Immunsystemen angefangen' und dann kurzfristig von Differenzen, von Dualen gesprochen , um schließlich zu Codes und Programmen überzugehen . Es ist im nachhinein nicht ganz klar, weshalb Sie diesen Wechsel vorgenommen haben, zumal keine Reflexion stattfand, warum ein Wandel stattgefunden hat, so daß der Leser Schwierigkeiten hat, diese Entwicklung nachzuvollziehen. da ich nie systematisch auf dem Gebiet gearbeitet habe, also kein Buch über soziale Bewegungen geschrieben habe, ergibt sich nur aus dem Kontext, was ich jeweils beleuchte, aber ich bin mir jedenfalls nicht bewußt, daß ich die Standpunkte gewechselt habe. Würden Sie denn heute sagen, daß es sich bei sozialen Bewegungen um autopoietische Systeme handelt? 2 3 Ich sehe eigentlich keinen Wechsel, sondern höchstens nach und nach eine Beleuchtung verschiedener Gesichtspunkte, zum Beispiel das Problem der Codierung. D i e Frage eines Codes schließt ja andere Fragen nicht aus. Wenn man eine Theorie sozialer Systeme auf die sozialen Bewegungen anwenden w i l l , und das w ä r e ja nötig, wenn man soziale Bewegungen überhaupt als Systeme bezeichnen w i l l , dann gibt es einen ganzen Apparat von Fragestellungen, den man ausprobieren m u ß , und Soziale Bewegungen als autopoietische Systeme Ja, wenn es überhaupt Systeme sind, und wenn man sagt, alle sozialen Systeme sind autopoietische Systeme; sonst w ü r d e ich den Begriff System nicht anwenden. Dann m ü ß t e das auch auf soziale Bewegungen zutreffen, oder man müßte darauf verzichten, sie überhaupt als S y steme, in Abgrenzung zu einer Umwelt, zu charakterisieren. Wie würden Sie soziale Bewegungen definieren, oder was ist ihre angemessene Beschreibung, wenn sie autopoietische Systeme sind? Einen wichtigen Block von P h ä n o m e n e n kriegt man heraus, wenn man von Protestbewegungen spricht. Ob das alles ist, was geläufiger- 54 weise unter sozialer Bewegung verstanden wird, ist schwer festzustellen. Ich meine, das ist einfach eine Frage des Sprachgebrauchs. Aber es gibt eine Gruppe von sozialen Bewegungen - übrigens: da zählen dann auch die rechtsextremen Bewegungen zu - , die sich an Protesten orientieren und dadurch eine bestimmte Distanz zur Gesellschaft und eine bestimmte eigene Struktur gewinnen, und dieses P h ä n o m e n w ü r d e ich als autopoietisch bezeichnen, in Abgrenzung von irgendwelchen modischen, thematischen Themenkarrieren, denen ihre A n h ä n g e r folgen. Man kann anhand der Funktionssysteme gut studieren, was Sie unter 'autopoietisch' verstehen. Wie läßt sich dieser Prozeß - die operationale Schließung autopoietischer Systeme - gleichermaßen bei sozialen Bewegungen nachvollziehen ? Wenn man sich an dem Protestbegriff orientiert, kann man Einheiten, soziale Einheiten, d.h. Kommunikationsmengen herausgreifen, die sich selber von der Umwelt abgrenzen, indem sie sich bestimmte Protestthemen herausgreifen und diese kommunikativ behandeln, so daß eine Kommunikation als zugehörig oder nicht z u g e h ö r i g erkennbar ist, je nachdem, ob ein bestimmtes Protestthema, sagen w i r i n der Friedensbewegung oder in den ökologischen Bewegungen oder i n den rechtsradikalen Bewegungen, durchgehalten wird. Wenn man das Rechtssystem anschaut, dann handelt es sich um den Code Recht/Unrecht, und dieser Code entscheidet für sich, was zum System gehört und was nicht, und es ist ein Code insofern, als es einen Wert und einen Gegenwert gibt. Liegen denn entsprechende Unterscheidungen bei sozialen Bewegungen vor, die wie die Codes der Funktionssysteme funktionieren ? FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 Nein. E i n Protest hat sozusagen die A u ß e n s e i te, nicht zu protestieren, oder die Gesellschaft so laufen zu lassen, wie sie läuft, oder alles f ü r gut zu halten und sich u m nichts weiter zu kümmern. Es gibt also diesen 'unmarked Space', diesen nicht mitgemeinten Kreis von gemeinten K o m m u n i k a t i o n s m ö g l i c h k e i t e n , der ausgeschlossen ist, wenn man protestiert. Dieser 'unmarked space', diese anderen Möglichkeiten, sich zur Gesellschaft einzustellen, haben nicht die Form eines Negativwertes, der dazu dient, den Protest zu reflektieren. Insofern ist es also kein binärer Code i n dem strikten Sinne eines selbstreferentiellen Schematismus, wo der positive Wert immer auf einer Negation des negativen Werts beruht und umgekehrt. Wenn es sich aber nicht um einen binären Schematismus handelt, wie gelingt dann die Schließung, um von einem autopoietischen System zu sprechen? Ja, das ist eben das Protestthema... Das Thema? Ja, das Thema, also die Form des Protestes. M a n kann ja nicht protestieren, ohne zu sagen, wogegen oder weshalb, so daß sich aus der Orientierung an einem Protest immer die Notwendigkeit ergibt, ein Thema zu ergreifen. Deshalb gibt es auch i m Unterschied zu den sozialistischen Bewegungen heute viele mögliche, neue, sogenannte neue soziale Bewegungen. Bei Funktionssystemen gibt es ja auch das Erfordernis, daß ein Programm vorhanden sein muß. Ohne ein Programm kann auch der Code eines Funktionssystems nicht funktioneren. Es ist also immer ein Tandem. So sagen Sie auch ßr soziale Bewegungen: Es braucht ßr den Protest auch ein Thema. Ich sehe Ähnlichkeiten, obgleich Sie bestreiten, daß es sich bei FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 Protest um einen binären Schematismus delt. Ist das der einzige Unterschied? 55 han- für Schwachstellen und Negativfolgen der Typik moderner Gesellschaft. D i e Unterscheidung Code/Programm ist notwendig, w e i l der Code noch nicht sagt, was nun Recht und Unrecht, was nun wahr oder unwahr ist, oder wer jeweils Eigentümer ist und wer entsprechend nicht Eigentümer ist, oder was man unter schön/häßlich versteht. U n d weil ein Code zirkulär, tautologisch, also inhaltsleer ist, braucht man Zusatzkriterien, die nicht i n den Code eingearbeitet werden können. M a n kann ja nicht sagen: Etwas ist, sagen wir einmal, wahr oder unwahr oder es ist Gesellschaftstheorie, man kann die Wertliste nicht einfach v e r l ä n g e r n . B e i Protestbewegungen sehe ich diese Struktur nicht. Wenn man annimmt, sie seien nicht i n diesem Sinne binär codiert, kann man aber sagen: Sie haben statt dessen ein Protestthema, und ihre Differenz ist dann: ' W i r oder die Gesellschaft', ' W i r ' und das, was andernfalls geschehen würde, wenn ' W i r ' nicht auftreten, und dies zwingt schon i m Protestthema zu Konkretisierung. M a n kann also nicht sagen: „Ich protestiere erst einmal, und wogegen das ist, ist eine zweite Frage." 'Ich protestiere' ist die generelle A t t i tüde, und die Themenwahl ist dann eine zweite Frage. M a n kann zwar erkennen, daß es Leute gibt, die von Protest zu Protest springen, oder Koalitionen und Sympathisantenbeziehungen zwischen verschiedenen Protestbewegungen bilden. Wer ökologisch protestiert, kann auch einer Friedensbewegung angehören; oder man ist dann auch wahrscheinlich für die Besserstellung der Frauen und so weiter. Es gibt diese A r t von Generalorientierung am Protest mit den zeit- und generationsbedingten Möglichkeiten, die Themen auszuwechseln, aber das hat nach meinem Eindruck nicht die Stringenz der Differenz von Codierung und Programmierung, sondern es ist eher das Sammelbecken f ü r Unzufriedenheiten oder auch, wenn man es objektiver formulieren w i l l , Darauf kommen wir noch zu sprechen. Um festzuhalten: Die Einheit eines autopoietischen Systems bestimmt sich an der System/UmweltDifferenz, in diesem Falle am Code, bezüglich der Bewegungen an der Differenz Dafür oder Dagegen, während das Thema auswechselbar ist; das ist fast beliebig. Insofern führt einerseits das Thema dazu, daß die Selbstabschließung zustande kommt, andererseits ist doch der Protest das eigentliche Indiz für eine Bewegung, und nicht das Thema. Ich möchte noch einmal auf diesen Punkt zurückkommen, daß der Protest das entscheidende Merkmal einer Protestbewegung ist und nicht das Thema. Ja, aber das hätte ja die Konsequenz, daß es eine Protestbewegung gibt, die ihre Themen auswechselt, daß man also erkennen kann, wer protestiert und wer nicht protestiert, so wie man erkennen kann, ob eine Kommunikation zum Rechtssystem gehört oder familial oder religiös gemeint ist. Das w ä r e eine elegante Vereinfachung der Theorie, aber i c h zweifle, ob das realistisch ist, ob man w i r k l i c h sagen kann, es gibt eine Protestbewegung mit klaren Außengrenzen: Immer, wenn man protestiert, ist man in dieser Bewegung, und wenn nicht, dann nicht. Dazu sind die Themen viel zu diffus. Nehmen w i r als Beispiel Politikverdrossenheit, nehmen w i r das, was Taxichauffeure oder Stammtischbesucher so reden. U n z u f r i e denheitsäußerungen sind, glaube i c h , nicht abgrenzbar gegenüber interaktiven P h ä n o m e n e n , gegenüber Situationskommentierungen aller möglichen Art, und erst dann, wenn der Protest eine thematische Form bekommt, also zum Beispiel ökologisch g r ü n ist, oder wenn er mit der Friedensbewegung gegen Rüstung ist, dann kann man annehmen, daß sich i n der Bewegung auch commitments, auch Bindungen zum Mitmachen, zum Weitermachen ergeben, die 56 FORSCHUNGSJOURNAL N S B über das hinausgehen, was man gelegentlich sagt. Deshalb denke ich, daß die Protestbewegungen nicht die Deutlichkeit eines Funktionssystemarrangements haben. 2/94 Punkten, w o die Unzufriedenheit konkret werden kann. Das ist aber auch bei allen Programmen so. Der Code selbst gibt ja nichts weiter vor, als Sie sprechen ja in Ihrem Aufsatz 'Protestbe- daß er eine Unterscheidung einführt, die keine wegungen' davon, daß es sich bei Protest um Alternative zuläßt zum anderen Wert, sondern Kommunikationen handelt, die „an andere nur zweiwertig funktioniert. Sie sagen zugleich, adressiert sind und deren Verantwortung an- Programme lassen sich auswechseln: Sofern mahnen. " Dann sagen Sie: Das reicht noch der Code erhalten bleibt, ändert sich die Idennicht aus, um eine Protestbewegung zu initiie- tität des Systems nicht. Ich sehe hier auch die ren. Es muß noch Systembildung stattfinden. Möglichkeit zu sagen: Protest ist die Einheit, Sie sagen nicht genau, was da passiert, nur, und er kann mit verschiedenen Programmen daß Protest als solcher zu häufig vorkommt, operieren, ohne daß er seine Einheit verliert, als daß es sich immer schon um eine Protest- und man könnte sagen: Die Einheit des Protebewegung handelt. Was passiert dann noch? stes trotz der verschiedenen Themen besteht Könnte man auch sagen, daß sich die andere darin, daß Betroffenheit und Entscheidung geSeite ändert, daß sie bestimmter wird, daß es genüberstehen, und diese Unterscheidung gilt nicht Gesellschaft an sich ist, sondern eine für alle Themen, so heterogen sie auch sein bestimmte Gruppe oder Institution, die ver- mögen. Immer geht es um Betroffenheit auf schärft in den Blick genommen wird, so daß der einen und Entscheidung auf der anderen beide Seiten bestimmter werden und sich der Seite, so daß das die große Klammer darstellt Protest nur noch zwischen zwei Institutionen für allen Protest, und es sich um eine Beweoder Personen abspielt? Jedenfalls bliebe dann gung handelt, die verschiedene Formen andie Bestimmung der Bewegung im Protest als nimmt, bezogen auf unterschiedliche Themen. Form und würde weniger vom Thema abhängen. Commitments 4 Ja, aber aus der Themenwahl ergibt sich ja die Beleuchtung der Teile von Gesellschaft, die mit diesem Thema zu tun haben. A l s o wenn es um die Frauenbewegung geht, geht es u m Karrierestrukturen, d.h. u m Personalmanagement, zum Beispiel, oder u m Gewalt i n den F a m i l i en oder u m bestimmte Fragen wie Abtreibung, und j e nachdem sind es andere Gegner bei ökologischen Bewegungen. D i e ökologischen Bewegungen scheinen sich schon jetzt von der Politikadresse abzuwenden, sie gehen sogar vor die Fabriktore. S i e wollen nicht nur neue Gesetze haben, sondern sie marschieren frontal auf die Industrie z u . Dann steuert aber das Thema Ökologie die Suche nach Gegnern, nach Ich zweifle, ob das - i c h m ö c h t e i n der N ä h e der Empirie bleiben - w i r k l i c h feststellbar ist. Abgesehen davon, daß es Überläufer gibt, setzt man einfach, wenn ein Thema m ü d e wird, auf ein anderes. Das w ü r d e ich durchaus auch empirisch sehen, daß dieselben Personen hier auftauchen oder später dort auftauchen, daß es gleichsam biographische commitments in der Richtung gibt, i n der auslaufenden 68er B e wegung etwa. A b e r ich w e i ß nicht, ob diese Orientierung am Protest, egal an welchem Thema, ausreicht, u m von sozialer Bewegung zu sprechen, von einer sozialen Bewegung, die eine Fülle von Themen nacheinander oder gleichzeitig praktizieren kann und die nur gleichsam durch A u f m e r k s a m k e i t s k a p a z i t ä t e n FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 beschränkt ist, nicht zuviele Themen zugleich zu haben. Das hängt damit zusammen, daß die sozialen Bewegungen größere persönliche Bereitschaften oder Bindungen fordern, auch Loyalitäten i n gewisser Weise, die ja i n den anderen Systemen gar nicht üblich sind: Was bindet mich, mein Geld f ü r diesen oder jenen Zweck auszugeben? Was bindet mich, wenn ich meine Stimme f ü r die eine Partei abgebe, das n ä c h s t e M a l nicht anders zu wählen? Oder im Recht: Ich klage die Erfüllung eines Vertrages ein oder tue es nicht, weil es mir zu lästig ist. Aber das Problem hat die Bewegungsforschung auch, da sie die Schwierigkeiten hat anzugeben: Wie kommt es überhaupt dazu, daß Leute teilnehmen ? Dieses Wahlverhalten gibt es auch ßr Bewegungen, so daß das Moment von Commitment eigentlich hochproblematisch ist. Es ist problematisch, aber es hat einen anderen Stellenwert f ü r den Bestand einer sozialen Bewegung als f ü r den Bestand des Rechtssystems. A n g s t und Mobilisierung Es gibt noch den Modus der Selbstabschließung sozialer Systeme über operative Letztelemente. Sie haben das ßr Organisationen mit Entscheidungen vorgeßhrt, und z.B. ßr Wirtschaft bezogen auf Zahlungen. Gibt es die Möglichkeit, etwas Vergleichbares ßr soziale Bewegungen vorzunehmen? Sie haben selbst mit Angst einen Vorschlag gemacht, der von Klaus Peter Japp dann in dieser Richtung aufgegriffen wurde . Ein anderer Vorschlag lautete Mobilisierung von Heinrich W. Ahlemeyer . Wie denken Sie darüber? 5 6 Ich bin ziemlich unsicher in dem Punkte. Z u nächst einmal: Wenn man sich überlegt, wie eine Kommunikation eine andere als dazuge- 571 hörig erkennt, dann gibt es einfach die thematische Voraussetzung, oder wenn das nicht ausdrücklich gemacht wird, das Selbstverständnis, wenn man zusammenkommt, oder daß, wenn man zusammen marschiert, oder wenn man Briefe mit Adressen versieht, man eine gewisse, sagen wir mal Voreingenommenheit voraussetzen kann bei den anderen, daß man nicht die Frage „Bist du d a f ü r oder bist du dagegen?" noch explizit abhandeln m u ß - es sei denn, es handelt sich um Werbeaktionen, wo die Kommunikation also versucht, weitere Teilnehmer anzuwerben. Darin w ü r d e ich das Zentrale ansehen. Mobilisierung ist ja ein bekannter Begriff aus der Forschung, und A h l e meyer hat das i n seiner Habilitationsschrift auch nicht sehr stark an Protest gekoppelt. W i r haben viel darüber gesprochen, aber er hat sich nicht auf diesen Begriff einlassen wollen. Wenn es wirklich um diese Protestbewegungen geht, und wenn das die zentrale Figur ist, dann kann man Motivannahmen als Vermutungen dahintersetzen. Aber ich denke, daß dies auf keinen F a l l psychologisch verstanden werden darf, und es darf auf keinen F a l l so sein, daß man annimmt, alle Leute zitterten vor Angst. Es gibt ja auch das stellvertretende Angst-haben-für-andere, die eigentlich Angst haben müßten, oder das Betroffensein ü b e r die Betroffenheit anderer, wenn man selber ganz weit vom Kernkraftwerk entfernt wohnt oder überhaupt nicht i n Chiapas zuhause ist. Ich nehme also an, daß es Thematiken gibt wie Betroffenheit oder Angst, die letztlich eine radikalere Form von Betroffenheit ist, die mit psychologischen Unterstellungen arbeitet, die eng z u s a m m e n h ä n g e n mit der Frage, wer überhaupt in Betracht kommt und was man jemandem unterstellen kann, wenn er sich in seinen Kommunikationen sichtbar als d a z u g e h ö r i g zeigt. Das Erstaunliche ist, daß die Gesellschaft es überhaupt erlaubt, und daß sie es Männern erlaubt, Angst zu zeigen. 58 Das ist aber nicht das entscheidende Moment zur Selbstabschließung, sondern etwas Beiherspielendes, das mit zur Unterscheidung hilft, um zu sehen, mit wem man kann und mit wem nicht? Es ist nicht der ausschlaggebende Mechanismus, sondern einer, an dem man auch mitablesen kann, ob es gut geht oder nicht? Ja, das ist, glaube ich, generell f ü r Autopoiesis typisch, daß es also gleichsam keine ontologische Quelle oder keine psychologische Beschaffenheit gibt, die dazu führt, sondern daß das ganze Problem i m Bereich der Kognition liegt, i m Bereich des Erkennens: was dazugehört, wen man ansprechen kann, wen man nicht ansprechen kann, welche Themen passen, welche Themen nicht passen, welche Bindungen geäußert, welche nicht geäußert werden. Insofern liegt in der Autopoiesis-Annahme gerade die A k k o p p l u n g von Gründen, von externen Gründen, von Anlässen, von Ursprüngen. Der Ursprung ist immer eine Mythodologie, die im System erzählt wird, so wie Tschernobyl eine Mythodologie ist - es war ja niemand von denen da, die darüber reden - und die kommunikationswirksam wird. Aber was real im Gesellschaftssystem passiert, ist natürlich nicht die atomare Verseuchung, sondern die Kommunikation. FORSCHUNGS JOURNAL N S B 2/94 Emotionen hat. Dann m ü ß t e man ja auch entscheiden, ob Emotionen etwas sind, was eine momentane Aufgeregtheit bezeichnet, also ein Immunsystem sozusagen: M a n regt sich auf und wird heftig, w e i l man nicht genau weiß, wie man mit einem Problem fertig wird; oder ob Emotionen so etwas sind wie ein Dauerzustand, längerfristig gesehen. Ich neige dazu, den Begriff G e f ü h l , wenn er psychologisch gemeint ist, nicht als eine Einstellung, die dann schwer zu qualifizieren ist, zu sehen, sondern als ein Alarmieren: Wenn man alarmiert ist, hat man Ressourcen, die man sonst nicht zur Verfügung hat, sich zu verhalten, je nachdem, wie man den Begriff Emotionen versteht. Im Englischen w ü r d e man unterscheiden: anxiety als Aufregung bei der P r ü f u n g zum Beispiel, und worry als allgemeine Besorgtheit. Deswegen glaube ich, daß man zunächst erst einmal klären müßte, was unter Emotionen verstanden wird, und generell w ü r d e ich als Soziologe sagen: Keine Kommunikationssequenz kann klären, ob Leute wirklich Emotionen haben. Gibt es in der Kommunikation keine Anzeichen daßr, ob bestimmte Emotionen vorliegen, daß sie so codiert sind, kommunikativ, daß man mit Sicherheit darauf schließen kann, daß eine bestimmte Emotion vorliegt, auch wenn sie nicht vorliegt? Emotionen Sie betonen das Wort Kognition, In der Bewegungsforschung wird häufiger versucht, Emotionen als etwas herauszustellen, das ßr das Sortieren angemessener Kommunikation, bezogen auf soziale Bewegungen, entscheidend ist. Spielt das möglicherweise auch eine Rolle, dieses weite Feld der Emotionen in der Kommunikation sozialer Bewegungen? Nur, wenn das kommunikativ geäußert wird. Aber ich lasse mich nicht darauf ein, nachzusehen, ob irgendein Teilnehmer tatsächlich Ja, also es genügt f ü r Kommunikationszwekke, davon auszugehen, und dann m u ß der andere ja schon reagieren, ohne zu wissen, ob ihm etwas vorgemacht wird, ob jemand nur dabei sein w i l l , nur Gesellschaft sucht und infolgedessen zum Beispiel sich rechtsradikal geriert. Aber ob einer nun w i r k l i c h so stark emotional aufgeregt ist, daß er deswegen andere totschlägt, ist eine zweite Frage. V i e l leicht reagiert er so nur, w e i l er bei seinen Kameraden entsprechende Erwartungen aufgebaut hat. FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 59 Aber Sie würden zumindest das Argument von Emotionen nicht so stark machen für soziale Bewegungen? Nein, nein, es sei denn als Thema der K o m munikation. Das habe i c h auch i n meinen Buch 'Liebe als Passion' so gesehen . Liebe ist ein kultureller Imperativ: M a n m u ß verliebt sein, bevor man heiratet, aber wie tief das geht, ist eine andere Frage. 7 Sie sehen also nicht die Möglichkeit, daß man ein operatives Letztelement für soziale Bewegungen findet? Doch...aber nicht i m Sinne eines ontologischsubstantialen Typs, sondern im Sinne einer Vernetzung i n einer Kommunikation, die sich mit Protest und mit Protestthemen befaßt, und bei der bestimmte Unterstellungen mitlaufen: Bereitschaft oder Ansprechbarkeit: „ K o m m s t D u nicht mit zur Demonstration?"; die i m kommunikativen Bereich Personen sortieren, zwar nicht so klar wie Organisationen: M i t g l i e d / Nicht-Mitglied, aber doch mit einem unscharfen Kreis v o n Sympathisanten ringsum operieren. Das Problem der Abgrenzung scheint mir, wie übrigens auch bei Religion oder den Kirchen, in B e z u g auf den großen Kreis der möglicherweise dazugehörigen, aber unsicheren Kandidaten oder der Sympathisanten zu liegen, die dann dem K e r n der Bewegung die Möglichkeit geben, sich Illusionen darüber zu machen, wie generell oder wie verbreitet die Sympathie i n der Bevölkerung f ü r ihre eigenen Ziele ist. M a n müßte, wenn man das beschreiben w i l l , mit dem Zentrum/PeripherieSchema der internen Differenzierung arbeiten, aber auch das setzt voraus, daß das Zentrum weiß, f ü r welche Kommunikationen es wirbt und wo es Loyalitäten testen w i l l . Kann man soziale stemform Bewegungen her eigentlich von der Sy- einordnen? Es gibt doch einmal die Möglichkeit, nach dem renzierungsprinzip zu fragen. Soziale gungen sind nicht funktional differenziert, keine Funktionssysteme. Ließen sie sich gen stratifiziert einordnen? Sie sprechen der Differenzierung nach Zentrum und pherie, die ja mit dazugehört. DiffeBewealso dagevon Peri- Zur Klassifikation sozialer Bewegungen Ich möchte zunächst einmal in der N ä h e der P h ä n o m e n e bleiben und Klassifikationen vermeiden, die dann irgendwie zwanghaft wirken. Es ist weder eine Unterschichtsbewegung, das ist ja ziemlich deutlich, wenn man die anhört, die man als Unterschicht ansieht. Es ist also weder in die Schichtstruktur einbaubar noch ist es ein besonderes Funktionssystem, es sei denn, daß man gleichsam die K r i t i k der Funktionssysteme wieder als eine eigene Funktion beschreiben w i l l . M a n k ö n n t e ja sagen: Eine Gesellschaft ist immer dann autopoietisch geschlossen, wenn sie ihre eigene Negation in sich selber aufnimmt und nicht von außen kritisiert werden kann, und dann könnte man sagen: D i e Negation oder die Kritik der Gesellschaft ist ein Teil der Gesellschaft, und das sei eben die Funktion sozialer Bewegungen, was mich aber aus verschiedenen G r ü n den nicht so völlig überzeugt, nicht zuletzt angesichts der Funktion v o n Massenmedien: im Sinne der Spiegel-Metapher . D i e Konsequenz dieser Ausgrenzungen ist, d a ß man sagt: Es ist ein eigenständiger Typ von sozialen Systemen, der historisch von bestimmbaren B e dingungen abhängig ist, so wie es auch Organisationen i n dem modernen Sinne v o n M i t gliederorganisationen in der alten Welt nicht gegeben hat, sondern nur Korporationen. M a n kann also sagen: Funktionale Differenzierung erzeugt wie ihren Schatten und gerade angesichts der Normalisierung hoher Unwahrscheinlichkeit i n der Gesellschaft, zum B e i 8 60 spiel Geldwirtschaft, Kritik oder eben solche Protestbewegungen - K r i t i k als F o r m von Selbstbeschreibung, als Form von A u f k l ä r u n g vom Typ Habermas oder wie immer. Sie erzeugt also auch soziale Bewegungen, wenn das denn Systeme und nicht einfach nur massenmedial verbreitete Ä u ß e r u n g e n sind. Ich f ü h l e mich also wohler, um das abzuschließen, wenn i c h soziale Bewegungen nicht in eine Rubrik schon bereitstehender Klassifikationen einordne. Das liegt auch daran, d a ß , wenn man P h ä n o m e n e ernstnehmen w i l l , sie konzeptuell nicht vergewaltigen sollte. Ich lasse lieber eine gewisse Unordnung i n der Theorie zu. Hieße das auch, daß Sie dagegen sind, wenn man soziale Bewegungen in irgendeine Nähe bringt zu der Unterscheidung von Interaktion und Organisation? Soziale Bewegungen beinhalten Bewegungsorganisation, das wurde breit untersucht, aber sie bestehen keineswegs nur aus diesen Organisationen, so daß man das eigentliche Phänomen verfehlt, wenn man das animmt. Ich w ü r d e zunächst einmal das P h ä n o m e n soziale Bewegung auf der Gesellschaftsbasis, aber nicht auf der Interaktions- oder Organisationsbasis einordnen. Es ist ein i n der Gesellschaft sich bildendes System, das Organisationen und Interaktionen nach M a ß g a b e seiner Eigentümlichkeiten i n Anspruch nimmt. Es gibt ja auch i n den Funktionssystemen solche, die sehr interaktiv sind wie Erziehung, also sehr auf Interaktionen beruhen und nur schlecht organisatorisch z u kontrollieren, nämlich nur mehr oder weniger zeremoniell. Aber was wirklich läuft in der Erziehung, weiß man in den Zentralen nicht, und insofern gilt: Wenn innerhalb der Gesellschaft eine Teilsystembildung auftaucht, ist dann h ä u f i g noch offen, was Interaktion, was Organisation bedeutet, in welchem U m f a n g diese Formen in Anspruch ge- FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 nommen werden, in welchem U m f a n g sie f ü r die Reproduktion des Systems notwendig sind. Interaktion ist sicherlich ganz unersetzlich f ü r die Reproduktion sozialer Bewegungen, und das m u ß dann wieder organisiert werden. Wenn das nur von Face to Face-Interaktion a b h ä n g i g wäre, wie k ä m e man dann dazu zu wissen, wann man die Leute treffen kann? Von daher bildet sich dann eine A r t von Organisation, die aber i n der typischen Verlaufsgeschichte von sozialen Bewegungen Kristallisationspunkte bietet, die dann wieder Gegenstand v o n P o l i tik oder des Zerfalls der Bewegung sein können, also wie die Gewerkschaften überorganisiert sind und dann i n sich selbst K r i t i k auslösen in Bezug auf die Gehälter und i n Bezug auf die ökonomischen Entscheidungen in der Gewerkschaftsspitze zum Beispiel. Gibt es eigentlich einen Rückschluß auf den Systemstatus aufgrund der Betrachtung moderner Gesellschaft, aufgrund der Art, wie moderne Gesellschaft strukturiert ist? Inklusion und Exklusion Ich sehe zwei Möglichkeiten: D i e eine ist die hohe evolutionäre Unwahrscheinlichkeit von bestimmten Errungenschaften, also Technik zum Beispiel. Wie kommen w i r dazu, uns derm a ß e n v o m Funktionieren der Technik abhängig zu machen? Damit meine ich nicht nur die Katastrophen, die ja so oft das Thema sind, sondern auch und vor allem die Energieversorgung: Wie können w i r wissen, ob w i r technisch immer die Energie produzieren k ö n n e n , die w i r f ü r die Fortsetzung von Technik brauchen? Das Öl geht zu Ende. Bis jetzt sagt man in siebzig Jahren, vielleicht sind es hundert, aber irgendwann ist es soweit. Oder natürlich die Zumutung an Familie, sich aufgrund von Liebe zu bilden, oder die Annahme, andere Leute w ü r d e n mein Geld immer annehmen und irgendwas dafür hergeben. Das ist doch phan- FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 tastisch, nicht wahr? Diese hohe Unwahrscheinlichkeit hat vermutlich irgendwie Plausibilitä'tsdefizite zur Folge und f ü h r t einerseits zu Fundamentalismen religiöser oder ethnischer Art. M a n versucht, irgendwo eine Identität sicher zu haben, die nicht mit diesen unsicheren Zukunftsperspektiven belastet sein m u ß . Es gibt also eine ganze Menge von Reaktionen auf die Normalisierung v o n Unwahrscheinlichkeit als typischem Produkt von Evolution, und da w ü r d e i c h soziale Bewegungen einrechnen. Andererseits gibt es i n der Moderne Ä n d e r u n gen i m Verhältnis von Inklusion und Exklusion. D i e alten Gesellschaften, die j a Regionalgesellschaften waren, kannten wichtige E x k l u sionsmechanismen. D i e Griechen waren eben nicht Barbaren. Sie hatten ein System der Vertreibung v o n F ü h r u n g s p e r s o n e n . D i e Haushalte hatten immer, in der f r ü h e n Neuzeit besonders, Möglichkeiten, Kinder auf die Straße zu schicken, wenn sie sie nicht mehr ernähren konnten. Es gab ja zigtausende von herumirrenden K i n d e r n i n England i m 16./17. Jahrhundert, die weder Lehrlinge waren noch in der Familie bleiben konnten, wenn sie etwa 10 Jahre alt waren. D i e wurden dann von der Marine aufgegriffen und letztlich Seeräuber. Es gab also immer starke Exklusionseffekte. Sie sind i n der modernen Gesellschaft nicht mehr zentralisiert oder kommen höchstens in der F o r m von favelas und großen Bevölkerungsmengen zum Tragen, die an keinen Funktionssystemen teilnehmen und nur als Körper existieren. A b e r von der Ideologie oder von der Semantik der modernen Gesellschaft wird zunächst einmal angenommen, daß die gesamte B e v ö l k e r u n g inkludiert ist: Jeder hat Anspruch auf Rechtsschutz, jeder kann die Polizei rufen, jeder m u ß zur Schule, jeder hat ein Mindestmaß an G e l d , so d a ß er seine B e d ü r f n i s s e befriedigen kann, wenn nicht durch Arbeit, dann durch Wohlfahrtseinrichtungen. Jeder kann jeden heiraten, ohne um Erlaubnis zu ersuchen, und so weiter. Diese liberale oder moderne 61 Mentalität der Ö f f n u n g , Freiheit und Gleicheit für jedermann wird ausgedehnt - das ist dann ein Foucault-Thema - auf Zwangsinklusionen. A u c h soziale Kontrolle wird ü b e r Inklusion und nicht mehr über Exklusion ausgeübt. M a n kommt i n Arbeitshäuser oder G e f ä n g n i s s e oder in Irrenanstalten, und es is zu vermuten, daß dieses Bekenntnis zur Inklusion der Gesamtbevölkerung Enttäuschungserlebnisse erzeugt, die dann wieder Kristallisationspunkte f ü r soziale Bewegungen werden, Enttäuschungserlebnisse, die sozial aggregiert werden k ö n n e n , und die nicht individuell dispersiv sind, sich also nicht durch Ausschließung erledigen lassen. M a n kann nicht einfach diesen und jenen ausschließen, und die Ausgeschlossenen gehen dann woanders hin, an die Grenze der Gesellschaft, über die Grenze hinweg zu anderen S t ä m m e n , oder sie kommen irgendwie um. Könnten Sie das noch etwas präziser ausführen. Wie kommt es zu diesen Enttäuschungen, und welcher Bezug besteht dann zu sozialen Bewegungen? Wie nehmen diese Bewegungen diese Enttäuschungen auf? Wie lösen sie das Problem? Sie lösen das Problem gar nicht. D i e sozialen Bewegungen beruhen ja auf der Annahme, die Probleme müßten woanders gelöst werden. Sie praktizieren das Prinzip, auf fremden Pferden moralisch zu voltigieren. Das ist die eine Struktur. Aber die Anlässe sind Benachteiligungen, oder die Nicht-Inklusion, die faktische NichtInklusion von Personen. Das ist wenigstens einer der Anlässe. Nicht nur, daß die Betroffenen i m Bereich der Entwicklungspolitik, i m Bereich der favelas, i m Bereich des Hungers, der Dritte-Welt-Problematik tatsächlich existieren. Nicht das steht i m Vordergrund: M a n selbst hat ja genug zu essen. Aber das Thema, daß andere hungern, obwohl die Bauern hier nicht wissen, wie sie ihre Produkte absetzen kön- 62 FORSCHUNGSJOURNAL N S B nen, diese Merkwürdigkeit, daß die Ö k o n o mie, wenn sie rational funktioniert, derartige M i ß s t ä n d e erzeugt, das gibt zu denken. Nun fallen diese Enttäuschungen ja nicht hier an, sondem ganz woanders. Heißt das, daß sich die sozialen Bewegungen, wenn sie sich auf solche Enttäuschungen beziehen, sich auf Enttäuschungen anderer beziehen oder auch auf eigene, die die Mitglieder ganz konkret hier im Alltag erfahren? Aufgrund mangelnder faktischer Inklusion ? Das ist natürlich eine empirische Frage. Aber ich nehme an, daß stellvertretende Thematisierung eine wichtige Rolle spielt, und daß die eigenen E n t t ä u s c h u n g e n ganz andere Strukturen haben, nämlich die mit Karrieren; daß es also gerade i n der Jugend weitgehend die U n sicherheit einer Karriere ist. M a n hat das Gefühl: M a n m ü s s e jetzt die Grundlagen schaffen f ü r eine Karriere, aber ob man das richtig tut und ob das die M ü h e lohnt und so weiter, ist unsicher. Personen, die hier Rekrutierungspotential f ü r neue soziale Bewegungen sind, sind nicht die Leute, die i n den favelas leben Hä to/ oder gelebt haben. Höchstens kommen Informanten aus diesen Gegenden. Zudem ist auch die Situation i n den favelas, wenn man das als Beispiel nimmt, oder Chiapas jetzt, oder vieles in A f r i k a , derart katastrophal, d a ß die L e u te nur noch als K ö r p e r existieren und das Problem haben, wie sie den nächsten Tag erreichen, und wie sie Gewalt und Hunger und Sexualität bewältigen können, also reine Körp e r p h ä n o m e n e , und das ist überhaupt kein B o den f ü r soziale Bewegungen, es sei denn in der Form religiöser Kulte. D i e modernen religiösen Kulte Südamerikas beruhen ja auf dieser Situation, aber sie nehmen nicht die Form sozialer Bewegungen an. Diejenigen, die durch Ausschluß, durch wirklich harten Ausschluß betroffen sind, sind also nicht die Keimzelle von sozialen Bewegungen, sondern das sind Leute, die davon gehört haben, die nicht selber ausgeschlossen sind, die andere Arten von Lebensproblemen zu bewältigen haben. Ihr Problem ergibt sich aus dem A b b a u von schichtmäßiger und familialer Sicherheit f ü r das ganze Leben. A l s o vorrangig geht es um Probleme der eigenen Karriere: Es gibt eigene Zukunft, die von Faktoren a b h ä n g i g ist, die man nicht kontrollieren kann. U n d das macht sensibel f ü r das Mitempfinden ganz anderer Lebenslagen. ick dmckokhwt mwi mir a'ne Mwrf ^efkt tab' w\m UewlSie 2/94 Unklar ist jedoch, welche Beziehung besteht zwischen Karriereproblemen und der Ökologieproblematik Diese Ü b e r l e g u n g e n sind weitgehend spekulativ. M a n m ü ß t e genauer wissen, was eigentlich die Motive ich sage das mit Z ö - FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 63 gern, w e i l i c h das nicht psychologisch meine - und was die Verständigungsgrundlagen einer jugendlichen Gruppe sind, die sich mit Problemen der dritten Welt befaßt. Was sind die A f f i n i t ä t e n ihrer Lebenslage, die es ermöglichen, Themen aufzugreifen, die sie nicht selber betreffen? Das ist j a ein P h ä n o m e n , das einer E r k l ä r u n g bedarf. Ich hatte zum Beispiel mit Studenten aus S ü d a m e r i k a Diskussionen über die europäische Studentenbewegung, mit der Resonanz: „ D a s sind Sorgen, die habt nur Ihr, weil Ihr so reich seid! Ihr könnt ja zufrieden sein, wenn Ihr unsere Probleme aufgreift, dann ist das f ü r Euch ein Thema, aber nicht eine Lebensangst, nicht eine wirkliche Daseinssituation!" A l s o ein Thema, das wieder von der anderen Seite aus aktiviert werden kann, als Anlaß f ü r H i l f e und Anlaß f ü r Aufmerksamkeit. gen sich ja nicht vornehmen, selber die Dysfunktionen der Funktionssysteme z u beseitigen. Es geht ihnen eigentlich immer nur um eine Thematisierung, deswegen auch ein enger Zusammenhang mit den Massenmedien. Es geht darum, Aufmerksamkeit zu gewinnen für Probleme, die die Funktionssysteme strukturell nicht lösen k ö n n e n oder schlecht lösen. M a n spricht dann von Krise und meint, es könnte alles besser gemacht werden, so daß es sich um Beiträge der Selbstbeschreibung der Gesellschaft in einer Gesellschaft handelt, die zum Beispiel das Verteilungsproblem ö k o n o mischer Güter nicht lösen kann, oder die die Umwelt i n einen Zustand verwandelt, i n dem die Gesellschaft weiterhin nicht existieren kann. Das sind gleichzeitig Selbstbeschreibungsprobleme, aber immer bezogen auf Dysfunktionen der Funktionssysteme selbst. Funktionen sozialer Bewegungen Und nur soziale Bewegungen sehen sich dazu in der Lage, bestimmte Folgeprobleme aufzunehmen und darauf aufmerksam zu machen? Sie haben zwei Vorschläge zur Funktionsbestimmung sozialer Bewegungen gemacht, zum einen auf Folgeprobleme funktionaler Differenzierung bezogen . Es treten Folgeprobleme auf, die Funktionssysteme verursacht haben, die ßr diese entweder aber nicht wahrnehmbar sind oder von ihnen einfach ignoriert werden, also blinde Flecken oder Ignoranz. Zum anderen haben Sie gesagt: Soziale Bewegungen leisten eine Selbstbeschreibung moderner Gesellschaft und kompensieren damit ein Defizit , da es ja keine Möglichkeit mehr gibt, die Einheit der Gesellschaft konkurrenzlos zu repräsentieren. Wie beziehen sich soziale Bewegungen nun auf Folgeprobleme ßnktionaler Differenzierung, und inwiefern kann man da von einer Funktion sprechen? Sie haben das ja vorhin schon angedeutet: Kritik der Funktionssysteme ? 9 10 Zunächst einmal: D i e beiden Aspekten hängen eng zusammen, weil die sozialen Bewegun- Nein, nein, aber die sozialen Bewegungen nehmen sich sozusagen die Freiheit, das zu tun, ohne Rücksicht auf die Selbstbeschreibung der Funktionssysteme, also auch ohne Rücksicht darauf, welche internen Rationalitäten dazu führen, daß das so ist, wie es ist. Ist das nicht gut so, daß sie das so tun? Wenn sie erst darüber nachdenken würden, wie die Funktionssystemen funktionieren, würden sie es vielleicht lassen?Also ist diese Neigung zur Naivität erforderlich, damit es überhaupt zum Protest kommt? Ja, aber ob das gut ist, ist eine zweite Frage. Da würde ich einfach das P h ä n o m e n sehen, daß es nicht eine Beobachtung zweiter Ordnung ist in dem Sinne, daß man ernstlich die Strukturen, die bestimmte Beobachtungen und Beschreibungen in der Geldwirtschaft etwa er- 64 zeugen, seinerseits übernimmt und auf einer h ö h e r e n Reflexionsstufe behandelt, sondem daß es sich u m eine sehr moralisch getönte Kommunikation handelt, die auch die Verantwortung sich selbst gar nicht zumutet, auf die andere Seite einzusteigen, um es dort besser zu machen. Das f ü h r t zu fundamentalistischen versus realistischen Spaltungen, die das Problem widerspiegeln. M a n kann sich etwa eine Regierung nicht vorstellen ohne eine Einteilung i n Ministerien und verschiedene Kompetenzbereiche, so daß der Umweltminister nicht die Polizei direkt schicken kann, zum B e i spiel. Das war Joschka Fischers Erfahrung aus Anlaß der Tschernobyl-Katastrophe. Je nachdem, i n welchem System man operiert, um das System selbst z u ändern, wenn man man in diese L o g i k einsteigt, die von den sozialen Bewegungen und auch von dem, was denen Resonanz verschafft, entfernt ist. Aber das Ganze liegt, glaube ich, auf der Ebene der K o m munikation und i n diesem Sinne auf der Ebene von Beiträgen zur Selbstbeschreibung der Gesellschaft. D i e sozialen Bewegungen haben es mit einer gewissen Ö k o n o m i e der Aufmerksamkeit zu tun, d.h. sie müssen Aufmerksamkeit gewinnen f ü r ihre Ziele, und das ist praktisch eine Funktion der Massenmedien, ohne die sie ihre Ziele gar nicht erreichen könnten. Umgekehrt k ö n n e n sie über die Massenmedien sehr schnell Themen kreieren und Themen durchsetzen, die nicht gesprächsweise verbreitet werden könnten. Kann man also nicht von einer Funktion sozialer Bewegungen sprechen, sofern sie eine bestimmte Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft liefern und darüber auf Probleme aufmerksam machen, die andernfalls möglicherweise zu spät bemerkt werden würden? FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 Funktion und Operation Ja, doch Funktion ist hier doppeldeutig. Entweder sagt man, die Funktion ist eine Perspektive eines Beobachters, der sagt: Hier ist ein Problem, das Problem wird durch die neuen sozialen Bewegungen i m Zusammenhang mit Massenmedien aufgegriffen und in dieser oder jener Form gelöst, w o f ü r es vielleicht Alternativen gäbe. A b e r dann ist das eine B e obachterhaltung aus der Wissenschaft heraus. Die andere Frage ist, ob die Funktion ein K r i stallisationspunkt der Bewegung sein kann. Ich glaube, daß das nicht der F a l l ist, d a ß vielmehr die Protestthematik selbst es den Bewegungen erspart, sich die Funktion vorzustellen, was ja immer bedeuten w ü r d e , sie in einem Vergleichshorizont zu stellen: Andere machen es auch, vielleicht besser. Das gilt übrigens auch f ü r die Funktionssysteme. Ich komme mehr und mehr dazu, i n dem M a ß e , als ich diese Autopoiesiskonzeption f ü r die Funktionssysteme durcharbeite, immer deutlicher zu sehen, daß die Funktion eigentlich gar kein Element ist, das dazu beiträgt. Abgrenzungen gegenüber der Umwelt und Kontinuitäten in den Verkettungen der Kommunikation zu erzeugen. Bei schwierigen Situationen greift man auf ein Ziel zurück, in der Jurisprudenz, in der Auslegung von Gesetzen z u m Beispiel. Aber wenn es eine Veränderung i n meiner Theorieentwicklung gibt, dann ist es ein gewisses Verschieben von funktionaler Spezifikation als evolutionärem Mechanismus, den Vorteilen der Arbeitsteilung oder Ä h n l i c h e m in Richtung auf Codierung oder andere Formen von Unterscheidungen, die es erlauben, Kommunikationszus a m m e n h ä n g e zu bilden und abzugrenzen. Rückt dann Funktion an zweite Stelle? Es handelt sich u m einen zirkulären Sachverhalt. M a n w ü r d e einen Code nicht haben, wenn der nicht eine bestimmte Funktion bediente, FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 aber das sagt eine wissenschaftliche Theorie, die darüber gelegt w i r d . M a n kann das so beschreiben. A b e r f ü r das praktische Operieren eines Juristen oder eines Forschers oder eines Politikers ist es ja keine Frage: Was f ü r eine Funktion die Politik hat? - wenn er i m Wahlkampf etwa eine Rede halten m u ß . Nicht einmal bei der Ausarbeitung von Parteiprogrammen w i r d das interessant. Soweit ich das faktisch beobachte, gibt es ganz andere, näherliegende Kriterien und Unterscheidungen, und so glaube ich auch, daß es den Protestbewegungen mit ihren jeweils spezifischen Thematiken so ergeht: D i e nehmen ihr Thema ernst und sehen nicht die Funktion der Thematisierung. Obgleich ich mich frage, ob das bei den Funktionssystemen soviel anders ist. Das die, die dort tätig sind, die Kommunikation, die dort stattfindet, nicht auch in gleicher Form ernstnehmen ? Das wollte ich sagen. Es kann Grenzfälle geben. Was ist die Funktion etwa i m Verfassungsgerichtsbereich, was ist die Funktion von Politik, was die Funktion der Rechtsprechung? Das m u ß man getrennt halten, die Rechtsprechung darf nicht anstelle von Politik treten. Es gibt also Fälle, w o solche Überlegungen i n die unmittelbare juristische oder politische Argumentation eindringen, aber i m wesentlichen geht es natürlich u m den Artikel so und so des Grundgesetzes, u m rechtmäßig/rechtswidrig oder verfassungsmäßig/verfassungswidrig, und nur f ü r die wissenschaftliche Konstruktion wenn man wissen w i l l , weshalb bestimmte b i näre Codes Karriere machen in der Evolution und weshalb sie uns praktisch aus der stratifizierten Gesellschaft herausgeführt haben - würde man die funktionale Spezifikation der gesellschaftlichen Probleme als Antwort benötigen. Ich denke also, f ü r die Theorie ist es wichtig, daß man die theoretische Konstrukti- on unterscheidet von dem, was i n der Realität autopoietisch funktioniert. Aber wenn man wissen w i l l , wie eine Operation eine andere erkennt, wie also ein Jurist w e i ß , welche juristischen Folgen eine Entscheidung hat, oder eine Forschung weiß: „Wenn w i r das beweisen können, mit den und den Methoden, können w i r das so und so publizieren i n dem und dem Kontext", oder wenn man an Familienbildung oder Religion denkt...dann ist die Funktion der Entscheidung, die Funktion Religion oder die Funktion der Familie, kein kommunikatives Thema. Eine weitere Funktionsbestimmung haben Sie 1984 in 'Soziale Systeme' mit dem Begriff des Konflikt- bzw. Immunsystems vorgenommen, wobei soziale Bewegungen auch die Funktion von Immunsystemen einnehmen können. Ist das vereinbar mit der Funktionsbestimmung, die oben diskutiert wurde, und wie läßt sich das in die Gesellschaftstheorie einbauen? Soziale B e w e g u n g e n als Immunsysteme Wenn man ein sehr generelles Konzept der Immunologie in die Gesellschaftstheorie einbaut, geht es um die Erzeugung v o n K o n f l i k ten oder Widersprüchen i m kommunikativen Sinne, also um Wider-Sprechungen, wenn man so sagen darf, die Probleme anvisieren, die letztlich i m Verhältnis von System und U m welt ihre Wurzeln haben, w o aber die Umwelt für die Gesellschaft nicht zugänglich ist, es sei denn i n der Form von Themen der K o m m u n i kation. In diesem Sinne kann man generell sagen, daß Konflikte - also Widersprechungen, Neinsagen, Ablehnungen und so etwas die Funktion haben, die Realität präsent zu machen, ohne i n die Umwelt ausgreifen zu können oder zu müssen. In neueren Überlegungen formuliere ich das auch als eine A r t von Realitätstest. Es gibt i n der Linguistik, bei 66 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 den Dekonstruktivisten, die Formulierung, daß tes gehen, und dann werden mit solchen Thealle Realität durch „resistence of language an- men Selbstverständlichkeiten i n die F o r m eigainst language" getestet wird, also daß die nes Widerspruchs gebracht, und dazu gehört Sprache der Sprache widersteht. Nicht, daß eben die generelle Annahme, daß Widerspruch man sich irgendwo draußen aufhält und sich die Form ist, i n der w i r uns selbst der Realität dann sozusagen kalte Füße holt, sondern daß bewußt werden, uns selbst der Realität aussetes gesagt werden m u ß . Wenn man das ganz zen, obwohl w i r auf U m w e l t nicht durchgreigenerell i n die Systemtheorie einbaut, hat man fen können mit unseren Kommunikationen. u n g e f ä h r dasselbe, was ich mit Immunsystem Das ist also i n gewisser Weise eine theoretibezeichnen w i l l , n ä m l i c h den Realitätstest sche Neuentwicklung, die extrem konstruktidurch systeminterne Unterscheidungen, die vistisch gedacht ist... nicht draußen angetroffen werden können. Diese Ü b e r l e g u n g verbreitert nochmals das, was Sie haben in diesem Kontext von Folgeprobleich 1984 als Immunsystem formuliert habe, zu men funktionaler Differenzierung und der der generellen Frage: K a n n man innen einen Funktion sozialer Bewegungen die Überlegung Ersatz f ü r die Differenz von innen und außen angesprochen, daß funktionale Differenzierung schaffen, oder kann man innen die Welt in der an Grenzen stößt, Greitzen der Kapazität, GrenForm v o n Realität - „ S o ist es!" - immer zen der Lösung von Problemen, die sie selbst voraussetzen, so daß der Test also als Wider- produziert. Könnte das darauf verweisen, daß stand abläuft, und nicht einfach in der Form das primäre Differenzierungsprinzip moderner von Hypothesen oder Beliebigkeiten? Gesellschaft sich ändert? Könnten soziale Bewegungen vielleicht ein Indiz dafür sind, daß entwickelt? Und wie passen da soziale Bewegungen hin- sich ein Engpaß ein? Zur Evolution moderner Gesellschaft Soziale Bewegungen bieten die Chance eines Realitätstestes der modernen Gesellschaft, die sich i n den Funktionssystemen nur sehr selektiv selber beschreiben kann. Es gibt keine Gesamtbeschreibung, es gibt das, was die Massenmedien beschreiben, was also mit den sozialen Bewegungen eng zusammenhängt, also was in F o r m von A l a r m , Konflikt, Neuigkeit, Quantität, Lokales oder was immer als Selektionsprinzip funktioniert, und die sozialen Bewegungen haben dann die Funktion, Realitäten anderer A r t ins Gespräch zu bringen, indem sie Widerspruch anmelden, etwa i n der Frage, wie die Frauen behandelt werden, oder wie die Rüstungsindustrie auf Steuersubventionen reagiert. Es m u ß ja immer themenspezifisch sein, es m u ß um die Rüstungsindustrie, um die atomare Problematik, um die Benachteiligung der Dritten Welt, um etwas Bestimm- Keine Gesellschaft kann voraussehen, welcher Differenzierungstyp nach ihr kommt. Einerseits kann ich mir selbst nicht vorstellen, wodurch man funktionale Differenzierung ersetzen könnte, außer i m Sinne einer Katastrophe, die also das Lebensniveau deutlich absenkt und dadurch die Menge der B e v ö l k e r u n g reduziert, was sich demographisch auswirken müßte. Was aber zunimmt i n der gesellschaftlichen Realität, ist eine gewisse selbstkritische Neuperspektivierung der Funktionssysteme selbst, zum Beispiel i n der Ö k o n o m i e : Seitdem wir die Planwirtschaft nicht mehr neben uns haben, haben w i r auch das Vertrauen in die Marktwirtschaft verloren. Ich meine, das wird sonntags nicht gesagt, aber bestimmte P h ä n o m e n e deuten darauf hin w i e zum B e i spiel: Wie kriegt man das Geld zur Investition, FORSCHUNGSJOURNAL N S B 67 j 2/94 was i n Massen da ist, aber nicht investiert wird, oder i n der Politik: Was ist eigentlich die Funktion v o n Staaten, was ist der Staat heute, wenn man Somalia oder Jugoslawien oder Sudan ansieht? K a n n man das europäische M o dell überall hin generalisieren, auf tribale Verhältnisse drauflegen, so daß ein tribe die anderen mittels staatlicher Ä m t e r beherrschen kann? Es gibt Tendenzen, Schwierigkeiten i n den einzelnen Funktionssystemen neu zu sehen, und was auf die Soziologie z u k ä m e , w ä r e ein Einbau dieser Schwierigkeiten i n die Gesellschaftstheorie selber. Das hatte M a x Weber i n gewisser Weise angefangen, wenn er von Wertkonflikten, Lebensordnungen und tragischen Problemen oder v o n der Bürokratie, die wie ein stählernes G e h ä u s e wirkt, sprach. Weber war ja an einer pessimistischen Beurteilung der Rationalität selber mit der Annahme beteiligt, auch Bürokratie w ä r e überall, i n der Presse, in den Parteien, i n allen Organisationen. Aber das m u ß natürlich am Ende dieses Jahrhunderts anders formuliert werden als am Ende des vorherigen Jahrhunderts, und an einem sehr viel breiteren und auch abstrakteren Theoriegeriist a u f g e h ä n g t werden, das ist die einzige Möglichkeit. Ich glaube nicht, daß die Soziologie, ohne völlig i n Utopien abzudriften, sagen könnte, wie die Welt aussehen wird; vielleicht, d a ß die Gesellschaft schließlich eine große Organisation sein wird, w o keine NichtMitglieder vorhanden sind. Das wird dann alles völlig utopisch oder paradox - eine Utopie ist ja eigentlich ein Paradox - also die Vorstellung, d a ß alles ü b e r Organisationen läuft, so daß die Gesellschaft das Resultat von gesellschaftspolitischen Entscheidungen einer Organisation wäre. Das ist aber mit den sozialethischen Experimenten des Sozialismus erledigt, so daß heute die historische Erfahrung dagegen spricht. Die Adelsgesellschaften des M i t telalters oder der f r ü h e n Neuzeit konnten sich auch nicht vorstellen, wie es Ordnung geben könnte ohne Hierarchie. Hierarchie war gleich- bedeutend mit Ordnung. U n d w i r k ö n n e n uns nicht vorstellen, wie die B e v ö l k e r u n g s m e n gen, das Lebensniveau, also die Errungenschaften der Moderne gehalten werden könnten, wenn w i r funktionale Differenzierung aufgäben. D a hat man kein anderes M o d e l l i n Sicht. Vor diesem Hintergrund vermehrt sich einstellender Kontingenzen, auch in der Selbstbeschreibung der Funktionssysteme: Wie schätzen Sie da die Zukunft sozialer Bewegungen ein ? Zur Zukunft sozialer B e w e g u n g e n M a n könnte die Frage so stellen: Werden die sozialen Bewegungen aufgesogen, werden sie völlig in die Funktionssysteme aufgenommen? Das sehe ich noch nicht. Vor allem sehe ich einen zu engen Zusammenhang zwischen der Rationalität der Funktionssysteme einerseits und ihren fatalen Konsequenzen andererseits, so daß dieser K o n f l i k t eigentlich nicht oder nur als paradoxe Selbstbeschreibung innerhalb der Funktionssysteme ausgetragen werden könnte. Wenn man zum Beispiel die Unterscheidung Entscheider/Betroffene nimmt, und davon ausgeht, daß ein Funktionssystem Opportunitäten, Gelegenheiten ja nur nutzen kann, wenn es Risiken eingeht, wie w i l l man dann den sozialen Bewegungen gerecht werden, die nur die Betroffenheit thematisieren? W i e soll das innerhalb des Entscheidungsmodus der Funktionssysteme geschehen? Indem man vielleicht vorsorgt, die Ursachen, die vermeintlich dafür herhalten müssen, daß es zu Betroffenheit kommt, von vornherein versucht auszuschalten ? Ja, aber das geht wieder nur über Risiko, das wiederum Betroffenheit erzeugt. M a n verzichtet auf Atomenergie, um dann zu sehen, daß wir nach einiger Zeit kein Öl mehr haben oder 68 den Zustand der Stratosphäre verschlimmert haben. In meiner Vorstellung von Gesellschaftstheorie läuft das auf die Problematik der Paradoxie hinaus. Wenn man die Differenz von Entscheidung und Betroffenheit aufheben würde, w ü r d e man ein paradoxes, ein nicht machbares, ein nicht auflösbares Entscheidungsprogramm haben, und dann m ü ß t e man wieder Unterscheidungen anbieten...Das spricht dafür, daß sich ein gewisser T h e m e n f l u ß , also eine gewisse Ü b e r n a h m e von Themen einstellt. Das ist ja i n der Ökologie schon ganz deutlich zu sehen: Die alte Vorstellung, man könnte ö k o l o g i s c h e Belange nicht berücksichtigen, ohne die Wirtschaft selbst zu ruinieren, ist fraglich geworden. Inzwischen entstehen ja Märkte und Aktienfonds f ü r Umweltindustrien. Da ist sicherlich eine Reihe von Veränderungen möglich, aber das kann nicht heißen, daß die Problematik selbst durch die Funktionssysteme absorbiert wird. Das heißt aber, daß soziale Bewegungen die Entwicklung der modernen Gesellschaft wahrscheinlich begleiten werden? Ja. Es gibt eine neuere Arbeit von Friedhelm Neidhardt und Dieter Rucht, die vom „ Weg in die Bewegungsgesellschaft" sprechen und damit meinen, daß sich dieses Phänomen stabilisiert, wenn auch nicht institutionalisiert, in Form einer Organisation." Richtig, das ist jedenfalls das, was von der Beobachtungsperspektive des Moments, von der jetzigen Situation aus, die wahrscheinlichere Fassung ist, wahrscheinlicher als umgekehrt: D a ß alles letztlich innerhalb der Funktionssysteme aufgesogen wird, was man sich natürlich vorstellen kann i m politischen Bereich: D a ß sich etwa die Parteienstruktur diesem P h ä n o m e n anpasst, daß es also Parteien FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 gibt, die i m wesentlichen die Interessen der sozialen Bewegungen zu ihren eigenen machen - aber die m ü ß t e n dann ja auch irgendwie regierungsfähig sein... Das wird ja ziemlich unübersichtlich in Zukunft, fiinf oder sechs Parteien... werden Ja, und sie müssen alle ein Universalprogramm haben, sie müssen ja auch f ü r die Außenpolitik, auch f ü r Bereiche, die mit der Protestthematik ihrem Ursprung nach nichts zu tun haben, Konzepte anbieten, und sie m ü s s e n K o alitionen eingehen können. Es scheint überall das P h ä n o m e n zu sein, daß die Funktionssysteme gleichsam Dellen bekommen oder auch beeindruckbar sind durch Probleme und ernsthafter experimentieren m ü s s e n mit Politiken oder mit Wirtschaftsprogrammen, auf die sie nicht von selbst gekommen w ä r e n , auf die sie von außen gestoßen werden...aber ich glaube nicht, daß das ausreichen wird, um die Regenerierung neuer sozialer Bewegungen zu verhindern, es w ä r e auch eigentlich fragwürdig, warum. Wenn man Ihre frühen Schriften liest, dann war eindeutig, warum sie nur ein gefährliches Moment moderner Gesellschaft darstellen. Sie haben gesagt, es wäre ein beunruhigendes Ereignis, daß es soziale Bewegungen gibt.' 2 Ja, das ist es ja auch... Ja, aber das kommt 1991 gar nicht mehr zum Vorschein, da heißt es dann: Es ist ein historisches Verdienst, daß es sie gibt. 13 Ja, die Beunruhigung ist ja doch immer noch aktuell. Ich müßte meine alten Sachen mal lesen, um zu sehen, ob ich mir selbst widerspreche. FORSCHUNGSJOURNAL N S B Es ist so beobachtet 69 2/94 worden von anderen... * 1 Ja,ja, aber das sind sie doch auch...das m u ß ich noch sagen: Ich habe ja nie wirklich systematisch auf diesem Gebiet gearbeitet, und wenn ich zum Beispiel v o n beunruhigend spreche, dann ist das eine positive Ä u ß e r u n g , nicht eine negative... Es ist so eine Stimmung, die fi üher bei Ihnen durchschlug und 1991 dann so revidiert wird, daß man das Gefühl hat, daß Sie allmählich Ihren Frieden geschlossen haben mit den sozialen Bewegungen. Wie kann man mit Fehlern 'Frieden schließ e n ' ? vieles ist i m übrigen Interpretation von der anderen Seite, und vieles beruht immer noch auf der Vorstellung, ich sei irgendwie in Bezug auf die Gesellschaft zu affirmativ oder zu konservativ eingestellt, und dann werden kurze Ä u ß e r u n g e n wie etwa die genannte in einer Weise interpretiert, wie sie eigentlich nicht gemeint waren. M i r war seit jeher klar gewesen, daß eine begrifflich durchkonstruierte Gesellschaftstheorie viel radikaler und viel selbstbeunruhigender wirken w ü r d e als sich punktuelle Kritiken, Kapitalismuskritiken zum Beispiel, je vorstellen könnten. Niklas Luhmann ist emeritierter Professor f ü r Soziologie an der Universität Bielefeld. Das Interview f ü h r t e Kai-Uwe Hellmann. vgl. Luhmann 1991: Protestbewegungen, in: ders.: Soziologie des Risikos, de Gruyter 135-154 "vgl. Luhmann 1991: 135 vgl. Luhmann 1986: Ökologische Kommunikation: Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Westdeutscher Verlag 237ff; Japp, Klaus P. 1986a: Kollektive Akteure als soziale Systeme?, in: H.-J. Unverferth (Hrsg.): System und Selbstproduktion. Verlag Peter Lang 166-191: 178f 3 5 vgl. Ahlemeyer, Heinrich W. 1989: Was ist eine soziale Bewegung? Zur Distinktion und Einheit eines sozialen Phänomens, in: ZfS, Jg. 18, Heft 3, 175-191 vgl. Luhmann 1982: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Suhrkamp vgl. Luhmann 1990: Gesellschaftliche Komplexität und öffentliche Meinung, in: ders.: Soziologische Aufklärung Bd. 5. Konstruktivistische Perspektiven. Westdeutscher Verlag 170-182 vgl. Luhmann 1986: 234 vgl. Luhmann 1987: Tautologie und Paradoxie in den Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft, in: ZfS, Jg. 16, Heft 3, 161-174 vgl. Neidhardt, Friedhelm/Rucht, Dieter 1993: Auf dem Weg in die 'Bewegungsgesellschaft'? Uber die Stabilisierbarkeit sozialer Bewegungen, in: Soziale Welt, Jg. 44, Heft 3, 305-326 vgl. Luhmann 1984: „Diese Effekterzeugung durch nichtintendierte Effektkumulation gehört zu den beunruhigenden Erscheinungen der modernen Gesellschaft, die schwer zu fassen und einzuordnen sind." (545) vgl. Luhmann 1991: „Die Protestbewegungen können sich das historische Verdienst zuschreiben, Themen entdeckt und ins Gespräch gebracht zu haben." (153) vgl. Rucht 1991: The Study of Social Movements in Western Germany. Between Activism and Social Science, in: Neidhardt/Rucht (Ed.): Research on Social Movements. The State of the Art in Western Europe and the U S A . Campus/ Westview Press 175-202: 192; Rucht, Dieter/Roth, Roland 1992: „Über den Wolken...". Niklas Luhmanns Sicht auf soziale Bewegungen, in: Forschungsjournal NSB, Heft 2, 22-33: 23 6 7 8 9 10 11 12 13 14 Anmerkungen vgl. Luhmann, Niklas 1984: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Suhrkamp 488ff vgl. Luhmann 1984a: Widerstandsrecht und politische Gewalt, in: Z f R S 6, Heft 1, 36-45; ders. 1988: Frauen, Männer und George Spencer Brown, in: ZfS, Jg. 17, Heft 1, 47-71 1 2 70 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 Piotr Sztompka Jenseits von Struktur und Handlung: Auf dem Weg zu einer integrativen Soziologie sozialer Bewegungen 1 1. Zwei Soziologien in der Bewegungsforschung Die Soziologie sozialer Bewegungen ist ebenso wie andere Disziplinen der Soziologie auf das Engste mit Gesellschaftstheorie verbunden, und das in Form einer Wechselbeziehung. Zum einen Hegen der Beschäftigung mit sozialen Bewegungen immer - mehr oder weniger explizit - Vorstellungen von Gesellschaft zugrunde. Zum anderen neigt Bewegungsforschung dazu, im Forschungsprozeß bestimmte Gesellschaftsbilder zu bestätigen, während andere bestritten werden. Mit anderen Worten: Unterschiedliche Gesellschaftstheorien enthalten ebenso unterschiedliche Wahrnehmungen sozialer Bewegungen, wie unterschiedliche Gesellschaftstheorien durch Bewegungsforschung mehr oder weniger Bestätigung erfahren. So versteht die Entwicklungstheorie (Historizismus), die dem historischen Prozeß eine bestimmte Logik zuordnet, gleich einem 'ehernen Gesetz' der Geschichte, soziale Bewegungen lediglich als Symptome, Epiphänomene des fortlaufenden sozialen Wandels. Sie erscheinen wie Fieber, in Phasen sozialer Krisen, Zusammenbrüche oder evolutionärer Durchbrüche. Die wirklichen Ursachen sozialen Wandels liegen jedoch woanders, im Bereich der historischen Notwendig- keit. Die Post-Entwicklungstheorie ('post-developmentalist theory') konzentriert sich dagegen auf die kreative Rolle menschlicher Akteure und verweist auf die kontingente, unabgeschlossene Natur des historischen Prozesses. Insofern behandelt diese Theorie soziale Bewegungen in einer vollständig anderen Weise: als Agenten, Schöpfer, Konstrukteure, kurz: als die eigentlichen Akteure im historischen Prozeß. Betrachten wir einmal die orthodoxe Version des historischen Materialismus im Vergleich zur modernen Theorie der „Neuen Sozialen Bewegungen". A u f den ersten Blick hegt der Unterschied vor allem in der Art und Weise, wie Kollektivitäten verstanden werden: als homogene ökonomische Klassen oder aber heterogene Interessengruppen, die klassenübergreifend organisiert sind. In Wirklichkeit aber ist der Unterschied viel grundlegender. In der marxistischen Theorie werden soziale Bewegungen, die ihre Wurzeln in Klasseninteressen haben, als diejenigen verstanden, die Geschichte machen: Vermittler, Träger, Ausführende der notwendigen evolutionären Tendenzen. Zumindest setzen sie den historischen Prozeß frei oder beschleunigen ihn. Sie treten mit der Unvermeidlichkeit universaler historischer Muster auf, sie tauchen zu vorherbestimmten Momenten auf, um ihre revolutionäre Missi- FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 on zu erfüllen und anschließend die soziale Bühne wieder zu verlassen. In der modernen Theorie sozialer Bewegungen werden sie als eigentliche kausale Agenten des sozialen Wandels und nicht bloß als Folgeerscheinungen eines autonomen historischen Prozesses gesehen. Sie führen Transformationen und Revolutionen nicht nur aus, sondem produzieren, konstruieren, schaffen sie auch. Sie schreiben bewußt das Drehbuch der Geschichte, anstatt bloß vorgegebene Rollen einzunehmen. Deshalb erscheinen sie auch nicht automatisch dann, wenn sie gebraucht werden, sondern müssen eigens erst rekrutiert und mobilisiert werden. Sie kämpfen für kein absehbares, letztes Ende der Geschichte, das allenfalls beschleunigt werden kann, sondern f ü r bestimmte Anliegen, die bewußt gewählt werden. Wenden w i r uns einem anderen Paar sich einander widersprechender Theorien zu. Innerhalb der Systemtheorie der Gesellschaft (z.B. des orthodoxen 'Strukturfunktionalismus') werden soziale Bewegungen als Störungen, Pathologien, abweichende Erscheinungen der Unordnung oder sozialer Dysorganisation verstanden, die wiederum vom Gleichgewichtsmechanismus des sozialen Systems kompensiert werden m ü s s e n . Der moderne RationalChoice-Ansatz betrachtet soziale Bewegungen dagegen als g e w ö h n l i c h e Mittel, um politische Ziele zu erreichen, als besondere Formen politischen Handelns, wie sie von kollektiven Akteuren zur Erreichung ihrer Ziele wahrgenommen werden, wenn sie von der Routine, den institutionellen Wegen der Interessensvermittlung genug haben. Zur Generalisierung und Vereinfachung dieser Beispiele k ö n n e n w i r sagen, daß es zwei traditionell entgegengesetzte Vorstellungen von Gesellschaft gibt, an die sich zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen von sozialen Bewe- 71 gungen anschließen. A l l a n Dawe zeigt die G e gensätze dieser beiden Soziologien auf, wenn er sagt, „daß sich der grundlegende Dualismus soziologischen Denkens und Forschens, auf dem die gesamte Geschichte dieser Disziplin beruht, geändert hat. Immer handelte es sich um einen offenen Konflikt zwischen zwei A r ten sozialer Analyse, verschiedlich beschrieben als die Unterscheidung von organischen und mechanischen A n s ä t z e n , methodologischem Kollektivismus und methodologischem Individualismus, Holismus und Atomismus, konservativen und emanzipatorischen Perspektiven, und so fort (...) Moderne Soziologie steht zwischen dem Gegensatz von Systemtheorie (oder Strukturtheorie, wie es neuerdings heißt) und Handlungstheorie." (Dawe 1978: 366) Es scheint, daß die 'zwei Soziologien' sozialer Bewegungen anhand ähnlicher Kriterien unterschieden werden können. Das erste M o dell betont die Mobilisierung der Akteure: Soziale Bewegungen werden aus der Teilnehmerperspektive wahrgenommen, wenn Entfremdung, Enttäuschungen, Frustrationen soweit zugenommen haben, daß ein kritischer Punkt überschritten wird (Gurr 1970). Eine Variante dieser Sichtweise legt das B i l d eines Vulkans zugrunde (Aya 1979). Soziale Bewegungen werden als spontane A u s b r ü c h e kollektiven Verhaltens gesehen, die später erst Führerschaft, Organisation und Ideologie aufweisen (Bewegungen gleichen Ereignissen). M a n c h mal herrscht eine unternehmerische oder verschwörungstheoretische Perspektive vor. Dann wird soziale Bewegung verstanden als zielgerichtetes kollektives Handeln, bei dem Rekrutierung, Mobilisierung und Kontrolle von Führern und Ideologen geleistet werden, um bestimmte Ziele z u erreichen (in diesem F a l l sind Bewegungen 'hergestellt') (Tilly 1978). Das zweite, entgegengesetzte M o d e l l hebt den strukturellen Kontext hervor, der die Entste- FORSCHUNGSJOURNAL N S B hung sozialer Bewegungen erleichtert oder erschwert; danach tauchen Bewegungen dann auf, wenn die Bedingungen, Umstände, Situationen günstig sind. Eine Variante dieses M o dells arbeitet mit der Metapher des Sicherheitsventils: Das Bewegungspotential, wie es in gewissem U m f a n g in jeder Gesellshaft vorhanden ist, bricht durch, wenn es vom Druck von oben befreit ist, wenn die Beschränkungen, Blockaden und Kontrollen des politischen Systems in ihrer Wirkung nachlassen (Skocpol 1979). Eine andere Variante betont den Zugang zu Ressourcen; Bewegungen entstehen, wenn sich neue M i t t e l und Gelegenheiten anbieten, die die Entstehung kollektiven Handelns u n t e r s t ü t z e n ( M c C a r t h y / Z a l d 1977; Jenkins 1983). Meistens wird der gegenwärtige Zustand des politischen Systems - insbesondere die A u s p r ä g u n g der 'politischen Gelegenheitsstruktur' (Tarrow 1983) - sowohl im Sinne von restriktiven als auch begünstigenden Bedingungen - als der entscheidende Faktor f ü r die Entstehung sozialer Bewegungen gesehen. 2. Die S u c h e n a c h Synthese Seit neustem sind wir Zeugen einer fundamentalen Umorientierung innerhalb der allgemeinen soziologischen Theorie: Der traditionelle Gegensatz zwischen Individuen und sozialen Einheiten wird in einer moderneren Sprache reformuliert als die Beziehung zwischen Handlungen und Strukturen. Dabei fällt ein beträchtliches Ausmaß an Übereinstimmung auf, was die reziproke Verbindung und die gegenseitige Abhängigkeit beider Seiten voneinander betrifft. Es wird einerseits zugestanden, daß Strukturen nicht ohne Handlungen auskommen, die sie produzieren und unterstützen; ihnen kommt nur 'virtuelle E x i stenz" zu (Giddens 1984: 17). Andererseits wird ebenso davon ausgegangen, daß Handlungen grundsätzlich nicht ohne Strukturen möglich sind, die sie erzeugen oder unterstützen; in diesem 2/94 Sinne haben also auch Handlungen eine bloß 'virtuelle Realität'. Es gibt keine Strukturen ohne Handlungen und keine Handlungen ohne Strukturen. Festzuhalten ist jedoch, daß Strukturen mehr sind als die Summe der Handlungen, aus denen sie bestehen; sie sind unabhängige Netzwerke, 'emergente Erscheinungen', denen bestimmte Eigenschaften und Eigengesetzlichkeit zukommen. Entsprechend sind auch Handlungen mehr als bloß strukturelle Effekte; bei ihnen handelt es sich um 'emergente Erscheinungen', die nicht vollständig durch Strukturen determiniert sind und gleichfalls eigene Autonomie besitzen. Die „zwei Soziologien" sind somit einander näher gekommen. Es herrscht ein günstiges intellektuelles K l i ma, um dieses Unternehmen d u r c h z u f ü h r e n . Die Suche nach Synthese, Versöhnung, Offenheit, mehrdimensionalen Standpunkten zeichnet sich deutlich ab. Sicherlich sind die A n fänge dieser integrativen Absicht schon älteren Datums. Schon in den Sechzigern und Siebzigern war gelegentlich von Integration, Synthese, goldenem Mittelweg oder Vermittlung die Rede. Aber erst seit kurzem ist dieses Vorhaben auch bis in die theoretische Soziologie vorgedrungen und wurde dort vorrangig. Zeitgenössische Beobachter legen davon einstimmig Zeugnis ab: „Überall in den Zentren der westlichen Soziologie - in England und Frankreich, in Deutschland und den U S A - ist das synthetische und nicht das polemische Theoretisieren die Losung des Tages." (Alexander 1988a: 77). „Eine große Bandbreite theoretischer Anstrengungen ist in der zeitgenössischen soziologischen Theorie auf den Weg gebracht. (...) Das Einverständnis in der soziologischen Theorie besteht darin, neue Theorien durch eine Vielzahl von synthetischen Überlegungen zu schaffen." (Ritzer 1989: 36-37). Diese Tendenz der theoretischen Suche nach Synthese hat sich auch in der Soziologie sozialer Bewegungen niedergeschlagen. So hat Bert K l a n - FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 dermans gesagt, d a ß der starke strukturelle (organisatorische) B i a s des en vogue befindlichen Ressourcenmobilisierungsansatzes dazu führt, d a ß die individuelle, sozialpsychologische Dimension vernachlässigt wird. Dem kann nach Klandermans nur abgeholfen werden, indem die sozialpsychologische Theorie selber, etwa durch die Betonung von Zweckrationalität, Konsensusmobilisierung und Handlungsmobilisierung, überarbeitet und mit einem entsprechend in seine Schranken verwiesenen Ressourcenmobilisierungsansatz verbunden wird. „Die Theorie, wie sie hier vorgestellt wird, zielt darauf, sowohl mit den traditionellen sozialpsychologischen Ansätzen als auch mit der Ressourcenmobilisierungstheorie zu brechen, sofern diese sozialpsychologische Analysen außer A c h t läßt." (Klandermans 1984, 596-7) M y r a M a r x Ferree und Frederick M i l l e r haben einen ähnlichen Versuch unternommen, die Perspektive des Ressourcenmobilisierungsansatzes dadurch zu ergänzen, daß sie die subjektive Komponente einführen. Sie haben dazu zwei psychologische Prozesse hervorgehoben, die typisch sind f ü r reformorientierte oder revolutionäre Bewegungen. Der eine Prozeß betrifft die Systemzuschreibung, h ä u f i g in Form von Politisierung, was bedeutet, daß Unzufriedenheit und Protest eher an institutionelle Strukturen als an Personen (Entscheidungsträger) adressiert werden. Der andere P r o z e ß beschäftigt sich mit den Bindungseffekten von Bewegungsteilnehmern, was auf jene B e w e g g r ü n d e zielt, die ausschlaggebend sind f ü r Rekrutierung und kollektives Handeln. A u s diesem B l i c k w i n k e l heißt das, den psychologischen Ansatz z u verbessern und in die strukturellorganisatorischen Theorien einzuführen, um sie gehaltvoller z u machen. „ N i m m t man kognitive sozialpsychologische Annahmen anstelle der Incentive-Terminologie in den Ressourcenmobilisierungsansatz mit auf, könnte das dazu beitragen, sowohl die Beziehungen zwischen 1 Bewegungen und Gesellschaft als auch z w i schen Evolutionsprozessen und dem Wachstum, dem Bewegungsorganisationen ausgesetzt sind, besser zu verstehen." (Fenee/Millerl985:55) Noch auffälliger ist der Versuch, die ' K l u f t zwischen kollektivem Handeln und Ressourcenmobilisierung z u ü b e r b r ü c k e n ' , wie es Ralph Turner als einer der f ü h r e n d e n Vertreter der Theorie kollektiven Handelns formuliert hat. Turner anerkennt die kognitiven Errungenschaften, die dem Ressourcenmobilisierungsansatzes z u verdanken sind, hält dem jedoch entgegen, d a ß es sich dabei nicht um eine unvereinbare Alternative zu dem mehr traditionellen Ansatz von Park, Blumer, Smelser und ihm selbst handele. E r gesteht zu, daß die Ressourcenmobilisierungstheorie zentrale Einsichten für drei bisher unbeantwortete Fragen der gängigen Theorie kollektiven Handelns geliefert hat. So richtet sich eine Frage an das 'Außerinstitutionelle': Warum verlassen Menschen etablierte institutionelle Wege? Eine zweite beschäftigt sich mit der ' Ü b e r f ü h rung von G e f ü h l in Handlung': Warum setzen Menschen außerinstitutionelle Dispositionen in Handlung um? D i e dritte Frage betrifft das Rätsel des 'gemeinschaftlichen Handelns': Warum kommen Menschen zusammen, um gemeinsam ihre G e f ü h l e und B e d ü r f n i s s e zum Ausdruck zu bringen? Festzuhalten ist somit, daß beide Theorien ihr relatives Recht behalten, um „eine vollständigere und ausgewogenere Theorie sozialer Bewegungen in A n g r i f f zu nehmen, die die wesentlichen Positionen beider Seiten inkorporiert." (Turner 1987: 1) Überdies wird auch jenseits des theoretischen Schismas die Bereitschaft zur Zusammenarbeit signalisiert. D i e eigentlichen ' V ä t e r ' des Ressourcenmobilisierungsansatzes, Doug M c A d a m , John McCarthy und M a y e r Zald, haben eine Übersicht des theoretischen Feldes sozialer Bewegungen vorgenommen, die mit [74 einem Manifest der Versöhnung beginnt: „Nur wenn es gelingt, die unterschiedlichen konzeptionellen Ansichten der neueren und älternen Ansätze miteinander zu kombinieren, können wir hoffen, ein volles Verständnis der Bewegungsdynamik zu gewinnen." ( M c A d a m / M c Carthy/Zald 1988: 695) Ihre Zuversicht rührt daher, daß sie einseitige Erklärungen zurückweisen, ob diese nun 'von oben' her, d.h. strukturorientiert, oder 'von unten' her, d.h. handlungsorientiert, beobachten. Stattdessen erhellen sie die Verbindungen zwischen makrostrukturellen Bedingungen politischer, ökonomischer und organisatorischer Natur und der Mikrodynamik entstehender Bewegungen. „Der Punkt ist, daß w i r soziale Bewegungen weder nur vom Individuum noch nur vom Gesellschaftsprozeß her konstruieren können. Wir glauben, daß die wichtigen Prozesse auf einer dritten Ebene stattfinden, die zwischen dem Individuum und den Makrobedingungen liegt, die sie umgeben." (McAdam/McCarthy/Zald 1988: 709) Bezugnehmend auf den Gegensatz der momentan dominierenden Ansätze - 'Ressourcenmobilisierung' und 'Neue Soziale Bewegungen' kommen Friedhelm Neidhardt und Dieter Rucht zu einem aufschlußreichen Kommentar: „Im ganzen gesehen ergänzen sich die verschiedenen Perspektien und Interessensgebiete beider Ansätze eher als d a ß sie sich widersprechen." (Neidhardt/Rucht 1991: 442) Diese Suche nach Synthese und Versöhnung scheint richtig und angemessen zu sein. Soziologische Weisheit ist nicht von nur einer Theorie oder Schule gepachtet. Die enorme Komplexität, die das Phänomen sozialer Bewegungen aufweist, erfordert unterschiedliche Formen der Aufklärung und kann nur durch eine Mehrzahl von Theorien, oder letztlich, nur durch eine multidimensionale Theorie angemessen erklärt werden. „Anstrengungen, eine Beziehung herzustellen zwischen den unterschiedlichen Ansätzen, können uns dazu befähigen, eine umfassendere Idee FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 von den sozialen Regelmäßigkeiten zu bekommen, die hinter dem Auftauchen, Bestehen und Einfluß sozialer Bewegungen stehen." (Neidhardt/Rucht 1991:443) Aber selbst wenn man das alles zugesteht, m u ß man der Gefahr eines reinen Eklektizismus gewahr werden, wenn völlig disparate Teile aus den unterschiedlichen A n s ä t z e n in schlicht additiver Weise z u s a m m e n g e f ü h r t werden, anstatt sie in einen systemisch ausgebreiteten Theorierahmen einzubetten. Es ist jedoch zweifelhaft, ob die neuesten A n l ä u f e , diese Synthese in A n g r i f f z u nehmen, w i r k l i c h in der Lage sind, dieser Gefahr zu entgehen. 3. 'Social B e c o m i n g ' als integratives Konzept Vor fast zwei Jahrzehnten hat Robert Merton angesichts des unerläßlichen Pluralismus soziologischer Theorien die Forderung nach einem „disziplinierten Eklektizismus" (Merton 1976: 142) gestellt. Meiner Auffassung nach bedeutet das, das Chaos von Theorien mit geringem Abstraktionsgrad durch allgemeinere, umfassendere Theorien zu disziplinieren. K o n kret beinhaltet dies die Integration und Z u s a m m e n f ü h r u n g unterschiedlicher Theorien durch einen gemeinsamen Fundus von Annahmen, fundamentalen Voraussetzungen oder Konzepten. Die dabei entstehenden Modelle, die den meisten soziologischen Theorien sozialer Bewegungen zugrunde liegen und auf der grundsätzlichen G e g e n ü b e r s t e l l u n g von Ganzheiten (Struktur) und einzelnen Teilen (Handlung) oder von objektiven (strukturellen, organisatorischen, institutionellen) Rahmenbedingungen und subjektiven Absichten, Haltungen, Motivationen aufbauen, scheinen höchstens eine 'undisziplinierte', eklektische Kombination von Komponenten solcher Theorien zu erzeugen (etwa durch das H i n z u f ü g e n einiger psychologischer Einsichten in die Or- FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 ganisationstheorie, oder durch den Aspekt der Ergänzung der Motivationstheorie durch die Verfügbarkeit von Ressourcen, oder die Bereicherung v o n Mikrostudien durch die Einbeziehung makrostruktureller Restriktionen). U m eine wirkliche Synthese zu erreichen, m u ß das integrative Rahmenwerk verbessert werden, und zwar durch eine allgemeine Gesellschaftstheorie, die in der Lage ist, auf organische Weise unterschiedliche Dimensionen der sozialen Welt miteinander zu vereinen. Es besteht also ein Bedarf, die beiden noch unvollständigen Theoriesynthesen - sowohl einen handlungsmäßig angereicherten 'Strukturahsmus' als auch einen strukturell abgestützten 'Personalismus' - zu überwinden, um eine Synthese dieser Synthesen zu gewinnen, die endlich den wechselseitigen Bedingungsfaktoren (und der wechselseitigen 'Autonomie') ebenso gerecht wird wie der verblüffenden Tatsache einer sich gegenseitig bedingenden virtuellen Existenz von individueller und sozialer Sphäre. Zwei Überzeugungen, die fest in der intellektuellen Tradition verankert sind, verlangen somit dringend nach einer Vereinigung: daß der Mensch ein soziales Wesen darstellt und daß Gesellschaft ein menschliches Produkt ist. Die Anstrengung, beides zusammenzubringen, kann sich nicht auf bloße A d dition beschränken; es m u ß eine „dritte Soziologie" entwickelt werden, anstatt die beiden bestehenden Ansätze nur zu kombinieren. Das Projekt einer 'dritten Soziologie' versucht, letzte, radikale Implikationen aus der Erfahrung von Dualität und Ambivalenz aufzuzeigen, wie sie in der Alltagserfahrung und der soziologischen Theorie aufscheinen: Die Tendenz, das Individuelle, Private und Persönliche dem Sozialen, Öffentlichen und Kollektiven gegenüberzustellen, Einzelpersonen und soziale Ganzheiten als separate Einheiten zu sehen und Individualität und Totalität als verschiedene 'Welten' zu deuten. Welche Art von Realität muß unter- 75 stellt werden, um derartigen Auffassungen Rechnung zu tragen? Was ist die zugrundeliegende Essenz menschlicher Gesellschaft, die solche Erfahrungen verständlich machen könnte? Zur Beantwortung dieser Fragen bedarf es der Zurückweisung einiger vermeintlich offensichtlicher Wahrheiten. Warum wird nicht erkannt, daß weder das Individuum noch das Soziale als getrennte Einheiten vorstellbar sind? Denn, so G H . Cooley, „Individuum und Gesellschaft sind Zwillinge". Es gibt keinen Weg, Menschen ohne sozialen Kontext zu denken, weil schon die Definition des Individuums aufs Soziale verweist: sei es Familie, Stamm, lokale Gemeinschaft, N a tion, Berufsgruppe usw. Ebensowenig ist es möglich, soziale Einheiten ohne Individuen zu denken, aus denen sie bestehen, weil schon die Definition des Sozialen die Bezugnahme auf seine Komponenten, als Gruppenmitglieder, Positionsinhaber, Rollenträger usw. beinhaltet. Das führt uns schließlich zu dem zentralen Anspruch einer Theorie, die ich an anderer Stelle unter dem Titel „Social becoming" (Sztompka 1991) vorgestellt habe: Was wirklich existiert in der Gesellschaft, im eigentlich ontologischen Sinne, ist das einheitliche, sozioindividuelle Feld, das sich im ständigen Prozeß der Selbstverwandlung befindet, die 'dritte Ebene der Realität' zwischen sozialen E i n heiten und Individuen, wie sie üblicherweise begriffen werden. Soziale Einheiten und M e n schen führen nur scheinbar eine selbständige Existenz; ihre Trennung und Gegenüberstellung ist das Produkt einer falschen, verzerrten Vorstellung; sie gehen zurück auf alltagsweltliche Illusionen und theoretische wie metatheoretische Irrtümer. Gesellschaft, verstanden als die u n a u f h ö r l i c h e Transformation des sozio-individuellen Feldes, besteht ausschließlich aus sozialen Ereignissen. Wieso Ereignissen? Weil sie die einzigen FORSCHUNGSJOURNAL N S B elementaren ontologischen Objekte sind, die den Dualismus überbrücken, den w i r als illusionär und irrtümlich vorgefunden haben. In ihrer eigenen Konstitution verschmelzen soziale Ereignisse Individuen und soziale E i n heiten, Dauer und Wandel miteinander. Ereignisse haben immer diese synthetische Qualität, indem sie zwei Seinsdimensionen zusammenbringen; sie sind angesiedelt am Schnittpunkt zweier Achsen, die die menschliche Erfahrung in der Gesellschaft organisieren. Welches Ereignis auch immer wir nehmen, ob auf der Mikroebene ( z . B . Frühstücken) oder auf der Makroebene (z.B. Kriegführen), grundsätzlich liegt immer eine Beziehung zwischen mindestens einer Person und einem sozialen K o n text vor, der durch die Handlung bekräftigt oder verändert wird. Das Ereignis beinhaltet einige aufeinanderfolgende Veränderungen, aber stabilisiert auch eine gewisse Kontinuität in der Natur des Gegenstandes. Ereignisse stehen nicht unverbunden nebeneinander. Sie treten in Form von Clustern und Reihen, Routinen und Prozeduren, Ketten und Prozesssen auf; raum-zeitlich miteinander verbunden, v e r k n ü p f e n sie eine Vielzahl von Personen aus unterschiedlichen Kontexten miteinander. Die Totalität der direkt miteinander verbundenen Ereignisse, die gleichzeitig in der Gesellschaft ablaufen, soll als Praxis bezeichnet werden. Diese Idee repräsentiert den operationalen A b l a u f innerhalb des sozio-individuellen Feldes z u beliebiger Zeit. Hinzukommt eine korrespondierende Idee, die den M ö g lichkeitsraum (Kapazität) des sozio-individuellen Feldes hinsichtlich der Bedingungen für eine durchsetzungsfähige und folgenreiche Praxis angibt. Dies soll mit dem Begriff der Handlungsfähigkeit ('agency') bezeichnet werden. H a n d l u n g s f ä h i g k e i t und Praxis sind zwei Seiten eines ständig ablaufenden sozialen Prozesses: H a n d l u n g s f ä h i g k e i t wird in der Praxis aktualisiert, w ä h r e n d Praxis die Handlungsfähig- 2/94 keit modifiziert, die sich wiederum in einer veränderten Praxis reproduziert. Der höchste Grad der Zusammenführung und Komplikation wird durch die Einsicht erreicht, daß sich das sozio-individuelle Feld nicht nur in seinen Operationen reproduziert, sondern mit der Zeit auch ausdehnt, manchmal bis hin zu den Dimensionen der 'longue duree' historischer Epochen. Denn Ereignisse sind nicht nur ko-existent, sie sind auch miteinander verbunden durch ihre bleibenden Effekte. Ereignisse zeitigen Effekte; materielle Residuen, Erinnerungsspuren, strukturelle Kombinationen, institutionelle Formen usw., die eine historische Tradition ausbilden. Sie sind ebenso beabsichtigt wie unbeabsichtigt, bewußt wie unbewußt - aber zusammen bilden sie die Umstände, Bedingungen, Situationen für nachfolgende Ereignisse (Praxis). Das Netzwerk der Ereignisse reicht über eine direkte Ko-Existenz in der Praxis hinaus und erlangt Kontinuität dank der indirekten Verknüpfung der Bedingungen, die aus vorangegangener Praxis hervorgebracht wurden als Ausgangsbasis künftiger Praxis. A u f den Begriff gebracht ist das gleichbedeutend mit Geschichte. Geschichte ist die unaufhörliche Kette der Praxis, wie sie durch Tradition vermittelt wird: Gegenwärtige Praxis stellt sowohl das Produkt vergangener Praxis als auch die Anschlußbedingungen f ü r zukünftige Praxis dar. Entscheidend an Geschichte ist die Ansammlung von Tradition, der permanent anwachsende Umfang des Erbes früherer Praxis, die dadurch spätere Praxis ebenso beschränken wie erleichtern kann. 4. 'Dritte S o z i o l o g i e ' und soziale B e w e g u n g e n Es gibt ein Gebiet der soziologischen Forschung, wo die Emergenz des Sozialen ('social becoming') besonders sichtbar ist: Das Studium sozialer Bewegungen. Deshalb auch ist dieser Bereich geeignet, als ein 'theoretisches Dach' ('theo- FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 retical umbrella') zu fungieren, unter welchem verschiedene Ansätze zur Beschreibung sozialer Bewegungen versammelt und miteinander verbunden werden können. Vor allem repräsentieren soziale Bewegungen die immanente Doppelstruktur der sozialen Realität: die Dialektik von Individuum und sozialer Einheit, die die grundlegende Annahme der 'theory of social becoming' bildet. So glaubt Anthony Oberschall, daß Prozesse, wie sie in sozialen Bewegungen von Bedeutung sind, eine „Verbindung schaffen zwischen den M i k r o - und Makroaspekten der (soziologischen) Theorie." (Oberschall 1973: 21) Und Zurcher/Snow stellen zurecht fest: „Nirgends ist die Reziprozität zwischen dem Individuum und der sozialen Struktur konzeptionell und empirisch offensichtlicher als im Handeln sozialer Bewegungen". Deshalb gelte: „Das soziale Bewegungsmilieu bildet eine ausgezeichnete Möglichkeit, um zu beobachten, wie soziale Strukturen Handlungen beeinflussen und von ihnen beeinflusst werden." (Zurcher/Snow 1981: 447, 475) Somit bilden soziale Bewegungen ein intermediäres Phänomen in der statischen Struktur sozialer Wirklichkeit. Zum zweiten aber bilden soziale Bewegungen auch ein intermediäres Element der dynamischen Entstehung sozialer Wirklichkeit, der prozessualen Konstruktion sozialer Realität, wie eine weitere wesentliche Annahme der 'theory of social becoming' besagt. Deshalb erlaubt es das Studium sozialer Bewegungen, soziale Wirklichkeit im statu nascendi zu erfassen. Diese intermediäre Eigenschaft sozialer Bewegungen bedeutet auf der einen Seite, daß sie an der Herstellung, Konstruktion und Veränderung der sie umgebenden Gesellschaft beteiligt sind. Sie sind einer der wichtigsten Einflußfaktoren, wenn es um gesellschaftlichen Wandel und Strukturbildung geht. So sagt Alain Touraine: „Soziale Bewegungen gehören zu jenen Prozessen, durch die eine Gesellschaft ihre Organisation, auf der Basis ihres Systems mm geschichtlicher A k t i o n , von Klassenkonflikten und politischen Transaktionen produziert." (Touraine 1977: 298) Diese Rolle wächst noch in der modernen Gesellschaft aufgrund günstiger ökonomischer, politischer und ideologischer Bedingungen f ü r die Mobilisierung und Funktionsfähigkeit sozialer Bewegungen. Im Zeitalter der Moderne, in den f ü h r e n d e n , höchstentwickelten Gesellschaften, stellen sie die wichtigsten Kräfte sozialen Wandels dar. Adamson/Borgos stellen mit B l i c k auf die amerikanische Gesellschaft fest: „ B e w e g u n g e n auf Massenbasis und der Konflikt, den sie vorantreiben, sind die wichtigsten Träger sozialen Wandels." (Adamson/Borgos 1984: 12) A l l e s in allem macht es die Erforschung sozialer Bewegungen daher möglich, die Entstehung und Veränderung sozialer Strukturbildung gesamtgesellschaftlichen A u s m a ß e s z u erfassen. Sozialen Bewegungen kommt eine intermediäre Qualität aber auch insofern zu, als sie eine Zwischenstellung einnehmen zwischen der schieren A n h ä u f u n g von Handelnden und den entwickelten, auskristallisierten sozialen Einheiten: „Bewegungen sind weder nur kollektives Verhalten noch reine Interessengruppen (...). Vielmehr weisen sie von beiden wesentliche Merkmale auf." (Freeman 1973: 793) Sie sind „dauerhafter und integrierter als M o b oder Massen, aber nicht organisiert wie Parteien und andere politische Vereinigungen." (Banks 1972: 8) Deshalb sind besonders soziale Bewegungen geeignet, den intermediären Prozeß interner Strukturbildung zu analysieren, und zu zeigen, wie interne Bewegungsstrukturen entstehen und sich verändern. Killian faßt diesen Punkt in einer Art und Weise zusammen, die der Sprache der Theorie des 'social becoming' sehr nahe kommt: „Das Studium sozialer Bewegungen ist nicht das Studium stabiler Gruppen oder etablierter Institutionen, sondern von Gruppen und Institutionen im Prozeß des Werdens." ( K i l l i an 1964: 427) !78 Bringt man nun all diese Beobachtungen zusammen, so können wir feststellen, daß soziale Bewegungen in der Tat ein besonderes Phänomen darstellen. Sie sind maßgeblich an der Herstellung gesellschaftlicher Strukturen beteiligt und bauen sich zugleich selber auf; sie strukturieren sich selbst, um die Gesellschaft z u strukturieren (oder zu restrukturieren). Diese zentrale Eigenschaft kommt auch in Offes Diskussion der sogenannten 'Neuen Sozialen Bewegungen' und ihrer charakteristischen Funktionsweise zum Ausdruck: „Zwei Aspekte sind dafür typisch: Die A r t und Weise, wie Individuen miteinander handeln, um ein Kollektiv zu konstituieren („interner Handlungsmodus") und die Methoden, mit denen sie der äußeren Welt und ihren politischenn Widersachern begegnen („externer Handlungsmodus")." (Offe 1985: 829) Ähnlich bezeichnet Banks soziale Bewegungen als „sozial kreativ", zugleich aber auch als „sich selbst erschaffende" ('seif creative') Kollektive. (Banks 1972: 16) M a n kann diesen für sozialen Bewegungen typischen Prozeß 'doppelte Morphogenese' nennen. Eingebunden in den Prozeß doppelter Morphogenese erscheinen soziale Bewegungen als die herausragenden Träger von Strukturbildungen: sowohl interne als auch externe Strukturen prägend, und das in interdependenten und gleichzeitigen Prozessen. Die doppelte Morphogenese sozialer Bewegungen sollte jedoch nicht so verstanden werden, daß eine zeitliche Abfolge besteht zwischen der inneren Morphogenese (Entstehung bewegungseigener Strukturen) und der äußeren Morphogenese (Entstehung gesellschaftlicher Strukturen aufgrund der Einwirkung sozialer Bewegungen). Es w ä r e ein Fehler zu glauben, daß die Bewegung zuerst ihr internes Strukturierungspotential aufbaut, um dann über externes Strukturierungspotential zu verfügen, das schließlich f ü r strukturelle Reformen eingesetzt werden kann. Diese Annahme einer linearen zeitlichen Abfolge und die Unterscheidung von FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 'vorher' und 'später' sind aufzugeben. Die soziale Bewegung produziert oder beeinflußt Veränderungen in der Gesellschaft nicht nur, wenn sie ihren eigenen Strukturierungsprozeß endgültig abgeschlossen hat, sondern schon während sie sich selbst aufbaut. Ebenso wirken gesellschaftliche Veränderungen auf die Entwicklung sozialer Bewegungen nicht erst dann zurück, wenn sie abgeschlossen sind, sondern ununterbrochen werden A u f b a u , Karriere, Schwung, Geschwindigkeit und Richtung sozialer Bewegungen von der Gesellschaft mitbeeinflußt. So hat Lauer mit Recht gesagt: „Bei einer sozialen Bewegung haben w i r es mit zwei Prozessen zu tun, die z u s a m m e n h ä n g e n und sich beeinflussen: der Prozeß, den die Bewegung selbst darstellt, und jene Prozesse, die in der Gesellschaft stattfinden, in der sich die Bewegung bewegt." (Lauer 1976: x i v ) Zwei aufeinander bezogene Prozesse der Strukturbildung - intern wie extern - laufen ständig zugleich ab. D i e Entstehung einer Bewegung und die Entstehung neuer sozialer Strukturen ereignen sich in vielfacher und sich gegenseitig beeinflussender Weise, wobei sie sich sowohl stimulieren als auch behindern können. Es gibt eine permanente Wechselwirkung z w i schen interner und externer Morphogenese. Das verleiht dem P h ä n o m e n des 'social becom i n g ' durch den E i n f l u ß sozialer Bewegungen eine besondere Dynamik. Es ist vielleicht keine Übertreibung, wenn man mit G . Marx und J. Wood behauptet, d a ß „soziale Bewegungen dynamischer (sind) als die meisten anderen sozialen P h ä n o m e n e . " ( M a r x / W o o d 1975 : 394) Das ist wahrscheinlich auch die Quelle der Schwierigkeit, jene Prozesse, die innerhalb sozialer Bewegungen ablaufen, von jenen Prozessen, die sich in der Gesellschaft ereignen und « « / s o z i a l e Bewegungen zurückgehen, unter dem Gesichtspunkt von Kausalität und linearen Wirkungsketten auseinander- FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 zuhalten. A b e r nur wenn es gelingt, diese komplexe, interdependente, wahrlich dynamische Qualität sozialer Bewegungen und ihren kreativen E i n f l u ß auf sozialen Wandel zu erfassen, kommen w i r der empirischen Realität näher und sind in der Lage, unsere Modelle historisch angemessen zu gestalten. Übrigens ist es gerade diese Komplexität und Interdependenz, die das Studium sozialer Bewegungen nicht nur zu einer besonderen Herausforderung werden lassen, sondern es auch besonders vielversprechend machen. Es steht deshalb zu erwarten, daß dieses Unternehmen Licht wirft auf die meisten fundamentalen Prozesse des ' S o c i a l becoming': D i e Produktion der Gesellschaft durch Gesellschaft. Piotr Sztompa ist Professor f ü r Soziologie an der Universität von Krackau. Die Übersetzung besorgten Kai-Uwe He Ilmann und Dieter Rucht. Anmerkung Anm. d. Ü.: Der Titel des englischen Originals lautet: 'Toward the 'Third Sociology' of Social Movements: Social Becoming as Integrative Concept'. Paper presented at the Closing Plenary Session Reassessing Social Movement Theory der First European Conference on Social Movements, Wissenschaftszentrum Berlin, October 29-31 1992. 1 Literatur Alexander, J.C. 1988: The New Theoretical M o vement, in: Smelser, N.J. (Ed.): Handbook of Sociology, Newbury Park, Sage Aya, R. 1979: Theories of Revolution Reconsidered, in: Theory and Society, Vol. 8, No. 1, pp. 39-99 Dawe, A. 1970: The Two Sociologies, in: The British Journal of Sociology, Vol. 21, No. 2, pp. 207-218 Giddens, A 1984: The Constitution of Society. Cambridge, Polity Press 79 Ferree, M.M./Miller, F.D. 1985: Mobilization and Meaning: Toward an Integration of Social, Psychological and Resource Perspectives on Social Movements, in: Sociological Inquiry, Vol. 1, pp. 38-56 Gurr, T. 1970: Why Men Rebel? Princeton, Princeton University Press Jenkins, J.C. 1983: Resource Mobilization Theory and the Study of Social Movements, in: Annual Review of Sociology, Vol. 9, pp. 527-553 Klandermans, B. 1984: Mobilization and Participation: Social Psychological Explanations of Resource Mobilization Theory, in: American Sociological Review, Vol. 49, pp. 583-600 Lauer, Robert H . (Ed.) 1976: Social Movements and Social Change. Addresses, Essays, Lectures. Feffer&Simons, London and Amsterda McAdam, D./McCarthy, J.D./Zald, M . N . 1988: Social Movements, in: Smelser, N.J. (Ed.): Handbook of Sociology. Newbury Park, Sage, pp. 695-738 McCarthy, J.D./Zald, M . N . 1977: Resource Mobilization and Social Movements: A Partial Theory, in: American Journal of Sociology, Vol. 82, No. 6, pp. 1212-1241 Neidhardt, F./Rucht, D. 1991: The Analysis of Social Movements: The State of the Art, in: Rucht (Ed.): Research on Social Movements. 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Los Angeles, U C L A (mimeo) 80 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 Werner Bergmann/Rainer Erb Eine soziale Bewegung von rechts? E n t w i c k l u n g u n d V e r n e t z u n g e i n e r r e c h t e n S z e n e in d e n n e u e n Bundesländern Die soziologische Bewegungsforschung hat mit dem B e g r i f f der 'Neuen sozialen Bewegungen' eine normative Entscheidung zugunsten links-libertärer, emanzipatorischer Bewegungen getroffen, die gleichsam eine „Bewegungsfamilie" darstellen. A l s historische Vorläufer werden von ihr nur die Emanzipationsbewegungen des 19. und f r ü h e n 20. Jahrhunderts, wie die Arbeiter- oder die Frauenbewegung, anerkannt, w ä h r e n d antimoderne Bewegungen unter diesem B l i c k w i n k e l unbeachtet bleiben, obwohl völkisch-antisemitische und faschistische Bewegungen historisch äußerst wirkungsmächtig gewesen sind. Die historische Protest- und Bewegungsforschung, die weniger evolutionstheoretisch als die Soziologie denkt, hat dagegen nicht nach der Differenz emanzipatorisch/antimodern ausgewählt. W i l l die Soziologie sozialer Bewegungen angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen im rechten politischen Spektrum nicht ihre Interpretationskompetenz einbüßen, sollte sie ihre Festlegung auf Emanzipationsbewegungen aufgeben und historische wie heutige antimoderne Bewegungen in ihre Analysen einbeziehen. E i n U m denken in diese Richtung ist im Augenblick zu beobachten. So haben Friedhelm Neidhardt und Dieter Rucht bei ihrer Suche nach beweg u n g s a u s l ö s e n d e n strukturellen Spannungen und Modernisierungsproblemen die A u f l ö s u n g der segmentären Nationalstaatsgliederung und 1 2 die Globalisierung der Ö k o n o m i e als ein anstehendes Problem identifiziert, das bei bestimmten Bevölkerungsgruppen zu einem 'defensiven Nationalismus' f ü h r t . Verbinden sich diese Internationalisierungsprozesse mit massenhafter Migration, dann sind ihrer Meinung nach Bedingungen d a f ü r entstanden, daß in den beteiligten Nationalstaaten z . B . die ' A u s länderfrage' virulent w i r d . Rechte Bewegungen oder Parteien, die heute in fast allen europäischen Ländern existieren, dramatisieren hier ein 'soziales Problem', das sie einerseits leicht mit anderen sozialen Problemlagen anreichern können, das andererseits sehr gut mit den auf der Rechten seit langem existierenden Ideologemen zu interpretieren ist. Dies spräche dafür, daß wir im Augenblick in Deutschland die Formierung einer rechten sozialen Bewegung erleben. Doch ist es bisher unter Bewegungsforschern umstritten, ob es sich bei den zu beobachtenden P h ä n o m e n e n um 'kollektive Episoden' oder um die Entstehung einer sozialen Bewegung handelt. Dieser Dissens ist vor allem auch darin begründet, d a ß bisher theoretisch reflektierte Analysen fehlen. 3 4 5 6 7 A u f der Basis von Feldforschungen in Berlin und im Land Brandenburg seit dem Fall der Mauer soll im folgenden die Struktur und Entwicklungsdynamik im rechtsextremen M i l i e u analysiert werden, um die Frage nach dessen FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 81 Bewegungscharakter beantworten z u können. Wir konzentrieren uns dabei auf die MesoEbene der Gruppen-, Organisations- und Netzwerkformation. D i e makrosozialen Bedingungen, d.h. die Modernisierungskrise der D D R seit den f r ü h e n 80er Jahren, deren kritische Zuspitzung im P r o z e ß der deutschen Einheit und der Masseneinwanderung, der Verlust an Bindungswirkung in den sozialen Milieus, die geringe Akzeptanz der implantierten Parteien sowie der zeitweilige A u s f a l l der sozialen K o n trollorgane in den neuen B u n d e s l ä n d e r n f ü h ren w i r als Hintergrundannahmen ebenso mit wie die sich daraus f ü r die Individuen ergebenden Deprivationserfahrungen und Teilnahmemotive (micromobilization potential). In den letzten Jahren sind in der Bewegungsforschung eine ganze Reihe von theoretischen Konzepten entwickelt worden, um die K l u f t zwischen der M a k r o - und der Mikroebene durch intermediäre Strukturen zu schließen. Wir werden im folgenden an die von D o u g M c A d a m und Jürgen Gerhards und Dieter Rucht entwickelten Konzepte der M i k r o - und Mesomobilisierung anschließen, um die Zwei-Ebenen-Struktur der Protestmobilisierung im rechten M i l i e u zu analysieren. A u f der unteren Ebene (micromobilization context) gibt es die einzelnen 'micromobilization actors', d.h. voneinander weitgehend u n a b h ä n g i g e Gruppen mit eigenen Zielen, deren Funktion es ist, Individuen zur Teilnahme an Protestaktivitäten zu mobilisieren. D i e Individuen, die zum Z i e l solcher M o b i l i s i e r u n g s b e m ü h u n g e n werden, nennen Gerhards/Rucht 'Mikromobilisierungspotential'. Das Potential dieser Akteure ist jedoch gering, so daß f ü r eine quantitativ bedeutende Mobilisierung wiederum die 'micromobilization actors' miteinander verbunden und integriert werden müssen, um eine Art 'en bloc recruitment' zu erreichen. Dies ist die A u f g a be von koordinierenden Gruppen oder Organisationen, die Gerhards/Rucht als 'mesomobilization actors' bezeichnen und f ü r die die 8 9 10 Gruppen auf der Mikroebene das ' M e s o m o b i lisierungspotential' darstellen. D i e Akteure auf der Mesoebene besitzen neben der Aufgabe der strukturellen Integration (Vernetzung der Gruppen, Beschaffung von Ressourcen, P R Arbeit, Vorbereitung der Protestaktionen) auch noch die der kulturellen Integration, indem sie f ü r die verschiedenen Mikroakteure und Netzwerke einen gemeinsamen Interpretationsrahmen (master frame) entwickeln. Für das rechtsextreme M i l i e u läßt sich diese doppelte intermediäre Struktur zeigen. W i r beobachten zunächst einmal eine Vielzahl lokaler Gruppen, die zunehmend Mitglieder und Sympathisanten gewinnen und sich partiell auch vernetzen, und w i r finden Neonazi-Organisationen und rechtsextreme Parteien, die als Akteure auf der Mesoebene f ü r größere Protestaktivitäten die strukturelle und kulturelle Integration übernehmen. In diesem A u f satz werden wir anders als Gerhards/Rucht nicht abgeschlossene Protestkampagnen analysieren, sondern ihr Konzept benutzen, um den seit Ende 1989 zu beobachtenden Entstehungsprozeß eines rechten Milieus, bestehend aus einer Vielzahl von Mikroakteuren, und seine Verknüpfung mit 'mesomobilization actors' zu beschreiben. Eine Protestbewegung ist insgesamt also nicht als ein kollektiver Akteur zu begreifen, sondern als ein lose organisiertes, multipolares Handlungssystem, das zahlreiche Subsysteme mit je eigenen organisatorischen Zuständen und politischen Zielen umfaßt. Legt man etwa die weite Definition von M a r i o D i a ni zugrunde, die sich aber nicht von denen anderer Bewegungsforscher wie Ruud K o o p mans oder Friedhelm Neidhardt unterscheidet, daß „a social movement is a network of informal interactions between a plurality of individuals, groups and/or organizations, engaged in a political or cultural conflict, on the basis of a shared collective identity" , dann m u ß man heute wohl von der extremen Rechten als 11 182 FORSCHUNGSJOURNAL N S B von einer sozialen Bewegung in ihrer Formierungsphase sprechen. 1. Die Herausbildung eines rechten Milieus (1) M i t dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft und der A u f l ö s u n g ihrer gesellschaftlichen Organisationen ( F D G B , F D J usw.) öffneten sich in Ostdeutschland Handlungsfelder und Organisationschancen, die auch von j u gendlichen Subkulturen genutzt wurden. Die Wendesituation kann als 'kognitive Befreiung' begriffen werden, die f ü r die Jugendlichen ein neues ' G e f ü h l f ü r Wirksamkeit', f ü r ein E i n klagen von Veränderungen gegenüber einer als i m m o b i l empfundenen Ordnung ('bleierne Zeit') entstehen l i e ß . Zugleich bedeutete die Entwertung der elterlichen Autorität und der Verlust des durch Schule und Betrieb 'organisierten Sozialmilieus', d a ß für die Jugendlichen auch die alltagskulturellen Netzwerke nicht mehr trugen und Umorientierungen nötig wurden, die offenbar einem binären M u ster folgten: Aktivität/Passivität, links/rechts, Deutsche oder A u s l ä n d e r . Bereits seit Mitte der 80er Jahre hatte sich die Identifikation mit der sozialistischen Gesellschaft in der Jugend der D D R stark gelockert. Sie differenzierte sich subkulturell aus, darunter waren auch nationalistische, antisozialistische und fremdenfeindliche Gruppen, die mit dieser Ausrichtung gegen die sozialistische Gesellschaft protestierten. Sie bildeten das rechte Spektrum der D D R Opposition. Es existierte damit bereits ein protesterfahrenes Netzwerk, in das sich aktionsbereite Jugendliche einklinken konnten." Der Fall der Mauer und der weitgehende A u s f a l l der sozialen Kontrollorgane boten diesen Gruppen günstige Entwicklungschancen , während konkurrierende linke Gruppen politisch in die Defensive geraten waren bzw. sich aufgelöst hatten. Bürgerrechtsgruppen, Jugendliche mit kirchlicher, ö k o l o g i s c h e r oder pazifistischer 12 13 2/94 Orientierung waren, soweit sie am politischen Wandlungsprozeß teilhaben wollten, von Diskussionen 'an Runden Tischen' absorbiert und stellten f ü r aktionsorientierte Jugendliche kein attraktives Angebot dar. Anders hingegen die rechten Gruppen, deren Attraktivität nicht von ihren 'phantastischen' politischen Vorstellungen ausging, sondern von ihren A k t i o n e n . Entsprechend ihrem ü b e r k o m m e n e n Feindbild und ihren Krawallerfahrungen konnten diese Gruppen konkrete Handlungsziele anbieten. Ihr Gegner war nicht ein abstraktes System, sondern hatte ein Gesicht und einen Ort, wo man ihn aufsuchen konnte. D i e historische Situation des Umbruchs stellte f ü r dieses Protestpotential immer neue Konfliktthemen (issues) und Gegner 'zur V e r f ü g u n g ' . W ä h r e n d der Demonstrationen im Herbst 1989 wendeten sie sich gegen die linke DDR-Opposition, die f ü r eine eigenständige D D R eintrat, im Wahlkampf im März 1990 protestierten sie gegen diejenigen, die gegen Auftritte westdeutscher Politiker in Ostdeutschland protestierten, usw. Das ' A u s länder- und Asylthema' bildete somit ein Thema in einer Kette von bereits abgearbeiteten bzw. historisch überholten Themen. Diese Handlungserfolge im lokalen Rahmen festigten die bestehenden Gruppen und zogen neue Mitglieder an. Im Gegensatz zur D D R - Z e i t , in der diese Gruppen aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen gewesen waren, konnten sie sich jetzt offen präsentieren, selbst über ihre Größe vergewissern und f ü r ein breites Publikum sichtbar werden. Subkulturelle M o d e - und Stilmerkmale sowie die Besetzung von Treffpunkten (Jugendtreffs) senkten die Zugangsbarrieren zu diesen bisher marginalisierten Gruppen. 16 17 18 15 Wer beteiligte sich an den Aktivitäten? Die Bewegungsforschung hat auf die besondere Bedeutung der 'strukturellen Verfügbarkeit' hingewiesen, also das Fehlen sozialer Pflichten, andere Aktivitäten, g e n ü g e n d Zeit u.ä. Ne- FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 83 ben dieser biographischen Verfügbarkeit, die erklärt, wieso sich in Bewegungen vor allem j ü n g e r e , sozial ungebundene Personen engagieren, sind f r ü h e r e Protestaktivitäten und die Affinität in den Einstellungen zentrale Voraussetzungen f ü r die Rekrutierung. Diese Bedingungen waren bei vielen DDR-Jugendlichen gegeben, denen die strukturelle und ideologische Einbindung in sozialistische Organisationen entweder verlorengegangen war oder die sie nie erworben hatten. F ü r viele Jugendliche bedeutete die staatliche Vereinigung die ' A b wicklung' ihrer vertrauten Einrichtungen. Sie empfanden dies als M i ß a c h t u n g ihrer Ansprüche, und etliche reagierten darauf, indem sie versuchten, ihre Ziele selbst durchzusetzen. Diesem Partizipationsverlangen konnten rechte Gruppen ein konkretes Angebot zur Mitarbeit machen, z u m a l freie Träger f ü r Jugendarbeit vielfach nicht vorhanden waren. B e i den Mitgliedern dieser aktiven Gruppen handelte es sich keineswegs um soziale Außenseiter, sie r e p r ä s e n t i e r t e n vielmehr den sozialen Durchschnitt der DDR-Gesellschaft. Erst in einer zweiten Phase, in der diese Gruppen öffentliche Sichtbarkeit gewannen, schlossen sich ihnen auch deviante Personen an. So konnte bei Beobachtern der Eindruck entstehen, das Krawallmilieu b e s t ä n d e vor allem aus Arbeitslosen oder orientierungslos gewordenen Jugendlichen aus zerrütteten Familienverhältnissen. 19 (2) U n a b h ä n g i g davon entstanden in der Wendezeit überall im Lande Jugendcliquen, die mit dieser Gesellungsform auf die U m b r ü c h e in ihrer sozialen Umwelt reagierten. Teilweise politisierten sich diese freizeitorientierten C l i quen und ü b e r n a h m e n Gewaltaktionen als Handlungsmuster von den politischen Gruppen, wobei die verbreitete A b l e h n u n g von ' A u s l ä n d e r n ' bzw. Asylbewerbern den Katalysator bildete. In dieser Radikalisierungsphase setzte eine starke Fluktuation in den Cliquen ein, denn viele Mitglieder waren nicht bereit, diesen Weg mitzugehen und blieben w e g . Wer in den Gruppen blieb, durchlief einen Lernprozeß hin z u einer größeren Gewaltbereitschaft und stärkeren Ideologisierung; die Übernahme gruppenrhetorischer Argumentationen bewirkt ein starkes G e f ü h l der Z u g e h ö r i g keit. Diese altershomogenen Gruppen blieben im lokalen Rahmen und waren autonom. Eric L . Hirsch hat diese Phase der Rekrutierung und der Erzeugung von 'commitment' als 'consciousness raising' beschrieben, ein Gruppenprozeß, der begünstigt w i r d von einer nicht-hierarchischen, lose strukturierten Gruppenstruktur und von 'face-to-face'-Interaktionen, die isoliert sind von einflußreichen Personen. Die Existenz von 'preexisting Communications networks' ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung f ü r die Formierung einer sozialen Bewegung. Es müssen 'organizing cadres' (Ideologen, B e wegungsunternehmer, 'core groups') hinzukommen, und die Gruppen m ü s s e n f ü r die Ideen und Aktionen kooptierbar sein. Diese Entwicklung findet in der nächsten Phase statt. 20 21 22 23 (3) Die bis dahin lokal agierenden Gruppen beginnen, sich miteinander zu vernetzen. D a bei lassen sich zwei Komponenten unterscheiden: 1) Ansätze einer Strukturbildung durch die Definition gemeinsamer sozialer Orte (Focus-Bildung), 2) der E i n f l u ß rechtsextremer Organisationen aus Westdeutschland, die als Mobilisierungsakteure auf der Meso-Ebene fungieren, d.h. f ü r soziale und kulturelle Integration sorgen. W i r haben in diesem Zusammentreffen von westdeutschen Organisationen und einer sich entwickelnden rechten Szene in den neuen Bundesländern die historisch w o h l einmaligen Entstehungsbedingungen f ü r eine rechte Bewegung vor uns. In der alten B u n desrepublik war es rechtsextremen Parteien und Organisationen bis dahin nie gelungen, einen größeren Kreis von A n h ä n g e r n und Sympathi- 84 FORSCHUNGSJOURNAL N S B santen z u gewinnen; sie blieben sektenhaft abgeschlossene Z i r k e l . ad 1) In fast allen Städten der noch bestehenden D D R bildeten sich gewaltbereite, rechtsorientierte und damit f ü r Bewegungsunternehmer kooptierbare Gruppen. Der Anspruch auf Dauerhaftigkeit dieser Zusammenschlüsse wird mit der Annahme eines Gruppennamens unterstrichen. In Kneipen, Jugendzentren und B a h n h ö f e n schufen sie sich regelmäßige Treffpunkte. Dort wurden subkulturelle Ausdrucksformen durchgesetzt, Rechtsrock-Musik, Mode, Tätowierungen, Tragen von N a z i - E m blemen, Glatzköpfigkeit, die mit ihrem Signalcharakter öffentlich sichtbar waren und weitere Sympathisanten anzogen. M i t dem Wegfall anderer sozialer Angebote entstanden hier neue Foci, d.h. soziale und physische Einheiten, um die herum gemeinsame Aktivitäten eines homogenen Teilnehmerkreises organisiert werden konnten. Diese Foci oder Ursprungsnetzwerke bildeten als soziale Verdichtungen A n 24 25 Shtif Deutscher * wsein' -Sp2-t 2/94 laufstellen f ü r ein größeres Einzugsgebiet oder „Drehpunkte der Vernetzung", wie Friedhelm Neidhardt (1985) sie genannt hat. D i e Vernetzung profitierte von der nach Ö f f n u n g der M a u er sprunghaft gestiegenen Mobilität der D D R Bürger. Konzerte, Feten oder andere attraktive Veranstaltungen zogen Besucher aus allen Landesteilen an. Damit wurde eine große K o n taktdichte von rechtsorientierten Jugendlichen erreicht, die sozialisatorische Effekte hatte: Feindbilder, Wissen, Verhaltensmuster wurden gelernt, so daß sich zunächst nur subjektive Einstellungs- und Handlungsmuster zu einem intersubjektiv geteilten Gruppenstandard aggregierten. ad 2) M i t dem F a l l der Mauer rechneten sich die Neonazigruppen Westdeutschlands große Rekrutierungschancen in der D D R aus und verlegten ihre Aktivitäten f ü r Monate dorthin. Erleichtert wurde die Kontaktaufnahme z w i schen Neonazi-Kadern aus dem Westen und dem M i l i e u in Ostdeutschland durch die E x i stenz von Vermittlern. Diese R o l l e spielten ehemalige DDR-Häftlinge, die in den 80er Jahren von der B u n desregierung f r e i gekauft worden waren und die sich in Westdeutschland Neonazi-Gruppen angeschlossen hatten. Sie konnten nach Ö f f n u n g der Mauer unmittelbar auf ihre lokalen Bezugsgruppen zurückgreifen und den West-Ost-Kontakt herstellen. Die erste Kontaktphase 26 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 85 war gekennzeichnet durch einen hohen Nachholbedarf an Information und durch eine große Assimilationsbereitschaft bezüglich der Vorgaben der westdeutschen Organisationen. Diese Anfangserfolge führten bei den westdeutschen und österreichischen Neonazi-Kadern zu der Vorstellung, die F ü h r u n g der ostdeutschen Basis ü b e r n e h m e n zu können. Sie förderten den A u f b a u von Parteiorganisationen, so d a ß in Ostdeutschland nahezu flächendeckend potentielle 'social movement organizations' ( S M O s ) entstanden; sie gaben H i l f e stellung bei der Formulierung von Programmen, bei der Schulung von Kadern bis hin zur Abfassung von Flugblättern. Ihre politische Strategie zielte auf die Radikalisierung von sozialen Problemen (Arbeit und Wohnen) und deren V e r k n ü p f u n g mit der ' A u s l ä n d e r f r a g e ' . 27 Wir haben hier einen sehr spezifischen Fall der Bewegungsformation vor uns, da die 'mesomobilization actors', denen in Westdeutschland ein größeres Mikromobilisierungspotential noch fehlte, von außen dazukamen und im Osten auf eine bereits bestehende, aber noch atomisierte Struktur von 'micromobilization actors' trafen, f ü r deren soziale und kulturelle Integration sie sorgten. Die westdeutschen Neonazis ü b e r n e h m e n die Funktion der ' B e wegungsmanager', die Organisationen führen und als Ideologen einen Interpretationsrahmen anbieten. 28 Sehr gefördert wurde die Etablierung von Organisationen durch die Bereitstellung von Ressourcen auf verschiedenen Ebenen: - In g r o ß e m U m f a n g wurden Schriften verbreitet, darunter solche, die aufgrund des Verbots in der D D R bereits einen besonderen Reiz besaßen (Kriegsbücher und Landser-Hefte), und solche, die f ü r die D D R neue Themen enthielten, z . B . die 'Auschwitzlüge'; - Technisches Gerät, wie Computer, Programme und Kopierer; - Schulungskurse und die Vermittlung von Kontakten in Westeuropa, darunter auch solche zu potenten Geldgebern; - Der gesamte Bereich der 'symbolischen Ressourcen': Musikkassetten mit ' N a z i r o c k ' , Bekleidung, A u f n ä h e r usw.; - Das Management von Konzerten mit S k i n head-Bands, f ü r die in Ostdeutschland leichter Auftritte zu organisieren waren. Zum Know-how der Westdeutschen zählte auch der Umgang mit den Medien. Aktionen und A u f m ä r s c h e sowie der Einsatz von Prestigepersonen aus der Naziszene wurden als spektakuläre Pseudoereignisse in Szene gesetzt. In der politischen Umbruchsphase wollten sich die Neonazi-Organisationen damit als Teil des politischen Spektrums etablieren und ihre bisherige politische Marginalisierung überwinden. Der Öffentlichkeit sollte ihre P r ä s e n z gezeigt werden, den eigenen und potentiellen A n h ä n gern die ständig zunehmende Bedeutung, E i nigkeit, gesammelte Stärke und Zukunftswillen. Die Öffentlichkeit, die ja zugleich Z i e l gruppe, Kontrollinstanz und Verstärker sein kann, spielt f ü r die stark u m w e l t a b h ä n g i g e n sozialen Bewegungen in jedem F a l l eine große Rolle. Dies gilt f ü r die rechten Gruppen in verstärktem M a ß , da ihnen g r o ß r ä u m i g e Protestrelais oder 'Gastgeber-Organisationen' (wie Universitäten, Kirchen etc.) fehlen und sie deshalb das 'Kontaktpotential elektronischer K o m munikationstechniken' als Relais nutzen m ü s sen. In den rechten Gruppen wurden die M e dien in doppelter Weise genutzt: a) Durch ihre Aktionen, die die normalen A l l tagsroutinen provokativ durchbrachen und sichtbar inszeniert wurden (uniformierte 86 FORSCHUNGSJOURNAL N S B Marschkolonnen mit Fahnen und Trommelschlag), konnten sie die Aufmerksamkeit der Massenmedien gewinnen. Dies diente der Selbstvergewisserung der eigenen Stärke und Bedeutung und zugleich der Stabilisierung und der Rekrutierung neuer A n h ä n g e r (bandwagon effect) sowie der Adressierung des politischen Systems. 29 30 b) D i e Rechtsradikalen stellten außerdem selbst Videos über Demonstrationen und Gewaltakte her, die sie in der Szene kreisen ließen. Dies verstärkte G e f ü h l e der Macht und des Handlungserfolgs wirkte zudem integrativ über die Durchsetzung gemeinsamer Symbole, K o n struktion einer Geschichte usw. Angesichts der 'Sprachlosigkeit' in der rechten Szene, verglichen mit den linken, stärker intellektuell geprägten Bewegungen, kommt der Verwendung dieser leicht verständlichen Bildmedien eine wichtige Funktion f ü r die normative Integration z u . (4) Diese erste Phase des Organisationsaufbaus dauerte bis ca. Herbst 1990. Der A n fangserfolg, getragen von irrealen Erwartungen, konnte nicht stabilisiert werden. Den organisierten Neonazis gelang es nicht, das rechtsextreme Gewaltmilieu auf Dauer organisatorisch zu binden. Der Spagat zwischen kontinuierlicher Parteiarbeit, die auf legale Teilnahme am politischen Leben (Wahlen) gerichtet war, und dem Zwang, dem Gewaltmilieu ständig Handlungsziele f ü r deren Aktionismus zu bieten, scheiterte. Der mißglückte Versuch, sich im Oktober 1990 an den Kommunalwahlen und an der Bundestagswahl zu beteiligen, machte deutlich, d a ß sie ihren bis dahin erreichten Organisationsgrad überschätzt hatten. Der im Zuge der Einigung aufbrechende Gegensatz von Ost- und Westdeutschen führte auch im rechten Spektrum zu Konflikten, da sich die Ostdeutschen nicht länger durch westdeutsche Kader dominieren lassen wollten. 2/94 (5) Das M o d e l l einer einheitlichen Organisation mit hierarischem A u f b a u schlug somit fehl, und die Neonazis reagierten darauf mit der Etablierung kleiner lokaler autonomer Gruppierungen unter ostdeutscher F ü h r u n g . Die seit 1992 einsetzenden Verbote von Neonaziorganisationen verstärkten in der rechten Szene die Strategie 'Kameraden in autonomen Gruppen', die im ganzen L a n d aktive politische Arbeiten leisten und Kontakte intensivieren sollen (vgl. taz 1/93, S.49). D i e in der ersten Sammlungsphase hergestellten Kontakte blieben erhalten und konnten jetzt anlaßbezogen aktiviert werden. 'Weak ties' (häufig: Mehrfachmitgliedschaften) fungierten als Brükke auf der Mesoebene. Es entstand so eine horizontale Segmentierung mit lokalen Schwerpunkten, die auf der Basis der gemeinsamen Ideologie immer wieder zu symbolisch bedeutsamen Großaktionen zusammenkamen. D i e Vorbereitung solcher überregionaler Ereignisse, wie der ' R u d o l f - H e ß - G e d e n k m a r s c h ' oder das 'Heldengedenken' auf dem Soldatenfriedhof in Halbe, findet auf Koordinationstreffen lokaler Neonaziführer statt. Der Verfassungsschutz beobachtet, ausgelöst durch den Verfolgungsdruck gegenüber Neonazi-Organisationen seit Winter 1992, daß diese ihre organisatorisch-strategischen Differenzen zurückstellen und sich mittels moderner, von außen kaum kontrollierbarer Kommunikationstechniken (Mailbox, Funktelefone, etc.) immer stärker miteinander vernetzen. D i e seit kurzem entwickelte Anti-Antifa-Strategie erfüllt dabei einen doppelten Z w e c k : E i n m a l k ö n n e n die Kleinstparteien ihre Differenzen zugunsten dieses gemeinsamen Ziels/Feindes zurückstellen, zum anderen werden die lokalen Cliquen ( M i kroebene) wieder aktiviert, indem sie Informationen über linke Gegner sammeln, die von der Zentrale im Ausland, die somit dem Z u griff der deutschen Behörden entzogen bleibt, ausgewertet, veröffentlicht und den 'rechten 31 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 Aktionisten' zur 'freien Verwendung' wieder zugänglich gemacht werden. 32 Großereignisse und überregionale Treffen sind selten, die Hauptaktivitäten finden im lokalen Rahmen statt. Dies entspricht der f ü r Bewegungen typischen lokal segmentären Differenzierung, da f ü r funktionale Differenzierung die Voraussetzungen (Hierarchiebildung, Organisation) fehlen. Neben diesen gut vorbereiteten und langfristig geplanten Mobilisierungen der Neonazis, wie die P r o p a g a n d a m ä r s c h e in Wunsiedel, Halbe oder Fulda, entstanden die aufruhrähnlichen Ausschreitungen in Hoyerswerda, Quedlinburg, Rostock und andernorts situativ aus der Gewaltbereitschaft jugendlicher Subkulturen. Mobilisierungen dieses Typs erfolgen nicht zentral gesteuert, sondern auf bestimmte Hinweisreize hin, worauf dann das habitualisierte Gewaltprogramm abgespielt wird. 33 34 Wie gezeigt, ist die organisatorische Integration von Skinheads und gewalttätigen Jugendgruppen in den parteiähnlichen Rechtsextremismus nicht gelungen. Dennoch besteht z w i schen beiden eine spezifische Form der Verbindung, die offenbar in der letzten Zeit enger w i r d . Die gemeinsame Basis bilden Feindbilder, rechte Ideologiefragmente und eine ausgeprägte Aktionsorientierung, die im Unterschied zu linken Bewegungen nicht gegen Institutionen oder gesellschaftliche Strukturen gerichtet ist, sondern gegen konkrete, unterlegene Gruppen. D i e ü b e r w i e g e n d e Zahl der A n griffe auf Ausländer und Asylbewerber wird aus diesen fremdenfeindlichen Jugendgruppen heraus begangen. Deren Motive sind mehrschichtig: Sie reichen von Aggressionsabbau über Erlebniskonsum bis hin zu rassistischen Einstellungen. D i e Initiative f ü r solche A n griffe geht v o n den Cliquen selbst aus und m u ß nicht von den Neonazi-Organisationen gesteuert werden. Letztere liefern die ideolo35 gische Rechtfertigung. D i e Kleinparteien werben aus dem Gewaltmilieu Mitglieder an, die lebensweltlich der Szene verhaftet bleiben und somit zu Brückenfiguren (liaison persons) z w i schen M i l i e u und Organisation werden. N e ben der politisch-ideologischen N ä h e bildet die Zugehörigkeit z u einer gemeinsamen Subkultur ein zentrales Verbindungsglied. D i e Neonazis haben eine Infrastruktur aufgebaut, um die Nachfrage nach subkulturellen Angeboten zu bedienen. Geplant ist der A u f b a u einer 'nationalen Gegenkultur von rechts'. Erste Formen einer spezifischen 'Bewegungskultur' sind bereits zu erkennen. Sie organisieren Konzerte mit Skinhead-Bands, und Parteimitglieder betreiben einen Versandhandel mit M u s i k , Schriften und Bekleidung. Damit hat sich der früher sektiererische, stark völkisch-traditionalistische Rechtsextremismus durch den A n s c h l u ß an populäre Kulturformen modernisiert (symptomatisch der Titel eines Fanzines: Moderne Z e i ten). Durch seine Angebotsorganisation gibt er seinerseits dieser rechten Subkultur eine Infrastruktur. Für diese Verbindung ist eine eigentümliche Mischung von subkulturell adaptierter Popularkultur und völkischer Ästhetik charakteristisch: so werden M u s i k f o r m e n des Punks mit nationalistischen und rassistischen Texten verwendet, ist es in den Publikationen eine Mixtur aus Trivialmythen H o l l y w o o d s (wie z . B . Conan, der Barbar) und N a z i - Ä s t h e tik ( S A - K ä m p f e r ) . 36 Die Cliquen besitzen entsprechend eine ideologisch-subkulturelle Doppelgestalt, indem sie über ideologisch geprägte Feindbilder (Ausländer, Linke, Antifa, Spießer) eine stabile K o n fliktkonstellation aufbauen, andererseits über ihr subkulturelles Angebot auch f ü r unpolitische Jugendliche attraktiv sind. Diese übernehmen durch ihre Teilnahme im L a u f e der FORSCHUNGSJOURNAL N S B Zeit auch ideologische Elemente (s.o. 'consciousness raising'). Umgekehrt agieren auch in unpolitischen Cliquen zunehmend organisierte Neonazis, die f ü r einen außenstehenden Beobachter schwer auszumachen sind. 37 Die Grenzen dieser rechtsdominierten Subkultur zur sozialen Umgebung sind nicht streng gezogen. Dies gilt f ü r Themen wie Personen. Im Gegensatz zum organisierten Neonazismus in Westdeutschland handelt es sich hier nicht um marginalisierte oder stigmatisierte A u ß e n seiter. Sie sind als Schüler, Lehrlinge, Wehrpflichtige oder Berufstätige in ihrer Mehrheit sozial integriert und über ' M e i n u n g s b r ü c k e n ' mit den Anschauungen ihrer Berufskollegen und Verwandten verbunden. Uber 'weak des' existiert somit in der E x - D D R ein größeres Mobilisierungs- und Rekrutierungspotential (man denke an das Dorf Dolgenbrod). Das Mobilisierungspotential der Rechtsextremen, das hinsichtlich des Ziels 'Ausländer raus' in der B e v ö l k e r u n g recht groß sein dürfte, wird allerdings durch die Gewalt als M i t t e l der Durchsetzung sehr stark wieder eingeschränkt. U m die Aufbruchsbereitschaft, die das 'nationale Lager' im Hinblick auf das Wahljahr 1994 ergriffen hat, nicht z u gefährden, distanziert sich die etablierte Rechte von den mörderischen B r a n d a n s c h l ä g e n von Mölln und Solingen mit dem H i n w e i s , sie w ü r d e z u unrecht d a f ü r verantwortlich gemacht. 38 2. Problemdefinition seitens der rechten B e w e g u n g Soziale Bewegungen besitzen nicht von B e ginn an klare gemeinsame Ziele oder Zweckprogramme, sondern müssen ein Problem erst selbst in seinen Umrissen konstituieren. In einem zweiten Schritt m u ß die Bewegung versuchen, ihre Problemsicht (frame) und ihre Lösungsvorschläge in der Öffentlichkeit durchzusetzen, indem sie Unterstützung f ü r ihre Sa- 2/94 che mobilisiert und andere dazu motiviert, sich ihrem Protest anzuschließen, da soziale Bewegungen - und dies gilt auch f ü r die Rechte kaum über andere Ressourcen wie Geld, Macht oder politische Verbindungen v e r f ü g e n . B e züglich der Rechtsextremen bildete vor allem die Gewaltorientierung und das ' A c t i o n - M o tiv' der Subkultur eine Ressource. D i e zunächst noch richtungslose Gewalt (diffuse Opferstruktur) wurde in einem rasch ablaufenden D e f i n i tionsprozeß von Cliquenführern, die ihrerseits den öffentlichen Asyldiskurs aufgriffen, auf die Asylbewerber ausgerichtet. Für die rechtsextremen Organisationen und das gewaltbereite M i l i e u stellte die Ausländer- und A s y l diskussion so etwas wie einen 'master frame' dar, der die ideologischen Differenzen im rechten Lager übergreifen konnte und zugleich im Prozeß des 'frame bridging' mit aktuellen sozialen Fragen wie Wohnungsnot, Kriminalität und Arbeitslosigkeit v e r k n ü p f b a r war. Weitere wertbesetzte B r ü c k e n t h e m e n sind etwa der Tierschutz mit der Wendung gegen das Schächten bei Muslimen und Juden sowie die kulturellen Bilder von Männlichkeit, die den jungen Mann als Beschützer vor Fremden, K r i minellen und Konkurrenten auch zur Gewaltanwendung legitimieren. 39 40 Ein 'frame' m u ß , um erfolgreich zu sein, drei Funktionen erfüllen: er m u ß eine glaubhafte Diagnose der Situation liefern, er m u ß eine Handlungsmotivation enthalten und eine m ö g liche Lösung oder Prognose andeuten. Das ' A u s l ä n d e r t h e m a ' kann alle drei Funktionen erfüllen. Der 'diagnostische frame' liefert eine Identifikation des Problems und attribuiert die Schuld oder Ursache auf bestimmte Akteure. Ausländerfeindliche Einstellungen hat es in der Geschichte der Bundesrepublik und der D D R seit langem gegeben, sie haben sich auch in einzelnen Gewaltaktionen geäußert, sie konnten sich aber nicht zu einer ausländerfeindlichen Bewegung verdichten, die die Definition 41 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 der ' A u s l ä n d e r ' als zentrales soziales Problem öffentlich hätten durchsetzen können. In der D D R hatten dem staatlichen Selbstbild widersprechende B e v ö l k e r u n g s m e i n u n g e n keine Chance, die Öffentlichkeit zu erreichen. In der Bevölkerung gab es jedoch klare Vorstellungen über Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit. Den als privilegiert angesehenen Ausländern in der D D R wurde das Recht des Zugriffs auf das knappe Güterangebot abgesprochen. Es existierten in der D D R mithin zwei konfligierende Interpretationsrahmen (competing frames): die staatlich verordnete Ideologie der Solidarität und V ö l k e r f r e u n d s c h a f t und eine gesellschaftliche Ausländerfeindlichkeit. Nach Ö f f n u n g der Mauer war die Erwartung verbreitet, daß nun die ausländischen Werktätigen das L a n d rasch verlassen w ü r d e n . Statt dessen kamen weitere Ausländer ins Land, da die neuen B u n d e s l ä n d e r Ende 1990 verpflichtet wurden, eine bestimmte Quote der Asylbewerber unterzubringen. Diese Zuwanderergruppe stieß auf massive Ablehnung, weil ihnen pauschal kriminelle Absichten zugeschrieben wurden und ihre sozialstaatliche Versorgung ohne entsprechende Vorleistungen als Verletzung elementarer Gerechtigkeitsnormen empfunden wurde. Das Thema Ausländer und A s y l bot die Möglichkeit, ü b e r k o m m e n e Haltungen mit den vielfachen Problemen des politischsozialen Umbruchs der deutschen Vereinigung zu v e r k n ü p f e n (frame bridging). D i e ' A u s l ä n der' wurden als die Schuldigen an allen Notständen interpretiert. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik konnte die Rechte damit eine 'soziale Frage' aufgreifen, in der sie mit großen Teilen der Bevölkerung übereinstimmte , die wie auch einige Politiker bereit waren, die Ausschreitungen als ' A u s w ü c h s e ' eines im Grunde berechtigten 'sozialen Protests' der Ostdeutschen z u sehen. Von den Rechtsextremen wurde dieses Thema weiter zugespitzt, dramatisiert und zum zentralen Problem gemacht, dessen L ö s u n g keinen Aufschub dul42 43 89[ dete. Zugleich erwiesen sich in den A u g e n der Rechtsextremen, aber auch weiter Bevölkerungskreise, die Parteien als unfähig, dieses Problem politisch zu lösen. In dieser blockierten Situation - man kann von einer positiven Veränderung der politischen Gelegenheitsstruktur sprechen - drängte sich der Gedanke auf, man sei quasi dazu delegiert, die L ö s u n g der Probleme selbst in die Hand zu nehmen. Es gab also ein 'motivational framing', das Handlungsmotive f ü r spezifische Protestaktivitäten bereitstellte. Den bereits existierenden Gewaltgruppen spielte diese Situation mit den A s y l bewerbern ein neues A n g r i f f s z i e l zu, das im Gegensatz zu den bisherigen Opfern (Polen, Russen, Vietnamesen) noch weniger integriert und noch weiter außerhalb der „span of sympathy" (Lewis Coser) lag und in dem man die 'Ursachen' f ü r die wahrgenommenen sozialen M i ß s t ä n d e direkt und erfolgreich angreifen konnte. M i t den Parolen „Ausländer raus" und „Deutsche zuerst" wurden überdies L ö s u n g s möglichkeiten angeboten (prognostic framing), die leicht in Handeln zu übersetzen waren. Die ausländerfeindliche Gewalt war doppelt legitimiert: einerseits durch die Zustimmung in Teilen der Bevölkerung, als deren a u s f ü h rendes Organ man sich f ü h l e n konnte, andererseits durch die Interpretation der Rechtsextremen, die die Zuwanderungsfurcht zu einer generellen Überfremdungsangst radikalisierten. Es fand eine Generalisierung der aktuellen Z u wanderungssituation statt, indem Theoreme des völkischen Rassismus und des Kulturpessimismus der Zwischenkriegszeit als Interpretationsrahmen gewählt wurden. In diesem Rahmen fanden Nationalismus und Abwehrrassismus (Wohlstandschauvinismus) die größte R e sonanz in der Bevölkerung, w ä h r e n d der E i n fluß von weitergehenden Gesellschaftsmodellen der Neonazis, insbesondere antidemokratische und volkssozialistische Ideen, auf das M i l i e u begrenzt blieb. 44 45 46 90 FORSCHUNGSJOURNAL N S B D i e Deutung der sozialen Wirklichkeit mit Metaphern des Verfalls, der A u f l ö s u n g und des Untergangs, etwa durch Ü b e r f r e m d u n g , N i vellierung kultureller Unterschiede, Rassenmischung, Knappheit an Lebensraum, durch rechtsradikale Ideologen bestimmt die Form ihrer Politik als Abwehrreaktion, Schutz, ja als ' N o t w e h r ' . D i e Dramatisierung der Situation bis hin zur Verwendung apokalyptischer Bilder begründet die Dringlichkeit von Geg e n m a ß n a h m e n und rechtfertigt die Anwendung von Gewalt und das Außerkraftsetzen demokratischer Verfahren. D i e rechte Bewegung benutzt damit die Form der Angstkommunikation, die auch f ü r die neuen sozialen Bewegungen typisch ist. A u c h die A n t i - A t o m bewegung, die Friedens- und Ökologiebewegung organisierten sich um apokalyptische Deutungen (atomarer Holocaust, Umweltkatastrophe: zwischen W ä r m e - und Kältetod der Erde u.ä.). Soziale Bewegungen scheinen diese Orientierung auf Katastrophenpotentiale zu benötigen, um ihre kollektive Identität z u gewinnen und sich gegen die als gefährlich, fremd und verantwortungslos kolorierte Gegenseite (für die Rechten: das Bonner System, linke Chaoten, Bonner Judenrepublik, Lizenzpresse) abzugrenzen. Hirsch spricht in diesem Zusammenhang vom Prozeß der Polarisierung, Snow et al. von der Notwendigkeit, einen ' i n justice frame' zu verwenden, um die Aktionen gegen einen Gegner z u legitimieren . Der chaotischen, unüberschaubaren, polykontexturalen (in unserem F a l l : multikulturellen, 'durchrassten') Gegenseite steht die Bewegung als homogene, solidarische und moralische E i n heit gegenüber. D i e entsprechende Einheitssemantik ist in der rechten Bewegung im Begriff der Kameradschaft konzentriert, mit dem sich weitere Einheitsformeln wie Treue und Festigkeit verbinden lassen. 47 2/94 teilnehmer auswählen. D i e Option gegen A u s länder m u ß nicht notwendig mit einer Übernahme völkisch-rassistischer Theorien verbunden sein, sie führt jedoch in diese Richtung. A u f der ideologisch entwickelteren Ebene konkurrieren verschiedene Deutungsmuster miteinander, woraus die typische Konflikthaftigkeit der rechten Szene resultiert, in der sich aus größeren Organisationen immer wieder kleine, sektenhafte Gruppen abspalten. Trotz aller ideologischen, taktischen und persönlichen Differenzen m u ß von einem einheitlichen M i l i e u der rechten Bewegung gesprochen werden. Fluktuationen zwischen den Gruppen und persönliche Bekanntschaften vernetzen die verschiedenen Gruppierungen und integrieren das M i l i e u , so daß etwa Abgrenzungsbeschlüsse gegenüber Extremisten, wie die 'Republikaner', auf unteren Parteiebenen als wenig erfolgversprechend einzuschätzen sind. Der Verfassungsschutz beobachtet zudem eine 'zunehmende Intellektualisierung der Szene'. Er befürchtet, daß 'rechtsextreme Vordenker' eine Brückenfunktion zum Neokonservatismus bilden könnten, die die Szene in weiteren Kreisen h o f f ä h i g machten (Der Tagesspiegel 22.11.1993). 51 48 49 50 Das rechte Spektrum bietet ein vielfach gestuftes Ideologieangebot, aus dem Bewegungs- 3. Infrastruktur U m sich nach Mobilisierungsphasen nicht einfach aufzulösen, m ü s s e n soziale Bewegungen bestrebt sein, eine eigene Infrastruktur aufzubauen. Im rechten M i l i e u bestand diese zunächst in der sozialen Markierung bestimmter Orte und Zeitpunkte. A u s wiederholten Treffen in Lokalen und Discos, an Kiosken usw. bildeten sich feste Anlaufpunkte. K ä m p f e in Jugendclubs führten bei siegreichem Ausgang zur Definition des Clubs als 'rechts'. A u c h Sportgruppen, wie in Solingen der 'Deutsche Hochleistungskampfkunstverband' ( D H K K V ) , können einen Rahmen f ü r die Vernetzung und für Kontakte bieten. Zum Teil kopierte man FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 'linke M u s t e r ' , z . B . in der Imitation der Hausbesetzerszene in Berlin. B e i den etablierten Rechtsextremisten gibt es mittlerweile Gaststätten und Hotels, in denen man sich trifft und in denen r e g e l m ä ß i g Veranstaltungen und Vorträgen stattfinden. A u c h die Neonazis haben feste Orte, an denen sie ihre Koordinationstreffen und Feierlichkeiten abhalten. E t l i che dieser Adressen haben bundesweite Bedeutung. Daneben hat sich im rechtsextremen Spektrum ein 'Festkalender' herausgebildet. A n bestimmten Terminen wird r e g e l m ä ß i g mobilisiert. E s versichert sich seiner Ursprünge, indem es sich seiner 'Ahnenreihe' erinnert und ' F ü h r e r s Geburtstag' und den Todestag seines Stellvertreters begeht. M i t den Sonnenwendfeiern w i r d auf vorchristliches, religiösgermanisches Erbe rekurriert. Damit sind ein räumlich-zeitlicher Rahmen und Ansätze einer eigenen Bewegungskultur gegeben, die eine gewisse Verstetigung der Bewegung sichern. Zusätzliche Veranstaltungen, wie Grillfeste, Konzerte u.a., füllen diesen Rahmen weiter aus. Neben dieser symbolischen Infrastruktur f i n den sich A n s ä t z e einer materiellen Reproduktion in einer rechten Schattenökonomie. Parteien und Organisationen unterhalten Verlage und Versandabteilungen. Zahlreiche Neonazis sind auf den Handel mit Militaria und N S Artikeln spezialisiert. In den letzten Jahren hat das G e s c h ä f t mit S k i n - M u s i k zunehmend an Bedeutung gewonnen. Etliche Jugendliche haben Jobs in rechten Kneipen gefunden oder bekamen A B M - S t e l l e n im Rahmen der Jugendsozialarbeit. Eine Grauzone bilden Beschäftigungsverhältnisse in Firmen, deren Besitzer in irgendeiner Weise mit der Szene sympathisieren. Der Rechtsextremismus erscheint heute vergleichbar mit der noch schwach entwickelten Struktur des Gegenmilieus in der Studentenbewegung. Hier wie dort sind die K o m m u nikationsmöglichkeiten der Protestbewegung 52 91 noch stark in die Aktionspraxis eingebunden, die als Medium der Herausbildung kollektiver Identität dient. 53 Hinzu kommt auch eine medial vermittelte Vernetzung über Druckerzeugnisse und Videos. A l l e größeren Ereignisse und Parteitage können heute auf Videokassette bezogen werden. Neben den zahlreichen Periodika der Parteien und Grüppchen haben vor allem die Fanzines eine hohe Attraktivität f ü r die Jugendlichen gewonnen. Seit dem letzten Jahr werden in der rechten Szene auch elektronische K o m munikationsmedien zur Vernetzung eingesetzt. So versteht sich das „Nationale Info-Telefon" (NIT) in Wiesbaden bzw. M a i n z als „ K o m m u nikationszentrale des nationalen Lagers" (taz 1/93, S.49). Sieht man von den rechtsextremen Parteien ab, die durch die Wahlkampfkostenpauschale und Zuwendungen ihrer M a n datsträger größere finanzielle Ressourcen besitzen, so m ü s s e n die anderen Gruppen ihre Aktivitäten und Publikationen vor allem durch die Opferbereitschaft ihrer Mitglieder finanzieren. Es ist jedoch insgesamt ein Interaktionsgeflecht entstanden, das f ü r eine gewisse Dauerhaftigkeit der rechten Bewegung spricht. 4. 'Constraints' für eine rechte B e w e g u n g Nach den großen Erfolgs- und Mobilisierungsphasen 1990-1992 scheint die rechte Szene heute in die Defensive geraten zu sein. D i e Bewegung scheint sich in einer Phase der L a tenz zu befinden. In der Tat gibt es eine Reihe von Faktoren, die ihrer Entwicklung entgegenstehen. Es hat sich ein ' M e t a k o n f l i k t ' entwickelt, in dem die Bewegung selbst, und zwar in negativer Hinsicht, zum Thema geworden ist. Dies gilt vor allem f ü r die Kontrollagenturen und die Massenmedien, aber auch in der Bevölkerungsmeinung gehören Rechtsextremi- 92 FORSCHUNGSJOURNAL N S B sten zur am stärksten abgelehnten sozialen K a tegorie. 54 a) Die Erfolge der rechten Bewegung hatten gerade i m Osten Deutschlands auf der „absence of repression" beruht. Dies hat sich inzwischen geändert. Der A u f b a u der Polizei und Justiz, die B i l d u n g von Sonderkommissionen zur Verfolgung rechtsextremistisch motivierter Straftaten und die energischer ausgeübte politische F ü h r u n g der Kontrollorgane haben das Betätigungsfeld der Extremisten erheblich eingeschränkt. Einige Neonaziorganisationen sind mittlerweile verboten worden, viele M i t glieder der Szene sehen sich als Angeklagte den Gerichten gegenüber. D i e gesamte Szene steht damit unter Illegalitätsdrohung, so daß Mobilisierungen unter die Kategorie der 'high risk mobilization' fallen und das erreichbare Potential entsprechend begrenzen. D i e Organisationen der Neonazis haben sich auf die Weiterarbeit in der Illegalität offenbar bereits eingerichtet bzw. unterlaufen die Verbote, indem sie lockere, sogenannte Bewegungsstrukturen ausbilden, die über Informationsvernetzung ihren Zusammenhalt sichern. 55 56 b) War Gewalt in der ersten Phase eine wichtige Ressource f ü r den A u f b a u der Bewegung gewesen, so ist diese Taktik an eine Grenze gestoßen. Gewalt schränkt das Potential an Sympathisanten ein, da sie die Grenzen sozialer Beziehungen scharf markiert. Das kulturell geltende Gewalttabu wird verletzt und fordert entsprechen Sanktionen des Staates heraus. c) D i e rechten Organisationen finden zwar Resonanz bei vielen Jugendlichen, die Parteien genügend Wähler, um die 5% H ü r d e zu überwinden, doch gelingt es ihnen nur in geringem Umfang, diese Wähler als aktive Parteimitglieder an sich z u binden. Der Rechtsextremismus bleibt insgesamt im „multiorganizational f i e l d " isoliert, da er mit Organisatio57 2/94 nen außerhalb des eigenen Lagers keine K o alitionen bilden kann, w e i l diese sich verweigern. Zwar schreitet die politische Professionalisierung im rechten Lager voran, doch eine systematische Eliterekrutierung gelingt bisher nicht. Versuche, etwa Streikbewegungen in ostdeutschen Betrieben zu kooptieren, scheiterten am Widerstand der Arbeiter. Der Rechtsextremismus sieht sich vielmehr einer Phalanx von politischem System, Kontrollorganen, Massenmedien und Gegenbewegungen (Antifa-Gruppen, Lichterketten usw.) gegenüber, die ihn aktiv b e k ä m p f e n . In dieser Hinsicht ist auch die starke Medienabhängigkeit von Nachteil, zumal die Rechtsextremen keine sympathisierenden Journalisten (gatekeeper) in den Prestigemedien besitzen. d) D i e demokratischen Parteien nehmen dem Rechtsextremismus die wirksamen Themen weg, etwa wenn sich die C S U gegen eine zu enge europäische Integration und gegen die ' E s p e r a n t o - W ä h r u n g E C U ' wendet, wenn die C D U das Thema innere Sicherheit zum zentralen Wahlkampfthema f ü r 1994 erhebt, oder wenn das Asylrecht in einem Konsens der großen Bundestagsparteien geändert w i r d . Es f i n det ein Thementransfer vom politischen Rand zur Mitte hin statt, ohne d a ß eine Koalition mit den Rechten erfolgen m ü ß t e . Dieser Transfererfolg gefährdet nicht die demokratische Stabilität des Landes, schwächt aber seine innere Liberalität. 5. Schluß Wenn hinter dem A u f k o m m e n sozialer Bewegungen ein genereller Kulturwandel steht, dann ist zu vermuten, daß die Etablierung der rechten Szene Ausdruck einer tiefergehenden Veränderung der politischen Kultur in Deutschland, aber auch in anderen westlichen Demokratien ist. Michael Minkenberg hat eine 'Neue Rechte' in Deutschland ausgemacht, die in Re- FORSCHUNGSJOURNAL N S B 93 2/94 aktion auf die dominante linke, postmaterialistische Kultur eine neue Konfliktlinie gezogen hat, die einen Wertewandel indiziert und quer durch die alten sozialen wie politischen Lager hindurchschneidet. Diese Neue Rechte ist das Resultat eines Generationenwechsels und kommt nicht aus 'der Mitte der Gesellschaft', sondern aus dem alten und neuen Konservatismus. Diese neue 'cleavage'-Struktur, die auf einem Wertewandel und dem Aufkommen neuer issues (Ökologie, Einwanderung) beruht, ist jedoch nicht allein ein deutsches Phänomen, sondern gilt f ü r alle fortgeschrittenen Industriegesellschaften, in denen sich rechtsaußen 'cross-class-parties' bilden. A u c h Jaschke sieht die westlichen Gesellschaften am Beginn einer 'historischen, keineswegs kurzlebigen Phase', in der es z u einer Ethnisierung sozialer Konflikte, zu einem historischen Revisionismus, der die politisch-moralischen H e m m schwellen nach rechts abbaut, und zur Formierung eines rechten Protests als soziale Bewegung kommt. Wenn diese Analysen richtig sind, dann ist die gegenwärtige ' D ä m p f u n g ' des rechtsextremen Milieus nur eine vorübergehende Erscheinung, eine Latenzphase in einer rechten Gegen- und Bewegungskultur, die zur Zeit von gewalthaftem Protest auf Propaganda umgeschaltet hat. D i e rechte Szene, die die rechtsradikalen Parteien ('Republikaner', N P D , D V U , D L ) , die organisierten Neonazigruppen und die subkulturellen Gruppen und Vereine u m f a ß t , ist organisatorisch und ideologisch zwar heterogen, doch sind die Tendenzen zur Vernetzung und Kooperation unübersehbar. 58 59 Werner Bergmann, Dr. phil., ist WissenschaftUcher Assistent am Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin. Rainer Erb, Dr. rer. pol., ist wissenschaftlicher Angestellter am Zentrum f ü r Antisemitismusforschung Technische Universität Berlin. Anmerkungen Zu diesem Begriff der „social movement family" vgl. Della Porta, Donatella/Rucht, Dieter 1991: Left-Libertarian Movements in Context: A Comparison of Italy and West Germany, 1965-1990, Discussion Paper No. FSIII91-102, W Z B , Berlin Diese normative Vorentscheidung hat dazu geführt, daß Analysen zum gegenwärtigen Rechtsextremismus weder dem theoretischen noch dem empirischen Standard der Bewegungsforschung entsprechen. Vgl. Neidhardt, Friedhelm/Rucht, Dieter 1993: „Auf dem Weg in die Bewegungsgesellschaft"? Uber die Stabilisierbarkeit sozialer Bewegungen, in: Soziale Welt 44, 305-326: 312f. Auch andere Bewegungsforscher sehen einen Wandel in der politischen Chancenstruktur in den europäischen Gesellschaften („conservative backlash"), der zu einer Dominanz der politischen Rechten und des Nationalen geführt hat, siehe McAdam, Doug 1988: Micromobilization Contexts and Recruitment to Activism, in: International Social Movement Research, V o l l , 125-154: 129. 1 2 3 Mit Ruud Koopmans ist festzuhalten, daß jede „Bewegungsfamilie" eine andere „political opportunity structure besitzt". D.h. politische Situationen, die rechtsextreme Bewegungen zur Mobilisierung stimulieren, können für links-libertäre völlig irrelevant oder sogar hemmend sein, vgl. K o opmans, Ruud 1993: The Dynamics of Protest Waves: West Germany, 1965 to 1989, in: A S R 58, 637-658: 638. 4 In der Tat scheint die „Gefährdung der Nation oder Gemeinschaft" als das zentrale Problem. Typischerweise wird neben der Immigration und dem Konzept des Multikulturellen vor allem die europäische Einigung, d.h. die Aufgabe von Souveränitätsrechten bekämpft. Dies gilt ja nicht nur für die extreme Rechte, sondern bis hinein in die etablierten Parteien. A u f ihrem Parteitag im Oktober 1993 hat etwa die C S U das Konzept eines „Europas der Nationen" vorgestellt, das gegen eine zu weitgehende politische Union gerichtet ist. In Italien formiert sich mit der Lega Lombarda eine regionalistische Bewegung gegen die „extracomunitari", die die eigene „imagined community" ge5 94 fährden, d.h. setzt sich sogar noch vom gesamtitalienischen Nationalstaat ab. V g l . Schmidtke, O l i ver/Ruzza, Carlo E . 1993: Regionalistischer Protest als „Life Politics". Die Formierung einer sozialen Bewegung: die Lega Lombarda, in: Soziale Welt 44, 5-29. Hans-Gerd Jaschke sieht günstige Bedingungen für die Entstehung einer rechten sozialen Bewegung, da gegenwärtig eine Ethnisierung sozialer und politischer Konflikte zu konstatieren sei und damit Themen des rechtskonservativen Spektrums, wie Volk und Nation, ins Zentrum der politischen Debatte rücken, vgl. Jaschke, Hans-Gerd 1993: Formiert sich eine neue soziale Bewegung von rechts? Über die Ethnisierung sozialer und politischer Konflikte, in: Institut für Sozialforschung, Mitteilungen, Heft 2, 28-44. 6 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 sozialer Bewegungen an, vgl. McAdam 1988: 127ff. vgl. McAdam 1988: 125-154. Siehe auch dazu die Diskussion in Gerhards, Jürgen/Rucht, Dieter 1992: Mesomobilization: Organizing and Framing Two Protest Campaigns in West Germany, in: AJS 98, 555-595: 556ff. vgl. Diani, Mario 1992: The Concept of Social Movement, in: The Sociological Review, 1-25: 13. Siehe auch Neidhardt, Friedhelm 1985: Einige Ideen zu einer allgemeinen Theorie sozialer Bewegungen, in: Hradil, Stefan (Hrsg.): Sozialstruktur im Umbruch. Karl Martin Bolte zum 60.Geburtstag, Opladen 193-204 und Koopmans 1993: 637. 10 11 Zu diesem Prozeß der „cognitive liberation" als Voraussetzung für Mikromobilisierung vgl. Mit Recht lehnt Christoph Butterwege Interpre- McAdam 1988: 132. Diese Befreiung besitzt drei tationen ab, die in den Neonaziaktivitäten eine Aspekte: Erfahrung eines Legitimitätsverlust des Rebellion von Jugendlichen gegen die Gängelung Systems, den Übergang von Fatalismus zum Einund Diskriminierung irgendwie eigenständigen klagen von „Rechten" und Wandel, den Glauben Verhaltens (wie Ute Osterkamp) oder gar Züge an die Möglichkeit, die Verhältnisse zu ändern. einer „Sozialrevolutionären Bewegung" (wie Wolfvgl. Kühnel 1993: 397 und 404. gang Brück) sehen wollen, vgl. Butterwege, ChriFür diese Jugendlichen stellten Gewaltaktionen stoph 1993: Rechtsextremismus als neue soziale bereits zu DDR-Zeiten ein zentrales HandlungsBewegung?, in: Forschungsjournal NSB, 2/93, 17- schema dar, weil ihnen ein anderer Ausdruck po24. Es kann bei der Frage, ob wir die Formierung litisch abweichender Meinungen (Versammlungen, einer rechten sozialen Bewegung erleben, jedoch Veröffentlichungen etc.) verwehrt war. Eine hohe nicht darum gehen, Ähnlichkeiten in den Zielset- Gewaltakzeptanz und -bereitschaft war also bezungen und Grundwerten mit linken Bewegungen reits in der D D R erworben worden. zu suchen oder abzustreiten, sondern nur eine Ingo Hasselbach beschreibt in seinem Buch „Die Strukturanalyse kann hier nähere Auskunft ge- Abrechnung. Ein Neonazi steigt aus" (Berlin 1993, ben. S. 44) die enorme Beschleunigung des Aufbaus Von dieser Bindungsschwäche profitieren im der rechten Szene in Ostdeutschland nach dem Osten bei den jungen Leuten vor allem die GRÜ- Fall der Mauer und das sich Auftun völlig ungeN E N und auch die „Republikaner", wobei sich wohnter Freiräume für die Parteiarbeit. ein Bildungsbias zeigt: Während die GRÜNEN Vor allem die systemtheoretischen Ansätze der von Jugendlichen mit hohem Bildungsstatus prä- Bewegungsforschung betonen den Primat der feriert werden, finden die „Republikaner" vor al- Handlungsorientierung gegenüber vorformulierten lem bei den Lehrlingen Anklang, vgl. Kühnel, Zielen oder zugrundeliegenden sozialen ProbleWolfgang 1993: Jugend in den neuen Bundeslän- men. Die Selbsterzeugung einer Bewegung wird dern: Veränderte Bedingungen des Aufwachsens, in der Verknüpfung von Kritik und HandlungsGewalt und politischer Radikalismus, in: Berliner vorschlag gesehen, die vom Sender selbst praktiJournal für Soziologie, Heft 3, 385-408: 385. ziert wird und damit MobilisierungskommunikaMcAdam sieht unter anderem „absence of re- tion auslöst, die als selbstreferentielles Elemenpression" und „suddenly imposed grievances" als tarereignis sozialer Bewegungen angesehen wird. politische Makro-Bedingungen für die Entstehung Vgl. dazu: Ahlemeyer, Heinrich W . 1989: Was ist 12 7 13 14 15 8 16 9 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 eine soziale Bewegung? Zur Distinktion und Einheit eines sozialen Phänomens, in: Z f S 18, 175191; siehe auch Japp, Klaus P. 1984: Selbsterzeugung oder Fremdverschulden? Thesen zum Rationalismus in den Theorien sozialer Bewegungen, in: Soziale Welt 35, 313-329: 324. Wir knüpfen hier an eine Überlegung von Japp an, der das übliche Kausalschema von Thema und Protest umkehrt: Die neuen sozialen Bewegungen setzen nicht von einem Konfliktthema ausgehend kollektiven Protest in Szene, sondern umgekehrt konsolidieren sie die kollektive Widerspruchsbereitschaft und suchen dann nach Themen, mit denen sich die Gesellschaft kritisieren läßt. Durch Selbstrationalisierungen wird dieser Prozeßverlauf von den Bewegungen wieder umgekehrt: Man reagiert auf gesellschaftliche Probleme und sieht die auslösende Funktion voreingestellter Protestbereitschaft nicht mehr, vgl. Japp 1993: Die Form des Protests in den neuen sozialen Bewegungen, in: Baecker, Dirk (Hrsg.): Probleme der Form, Frankfurt a.M. 230-251: 23lf. 17 In der D D R war die Mitgliedschaft in den rechten Gruppen sehr riskant, so daß die Gruppen auf „strong ties" eingeschränkt waren. Mit dem Wegfall der Illegalitätsdrohung fiel diese Einschränkung, und es konnten auch losere soziale Beziehungen (weak ties) wirksam werden, was das M o bilisierungspotential stark vergrößert hat. " Belege für den raschen Einstellungswandel seit der Wende finden sich bei Förster, P. et al. 1992: Jugendliche in Ostdeutschland 1992. Politische Einstellungen, rechtsextreme Orientierungen/Gewalt, Verhältnis zu Ausländern, lebenswerte Lebensbefindlichkeiten, Forschungsstelle Sozialanalysen Leipzig. Zu dieser bewegungstypischen Abgrenzungsform, wonach dissentierende Mitglieder einer Bewegung nicht ausgeschlossen werden, sondern von selbst wegbleiben, so daß sich in dem Bewegungsmilieu eine Staffelung von „hartem Kern", Mitläufern und bloßen Sympathisanten ergibt, vgl. Japp 1993: 235. Dies führt zu einer Diffusität der Grenzen einer Bewegung, was sich für das rechte Spektrum sehr gut beobachten läßt. Japp interpretiert diese Form der Konfliktvermeidung in der Bewegung selbst als Latenzschutz, d.h. die Bewe18 20 95 gung vermeidet so die Thematisierung von Aspekten, die ihr Thema und damit den Protestanlaß entziehen könnten. D.h. die kollektive Handlungsfähigkeit wird mit hoher Rigidität erkauft. Lena Inowlocki hat dieses Sich-selbst-Hineinreden der Jugendlichen in ihr rechtsextremes E n gagement beobachtet, in dem diese sich durch Behauptungen über historische Zusammenhänge immer mehr von dessen Richtigkeit und Notwendigkeit überzeugten, vgl. Inowlocki, Lena 1992: Zum Mitgliedschaftsprozeß Jugendlicher in rechtsextremistischen Gruppen, in: Psychosozial 15. Diese Gruppen stellen nach Hirsch eine Art Zuflucht (haven) dar, in der Bedürfnisse artikuliert und Kritik eingeübt werden kann, vgl. Hirsch, Eric L . 1990: Sacrifice for the Cause: Group Processes, Recruitment, and Commitment in a Student Social Movement, in: A S R 55, 243-254: 245. vgl. dazu Freeman, Jo 1983: On the Origins of Social Movements, in: dies.(ed.), Social Movements of the Sixties and Seventies, New York, London 9f. Zu einer Auswahl dieser Gruppennamen von B D M Ost-Berlin über Greifswalder Nationale Sozialisten bis zur SS-Teutonenstaffel Zwickau vgl. Erb, Rainer 1994: Gruppengewalt und Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. 3,140-164. vgl. zur Focus-Theorie von Scott L . Feld Ohlemacher, Thomas 1991: Persönliche Netzwerke und die Mobilisierung politischen Protests, Discussion Paper FS II 91-104, Wissenschaftszentrum Berlin 29f. Foci können ganz verschiedene Formen annehmen: Es können Personen oder Gruppen sein, aber auch bestimmte Plätze oder Veranstaltungen, um die herum sich gemeinsame Aktivitäten entwickeln. Personen, die sich um einen Focus organisieren, weisen nach Feld eine große Homogenität hinsichtlich sozialstruktureller Faktoren auf. 21 2 2 2 3 24 25 Man kann diesen Vorgang als einen Kooptationsprozeß beschreiben, in dem die Neonazi-Organisationen Verbindung zu einem Set von lokalen Gruppen suchten, die kongruente oder komplementäre Ziele und Ideologien besaßen. Dafür spricht, daß es den ostdeutschen Gruppen völlig gleichgültig war, von welchem rechtsextremen Absender das Material stammte. Die „Natio26 27 96 nalzeitung" wurde ebensogern genommen wie Schriftenmaterial der „Republikaner" oder Flugblätter der F A P . Die neonazistischen Parteien und Organisationen verfolgten dabei zunächst andere Ziele, sie strebten eine Inkorporation der Gruppen in ihre hierarchisch organisierte Struktur an. Dies ist jedoch weitgehend mißlungen. Hirsch spricht vom Gruppenprozeß der „collective empowerment" durch Protestaktionen, vgl. Hirsch 1990: 245; siehe auch Kühnel 1993: 404, der den Bedeutungsgewinn für die Jugendlichen und die sich daraus ergebende Eskalationsspirale hervorhebt. vgl. dazu Schmitt-Beck, Rüdiger 1990: Über die Bedeutung der Massenmedien für die Mobilisierung sozialer Bewegungen, in: K Z f S S 42, 642662, der vier Funktionen beschreibt: Rekrutierung, Stabilisierung, das Gewinnen von Bündnispartnern und die Wahrnehmung durch das politische System. Der ehemalige Neonazi Hasselbach (1993, S.120) berichtet, wie ihn aufgrund seiner Bekanntheit durch Medienberichte Jugendliche auf der Straße ansprachen, die in der rechten Szene mitmachen wollten. 2 8 2 9 30 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 eine auf die Aktion begrenzte Führung ergeben sich aus der Intensität der Aktionsbeteiligung. Eine vorher festgelegte Rollenverteilung ist kaum vorhanden, vgl. Kühnel 1993: 402. Insofern ist die gängige Alternative „spontan" oder „gesteuert" irrig. Sie verfehlt mit ihrer Unterscheidung von Organisation oder „Masse" den spezifischen Charakter sozialer Bewegungen. Koopmans (1993: 649) sieht in den Protestwellen von 1965-1989 immer wieder Phasen, in denen ein „unorganisierter Protest" aus den informellen Netzwerken heraus entstand und der typischerweise einen hohen Grad an Konfrontationen aufwies, wobei „unorganisiert" hier nur bedeutet, daß diese Aktionen nicht das Resultat der Mobilisierung durch Bewegungsorganisationen (SMO) waren. Die Steuerung durch SMOs hat zumeist einen pazifizierenden Einfluß auf die Aktionsformen. 34 Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Werthebach beobachtet eine Zunahme der systematischen Vernetzungstendenzen sowohl zwischen den lokalen Skinheadgruppen wie zwischen diesen und den Neonazis (Der Tagesspiegel vom 22.11.1993). Die Mobilisierungserfahrung in Ostdeutschland In der Bewegungsforschung spricht man von löste bei den westdeutschen Neonazis trotz dieser „like-minded people" (Neidhardt 1985) oder von organisatorischen Mißerfolge einen Motivations- „catnets", d.h. Netzwerken aus Personen der gleich schub aus, den die Kader in größere Anstrengun- sozialen Kategorie. gen in Westdeutschland umsetzten. In der Außensicht auf diese Gruppen wird dieDiese doppelte Zielsetzung sprechen die Initia- ser Doppelcharakter zumeist verkannt: Die Gruptoren deutlich aus: „Wir wollen die nationale So- pen werden entweder als überzeugte Neonazis etilidarität beschwören und die A N T I - A N T I F A - A r - kettiert oder als Radaugruppen bezeichnet, bei debeit als übergreifend und überparteilich verstan- nen kein gefestigtes rechtsextremes Weltbild festden wissen. Hier hat Gezänk und dogmatische zustellen sei. Demgegenüber ist einerseits die Abgrenzungen (sie!) nichts verloren ... Die A N T I - Gleichzeitigkeit beider Aspekte und andererseits ANTIFA-Arbeit muß geradezu das Bindeglied der der Charakter eines Sozialisationsprozesses zu beWiderstandskraft jeder einzelnen Vereinigung, tonen. Unabhängig von den individuellen MotiPartei und Organisation sein", vgl. Der Einblick. ven, die zum Anschluß an die Gruppen geführt Die nationalistische Widerstandszeitschrift gegen haben, werden mit zunehmender Dauer der Mitzunehmenden Rotfront- und Anarchoterror, N r . l , gliedschaft szenetypische Ansichten und VerhalNov. 1993, Randers, Dänemark 4. tensweisen übernommen. 31 3 5 3 6 3 7 3 2 V g l . Neidhardt 1985. Jugendforscher haben in den Gruppen keine festen und hierarchischen Strukturen und keine fixierten Gruppennormen gefunden. Aktionsentscheidungen werden mehrheitlich getroffen und getragen, das Prestige und 3 3 Noch während der Welle von Ausschreitungen, die im August in Rostock ihren Anfang genommen hatte, hatten 15% der Befragten in Ostdeutschland „Verständnis für die Leute, die solche Anschläge verüben", weitere 16% waren un3 8 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 entschieden (Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach vom Okt. 1992). Es wurde in der Ausländer- und Asyldiskussion darüber gestritten, ob wir es mit einem „restricted master frame" zu tun haben, der nur für die Rechte gilt oder ob es Meinungsbrücken zum Konservatismus und zu einer breiteren Bevölkerungsmeinung gibt. Ein gutes Beispiel dafür, wie durch Modernisierung des Kontextes ein frame bridging vom Völkischen zum linken „Antikapitalismus-Frame" versucht wird, liefert der nach Argentinien emigrierte ehemalige Goebbels-Pressereferent: „Wir müssen unsere Aussagen so gestalten, daß sie nicht mehr ins Klischee der 'Ewig-Gestrigen' passen... In der Fremdarbeiter-Frage etwa erntet man mit der Argumentation 'die sollen doch heimgehen' nur verständnisloses Grinsen. Aber welcher L i n ke würde nicht zustimmen, wenn man fordert: 'Dem Großkapital muß verboten werden, nur um des Profits willen ganze Völkerscharen in Europa zu verschieben. Der Mensch soll nicht zur Arbeit, sondern die Arbeit zum Menschen gebracht werden'. Der Sinn bleibt der gleiche: 'Fremdarbeiter Raus!' Die Reaktion der Zuhörer wird aber grundverschieden sein", vgl. Purtscheller, Wolfgang 1993: Aufbruch der Völkischen. Das braune Netzwerk, Wien 116. 3 9 40 vgl. Snow, David A./Benford, Robert D. 1988: Ideology, Frame Resonance and Participant M o bilization, in: International Social Movement Research, B d . 1, 197-218. Nachdem der Vorwurf des „Asylmißbrauchs" auf breite Zustimmung in der Bevölkerung gestoßen ist, formulieren die Rechtsparteien eine „nationale Sozialpolitik", in der Ausländerfeindschaft explizit nicht mehr vorkommen muß, da sie in allen Programmpunkten, die „allein den Deutschen dienen", impliziert ist. In der „strategischen Skizze zum 94er Feldzug", die in der gesamten Rechtspresse verbreitet wird, stellt ein Dr.Reinhold Oberlercher „Zehn Ziele" auf, darunter z.B. „Die A r beitslosigkeit beseitigen!", „Den Rauschgiftkrieg gewinnen!", „Die deutsche Kulturkatastrophe aufhalten", vgl. Europa vorn, Nr.57, 1993, 4. 41 4 2 Als zentrale Bedingung erweist sich nicht die Sympathie mit den Aufrührern, sondern die A n 4 3 97 nahme, daß der Aufruhr der Ausdruck eines erlittenen Unrechts oder einer Notlage ist, vgl. Jeffries, Vincent/Turner, Ralph H.T./Morris, Richard 1971: The Public Perception of the Watts Riot as Social Protest, in: A S R 36, 443-451. Wir finden hier eine ähnliche Generalisierung wie in der sogenannten „Judenfrage" des Kaiserreiches, die als „soziale Frage" („Verjudung") umdefiniert worden und nur durch „Entjudung" zu lösen war. Die Parallele wird in dem folgenden Text deutlich angesprochen: „Die Generalmaßnahme der Entausländerung Deutschlands versteht sich von selbst, weil alle Notstände durch die Verausländerung herbeigeführt wurden", vgl. Die Nordlichter, Ausgabe 1, August 1992, S.5. 44 Das Gefühl, mit den Gewaltaktionen den Bevölkerungswillen in der Asyldebatte zu erfüllen, konnte sich durchaus auf die Erfahrungen von Resonanz in der Bevölkerung stützen. Dem Statement: „Ich bin nicht für Gewalt, aber offensichtlich muß man erst Rabbatz machen, damit sich überhaupt etwas tut" stimmten im Herbst 1992 25% der Befragten in Westdeutschland und 30% in Ostdeutschland zu, vgl. Köcher, Renate 1992: Demokratie braucht Unerbittlichkeit. Institut für Demoskopie, Allensbach. 4 5 Dabei ist wichtig zu sehen, daß die Betonung des „Deutschen" nicht allein auf materielle Interessen abzielt, sondern zugleich einen Wertgesichtspunkt meint. Die Integration der rechten Bewegung läuft wie die in anderen Bewegungen auch nicht über Programme sondern über „Werte". Deutschsein, Deutschtum etc. bildet den zentralen Werthorizont, in den Tugenden wie Fleiß, Ordnung, Sauberkeit usw. hineingehören. Dazu zählt auch der Anspruch auf nationale Souveränität, die angeblich von Fremdherrschaft bedroht ist. 46 „Dringlichkeit" ist jedoch nur eine von mehreren framing-Strategien, mit denen eine Mobilisierung erreicht werden soll. Weitere sind z.B.: das Ausmaß des Problems, die Erfolgsaussichten für eigenes Handeln und die Betonung der moralischen Teilnahmeverpflichtung. vgl. Japp 1993: 240f. Die rechte Bewegung erwehrt sich mit diesem Interpretationsmuster auch konkurrierender Situationsdeutungen. Die Einwände der Linken oder der Politiker werden als fremd4 1 4 8 98 bestimmt abqualifiziert (Lizenzparteien, Presse als „Rotationssynagoge" oder „Kartellmedien", für die die Rechten als „Schmuddelkinder" abgeschaltet bleiben; vgl. Junge Freiheit, September 1993). In der politischen Rechten ist die Ausbreitung eines rechtsökologischen Diskurses zu beobachten, der in apokalyptischen Öko-Katastrophen eine Chance sieht, Individualismus und Demokratie zugunsten einer Öko-Diktatur abzuschaffen. In diesem Diskurs werden Ökologie und „Ausländerfrage" so kombiniert, daß die „Übervolkung" zu einer Überlebensfrage der deutschen Nation hochstilisiert werden kann, vgl. Ökologie in der Programmatik der politischen Rechten, in: Ökologische Briefe 37, September 1993, 7-9. vgl. Hirsch 1990: 245; siehe auch Snow, David A./Rochford, E.Burke/Worden, Steven K./Benford, Robert D. 1986: Frame Alignment Processes, Micromobilization, and Movement Participation, in: A S R 51, 464-481: 466. Neben der Einheitssemantik findet sich auch eine Wahrheitssemantik, die erklärt, wieso die Mehrheit der Minderheitsbewegung nicht (oder noch nicht) folgt: Sie wird als durch das System korrumpiert angesehen, so daß sie ihre „wahren Interessen" nicht sehen kann. Es gibt immer wieder Versuche, dieses Milieu in einer Sammlungsbewegung zusammenzufassen. Rechtsintellektuelle Skeptiker verweisen auf die bereits vielfach gescheiterten Versuche und plädieren für eine Strategie eher unabhängiger Gruppen, womit letztlich eine breitere „Angebotsstruktur" erreicht würde. Wahlerfolge von Parteien aus diesem Spektrum wirken temporär wie eine Sammlungsbewegung, indem sie einerseits Mitglieder aus dem Milieu und von außen anziehen, andererseits einen Mobilisierungseffekt für die gesamte Szene auslösen. 4 9 50 51 Hinsichtlich der ökonomischen und finanziellen Ressourcen der rechten Szene ist man bisher auf wenige Informationen und Impressionen angewiesen. Es lassen sichjedoch Ähnlichkeiten mit der frühen Phase der „alternativen Ökonomie" Ende der 60er Jahre erkennen, in der linke Kneipen, Verlage, Buchläden eine Gegenöffentlichkeit schaffen wollten. 5 2 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 vgl. Roth, Roland 1987: Kommunikationsstrukturen und Vernetzungen in den neuen sozialen Bewegungen, in: Roth, Roland/Rucht, Dieter (Hrsg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M., New York 68-88. Im Dezember 1992 lehnten in Westdeutschland 77%, in Ostdeutschland 79% der Befragten Rechtsextremisten als Nachbarn ab. A u f einer Liste mit sozial stigmatisierten Gruppen (Drogenkranke, Alkoholiker, Immigranten, Linksradikale, Juden u.a.) wurden sie damit am stärksten abgelehnt, vgl. Institut für Demoskopie, Umfrage Nr. 5074, 1992. vgl. McAdam, Doug 1986: Recruitment to HighRisk Activism: The Case of Freedom Summer, in: AJS 92, 64-90. Soziale Kontrolle dieser Art kann jedoch zu unerwünschten Nebeneffekten führen: zur Radikalisierung der Mitglieder bis hin zum Terrorismus, Solidarisierungen des Bewegungsumfeldes und Werbeeffekte durch Zensur- und Verbotsmaßnahmen, z.B. von Nazi-Rock und Fanzines. Welche Effekte erzeugt werden, hängt unter anderem von der Totalität, der Schwere und der Breite der Kontrollmaßnahmen ab (completeness, severity, extensiveness), vgl. Wilson, John 1977: Social Protest and Social Control, in: Social Problems 24, 469-481: 475ff. Bei den verbotenen Neonazi-Parteien sind terroristische Bestrebungen einzelner Kader nicht auszuschließen, da ohne Wählerorientierung bei ihnen der Verbürgerlichungseffekt verloren geht. Zur Rolle der Repression beim Übergang in den Terrorismus vgl. K o opmans 1993: 641. 5 3 54 5 5 5 6 vgl Curtis, Russell L./Zurcher, Louis A . 1973: Stahle Resources of Protest Movements: The M u l ti-Organizational Field, in: Social Forces 52, 5361. vgl. Minkenberg, Michael 1992: The New Right in Germany. The Transformation of Conservatism and the Extreme Right, in: European Journal of Political Research 22, 55-81. vgl. Jaschke 1992: 34ff. 5 7 5 8 5 9 FORSCHUNGSJOURNAL N S B Bericht Grüne und Technik In der öffentlichen Diskussion stellt sich das Verhältnis der Grünen zur Technik nach wie vor als ein grobes Mißverständnis dar. Ingenieurwissenschaftler wie Günter Ropohl sprechen vom Kulturchauvinismus der Partei, von der mangelnden Bereitschaft, Einfühlungsvermögen in die tatsächlichen Problemstellungen der Technik zu entwikkeln und sich befreit von soziokulturellen Scheuklappen zu artikulieren. Den Sozialwissenschaftlern tragen die Grünen ein Zuviel an Moralität in die technischen Debatten. Bei Ulrich Beck zeigen sich die Grünen in technikrelevanten Fragen gar als Abstraktionsartisten, die auf den Drahtseilakt der Metaebenen f i xiert sind, ohne einen pragmatischen und kurzfristigen Beitrag zur Gestaltung technischer Entwicklungslinien zu leisten. Und nach wie vor gilt das Verdikt einer Forschungsgruppe um U l rich v. Alemann, die den Grünen im Vergleich zu den anderen Parteien keinerlei Interventionsbereitschaft im technikpolitischen Bereich abgewinnen konnte. Spiegeln diese Aussagen die Vorbehalte einer bestimmten Autorenschaft wider oder streifen sie grün-altemative Realitäten? Existiert Grüne Technikpo- 2/94 litik? Wenn ja, in welchen Bereichen, zu welchen Konditionen und mit welchen politischen Zielsetzungen? Im Rahmen einer Themenanalyse Grüner A n fragen im Deutschen Bundestag wurde diesen Fragestellungen nachgegangen. Die Analyse bezog sich auf den Zeitraum der 10. und 11. Legislaturperiode (1983-1987 und 1987-1990) des Deutschen Bundestages. 1. Technikpolitische Anfragetätigkeit im parlamentarischen Vergleich Anfragen sind ein oppositionelles Medium zur Kontrolle der Regierungsaktivitäten. Gezielt wird auf Probleme und Defizite in Einzelbereichen verwiesen, oftmals werden unbequeme Antworten verlangt. Obwohl die Anfrage ein traditionsreiches Mittel darstellt, ist sie in der Geschichte des bundesdeutschen Parlamentarismus unterschätzt und teilweise sogar ignoriert worden. Ausgelöst durch die Grüne Fraktion erlebte der Deutsche Bundestag zwischen 1983 und 1990 jedoch eine wahrhafte Hut von Anfragen, die die Bundesregierung und die nachgeordnete Ministerialbürokratie vor ein Erklärungs- und Professionalisierungsproblem stellte. Technikrelevante Anfragen waren hierbei ein zentrales Arbeitsund Aktionsfeld der Grünen Bundestagsfraktion. Für die A b schnitte der 10. und 11. Wahlperiode konnten nahezu 700 Grüne Anfragen mit einem technikpolitischen Hintergrund codiert werden. Dies entspricht 99] etwa 25% aller parlamentarischen Anfragen dieses Zeitraumes! Vor einem eher qualitativen Hintergrund zeigt sich die Grüne Anfragetätigkeit geprägt durch thematische Kontinuität. Über den achtjährigen Untersuchungszeitraum weist das Anfrageprofil keine einschneidende Wandlung auf, mit den Komplexen Energie/Kernenergie, Verkehr, Chemie und Entsorgung treten vor allem traditionelle Technikbereiche in den Blickpunkt. Knapp 80% aller erfaßten A n fragen behandeln Techniksysteme, die schon seit Jahrzehnten im Anwendungszusammenhang stehen und mit ihren unverhohlenen Risikopotentialen die öffentliche Diskussion dominieren. Gleichzeitig sind diese Themenbereiche auch die Themen der Grünen und spiegeln das technikkritische Risikobewußtsein der sozialen Bewegungen und Initiativgruppen wider. Gegenüber den neuen Technologien, insbesondere den Informations- und Kommunikationstechniken (IuK-Technik), der zivilen Raumfahrt und auch der Gentechnik fehlt diese hohe Interventionsbereitschaft. Erst mit der Perspektive der industriellen Verwertungsmöglichkeiten dieser Sachsysteme und dem Entstehen von Protestbewegungen wandelt sich dieses Bild in der 11. Wahlperiode. Dies gilt insbesondere für den Themenbereiche Gentechnik, Datenschutz und digitale Vernetzungsstrategien der Deutschen Bundespost/ Telekom, die die Grünen in ei- 100 ner offensiven Auseinandersetzung problematisierten. FORSCHUNGSJOURNAL N S B positionelle Rolle; zugleich haben sie sich aber auch auf parlamentarische Arbeitszusammenhänge eingelassen. Das wissenschaftliche Niveau der Anfragetexte verweist zudem auf strikte Arbeitsteilung von Fraktion und wissenschaftlicher Politikberatung. Arbeitsteilige Effizienz und verstetigtes, zielorientiertes Arbeiten deuten auf eine Grundhaltung des Pragmatismus hin, der in den Auseinandersetzungen der Gesamtpartei mit dem Stichwort der „schleichenden Realisierung der Fraktion" (Verena Krieger) thematisiert wurde. Die Dynamik, mit der sich die Grünen in dem achtjährigen Zeitabschnitt äußerten, spitzt sich mit Blick auf die anderen Parteien des Bundestages weiter zu. Bei den Regierungsfraktionen spielten Anfragen erwartungsgemäß kaum eine Rolle. Gleichzeitig befaßten sich die 25 Anfragen, die für den gesamten Zeitraum codiert wurden, vornehmlich mit den neuen Techniken und scheinen somit das selbstgewählte Image von der Fortschritts- und Zukunftsbezogenheit zu illustrieren. Ganz anders die SPD. Gerade in der 10. Ob eine derartige Einschätzung Wahlperiode vermittelt die Par- zutreffend ist, kann nicht abtei den Eindruck, als Avantgar- schließend geklärt werden. Festde der Gestaltung neuester Tech- zuhalten bleibt jedoch ein schrittnologien zu agieren. Potentielle weises Abrücken der Fraktion Risikobereiche, wie die Atom- von jenen Strategien, die in unkraft oder die Chemiepolitik, äu- terschiedlichen Kreisen der Parßern sich hierbei als Marginalie. tei zur Debatte standen. Bestes Diese Gestaltungsfixierung, vor Beispiel dafür ist die Technikallem mit Blick auf Fragen der folgenabschätzung (TFA). Vom Arbeitsgesellschaft, bleibt in der Grünen Fundamentalismus und 11. Legislaturperiode aus. Mit den sozialistischen Strömungen ihren 55 Anfragen legt die SPD als bürokratisierter Debattierzirein nahezu deckungsgleiches kel der Technikaffirmation abBild zum Anfrageprofil der Grü- getan, hat die Fraktion in ihren nen vor: Mit Kernenergie, Che- Anfragen kaum eine Gelegenheit mie und ungelösten Entsor- ausgelassen, um auf die Notwengungsfragen treten die Folgeko- digkeit einer parlamentarisch-insten des technischen Fortschritts stitutionalisierten T F A zu verin den Mittelpunkt sozialdemo- weisen. Eine derartige Institutikratischer Aktivitäten. Grüne on, so die Hoffnung der FraktiThemen diffundieren in der Par- on, sollte einen breitenwirksateienlandschaft. men Aufklärungsauftrag übernehmen, Rahmensetzungen eines perspektivischen Technikeinsat2. Grüne Dissonanzen zes definieren und gesellschaftIn ihrer technikpolitischen A n - lich legitimieren. Daß eine derfragetätigkeit definierten die artige Institution 1989 in AnsätGrünen eine eigenständige, op- zen realisiert wurde, kann als Er- 2/94 folg Grüner Technikpolitik gewertet werden, der im Katzenjammer des Wahldesasters vom Dezember 1990 und zahllosen Zwistigkeiten untergegangen ist. Die Verselbständigung der Fraktion von der Gesamtpartei läßt sich auch im Themenbereich der IuK-Techniken nachweisen. In ihren programmatischen Debatten hatte die Partei weitreichende Boykott- und Ausstiegsstrategien formuliert und ihre ablehnende Zielorientierung mit Positionen des Datenschutzes, der Kontrolle und der herrschaftsstützenden Durchschaubarkeit gesellschaftlicher Zusammenhänge begründet. Ganz anders die Fraktion. Zwar wird auch hier auf die zweifelhafte Perspektive des Überwachungsstaates aufmerksam gemacht, doch die politischen Vorzeichen weisen deutlich in Richtung Pragmatismus und Techniknutzen. Zielgerichtet werden die Informationstechniken von der Fraktion als Medium der eigenen Öffentlichkeitsarbeit eingesetzt. Ebenso zielgerichtet tritt der Aspekt der digitalen Überwachung in den Blickpunkt, wenn es gilt, ökologische Zusammenhänge in adäquater Form zu kontrollieren. In ihrer Technikpolitik hat sich die Grüne Fraktion von programmatischen Ansätzen und von den parteiinternen Diskussionszirkeln der frühen Jahre abgesetzt. Die Parteienforschung (z. B . Raschke) konnte dem Grünen Parlamentarismus im Vergleich zur Gesamtpartei nur in Superlativen begegnen. Raschkes FORSCHUNGS JOURNAL N S B Stichworte der Effizienz, Interventionsbereitschaft, Themenkontinuität und des Pragmatismus spiegeln sich auch in der technikpolitischen Anfragetätigkeit der Partei wider. Parlamentspräsidenten und Ministerialbürokratie beklagten sich bitter über den Arbeitseifer der Fraktion, die Detailtreue und das nahezu stupide „Festkleben" an einem Thema. In krassem Mißverhältnis zu den detaillierten Anfragen der Partei stand die Beantwortungspraxis der Fachressorts und der Ministerialbürokratie, die sich häufig auf Ja/ Nein-Floskeln und stereotype Leerformeln wie „Über Risiken ist nichts bekannt" beschränkte. Gerade vor diesem Hintergrund muß die Wirkungsreichweite der Grünen Anfragen eher nüchternd bewertet werden. Die Selbstaufklärung der technisch formierten Gesellschaft konnte und wollte nicht stattfinden. Die Vorstellung einer offenen, allseits informations- und rechenschaftsbereiten Demokratie wird mit dem selbstgefälligen Modell einer „Herrschaft kraft Wissen" kontrastiert. Der vorliegende Text ist eine stark komprimierte, um Literatur, Methode und Tabellen gekürzte Zusammenfassung einer Forschungsarbeit. Die vollständige Studie zur Grünen Technikpolitik ist über die TU-Berlin, Inst. f. Politikwissenschaft, Ernst Reuter-Platz 7, 10587 Berlin, oder über den Autor (Tel.: 030-626 71 13) zu beziehen. Peer Donner, Berlin 101 2/94 Forschungs b e ric ht Potsdamer Forschungen zur Entwicklung der politischen Ökologie in Frankreich Ohne Zweifel ist die Bewältigung gravierender ökologischer Probleme für die Menschheit zu einer Überlebensfrage geworden, deren Dimensionen auch in dem sich vereinigenden Europa weiter an politischer Relevanz gewinnen werden. Die daraus erwachsenden mannigfaltigen wissenschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen werden zunehmend von einem breiten Spektrum politischer Organisationen und Parteien aufgegriffen. Die sich in Frankreich am Ende der 70er Jahre Ökologiebewegung und ihre Entwicklung zu einer eigenständigen politischen Kraft in der 80ern sind aber nicht nur ein Anzeichen gewachsener Sensibilität für Umweltfragen in der französischen Öffentlichkeit. Sie verdeutlichen zugleich die Unzufriedenheit über den Platz ökologisch-sozialer Fragestellungen auf der Prioritätenliste von Staat und etablierten Parteien sowie über die damit verbundenen un- zureichenden Lösungsansätze. Schließlich spiegeln sie einen, wohl nicht nur für Frankreich signifikanten Zweifel an der Effizienz der classe politique überhaupt wider. Andererseits stellen die Programme, Organisations- und Aktionsformen der politischen Ökologisten des Hexagons eine spezifische Reaktion auf die sich in der modernen Gesellschaft vollziehenden politischen und strukturellen Veränderungen dar. Sie sollen den für unbedingt notwendig empfundenen Wandel zu einem ökologischen, sozial gerechten und somit zukunftsorientierten gesellschaftlichen Zusammenleben beschleunigen und zielgerichtet beeinflussen. Die Forschungen zur Geschichte und Entwicklung der politischen Ökologie in Frankreich sind relativ umfangreich und vielfältig. Allerdings sind viele Buch-, Zeitschriften- und Zeitungsveröffentlichungen SpezialStudien, zeit-, ereignis-, regionaloder detailbezogen und damit in ihrer Aussagekraft begrenzt. Wichtige Aussagen zur Problematik machen in ihren Veröffentlichungen die Aktivisten der politischen Ökologie selbst, so beispielsweise Waechter (Dessine-moi une planete. L'ecologie maintenant ou jamais, Paris 1990), Lebreton (La Nature en crise, Paris 1988), Dumont (Les Raisons de la colere ou l'utopie des Verts, Paris 1986), Lalonde (Sur la vague verte, Paris 1981), Brodhag (Objectif terre. Les Verts, de l'ecologie a la politique, Paris 1990) oder Lipietz (Vert esperance, Paris 1993). In 102 Frankreich wie auch in Deutschland liegen Gesamtdarstellungen zu den Anfangsjahren der ökologischen Bewegungen vor. Für Frankreich ist stellvertretend Vadrot (L'ecologie, histoire d'une Subversion, Paris 1978) zu nennen. Im Zusammenhang mit der wachsenden Akzeptanz der französischen Ökologisten und ihren intensiven Bemühungen um die Erarbeitung sozialer Alternativvorstellungen sind in den letzten Jahren eine Reihe bemerkenswerter Monographien veröffentlicht worden, die sich in starkem Maße (wie jüngst in Deutschland Raschke mit 'Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind', Köln 1993) mit theoretischen Fragen der Ökologiebewegung beschäftigen (u.a. Alphandery/Dupont/Bitoum: L a Sensibilite ecologique en France, Paris 1991; Bennahmias/Roche: Des Verts de toutes les couleurs. Histoire et sociologie du mouvement ecolo, Paris 1992; Deleage: Histoire de l'Ecologie, une science de l'homme et de la nature, Paris 1991; Pronier/Le Seigneur: Generation verte, Paris 1992; Sainteny: Les Verts, Paris 1991). Wesentlich desirater ist der Forschungsstand hinsichtlich vergleichender Betrachtung ökologischer Bewegungen. Zu verweisen ist vor allem - neben Nullmeier/Rubart/Schultz 'Umweltbewegungen und Parteiensystem' (Berlin 1983) - auf Parkin: Green Parties. A n international guide (London 1989) und Müller-Rommel (Hrsg.): New Politics in Western Europe: The Rise and Succes of FORSCHUNGSJOURNAL N S B Green Parties and Alternative Lists (San Francisco&London 1989). Faktisch nicht vorhanden sind vergleichende Forschungen zur französischen und deutschen Ökologiebewegung. Die Untersuchungen von Kiersch/Oppeln: Kernenergiekonflikt in Frankreich und Deutschland (Berlin 1983), Oppeln: Die Linke im Kernenergiekonflikt. Deutschland und Frankreich im Vergleich, (Frankfurt/New York) sind älteren Datums und sind vom Untersuchungsgegenstand eingeengt. Deutschsprachige Übersetzungen französischer Standardwerke zu ökologischen Problemen - das gilt auch umgekehrt - sind faktisch nicht vorhanden. Die Arbeitsgruppe Frankreich an der Universität Potsdam beschäftigt sich seit dem Beginn der 90er Jahre intensiv mit Studien zur Geschichte und Gegenwart der politischen Ökologie in Frankreich. Untersuchungen zu den politisch wichtigsten Organisationen der französischen Ökologiebewegung verdeutlichen einerseits die bestehenden ideologischen, strukturellen und auch soziologischen Unterschiede. Sie zeigen aber zugleich, daß es hinsichtlich der ökologisch-sozialen Zielstellungen der Parteien und Gruppierungen einen relativ breiten Konsens gibt. Dessen Relevanz wird von der Binnendifferenzierung der einzelnen Organisationen, dem politischen Konkurrenzkampf zwischen den Parteien, Gruppen und Bewegengen und nicht zuletzt von paralysierenden Querelen zwischen führenden Persönlichkeiten der 2/94 politischen Ökologie in Frankreich erheblich eingeschränkt. (Vgl.Fuchs/Scholze: V o n der Politisierung der Ökologie. Frankreichs Grüne zwischen Rechts und Links, in: Lendemains 64/1991, S. 138-145; Fuchs/Scholze: Brice Lalonde und die Generation ecologie, in: Lendemains 66/1992, S. 113-118 sowie Zimmermann: L'alternative rouge et verte ( A R E V ) eine weniger bekannte ökologische Partei Frankreichs, in: Lendemains 67/92, S. 143-148). Ein vom Deutschen Akademischen Austauschdienst vergebenes einjähriges Forschungsstipendium ermöglichte den Beginn der Zusammenarbeit mit der unter Leitung von Daniel Boy stehenden Groupe d'Etudes des Mouvements Ecologistes an der Maison des Sciences de l'Homme (Paris). A l s erstes Resultat dieser Zusammenarbeit entstanden einige Texte, die aktuelle Entwicklungen innerhalb der französischen Ökologiebewegung analysieren. So galt den Ursachen der ökologistischen Wahlerfolge bei den Regionalwahlen 1992 (Vgl. u.a. Fuchs/ Scholze: Marianne sympathisiert mit Grün, in: Geschichte Erziehung Politik 10/1992, S. 641644) ebensolche Aufmerksamkeit wie den Fraktions- und Flügelkämpfen innerhalb der verschiedenen ökologistischen Organisationen, die nach dem Debakel der diesjährigen Legislativwahlen ausbrachen (Vgl. Fuchs/Scholze: Das Wahldebakel der französischen Ökologisten und seine Folgen, demnächst in: Lendemains). FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 Unzweifelhaft dürfte sein, daß die Perspektiven der politischen Ökologie in unserem Nachbarland nicht nur durch die als mangelhaft empfundene Effizienz der dortigen classe politique bestimmt werden. Vor allem der Grad der Akzeptanz, den die öko-politische und soziale Programmatik der Ökologisten durch die französische Öffentlichkeit erfährt, wird deren künftigen Platz im politischen Leben des Hexagons bestimmen. Das in diesem Bereich existente Forschungsdefizit wurde durch die von der Potsdamer Arbeitsgruppe vorgelegten Analysen nur zu einem Teil aufgefangen ( V g l . Fuchs/Scholze: Soziale Alternativvorstellungen der französischen Umweltbewegung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: Frankreich - Jahrbuch 1992, Opladen, S. 157-168, und dies.: Die Dritte Welt in der Programmatik der französischen Grünen, in: Entwicklungspolitik 1/1993, S. 29-31). Die bisherigen Untersuchungen der Potsdamer Arbeitsgruppe kulminieren in einer kurzen Geschichte der Ökologiebewegung in Frankreich, die noch 1993 in den Handel kommt. Der Band stellt die historischen Wurzeln der Bewegung, ihren schwierigen Weg zu politisch handlungsfähigen Organisationsformen und die Differenziertheit der Zielvorstellungen ebenso dar, wie die (bisherigen) Erfolge und Grenzen ökologistischer Politik (Vgl. Fuchs/ Scholze: Der lange Marsch in die Politik. Zur Geschichte der politischen Ökologie in Frankreich). Nachdem sich die Forschungen fast ausschließlich na- tional bezogen mit mannigfaltigen Problemen der politischen Ökologie beschäftigt haben, soll nun ein gemeinsames Forschungsprojekt der Arbeitsgruppe Frankreich an der Universität Potsdam, einer Arbeitsgruppe am Centre d'Analyse et dTntervention Sociologiques (Paris) und dem Centre de Recherche Administratif Politique et Social (Lille) Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie deren Ursachen in der Genesis, den Triebkräften, Strukturen, Strategien, der Stellung im politischen System und der realen Wirksamkeit der Grünen bzw. des Bündnis 90/Die Grünen einerseits und Les Verts/Generation ecologie andererseits untersuchen. Für einen solchen Vergleich scheinen die Ökologiebewegungen Frankreichs und Deutschland wegen ihrer Geschichte und auch durch den in den letzten Jahren - aus unterschiedlichen Gründen - anhaltenden Zwang zur programmatischen Auseinandersetzung geeignet zu sein. Mit dem gemeinsamen Projekt, das von der Robert-Bosch-Stiftung aus dem „Programm zur Förderung der deutsch-französischen Zusammenarbeit in den Geistes- und Sozialwissenschaften" unterstützt wird, soll untersucht werden, in welchem Grad und mit welcher Übereinstimmung Programm, Organisations- und A k tionsformen der politischen Ökologie in beiden Ländern die sich vollziehenden ideologischen, politischen und strukturellen Veränderungen der modernen Gesellschaft widerspiegeln. Im Vergleich der durch die Ökologiebewegungen vertretenen Werte H l soll deren Haltung zur weiteren Entwicklung des menschlichen Gemeinwesens und zur Moderne schlechthin erhellt werden. In diesem Sinn will das Projekt, das mit der Einbeziehung der neuen Bundesländer in die Analyse sowohl an wissenschaftlicher Originalität als auch an politischer Brisanz gewinnt, Antworten auf die künftig mögliche Rolle der Ökologiebewegung geben. Günter Fuchs und Udo Scholze., Potsdam 104 Materia FORSCHUNGSJOURNAL N S B CH-1211 Geneve20 10. CEFDIF, 25, Rue du Charolais, F-75012 Paris Die europäischen Frauen-Netzwerke 11. ENWRAC, c/o Wesley House, 4 Wild Court, GBLondon WC2B, 5. Av. Frauen-Netzwerke können zur Beteiligung der Frauen am Aufbau eines Europas der Gleichheit beitragen Frauen-Netzwerke als zusammenhängende Strukturen von Frauen, die miteinander in Verbindung stehen, Informationen austauschen, sich gegenseitige Hilfe zusichern. Inzwischen hat sich ein vielfältiges Netz an länderübergreifenden FrauenStrukturen entwickelt. 12. c/o Arbeitsstelle Friedensforschung, Beethovenallee 4, 53173 Bonn Kontaktadressen 1. EG-Kommission, Rue de la Loi, 200, B-1049-Bruxelles 2. WISE, Heidelberglaan 2, NL-3584 C S Utrecht 3. EFMD, 40 Rue Washington, B-1050 Bruxelles 4. FEM, Stationsstraat 2, NL-7475 Am Markelo 5. EAPS, Maison de l'Europe, Hotel de Coulanges, 35/37 Rue des FrancsBourgeois, F-75004 Paris 6. EGB-Frauenausschuß, Rue Montagne aux Herbes Potageres, B-1000 Bruxelles 7. ECG, Rev. Christa Springe, Am Gonsenheimer Spieß 6, 55122 Mainz 8. ÖFCFE, 174 Rue Joseph II, B-1040 Bruxelles 9. IFFF, 1, Rue de Varembe, 13. c/o Elisa Rode, Pfuelstr. 2, 10997 Berlin 14. OWEN e. V , Chausseestraße 58, 10115 Berlin Einrichtungen und Projekte der Friedensforschung Berghof Forschungszentrum für konstruktive Kontliktbearbeitung 2/94 Team von Kontliktberaterlnnen mit Vertreterinnen der streitenden Parteien in vielfältigen Kommunikationsund Lernformen um die konstruktive Transformation eines Konflikts bemüht. Kontaktadresse: Berghof Forschungszentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung, Leitung: Dr. Norbert Ropers, Aitensteinstr. 48a, D-14195 Berlin-Dahlem, Tel.: +49 (030) 831-8099, 8090, Fax: +49 (030) 315985. Auswahlbibliographie Rechtsextremismus und Neonazismus Die Arbeitsstelle NeonazisDas Berghof Forschungsmus an der Fachhochschule zentrum für KonfliktforDüsseldorf hat in Zusamschung wurde 1. Juli 1993 in menarbeit mit dem Verein Berlin eröffnet. Hier sollen für Beratung und Weiterbilkonstruktive Modelle für die dung in der Friedensarbeit Bearbeitung ethnonationaler e. V. zum zehnten Mal eine und soziokultureller Konflikte umfangreiche Auswahlbiblioin Europa entwickelt und graphie zum gesamten erprobt werden. Auch die Themenbereich erstellt. Sie Umsetzung solcher Modelle umfaßt ebenso Literaturhinin der Praxis wird von dieweise zu Programmatik, sem Zentrum aus durch Ideologie und Verbindungen wissenschaftliche Begleitung rechtsextremistischer und unterstützt. Im Mittelpunkt neonazistischer Gruppierunsteht die Frage, wie Konflikte gen/Parteien wie zu den auf der gesellschaftlichen Ideologiemerkmalen NatioEbene bearbeitet werden nalismus, Rassismus, Antikönnen. Den Ausgangspunkt semitismus und Fremdenbilden verschiedene Formen feindlichkeit. Darüber hinaus von „Drittpartei-Konsultatiofinden sich bibliographische nen", bei denen sich ein Hinweise zum Rechtsextre- FORSCHUNGSJOURNAL N S B mismus bei Jugendlichen, zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, zur politischen Auseinandersetzung mit diesem Thema in der Bundesrepublik Deutschland, zu didaktischmethodischen Überlegungen für Jugendarbeit und Schule sowie zu neonazistischen Computerspielen und zur einschlägigen Musikszene. Prof. Christiane Rajewsky hat noch bis kurz vor Ihrem Tod am 21. Mai 1993 diese Auswahlbibliographie überarbeitet, konnte sie aber nicht mehr abschließen. Die Fertigstellung und Endredaktion übernahmen Adelheid Schmitz und Ria Proske. Bezug: Beratung und Weiterbildung in der Friedensarbeit e.V., c/o Ria Proske, Hunsrückstraße 11, 50739 Köln Schweizerische Friedensstiftung Bern, Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und Konfliktanalyse der ETH Zürich: „Environment and Conflicts Project" Occasional Papers - Günther Bächler: Konflikt und Kooperation im Lichte globaler humanökologischer Transformation, 2/94 Februar 1993, (Nr. 5); - M. Abdul Hafiz/Nahid Islam: Environmental Degradation and Intra/ Interstate Conflicts in Bangladesh, Mai 1993, (Nr. 6); - Stefan Klötzli: Der slowakisch-ungarische Konflikt um das Staustufenprojekt Gabcikovo, Juni 1993, (Nr. 7); - Volker Böge: Das SardarSarovar-Projekt an der Narmada in Indien Gegenstand ökologischen Konflikts, Juni 1993, (Nr. 8). Kontaktadressen: Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und Konfliktanalyse der ETH Zürich, 8092 Zürich- Schweiz, Tel.: +41 (1) 256 40 25, Fax:+41 (1) 63 91 96./ Schweizerische Friedensstiftung Bern, Wasserwerkgasse 7, Postfach, CH-3011 Bern, Tel.: +41 (31) 22 55 82, Fax:+41 (31) 22 55 83. Forschungsregister Die Arbeitsstelle Friedensforschung Bonn weist darauf hin, daß sie im Rahmen ihrer Auskunftstätigkeit ein nationales und internationales Forschungsregister mit derzeit 111 deutschen und 121 ausländischen Forschungseinrichtungen und Forscherinnen unterhält. Das Register wird - soweit die Informationen der AFB zugänglich gemacht werden - ständig erweitert, auf aktuellem Stand gehalten und weist die Forschungsschwerpunkte der einzelnen Einrichtungen und Personen auf. Folgende Forschungsbereiche können abgefragt werden: (1) Theorie des Friedens / der Internationalen Beziehungen / Grundlagenforschung, (2) Globale Gefährdungen (ökonomische und ökologische Fragen), (3) Kriegsursachenforschung, (4) Ost-WestBeziehungen (Sicherheit, Wirtschaft, Kultur), (5) Sicherheitspolitik (Rüstungskontrolle, Abrüstung, Alternative Konzepte, Soziale Verteidigung), (6) Rüstung und Entwicklung, Rüstungsexport, (7) Konversion von Rüstung und Standorten, (8) Nord-Süd-Beziehungen (Sicherheit, Wirtschaft, Migration, Umwelt), (9) Konflikt- und Entwicklungsdynamik in den Ländern des Südens, (10) Innergesellschaftliche und ethnische Konflikte (Nationalitätenkonflikte u.a.), (14) Historische Friedensforschung, (15) Friedenserziehung und -Pädagogik sowie (16) Friedensethik, Gewaltfreiheit. 106 Materialien der Stiftung Entwicklung und Frieden und des Instituts für Entwicklung und Frieden: Interdependenz - Toblas Debiel/Ingo Zander: Die Friedensdividende der 90er Jahre. Chancen und Grenzen der Umwidmung von Militärausgaben zugunsten ziviler Zwecke, Nr. 11, 1993; - Norbert Ropers/Peter Schiotter: Die KSZE Multilaterales Kontliktmanagement im weltpolitischen Umbruch. Zukunftsperspektiven und neue Impulse für regionale Friedensstrategien, Nr. 12, 1993; - Klaus Jürgen Gantzel/ Torsten Schwinghammer/ Jens Siegelberg: Kriege der Welt. Ein systematisches Register der kriegerischen Konflikte 1985 bis 1992, Nr. 13, 1993. Kontaktadressen: Stiftung Entwicklung und Frieden, Gotenstr. 152, D-53175 Bonn, Tel.: (0228) 376935, Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität-GH-Duisburg, Geibelstr. 41, D-47057 Duisburg, Tel.: (0203) 3792417. FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 Hamburger Institut für Sozialforschung - Projekt 1995 derts" ist der Titel einer wissenschaftlich-politischen Initiative des Hamburger Instituts für Sozialforschung. In einer Reihe von Publikationen und Diskussionen, Tagungen und Forschungsprojekten, Ausstellungen und politischen Interventionen sollen der Öffentlichkeit in den nächsten zwei Jahren Anregungen zum Nachdenken über unser Jahrhundert gegeben werden. Dabei steht die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit der unübersehbaren Kumulation von Gewalt und Destruktivität, deren Ursachen, Ausformungen und Nachwirkungen im Vordergrund. Der Bezug auf 1995 im Projekttitel hat das Jahr 1945 zum Gegendatum. Der Rückblick auf das Kriegsende vor 50 Jahren soll sich mit einem Ausblick auf die Signatur dieses Jahrhunderts verbinden. Im Mittelpunkt der Veranstaltungen wird 1995 eine Austeilung stehen, die den Zeitraum der „unbekannten 200 Tage" des Jahres 1945 zwischen der Befreiung von Auschwitz und dem Atombombenabwurf auf Hiroshima zum Gegenstand hat. Über die verschiedenen Arbeitsvorhaben informiert das „Bulletin 1995", das regelmäßig als Beiheft der Institutszeitschrift „Mittelweg 36" erscheint. „Projekt 1995 - Zivilisation und Barbarei. Zwischenbilanz zu einer Gewaltgeschichte des 20. Jahrhun- Kontaktadresse: Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Redaktion: Thomas Neumann (verant- Forschungsstelle Dritte Welt der Universität München: Arbeitspapiere zu Problemen der Internationalen Politik und der Entwicklungsländerforschung - Dieter Senghaas: Frieden als Zivilisierungsprojekt, Nr. 12/1993; - Stefan A. Schirm: Mexiko und die USA: Von konfliktiver Distanz zu freundschaftlicher Kooperation in Politik, Wirtschaft und Sicherheit, Nr. 13/1993; - Peter J. Opitz: Flüchtlings- und Migrationsbewegungen: Herausforderungen für Europa, Nr. 14/1993. Kontaktadresse: Forschungsstelle Dritte Welt, Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft, Ludwig-Maximilian-Universität München, Ludwigstr. 10, D-80539 München, Tel.: (089) 2180-3046/3058. FORSCHUNGSJOURNAL N S B wortlich), Gaby Zipfel; Redaktionsanschrift: Mittelweg 36, D-20148 Hamburg, Tel.: +49 (40) 41409716 und 41409732, Fax: +49 (40) 41409711. Dokumentation „Gewalt in der Gesellschaft" Die von Gerhard Schönfeld bearbeitete Dokumentation „Gewalt in der Gesellschaft Eine Dokumentation zum Stand der sozialwissenschaftlichen Forschung seit 1985" enthält rund 700 Kurzbeschreibungen von Forschungsarbeiten und Literatur aus dem deutschsprachigen Raum. Neben theoretischen Konzepten der Gewalt- und Aggressionsforschung werden Arbeiten zu Erscheinungsformen von Gewalt in den unterschiedlichsten Bereichen nachgewiesen: Staatliche Gewalt, Gewalt gegen Staat und Gesellschaft, Gewalt in Ehe und Familie, gegen Frauen, Kinder, alte Menschen, gegen Ausländer und andere Minderheiten, Gewalt im Zusammenhang mit Kriminalität, Sport, Medien, Jugend. Vorab beschreibt eine Analyse von Dietrich Oberwittler „Quantitative Aspekte der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung 19851992". Roland Eckert und Helmut Willems (Universität Trier) geben einen Überblick 2/94 über den Stand der Gewaltforschung allgemein und speziell zu „Politisch motivierter Gewalt". Susanne Babl (ZUMA) präsentiert eine Zusammenstellung objektiver und subjektiver Indikatoren zur Kriminalität: „Mehr Unzufriedenheit mit der öffentlichen Sicherheit im vereinten Deutschland": Kontaktadresse: Informationszentrum Sozialwissenschaften der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute e.V., Lennestraße 30, D-53113 Bonn, Tel.: +49 (228) 22810, Fax: +49 (228) 2281-120. Grundrechte-Komitee fordert Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe Das Komitee für Grundrechte und Demokratievom 4.-6. März 1994 in Bonn eine öffentliche Anhörung zum Thema „Staatliches Gewaltmonopol, bürgerliche Sicherheit, lebenslange und zeitige Freiheitsstrafe" durchgeführt. Expertinnen und Experten trugen Kritik an der lebenslangen Freiheitsstrafe aus verfassungsrechtlicher, kriminologischer und sozialpsychologischer Sicht vor. Zum Abschluß der Tagung wurde ein Manifest des Komitees mit dem Titel „Die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe und die Zurückdrängung der zeitigen-Freiheitsstrafen - Auf dem Wege zu gewaltfreien Konfliktlösungen". Komitee für Grundrechte und Demokratie e. V. An der Gasse 1 64759 Sensbachtal Telefon 06068/2608 Telefax 06068/3698 Climate Network In Genf (7.2. bis 11.2.1994) trafen sich Vertreter der Unterzeichner-Staaten der Konvention von Rio mit Delegationen von NichtRegierungsorganisationen (NGOs). Ihr Ziel: Die Rahmen-Konvention von Rio, die bisher nur eine Absichtserklärung der Unterzeichnerstaaten ist, soll mit Inhalten gefüllt werden. Bis Mitte 1995 sollen die Arbeiten beendet sein. Dann wollen die Unterzeichner in Berlin auf der »Conference of the Parties« erklären, wie sie die C0 -Emissionen im Jahr 2000 auf dem Niveau von 1990 stabilisieren wollen. Der Grundstein dafür aber wird jetzt in Genf gelegt. Das Öko-Institut hat gemeinsam mit dem »Climate Network« ein zentrales Papier formuliert, das Forderungen der NGOs wiedergibt. 2 Öko-Institut Institut für angewandte Ökologie e.V. Postfach 6226 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 79038 Freiburg Telefon: 0761/473037 Telefax: 0761/475437 Neu in Bonn: Institut für Wissenschaft und Ethik Ein Prüfstand für das Machbare In Bonn ist jetzt das Institut für Wissenschaft und Ethik der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Es hatte Oktober 1993 seine reguläre Arbeit aufgenommen und sich insbesondere mit den Problemen der biomedizinischen Wissenschaft („Bioethik") und der Anwendung technischer und naturwissenschaftlicher Forschung beschäftigt, also der Technikfolgenabschätzung und der „ökologischen Ethik". Menschen nach mehr Umweltschutz durch einen weltweiten Umweltrettungsplan zu verwirklichen. Wir fordern deshalb: Die Bundesregierung, die Europäische Gemeinschaft und die Vereinten Nationen verpflichten sich, bei der ersten großen Nachfolgekonferenz von Rio - 1995 in Deutschland - einen Ökologischen Marshallplan „Klimaschutz" und spätestens bis zum Jahr 2000 die übrigen Teilpläne des Ökologischen Marshallplans „Rettung der Wälder", „Bevölkerungsstabilisierung" und „Ost-WestUmweltkooperation" zu etablieren. Wir fordern weiterhin: Einzelelemente dieser Pläne müssen ab sofort schon im internationalen und europäischen Rahmen in Angriff genommen werden, auch bevor es zu einer weltweiten Vereinbarung kommt. Die Initiatoren: Aufruf zum „Ökologischen Marshallplan" Viele Menschen engagieren sich weltweit in ihrem Alltagsleben für eine Verbesserung der Umwelt. Zur Rettung der Ökosysteme auf dem Planeten Erde und damit der Umwelt unserer Kinder und Kindeskinder reicht das allein aber leider nicht aus. Deshalb sind die Regierungen jetzt aufgefordert, den Wunsch vieler Franz Alt, Joschka Fischer, Jo Leinen, Eva Quistorp, Wolfgang Rauls, Lutz Wicke Stiftung Naturschutz Berlin Geschäftsstelle Marshallplan Potsdamer Straße 68 10785 Berlin Tel.: (030) 2626001 2626002 Fax.: (30) 2615277 2/94 Ende einer Zeitschrift Nach 17 Jahren wurde die Zeitschrift atom des Göttinger Arbeitskreises gegen Atomenergie ihr Erscheinen eingestellt. Im Dezember 1976 hatte sich der Arbeitskreis gegründet, „um auch in Göttingen den Kampf gegen die Atomenergie aufzunehmen". So nachzulesen in der ersten Nummer der Zeitung, die am 15. April 1977 erschien und noch Atom-Express hieß. Ausgerechnet der Unfall von Tschernobyl war dann der Anfang vom Niedergang. Eine „zweite Anti-AtomBewegung" entstand, so hieß es nun, aber sie paßte nicht ins Konzept. Mütter, die sich um ihre Kinder sorgten, hatten wenig Verständnis für Militanzrituale, die Zeitung bemühte sich vergeblich, das Phänomen zu analysieren. Münchner Kessel: Bayern muß Schmerzensgeld zahlen Die Einkesselung von Demonstranten beim Weltwirtschaftsgipfel in München vor zwei Jahren war rechtswidrig. Die 9. Zivilkammer des Münchner Landgerichts I nannte den Polizeieinsatz gestern „amtspflichtwidrig" und wies den Freistaat an, 114 der 125 Demonstranten FORSCHUNGSJOURNAL N S B mim 2/94 Schmerzensgeld in Höhe von 159 Mark zu zahlen. In elf Fällen wird das Verfahren fortgesetzt. Jugendliche interessiert, aber schlecht informiert Jugendliche sind von Umweltproblemen stark bewegt und fühlen sich für deren Lösung verantwortlich. Doch ihr ökologisches Grundwissen ist eher mangelhaft. Zu diesem Ergebnis kommt eine empirische Untersuchung der Universität Bielefeld. Wie Professor Axel Braun berichtete, hat der Wille der jungen Generation zu umweltbewußtem Verhalten im Alltag seit 1980 zugenommen. Bei vielen Schülern fehle aber die Bereitschaft, sich über die Problematik umfassend und differenziert zu informieren. So sei es zwar üblich geworden, Altglas zu sortieren und auf Plastiktüten zu verzichten, dagegen sei aber das Wissen der Jugendlichen etwa über die Möglichkeiten der ökologischen Landwirtschaft mangelhaft. Auch die ökonomischen Ursachen der Umweltzerstörung waren nur einer Minderheit der Befragten bewußt. Unter der Leitung Brauns hatte ein Forscherteam in den Jahren 1980 und 1993 jeweils 600 Schüler an Hauptschulen und Gymnasien befragt. N a c h gefragt Wie ist die Energiewende möglich? Interview mit Dr. Franz Alt. Sie haben Ihr Buch 'Die Sonne schickt uns keine Rechnung. Die Energiewende ist möglich' vorgestellt.' Was ist die Kernaussage? Die Aussage ist, daß wir in etwa 30 Jahren eine solche Energiewende haben können, weil der heutige Energiemix aus Atom, Kohle, Gas und Öl komplett abgelöst wird durch einen neuen Energiemix, der sich zusammensetzt aus Sonnenkraft, Windkraft, Wasserkraft und aus Biomasseenergie. Das ist umweltfreundlich, und das wäre die Rettung des Weltklimas. Sehen Sie Widerstände, die heute dagegen sprechen, daß diese Wende zustandekommt? Natürlich, ökonomische Widerstände. Die Energiewirtschaft hat ein Monopol und wehrt sich, wie jedes Monopol, gegen etwas Neues. Die Energiewirtschaft müßte sich sehr umstellen: Energiedienstleister und nicht mehr Energieversorger im heutigen Sinne. Wenn wir dezentrale Strukturen kriegen, wo jeder Mensch, der ein Haus hat, beispielsweise wie ich, seinen Strom selber produziert mit einer Photovoltaikanlage oder mit Sonnenkollektoren sein Warmwasser bereitet, dann verdienen die weniger. Das wollen die nicht gern. Die zerstören lieber die Umwelt, als daß sie weniger verdienen. Es ist eine politische Aufgabe, die Strukturen zu verändern, und dann kommt die solare Energiewende. Haben Sie Vorschläge, um diese Widerstände aufzubrechen, um diese Verhältnisse - nicht die technologischen - zu ändern? Ich hoffe, daß wir das demokratisch hinkriegen. Demokratisch heißt über Wahlen. Daß in diesem Superwahljahr die Menschen nur noch Politiker und Parteien wählen, die sich für diese solare Energierevolution stark machen. Denn ohne diese solare Energierevolution gehen das Klima kaputt und damit die Lebensgrundlagen für uns Menschen auf unserem Planeten. Sehen Sie Anzeichen ßr ein Umdenken, bezogen auf die, die entscheiden müssen ? Ich glaube, daß die nur eine Sprache verstehen, nämlich die Sprache des Stimmzettels. Wenn die Politiker spüren, daß wir unten eine andere Energiepolitik fordern, dann werden die eine andere Energiepolitik machen. Wenn das Bewußtsein unten wächst, kriegen wir oben eine andere Politik. Da bin ich ganz sicher. Meinen Sie das mit „Reformismus von unten"? Ist das Ihre FORSCHUNGSJOURNAL N S B 110 Vorstellung von diesem Prozeß? Können Sie kurz erläutern, was dahintersteckt? Ich meine, wenn immer mehr Menschen anfangen, auch heute, wo es noch relativ teuer ist, eine Solaranlage zu installieren, sofern sie sich das leisten können, dann kriegen wir einen ganz neuen Industriezweig, dann wird die Politik reagieren, das geht überhaupt nicht anders. Wenn die Leute über den Stimmzettel deutlich machen: „Wir wählen die Parteien, die Grünen oder die ÖDP, die hier in ihrem Programm eine Menge vorgesehen haben für solare Energien und solare Energie unterstützen, damit sie auf den Markt kommt", dann bin ich sicher, daß die Politiker umdenken, auch die Politiker der etablierten Parteien. Das haben die bei Wackersdorf bewiesen, das haben die bei Kalkar bewiesen. Wenn von unten Druck gemacht wird, ändert sich die Politik. Das ist ein politisches Naturgesetz. Es wird noch nicht genügend Druck gemacht, da haben Sie recht, das ist das Problem. Und deshalb gibt es ja solche Bücher, solche Fernsehsendungen. Franz Alt ist Leiter und Moderatorder ARD-Zukunftsreihe 'Zeitsprung'. Das Interview wurde durchgeführt von Kai-Uwe Hellmann. Anmerkungen •R e z e n 's i o n e n Gesellschaftstheorie und Sozialstrukturanalyse Stefan Hradil Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft. Von Klassen und Schichten zu Lagen und Milieus. Leske+Budrich: Opladen 1987 Gerhard Schulze Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Campus: Frankfurt/M 1992 Michael Vester, Peter von Oertzen, Heiko Geiling, Thomas Hermann, Dagmar Müller Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung. Bund-Verlag: Köln 1993 Franz Alt: Die Sonne schickt uns keine Rechnung. Die Energiewende ist möglich. Piper 1994 1 Im folgenden handelt es sich um eine Sammelbesprechung von 2/94 drei Sozialstrukturanalysen, mit dem Ziel, der gesellschaftstheoretischen Relevanz sozialstruktureller Analysen der modernen Gesellschaft nachzugehen. Dazu werden in einem ersten Schritt einige gesellschaftstheoretische Grundüberlegungen angestellt. SodannfolgtdleBesprechungder Sozialstrukturanalysen von Hradil, Schulze und Vester et al. AbschließendwirdnachdemErtrag der Ergebnisse dieser Untersuchungen flr die Theorie moderner Gesellschaft gefragt. 1. Moderne Gesellschaft Moderne Gesellschaft läßt sich von ihrer Superstruktur her als primär funktional differenziert beschreiben. Dabei bedeutet funktionale Differenzierung, daß Gesellschaft nach Maßgabe gesamtgesellschaftlich relevanter Funktionen in spezifische Teilsysteme ausdifferenziert ist, denen je für sich die universale Zuständigkeit zukommt, diese spezifische Funktion in Gesellschaft adäquat zu erfüllen. Nur Recht spricht Recht, nur Erziehung erzieht. Mit anderen Worten: Sämtliche Funktionssysteme sind autonom insofern, als sie selber bestimmen, was für sie relevant ist und was nicht. Diese Autonomie wird durch binäre Codes gewährleistet. Die Funktion binärer Codes ist es, Welt jeweils unter einem besonderen Gesichtspunkt zu beobachten und zu behandeln, etwa Konfliktregulierung oder Knappheit. Der Code eines Systems sorgt dabei für die Einheit des Systems und ist deshalb unersetzlich: Nur anhand der Unterscheidung von FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 Wahrheit und Falschheit konditioniert sich Wissenschaft; ohne diese Unterscheidung geht die Identität des Systems verloren. Demgegenüber ist das Programm eines Funktionssystems austauschbar, ohne damit auch die funktionale Autonomie des Systems, und das heißt: funktionale Differenzierung als solche zu gefährden. So gibt es in Wissenschaft mehrere Theorien, die sich aber alle an der Unterscheidung von Wahrheit und Falschheit orientieren. Immer jedoch muß ein Code mit einem bestimmten Programm gekoppelt sein: Geschlossenheit und Offenheit zugleich. Denn während der Code nur entscheidet, was für das System informativ ist und was nicht, ist das Programm dafür zuständig zu entscheiden, wie diese Information weiter zu bearbeiten ist. Funktionale Differenzierung ist das primäre Differenzierungsprinzip der modernen Gesellschaft. Alles, was in der modernen Gesellschaft an Systembildung möglich ist, orientiert sich direkt oder indirekt an funktionaler Differenzierung. Dabei ist das Prinzip sozialer Differenzierung generell die Form, in der Gesellschaft Weltkomplexität reduziert. Drei Differenzierungsformen gibt es: Segmentäre, stratifikatorische und funktionale Differenzierung, wobei jedem dieser Differenzierungsformen historisch spezifische Gesellschaften zuordbar sind. So entspricht der einfachen segmentären Differenzierung die Vielzahl primitiver Gesellschaften, die aus untereinander gleichen Teilsystemen bestehen (Familien, Verwandschaftssysteme). Dagegen kommt stratifikatorische Differenzierung erst antiken Hochgesellschaften zu, wie den Griechen und Römern, aber auch der europäischen Gesellschaft des Mittelalters bis etwa ins 18. Jahrhundert, die Schichtungen aufweisen, die aus untereinander ungleichen Teilsystemen besteht (Adel/Volk). Funktionale D i f f e r e n z i e r u n g ist schließlich das Formprinzip der modernen Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert, das durch eine Kombination von Gleichheit und Ungleichheit charakterisiert ist: Sämtliche funktionalen Teilsysteme sind insofern gleich, als sie jeweils eine bestimmte Funktion wahrnehmen, und ungleich, insofern sie jeweils eine andere Funktion wahrnehmen. III ist das aber nur in zweiter Linie von Bedeutung. Denn zuerst einmal ist moderne Gesellschaft funktional differenziert. Fragt man gegenüber funktionaler Differenzierung nach sekundären Differenzierungformen moderner Gesellschaft, so bleibt eine eindeutige Antwort aus. Bei Luhmann werden zwar Schichtung und selbst der Begriff der sozialen Klasse behandelt, doch beide Male nicht im Sinne eines sekundären Differenzierungsprinzips moderner Gesellschaft. Zudem gesteht mittlerweile sogar die Sozialstrukturanalyse zu, daß selbst die Verortung von Schichten oder gar Klassen schwerfällt, im Sinne eines dominanten Differenzierungsprinzips ganz zu schweigen. Heißt das, daß es gegenüber funktionaler Differenzierung kein sekundäres Differenzierungsprinzip moderner Gesellschaft gibt? Mit der Entwicklung vom segmentären über den stratifikatorischen zum funktionalen Differenzierungstypus nimmt das Maß an Eigenkomplexität zu. Es ist jedoch keineswegs so, daß jede 2. Der letzte Schrei der historisch spezifische GesellSozialstrukturanalyse: schaft für sich nur eine DifferenSoziale Milieus zierungsform aufweist. Vielmehr Schon nach dem ersten Weltkrieg ist von einem Nebeneinander albegannen klare Klassengrenzen ler drei Formprinzipien auszugezu verwischen. Gesellschaft wurhen. Doch gibt es immer nur eine de zunehmend komplexer, verprimäre Differenzierungsform glichen mit dem 19. Jahrhundert. für jede Gesellschaft, die die OrDennoch blieb die Bestimmung ganisation dieser Gesellschaftbeder Sozialstruktur moderner Geherrscht. Alle anderen Differensellschaft mittels Stratifikation zierungsformen sind dieser nachdominant. Spätestens in den 70er geordnet und auf sie ausgerichJahren wurde aber auch in der tet. Deshalb finden sich in der Wissenschaft davon Abstand gemodernen Gesellschaftzwar Phänommen. Die 'NeueUnübersichtnomene, die durchaus auf seglichkeit' machte es zunehmend mentäre oder stratifikatorische schwieriger, die alten StrukturDifferenzierung hinweisen, wie bestimmungen unverändert anFamilien oder soziale Ungleichzuwenden. heit. Für moderne Gesellschaft 112 1987 veröffentlicht Stefan Hradil eine Studie über die 'Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft'. Darin fordert er: „Wenn Klassenmodelle nur noch ausschnitthaft erklären können und ohnehin nicht primär beschreiben sollen und die Beschreibung durch Schichtmodelle viel zu eng, zu grob, zu starr und zu lebensfern ausfällt, dann brauchen wir neue, differenziertere Modelle." (8) Hradil begründet diese ,J)ifferenzierungsthese" (55) zum einen damit, daß gegenüber sozialer Ungleichheit in vertikaler Richtung soziale Ungleichheit vermehrt auch in horizontaler Richtung auftritt. Vor allem Bildung macht Unterschiede. Zum anderen determinieren objektive Faktoren immer weniger die subjektive Selbstbeschreibung, da diese beginnt, sich verstärkt unabhängig zu orientieren. Knappheit ist nicht mehr vordringliches Problem, neue Freiheitsräume tauchen auf: das 'gute Leben' wird zum Thema. Beide Tendenzen bringen moderne Gesellschaft weg von ehemals klaren Schicht- und Klassenunterschieden und komplizieren die Sozialstrukturanalyse. Vor diesem Hintergrund fragt Hradil: „Wenn es Klassen und Schichten nicht (mehr?) gibt, wie haben wir uns das Gefüge sozialer Ungleichheit in fortgeschrittenen Gesellschaften vorzustellen?" (139) Sein Vorschlag lautet, Lebensziele als Kriterien sozialer Ungleichheit heranzuziehen: Diejenigen Lebens- und Handlungsbedingungen sind besser als andere, die die bessere Befriedigung von Lebenszielen erlauben." (142) Lebensziele werden ver- FORSCHUNGSJOURNAL N S B standen als„Zielvorstellungen im Hinblick auf die Qualität des Lebens" (143), die sich nicht auf die Privatsphäre beschränken, sondern auch aufs politische Leben übergreifen: Sicherheit, Selbstverwirklichung, Mitbestimmung. Damit gewinnt aber der subjektive Faktor, im Sinne von Indeterminismus, deutlich an Übergewichtbei der Bestimmung sozialer Ungleichheit: Man selber entscheidet mit, in welcher Hinsicht man ungleich ist, nicht mehr nur die Situation. Das heißt nicht, daß alles kontingent wird. Aber neben die Disposition über Ressourcen treten vermehrt Risiken und selbst Ansprüche, die sich allesamt äußerst unterschiedlich auf die soziale Ungleichheit jedes einzelnen auswirken, je nach Lebensziel. Fortschreitende Individualisierung ist die Folge. Hradil reagiert auf diese Veränderung, indem er zuerst einmal das Ensemblejener Faktoren, die die individuelle Lebenslage von außen bestimmen, danach sortiert, welche der möglichen Faktoren dominant sind und welche nachgeordnet: Geld, Bildung oder Beziehungen usw. Diese Konstellation gibt die soziale Lage jedes Menschen wieder. Daran schließt „issrelativ eigenständige Umgehen der Menschen mit 'objektiven' Lebensbedingungen" (161) an. Hierbei wird der Entscheidungsspielraum der Individuen jedoch flankiert durch soziale Milieus: „Soziale Milieus lassen sich definieren als Gruppen von Menschen, die solche äußeren Lebensbedingungen und/ oder innere Haltungen aufweisen, daß sich gemeinsame Lebensstile herausbilden." (12) So- 2/94 ziale Milieus grenzen den Kontingenzspielraum ein und bilden homogene Cluster an Entscheidungskriterien, man könnte sagen: mit der Funktion, Komplexität zu reduzieren. Es handelt es sich dabei um „interaktive Interpretationsprozesse" (163), die sich selbst reproduzieren und damit auch den Horizont von Lebenszielen, die soziale Milieus voneinander unterscheiden. Somit repräsentieren soziale Milieus angemessene Nachfolgemodelle für die Sozialstrukturanalyse moderner Gesellschaft. Es stellt sichjedoch die Frage, ob es sich dabei nur um ein „historisches Ubergangsstadium bestimmter Gesellschaft" (175) handelt: Was ist in 10 Jahren? Zudem bleibt offen, wie die Reproduktion sozialer Milieus im einzelnen verläuft. Davon aber abgesehen, ist festzuhalten: „Lagen- und M i lieumodelle sind letzten Endes die Konsequenz aus der Einsicht, daß die Geschlossenheit und Standardisierung der Struktur sozialer Ungleichheit nicht eingetreten ist, die von der Entwicklung der Industriegesellschaften einmal erwartet worden war." (171) Hradils Studie liefert dafür einen überzeugenden Nachweis. Auch Gerhard Schulze greift in seiner 'Erlebnisgesellschaft' von 1992 wesentlich auf den Begriff des sozialen Milieus zurück. Danach sind die dominanten Strukturparameternicht mehr Einkommen oder Herkunft, sondern A l ter, Bildung und Lebensstil (Sprache, Kleidung, Musik etc.). Aus deren unterschiedlicher Konstellation ergeben sich fünf Milieus: Die Grenzen liegen altersmäßig FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 etwa bei 40 Jahren und bildungsmäßig zwischen Hauptschulabschluß und Abitur. Ausgehend von Leuten über 40 mit hoher Bildung, dem Niveaumilieu, handelt es sich bei Leuten gleichen Alters, aber niedriger Bildung um dasHarmoniemilieu. Dazwischen befindet sich noch das Integrationsmilieu, das zwar der gleichen Altersstruktur a n g e h ö r t , b i l d u n g s m ä ß i g aber zwischen Hauptschulabschluß und akademischem Grad steht. Demgegenüber spricht Schulze bei jüngeren Leuten mit niedriger Bildung vom Unterhaltungsmilieu, während Leute gleicher Alterstruktur mit hoher Bildung zum Selbstvenvirklichungsmilieu gehören. Zentral ist, daß jedes Milieu über „erhöhte Binnenkommunikation" (746) verfügt, die sich primär an der „existentiellen Problemdefinition" (736), dem milieuspezifischen Lebensziel orientiert und auf die „Frage, wozu man eigentlich da ist" (232), bezogen ist, die aufgrund der milieuspezifischen Konstellation von Alter, Bildung und Lebensstil jeweils eine mi1 ieuspezifische Antwort erhält. So gilt Rang für das Niveaumilieu als Non plus ultra und entscheidender Maßstab der Selbst- wie Fremdbewertung: Alles, was geschieht, hat sich dem unterzuordnen. Nicht anders für das Harmoniemilieu, dem esumGemütlichkeit geht („Nur nicht auffallen!"), oder das Unterhaltungsmilieu, das nur an Spannung interessiert ist („Where is the action?"). Für das Integrationsmilieu ist ^Konformität („Ordnung ist das ganze Leben."), w ä h r e n d sich das Selbstverwirklichungsmilieu auf der Suche nach Selbstverwirkli- chung befindet („Ich muß authentisch sein!"). Jedes Milieu richtet sein Hauptaugenmerk somit auf einen besonderen Wert, der bestimmend ist für die milieuspezifische Selbst- wie Fremdbeschreibung: Interessant ist nur, was Selbstverwirklichung verspricht; alles andere wird entweder abgelehnt, weil es diesem Anspruch widerspricht, oder gar nicht erst wahrgenommen. Das heißt nicht, daß nicht auch andere Werte vorkommen; aber nur ein Wertistwirklichmaßgebend, hier die Suche nach Selbstverwirklichung. Dabei verfügt gerade das Selbstverwirklichungsmilieu über besonders ausgeprägte Formen der Binnenkommunikation, ist außerordentlich präsent in der Öffentlichkeit, hat eine eigene, dominierende Szene und stellt momentan das wohl höchstentwickelste Milieu moderner Gesellschaft dar. Zudem gilt: „Das Selbstverwirklichungsmilieu ist das Kernmilieu sozialer Bewegungen." (319) Demgegenüber sind bei allen anderen Milieus deutliche Abstriche zu machen, was die Präsenz und den Grad der Binnenkommunikation betrifft; am Unscheinbarsten ist noch der Antipode des Selbstverwirklichungsmilieus, das Harmoniemilieu. Für die zugrundeliegende Fragestellung ist entscheidend, daß Schulze soziale Milieus zum einen mit Zentralwerten ausstattet und ihnen zum anderen erhöhte Binnenkommunikation zuspricht, mittels der sich die Milieus über ihre Zentralwerte ständig reproduzieren: „Soziale Milieus seien demnach definiert als Personen- gruppen, die sich durch gruppenspezifische Existenzformen und erhöhte Binnenkommunikation voneinander abheben." (174) Soziale Milieus sind also weit davon entfernt, bloß statistische Artefakte zu sein, sondern stellen kommunikative Ereignisse dar, die in der Kommunikation die Milieugrenzen sichern. Schwierig erscheint dagegen, den Primat milieuspezifischer Zentralwerte zu behaupten. So spielt Selbstverwirklichung sicherlich in allen Milieus eine nennenswerte, nur eben nicht die zentrale Rolle. Hier scheinen die Grenzen fließend. Zudem ist die Kombination theoretischer Grundlagen zwar überraschend, aber auch freischwebend in ihrer Anbindung an allgemeine Soziologie und deshalb mit dem Risiko des Absturzes behaftet. So geht Schulze, ähnlich wie Hradil, von einer Veränderung der individuellen Selektions weise aus, die sich von objektiver Determiniertheit zu zunehmender Entscheidungsfreiheit gewandelt hat: Man kann wählen, wer man sein möchte. Dadurch gewinnt Kontingenz an Spielraum, objektive Faktoren rücken in den Hintergrund. Diese Verschiebung hat einen Hang zur Erlebnisorientierung zur Folge, die für alle gilt: Da der äußere Handlungsdruck nachläßt, gerät das eigene Erleben verstärkt in den Mittelpunkt der Betrachtung. Aufgefangen wird diese K o m plexitätssteigerung der Wahlmöglichkeiten durch soziale M i lieus, die jeweils eine bestimmte Präferenz der Erlebnisorientierung verfolgen, gewissermaßen Entscheidungshilfen geben, in Korrespondenz mit einer spezifi- 114 sehen Konstellation von Alter, Bildung und Lebensstil: Gleichfalls Rahmenbedingungen, die aber kommunikativ ständig neu ausgehandelt werden, zumal selbst die Milieuzugehörigkeit wählbar scheint. Inwiefern damit einem verkappten Determinismus der Einzug in die Theorie tatsächlich verwehrt ist, bleibt ungeklärt; immerhin sind Alter, Bildung und auch Lebensstil als Resultante kaum disponibel. Z u dem ist in derErlebnisgesellschaft hierarchische Ungleichheit, abgesehen vom Bildungsgefälle, nahezu verschwunden; die segmentäre Perspektive überwiegt. Hiergegen läßt sich Widerspruch anmelden. Im Rahmen dieser Überlegungen kann lückenlose Komplettwürdigung nicht geleistet werden; das ist auch nicht der Zweck. Im Vordergrund steht die Frage, wie es Schulze gelingt, mit dem M i lieubegriff auf ein Defizit der Sozialstrukturanalyse zu reagieren. Ungeachtet empirischer Bedenken, erscheint mir die Studie von Schulze als ein interessanter Entwurf, Aussagen in sozialstruktureller Absicht über die 'Neue Unübersichtlichkeit' moderner Gesellschaft zu machen. Die Untersuchung ist ungewöhnlich und gewagt, theoretische Schwächen sind jedoch unabweisbar. Dazu ist der gesamte Komplex Erlebnisorientierung zu wenig rückgekoppelt an eine ausgewieseneSozialpsychologieoder Theorie vom Sozialen. Zudem bleibt die Frage nach dem gesellschaftstheoretischen Anspruch unbeantwortet, der unabweisbar verbunden ist mit einem Titel v/ieErleb- FORSCHUNGSJOURNAL N S B nisgesellschaft. Gleichwohl zeugt die Arbeit von Mut zum Risiko, eine Kombination von Sozialstrukturanalyse und Konstruktivismus zu versuchen. Eine durchaus anregende Lektüre, wenngleich nicht ohne Mängel. Auch in der jüngsten Veröffentlichung von Michael Vester, Peter von Oertzen, Heiko Geiling, Thomas Hermann und Dagmar Müller stehen soziale Milieus im „Mittelpunkt" (124) der Untersuchung. Dabei lehnt sich ihre Aufteilung eng an die Sinus-Studie 'Lebensweltforschung' an und unterscheidet in der Vertikalen nach dem Klassenhabitus-Modell Bourdieus zwischen Oberklassen-, Mittelklassen und A r beiter-Habitus und in der Horizontalen im Sinne der Wertewandel-These zwischen traditioneller, teilmodernisierter und modernisierterHaltung. So kommen Vester et al. nicht auf fünf, sondern auf neun Milieus: Das konservative gehobene (KON) und das k l e i n b ü r g e r l i c h e M i l i e u (KLB) sowie das traditionelle Arbeitermilieu (TRA) am traditionellen Pol, das technokratischliberale (TEC) und das aufstiegsorientierte Milieu ( A U F ) bzw. das traditionslose Arbeitermilieu (TLO) im teilmodernisierten Sektor und schließlich das alternative ( A L T ) , das hedonistische (HED) und das neue Milieu der Arbeiternehmer (NEA) als modernisierte Varianten. Bemerkenswert ist, daß die Autoren ähnlich wie Schulze - von einer Steigerung des Kontingenzspielraums individueller Entscheidung ausgehen, die mit Merleau-Ponty als „Öffnung des sozialen 2/94 Raums" (137) bezeichnet wird: Die Wahlmöglichkeiten nehmen zu, 'objektive' Faktoren an Einfluß ab. Von daher ist auch der Milieubegriff von Vester et al. weit davon entfernt, bloß ein statistisches Artefakt zu sein: „Unser Begriff des Milieus rückt das aktive und gestaltende Moment von sozialer Kohäsion in den Vordergrund und verweist auf reale alltagspraktische Lebenszusammenhänge." (130) Der M i lieubegriff selbst lehnt sich dabei sehr an die frühe Begriffsbildung der 'sozialmoralischen Milieus' bei Lepsius an. Dabei kommt sozialen Milieus die spezifische Funktion zu, zwischen Individuum und Außenwelt zu vermitteln, um einen „Nexus zwischen sozialstruktureller und subjektiver Perspektivenöffnung" (115) herzustellen. Insofern sind soziale Milieus nach Vester et al. auch als eine Form der Sozialintegration im Sinne Lockwoods zu verstehen. Zentral ist, daß soziale Milieus als „Interaktionszusammenhänge" verstanden werden, die sich in ständiger „Dialektik von K o häsion und Abgrenzung" (76) in Form von Kämpfen, Abgrenzungen und Ausgrenzungen anderer Milieus selbst konstituieren. Insofern führen Milieus ein „Eigenleben, da sie nicht durch ' W i derspiegelung' objektiver Strukturen entstehen, sondern durch das soziale Handeln der menschlichen Vergemeinschaftungen produziert [...] werden." (108) Vordiesem Hintergrund sprechen Vester et al. auch von „relativer Autonomie" (188), über die soziale Milieus ihrer Umwelt ge- - MAL N S B 2/94 genüber verfügen. Materielle Grundlagen bilden zwar unersetzliche Voraussetzungen, determinieren das Milieugeschehen aber nicht. Aus der „Gesamtlandkarte sozialer Milieus" (30) stechen besonders die neuen 'Bewegungsmilieus' hervor. Sie stehen einerseits auf der Modernisierungsseite der Wertewandel-Skala, andererseits orientieren sie sich am Oberschichtenhabitus. Dabei unterscheiden Vester et al. wiederum fünf Einstellungstypen oder „Mentalitäten": den Humanistisch-Aktiven Typus, den Ganzheitlichen Typus, denErfolgsorientierten Typus, den Typus der Neuen Arbeiterinnen und den Typus der Neuen Traditionslosen Arbeiterinnen, die weitgehend mit den entsprechenden Milieus korrelieren ( A L T , H E D , A U F , N E A und T L O ) . Das verbindende Glied ist - hier wiederum eins mitSchulzes 'Bewegungsmilieu' - ein „Streben nach Autonomie und Selbstverwirklichung" (135) als Folge von Wertewandel und Individualisierungsschub. Dabei sprechen Vester etal. diesem Streben getadezulntegrationsfunktion für dieses Quintett zu: „Die Individualisierungsideologie hat eine solche Integrationsfunktion: Sie drückt ein gemeinsames Demokratie- und Emanzipationsinteresse aus, verdeckt aber auch hierarchische Ungleichheiten und Arbeitsteilungen in der Milieukoalition." Überhaupt sind es auch für die anderen Milieus jeweils spezifische „Integrationsideologien, die den Interessenund Kulturgegensatz zu anderen gesellschaftspolitischen Lagern stabilisieren." (238) Das läuft zwar nicht auf eine definitive Wertbestimmung pro Milieu hinaus, aber durchaus in diese Richtung. in die Sozialstrukturanalyse eingeführt und mit unterschiedlichen Theorietraditionen in Verbindung gebracht haben. Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob Bourdieus Konzept von „Sozialraum" (18), Webers „drei Ebenen des Beziehungshandelns" (132) oder Thompsons Klassenbegriff nicht nur für sich, sondern gerade auch in Kombination miteinander, noch angemessene Beschreibungspotentiale für die moderne Gesellschaft darstellen. Vor allem hätte man sich aber gewünscht, in Anbetracht der „beunruhigenden Veränderungen der sozialen Gesamtordnung" (14), von denen anfangs ausgegangen wird, mehr zu erfahren darüber, welche Auswirkungen diese Veränderungen auf die soziale Gesamtordnung haben, und d.h.: welcher Stellenwert der' Gesamtlandkarte sozialer Milieus' für die Theorie moderner Gesellschaft zukommt. Davon abgesehen, erweist sich die Studie jedoch gerade für das Verständnis der Sozialstruktur neuer sozialer Bewegungen, also der 'Bewegungsmilieus', als ergiebig, wobei entscheidend bleibt, daß 'ein Streben nach Autonomie und Selbstverwirklichung' ihre maßgebliche Gemeinsamkeit bildet. Von den theoretischen Grundlagen her stellt sich der Eindruck eines lose gekoppelten, nicht systematisch auf Einheit bedachten Arrangements dar. Neben der Terminologie Bourdieus wie sozialem Raum, Habitus und Lebensstil finden sich auch Webers Unterscheidung von Vergemeinschaftung, Vergesellschaftung und Kampf oder Thompsons Rede von Klassen als 'a very loosely defined body' wieder, wobei der kulturalistische A n satz auch für das Milieuverständnis grundlegend ist. Neben der sozialstrukturellen Neubestimmung moderner Gesellschaft geht es aber auch um zentrale Konfliktlinien, von denen die Autoren vier ausmachen: Die postindustrielle der Modernisierungsgewinner, die industrielle der traditionellen Arbeitnehmerschaft, die ständisch-moralische der Konservativen und eine vormoderne der Modernisierungsverlierer wie Alte, Kinder, Ausländer etc. Zum Schluß der Untersuchung werden noch die Politikund Gesellungsstile der Westdeutschen behandelt, die sich Zusammenfassend läßt sich sawiederum im hohen Maße an der gen, daß die SozialstrukturanalySinus-Studie anlehnen. se mit sozialen Milieus durchaus einen a d ä q u a t e n Ersatz f ü r Bezogen auf die zugrundeliegen- Schichten und Klassen zur sozide Fragestellung nach Innovatio- alstrukturellen Beschreibung nen der Sozialstrukturanalyse läßt moderner Gesellschaft gefunden sich festhalten, daß Vester et al. hat. Daß insbesondere bei Vester wie schon Hradil und Schulze et al. soziale Milieus mittels der mit dem Begriff des sozialen Unterscheidung von System-und Milieus eine alte Kategorie neu Sozialintegration erfaßt und dann \mmm als „große lebensweltliche M i lieus" (77) beschrieben werden, wirft nochmals ein anderes Licht auf die theorietechnischen Möglichkeiten, die diese Begriffsbildung in sich birgt. In jedem Fall geht es bei sozialen Milieus nicht um statistische Artifakte, sondern um 'Interaktionszusammenhänge'. 3. Segmentäre Differenzierung in der modernen Gesellschaft? Es kann sich primär nicht darum handeln, empirische Befunde zu überprüfen, denn hier geht es um Theoriebildung. Voraussetzung ist daher, daß von der Richtigkeit der Ergebnisse ausgegangen wird und zu fragen bleibt, inwiefern diese Ergebnisse geeignet sind, soziale Milieus als sekundäres Differenzierungsprinzip moderner Gesellschaft zu beschreiben. Um soziale Milieus als sekundäres Differenzierungsprinzip der modernen Gesellschaft zu beschreiben, ist es erforderlich, sie vorerst als soziale Systeme zu beschreiben. Soziale Systeme werden hier verstanden als (1) Kommunikationszusammenhänge, die (2) jeweils selbstselektiv den Kontingenzspielraum für weitere Kommunikationen vorgeben: A n Recht kann nur Recht anschließen, an Liebe nur Liebe. Andernfalls hört die Autopoiesis des Systems auf und ein Wechsel der Systemreferenz erfolgt, wiederum mit systemspezifischer Selektivitätfür anschlußfähige Operationen: A u f Recht folgt Politik, auf Liebe Sport. Jedes selbstreferentielle soziale System - und FORSCHUNGSJOURNAL N S B jedes soziale System ist ein selbstreferentiellesSystem-produziert und reproduziert sich selber, und zwar mittels seiner System/Umwelt-Differenz, anhand der allein entschieden wird, was anschlußfähig ist und was nicht. Speziell Funktionssysteme verfügen (3) schließlich noch über spezielle Formen, genauer: binäre Schematismen, ienCodes, die die operative Selbstabschließung leisten und damit die Autopoiesis des Systems herstellen: Recht/ Unrecht oder Wahrheit/Falschheit. Nur der Präferenzwert, hier Recht oder Wahrheit, ist anschlußfähig, während die andere Seite die Funktion hat, als Reflexionswert auf Kontingenzen des Anschlußwertes aufmerksam zu machen: Es geht auch anders. Aber auch ohne binären Schematismus ist ein soziales System bestandsfähig, solange es nur imstande ist, selbstselektiv die eigene Anschlußfähigkeit zu konditionieren und Beliebigkeit auszuschließen. Schaut man nunmehr auf die Beschreibung sozialer Milieus, wie sie insbesondere von Schulze und Vester et al. vorgelegt wurden, so läßt sich zeigen, daß es sich bei sozialen Milieus nicht um statistische Artefakte, sondern um soziale Systeme handelt, die sich selbstselektiv zu ihrer Umwelt verhalten und damit operativ geschlossen, mithin autopoietisch sind. Ich werde mich dabei auf jenes Milieu konzentrieren, das das eigentliche Mobilisierungspotential neuer sozialer Bewegungen darstellt, das Selbstverwirklichungsmilieu. 2/94 Noch stärker als Hradil konzipieren Schulze und Vester et al. soziale Milieus nicht bloß als Syndrome objektiverRandbedingungen, sondern (1) als interaktives, ja kommunikatives Geschehen. Insbesondere Schulze, zurückhaltender auch Vester et al., macht darauf aufmerksam, daß soziale Milieus sich vor allem wegen ihrer erhöhten Binnenkommunikation voneinander unterscheiden. Die erhöhte Binnenkommunikation innerhalb eines sozialen M i lieus wird jeweils durch einen milieuspezifischen Zentralwert gesteuert, der eine grobe, hochgeneralisierte Orientierung für alle Ereignisse, Kommunikationen und Interaktionen vorgibt, die innerhalb eines Milieus relevant sind. Für Schulze ist dies hinsichtlich des 'Bewegungsmilieus' üer Wert der Selbstverwirklichung. Das gilt auch für Vester et al., selbst wenn sie eine weitere Ausdifferenzierung in fünf 'Bewegungsmilieus' vornehmen. Gemeinsam ist ihnen allen die Orientierung an Selbstverwirklichung als Leitwert ihrer Selbstbeschreibung, Ausdruck ihrer Identität in Differenz zu allem anderen: „Für alle ist ein Streben nach Autonomie und Selbstverwirklichung gegenüber gesellschaftlicherBevormundung, Einschränkung und Entfremdung maßgeblich." (209) M i t Schulze lassen sich sodann auch für alle anderen sozialen Milieus funktional äquivalente Zentralwerte anführen. Versteht man soziale Milieus als soziale Systeme, die sich jeweils an einem Zentralwert orientieren FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 und dadurch den Kommunikationsprozeß selbstreferentiell steuern, dann scheint es möglich, sozialen Milieus (2) operative Geschlossenheit abzugewinnen, die nur auf das reagiert und das zuläßt, was dem jeweiligen Leitwert entspricht. Speziell für die Bewegungsmilieushießedas, daß ihre gesamte Binnenkommunikation primär am Wert der Selbstverwirklichung ausgerichtet ist. Alles weitere folgt daraus. Ob es möglich ist, die Leitwerte sozialer Milieus selbst als (3) binäre Schematismen zu beschreiben, etwa Selbstverwirklichung vs. Entfremdung oder Autonom ie vs. Heteronomie, sei hier nur als Anregung angedeutet. Wichtig ist, daß alles, was innerhalb der Binnenkommunikation der Bewegungsmilieus von Bedeutung ist, seine Milieuzugehörigkeit manifest oder latent - durch die gemeinsame Ausrichtung am Zentralwert der Selbstverwirklichung erhält: Nur, was Selbstverwirklichungverspricht, ist anschlußfähig, alles andere Rauschen, oder mehr noch: Anlaß, Selbstverwirklichung einzuklagen und den Anspruch darauf in Form von Protest zu artikulieren. Das würde mutatis mutandis auch für alle anderen Milieus zutreffen. Um wieder an den Anfang zurückzukehren, ist nunmehr zu fragen, ob soziale Milieus, verstanden als soziale Systeme, gegenüber funktionaler Differenzierung nicht ein sekundäres Differenzierungsprinzip modernerGesellschaft darstellen. A l s sekundäres Differenzierungsprinzip moderner Gesellschaft würde es sich bei diesen Milieus jedoch weniger um Stratifikation handeln, wenngleich vertikale Differenzen hinsichtlich Bildung, Einkommen und Kultur nicht geleugnet werden. Denn im Vordergrund stehen horizontale Differenzen, weshalb von segmentärer Differenzierung als sekundärem Differenzierungsprinzip moderner Gesellschaft gesprochen werden könnte. Von segmentärer Differenzierung sollte auch deshalb gesprochen werden, weil soziale Milieus sich aufgrund gleicher Komponenten, z.B. A l ter, Bildung und Lebensstil, nur in unterschiedlicher Zusammensetzung, konstituieren; übrigens operiert Schulze selbst mit einer TheoriesegmentärerDifferenzierung. Überdies spricht für die Bezeichnung segmentäre Differenzierung, daß soziale Milieus eine gegenüber den traditionellen Teilsystemen segmentärer Differenzierung, nämlich Familien, funktional äquivalente Rolle spielen-zumindest lassen sich Paralellen aufweisen. Familien leisten die Inklusion der Vollperson. In der Familie ist jeder als ganze Person gemeint. Nichts ist tendentiell ausgeschlossen, wenngleich nur ein Bruchteil davon tatsächlich zur Sprache kommt. Es ist jedoch davon auszugehen, daß in der modernen Gesellschaft, in der ansonsten nur funktionssystemspezifische Inklusion in Form von Rollen erfolgt, Familie damit überlastet ist, allein die Inklusion der Vollperson unausgesetzt zu leisten, gerade weil es nirgends 11/ sonstwo noch passiert. Es braucht daher funktionale Äquivalente, die gleichermaßen in der Lage sind, die Inklusion der Vollperson sicherzustellen, gerade zur Kompensation von Defiziten funktionssystemspezifischer Inklusion. Es wäre zu überlegen, ob nicht soziale Milieus eine funktional äquivalente Form dafür darstellen: Innerhalb eines M i lieus kann alles, was eine Person betrifft, von Bedeutung werden. Es ist im Prinzip nichts ausgeschlossen, wenngleich nicht auf alles gleichermaßen intensiv/extensiv Bezug genommen wird. Aber in der Binnenkommunikation sozialer Milieus kann die Vollperson mit all ihren Eigenarten zur Geltung kommen: Der Lebensstil umfaßt die ganze Person. Man genießt gewissermaßen 'Ideosynkrasienkredit' (Neidhardt). Sicherlich bestehen Unterschiede zur Familie, aber die sind gradueller Natur. Insofernsind soziale Milieus funktionale Äquivalente zur Familie, weshalb auch, gegenüber funktionaler Differenzierung, von segmentärer Differenzierung als sekundärem Differenzierungsprinzip moderner Gesellschaft die Rede ist. Kai-Uwe Hellmann, Berlin FORSCHUNGSJOURNAL N S B Raschke, Joachim Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind. Mit Beiträgen von Gudrun Heinrich, Christoph Hohlfeld, Björn Johnson, Manfred Knoche, Monika Lindgens, Frank Nullmeier, Jürgen Oetting, Peter Raschke, Roland Roth, Helmut Wiesenthal. Bund-Verlag, Köln 1993; 960 S., D M 68,Mit der fast tausendseitigen Analyse „Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind" hat der Hamburger Politikwissenschaftler Joachim Raschke, gemeinsam mit zehn Fachkollegen und -kolleginnen, die erste umfassende Gesamtdarstellung der „alternativen Partei" vorgelegt. Die Studie, die sich - geteilt in vier zentrale Bereiche - mit der ideologischen, akteursbezogenen, organisatorischen und externen Strukturierung der „Öko-Partei" befaßt, läßt dabei keine der die GRÜNEN betreffenden Fragestellungen unberührt. Wie bereits in seiner kürzeren Studie „Die Krise der Grünen", 1992 erschienen, sieht Raschke das grüne Grundproblem im Auseinanderklaffen von Legitimität und Effizienz. Die vom ihm konstatierte Tatsache, daß viele Grüne - einem Grundgefühl folgend - sich bis heute mit dem Parteiprinzip nicht hätten abfinden können, habe dazu geführt, daß die „Partei wider Willen" keine Lösung für das Spannungsverhältnis von Legitimität und Effizienz finden konnte und diese letztlich zu einem unvereinbaren Gegensatz geworden sind. Roter Faden und zentrale Fragestellung von Raschkes Analyse ist die schon im Untertitel des Buches aufgegriffene Frage: „Wer sind die GRÜNEN, und: wie wurden sie, was sie sind?" Dabei gilt Raschkes vorrangiges Erkenntnisinteresse der Untersuchung, um was für einen Typus Partei es sich bei den GRÜNEN handelt, und wie sich dessen spezielle Erscheinungsform herausgebildet hat. Auf der Suche nach einer wissenschaftlich fundierten Antwort auf diese Frage werden daher u.a. Strukturierungsprobleme, Programmatik, Strömungsgeschichte, Akteursvielfalt, organisatorischer Aufbau und gesellschaftliche Verankerung der GRÜNEN analysiert. Keine der heftigen Debatten und zentralen Begriffe aus den eineinhalb Jahrzehnten grüner Parteigeschichte wird dabei außer acht gelassen. Basisdemokratie, Bewegungspartei, Professionalisierung und „Verparlamentarisierung" sind nur Stichworte für einige der Probleme, die sich in dieser Studie umfassend behandelt wiederfinden. Eine übergreifende These von Raschkes Analyse ist, daß wir es bei den GRÜNEN mit einer „postindustriellen Partei" zu tun haben. Die durch Nichteindeutigkeit, Heterogenität, Fragmentierungund Organisationsschwäche gekennzeichneten GRÜNENhätten die Chance, die erste Partei zu werden, die eine präzise Antwort auf den Wandel zur postindustri- 2/94 ellen und postmodernen Gesellschaft gibt. Im Typus der „Professionellen Rahmenpartei" sieht Raschke die Zauberformel, die es der mitgliederschwachen Partei mit ihrer immanenten Mobilisierungsschwäche erlauben könnte, den Brückenschlag zwischen Legitimität und Effizienz zu schaffen. Raschkes Definition der „Rahmenpartei": „Mit diesem Parteityp wird ein Rahmen festgelegt, der das von der Legitimität her Wesentliche außerhalb läßt, der aber auch soweit strukturiert ist, daß qualifizierte personelle und inhaltliche Angebote gemacht werden können."(S.865) Um den Herausforderungen des sich zunehmend ausdifferenzierenden Parteiensystem der neunziger Jahre gerecht zu werden, sei es jedoch notwendig, den Prozeß derDistanzierung von Selbstetikettierungen wie „Anti-Parteien-Partei", Sammlungspartei, Bewegungspartei, ganz abgesehen von der inhaltslosen Etikettierung als „Partei neuen Typs" fortzusetzten und überlebte Strukturen zu erneuern. Im Blick hat der Hamburger Politologe dabei vor allem den „Identitätsbegriff Basisdemokratie" und den „Mythos Bewegungspartei". Raschke hält das basisdemokratische Modell der alternativen Partei für gescheitert (an der Nichteindeutigkeit des Konzepts, den unüberwindlichen Ressourcendefiziten und den Professionalisierungsanforderungen eines ausdifferenzierten Politiksystems). In den Kapiteln über Parteistruktur und die sich in vollem Gang befindliche Diskussion über eine Organisationsreform wird zurecht darauf verwiesen, daß von Beginn TV",M-nr-\-r,>T'-it~<N;u N S R 2'04 an keine konsistente Theorie von Basisdemokratie existierte, und daß es auch kein gemeinsames Konzept und keinen Konsens darüber gab, was konkret unter Basisdemokratie zu verstehen sei und aufweiche „Basis" man sich berufen wollte. Raschkes Fazit: „Überspitzt läßt sich sagen: jeder hat eine andere Vorstellung von Basisdemokratie, aber gescheitert ist sie für alle."(S.577) Eine ähnlich negative Bilanz zieht die Studie über das Verhältnis Bewegung/Partei. Raschke spricht vom „ M y t h o s Bewegungspartei", der wenig geeignet sei zur Charakterisierung der GRÜNEN. Zwar seien die Bewegungen, aus deren Mitte die GRÜNEN einst gegründet wurden, immer noch ein zentraler Bezugspunkt für die „alternative Partei", längst seien aber andere wesentliche Bezugspunkte wie Wähler, Parlamente und Öffentlichkeit hinzugetreten. Zu den ertragreichsten Kapiteln der durchweg informativen Studie gehört der umfangreiche Teil über die Akteure und Strömungen der GRÜNEN. Hier untersuchen die Autoren u.a. die Problematik der ungewollten Elitenbildung. Vor allem Raschkes sechzig Seiten starke Zusammenfassung der Strömungsgeschichte stellt - zusammen mit der sehr hilfreichen Chronologie der Parteihistorie im Anhang des B u ches - eine aufschlußreiche Beschreibung der wechselvollen Auseinandersetzungen und Richtungskämpfe innerhalb derGRÜN E N dar. Raschke verdeutlicht die Widersprüche zwischen ba- sisdemokratischen Ansprüchen und grüner Wirklichkeit. Für den PolitologensindProfessionalisierung und unfreiwillige Elitenbildung Beispiele für die Untragbarkeit grüner Parteistrukturen. Personalisierung und Professionalisierung besaßen geringe Legitimität auf der grünen Werteskala, sogenannte „Promis" erlebten Mißtrauen und Demontage. Dies verhinderte jedoch grüne Elitenbildung keineswegs, im Gegenteil: Prozesse der Verberuflichung und Karrierisierung haben eingesetzt. Diegrüne Wirklichkeit entspricht somit weder dem basisdemokratischen A n spruch, grüne Eliten zu verhindern, noch den Anforderungen des parlamentarischen Systems nach effizienten Führungsstrukturen. Raschkes Fazit: „Die basisdemokratische Partei wollte keine Eliten, die wirklich entstandene Partei hat Eliten hervorgebracht. Aber sie sind fragmentiert, flukturierend und blokkiert. Ein Zweck ist erfüllt: es macht keinen Spaß, bei den GRÜN E N Elite zu sein. So sind sie denn auch frustiert. Die basisdemokratischen Regelungen haben Elitenbildung nicht verhindert, aber sie haben den Nutzen eingeschränkt, den eine Partei von ihrer Elite haben kann."(S.453) Es gehört zweifellos zu den Vorzügen dieses Buches, daß es letztlich nicht auf der Ebene der Analyse verharrt, sondern einmündet in Reformvorschläge und Langzeit-Perspektiven. Im Abschlußkapitel, das sich mit den „GRÜN E N in den 90er Jahren" beschäftigt, zieht Joachim Raschke gemeinsam mit Helmut Wiesen- cm thal und Frank Nullmeier kritische Bilanz, wägt Zukunftschancen und fordert eine „zweite A u f bauphase der GRÜNEN": „Der erste Versuch, eine Partei aufzubauen, ist fehlgeschlagen. Einen Versuch haben die G R Ü N E N noch frei. 'Basisdemokratie', 'Bewegungspartei', 'Antiparteienpartei' - alles Reaktionsbildungen ohne weiterführende Idee. Zu suchen wäre eine Parteiidee, die den postindustriellen und postmodernen Rahmenbedingungen korrespondiert, deren spezifischer Ausdruck die GRÜNEN sind, und die gleichzeitig unter den tradierten Politikstrukturen praktikabel ist... Mittelpartei, professionelle Rahmenpartei und Partei postmoderner Vielfalt waren die Stichworte, mit denen eine solche positive Parteiidee eingekreist wurde."(S,890) Die Hoffnung Raschkes und seiner Mit-Autoren, die 90er Jahre könnten die Zeit einer zweiten Auf bauphase der GRÜNEN sein, wird in der Studie ganz zentral an den Begriff der „Postmoderne" geknüpft. Raschkes Definition der Begriffe „Postindustrialismus" und „Postmoderne" ist dabei durchaus problematisch. Er betont, daß auch eine postindustrielle Gesellschaft Industriegesellschaft bleibt und er konstatiert, daß Postmoderne „zunächst nur ein Debattenstichwort" ist, das als Begriff „unsinnig" sei, „da die meisten Bedeutungsvarianten unter Postmoderne keine Zeit nach der Moderne, sondern eine spezifische Weiterentwicklung und Radikalisierung der Moderne im Auge haben"(S.855). Angesichts dieser Adabsurdum- 120 Führung des Modebegriffs bleibt es unverständlich, daß Raschke ein „Debattenstichwort" dennoch zu einer zentralen Kategorie seiner Analyse macht. Die Kapitel, in denen der Politologe (wider bessere Einsicht) mit diesem UnBegriff arbeitet, wirken denn auch im Vergleich mit der sonstigen Analyse merkwürdig schwammig, ja teilweise hilflos. Raschke wäre gut beraten gewesen, sich auf weniger modische, dafür aber konkret faßbare Erklärungsmuster (Dienstleistungsgesellschaft etc.) zu stützen, statt sich im babylonisch-soziologischen Sprachgewirr von Postindustrialismus, Postmaterialismus und Postmoderne zu verirren. Eine ähnliche Einschränkung gilt für Raschkes W o r t s c h ö p f u n g „Rahmenpartei". Der hohe Stellenwert, den er diesem Begriff einräumt, steht in seltsamen W i derspruch zu seiner radikalen Abrechnung mit den „Mythen" Basisdemokratie und Bewegungspartei. Wenn Raschke die GRÜNEN als „ideologischeRahmenpartei", im Sinne einer Plattform für unterschiedlichste Ideologien kennzeichnet und den Typ einer Partei fordert, der nur einen offenen „Rahmen" bildet, „in dem unter besonderer Beteiligung professioneller Gruppen komplexe Vermittlungsarbeit geleistet wird"(S.865), so steckt dahinter in erster Linie ein Vielfaltspostulat. Vielfalt - Raschke nennt es „radikale Pluralität" - will er jedoch andererseits gerade einschränken, denn darauf läuft der konsequente Abschied von den grünen Identitätsmerkmalen Basisdemokratie und Bewegungs- FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2/94 partei im Ergebnis notwendigerweise hinaus. Manfred E. Neumann Willi Schraffenberger Hieraus ergibt sich eine Grundsatzfrage für die GRÜNEN: Ist eine Liquidierung des basisdemokratischen Elements, daß zum inhaltlichen Gründungskonsens (ökologisch - sozial - gewaltfrei - basisdemokratisch) der Partei gehörte, möglich, ohne „grüne Identität" zu vernichten? Wird durch Raschkes Nachweis, daß basisdemokratische Mechanismen in der angewendeten Form nicht funktioniert haben, das Konzept der Basisdemokratie überhaupt widerlegt oder nur ein irreales, übersteigertes MaximaiKonzept? Muß z.B. das urdemokratische Rotationsprinzip falsch sein, nur weil die Idee einer zweijährigen Rotation offensichtlich unrealistisch ist? Ist Basisdemokratie wirklich ein Mythos - oder macht Raschke nur einen daraus? Platte machen. Basisdemokratie ist unbestreitbar ein Stück grüner Identität. Auch in dieser Hinsicht wäre ein reformistischer Weg (Veränderung der basisdemokratischen Mechanismen) einer fundamentalistischen Lösung (Abschaffung) vorzuziehen. Der Zwiespalt zwischen Anspruch und Wirklichkeit kann nicht durch Extreme überbrückt werden. Weder „anspruchsvoll und wirklichkeitsfern" noch „anspruchslos und wirklichkeitsnah" sind Lösungen für die Probleme der GRÜNEN. Andreas Vogtmeier, Berlin Vom Leben und Sterben auf der Straße Quell-Verlag: Stuttgart 1993, 118 S. Niemand kennt ihre genaue Zahl, aber es werden immer mehr: die Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe schätzt, daß über eine Million Menschen in Deutschland ohne festen Wohnsitz lebt. Der Großteil von ihnen ist in Billigunterkünften, Übergangswohnheimen oder Anstalten untergebracht. Mehr als 130 000 Wohnsitzlose sind auf Brücken, Parks, Tiefgaragen, Gebäudeeingänge oder sonstige Bleiben angewiesen, die die Bezeichnung „ N o t u n t e r k ü n f t e " nicht mehr verdienen. Diese unsicheren Schätzungen zur Armut in der Überflußgesellschaft können lediglich grobe Orientierungspunkte für ein Stück bitterer sozialer Realität sein. Sie trüben auch den Blickfürdie Schicksale, die sich hinter diesen Zahlen verbergen. Wirklichkeitsnahe Eindrücke von einem Leben am absoluten Existenzminimum können sie nicht vermitteln. Um das zu erreichen, sind zwei Mitarbeiter der Stuttgarter A m bulanten Hilfe e.V. einen anderen Weggegangen. Der Fotograf Manfred E. Neumann und der Sozialarbeiter Willi Schraffenberger haben sich um eine Innenperspektive des drückenden sozialen Problems bemüht, indem rV'ftM I T N Y I N I ,i ks-.i NSB sie Wohnungslose befragt und portraitartig ins Bild gerückt haben. „Unsere 'Klienten' sollten selbst zu Wort kommen, sie sollten sagen, was ihnen wichtig ist, und sie sollten so dargestellt werden, wie sie es selbst wünschten und wie es die Achtung ihrer persönlichen Würde gebot", heißt es im Vorwort. 2/94 Der Band macht eindringlich deutlich, daß es „den" Wohnsitzlosen nicht gibt. Der Verlust des Arbeitsplatzes, Scheidung oder die Kündigung der Wohnung können Lebenskrisen auslösen, die unmittelbar mit dem freien Fall von der sozialen Leiter und dem Beginn eines Teufelskreises verbunden sind. „Ohne Wohnung keine Arbeit, ohne Arbeit keine Am Ende dieses Projektes steht Wohnung", beschreibt ein Bereine Sammlung von Lebensbi- ber den gesetzlichen Kurzschluß lanzen, Situationsbeschreibun- im sozialen Netz, der ihm die gen, Liebeserklärungen an Men- Rückkehr in die ersehnte Normaschen und Landschaften, Gesell- lität erschwert. „So, jetzt hänge schaftskritik und lautem Nach- ich 'rum, und mein Ziel ist es, denken über die eigene Zukunft. irgendwo eine eigene Wohnung In einer oft unbeholfenen Spra- und feste Arbeit. Der Neid ist da, che geben die Momentaufnah- es geht nicht weiter, man wird men Einblick in den Alltag einer durch das Sozialamt festgehalRandgruppe, deren Leben auf die ten, man kann nichtweg, und hier pure Existenz beschränkt ist. A r - passiert nichts. Man sitzt dann mut, Isolation, gebrochenes hier, zum Beispiel sonntags, wenn S e l b s t w e r t g e f ü h l , Krankheit, man da nach Stuttgart 'reinfährt, Demütigung und Gewalt sind so gehen sie Hand in Hand mit auch Ursachen für die seelische ihrem Kind, Eis essen und so Entwurzelung und die Sehnsucht weiter, ne. Also man sieht das nach Ruhe. „Wo kann man Ruhe alles, da könnte man so ab und zu finden, im Friedhof, oder? Aber richtig aus sich raus und am liebich finde auch hier keine Ruhe. sten dazwischenprügeln. Ich weiß Laufen Bullen hinter uns und je- nicht, das ist, ich würde gerne desmal Strafzettel. Einmal habe wieder so leben. Ja, und das ist, ich siebzig Mark gekriegt für glaube ich, bei vielen, die auf der Schlafen. Hier ist verboten Schla- Straße leben, so." fen, drei Stunden später wieder siebzig Mark Strafzettel. Hun- Die weitgehend erhalten gebliedertvierzig Mark für drei Stun- bene Authentizität der Texte, die den Schlafen. Na ja, hab' ich einfühlsamen Fotografien und die gesagt, gut, wenn ich kann hun- ergänzende Reportage Hansdertvierzig Mark für drei Stun- Volkmar Findeisens zum „Penden zahlen fürs Schlafen im nertod auf der Straße" sind zwar Schlafsack, dann besser i geh' in im „Musterländle" Baden-WürtHotel Intercontinental, dann kann temberg entstanden, könnten aber ich mir auch das erlauben."Die ebenso in jedem anderen Teil Stigmatisierung sorgt dafür, daß Deutschlands ihren Ursprung der Alltag für Berber zum aufrei- haben. Arbeitsprogramme für benden Spießrutenlauf wird. Wohnsitzlose in Friedrichshafen m oder das bundesweit einmalige „Sleep In" für obdachlose Jugendliche in Frankfurt am Main zeigen, daß es sich bei der „Neuen Armut" um einen sozialen Brennpunkt mit Flächenwirkungfür das ganze Land handelt. In einer Zeit zunehmender Verteilungskämpfe und angespanntem gesellschaftliche Kima ist Manfred E . Neumann und Willi Schraffenberger ein Band gelungen, der Teilen des abgekoppelten Teils der Zwei-Drittel-Gesellschaft vielseitig und ehrlich in Wort und Bild Gesicht verleiht. Georg Weinmann, Tübingen WSM Aktuelle B i b I i o graphie Beck, Ulrich 1993: Bindungsverlust und Zukunftsangst - Leben in der Risikogesellschaft, in: Gegenwartskunde, Heft 4, 463468 Brezinka, Wolfgang 1994: Der Begriff Gewalt, in: Die politische Meinung, 39. Jg., 29-34 Brun, Tissy 1994: Bündnis 90/ Die Grünen: Oppositions- oder Regierungspartei?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1/94 Burgard, Roswitha: Mutzur Gewalt. Befreiung aus Gewaltbeziehungen. Fischer: Frankfurt/M 1994 Donsbach, Wolfgang 1993: Inhalte, Nutzung und Wirkung politischer Kommunikation, in: ÖZP, Heft 4, 389-408 Euchner, Walter 1993: Die gegenwärtige bürgerliche Gesellschaft und die 'andere Bürgergesellschaft', in: PVS, 34. Jg., Heft 4, 695-699 Gillen, Gabi/Möller, Michael 1994: Tanz auf dem Vulkan. Geschichten über Gewalt. 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The R C A has undergone several periods of development in the past, so that the concept of rational action was revised. Although the R C A s t i l l poses a number of unsolved questions, one should use it as long as there is no other opproach superior to it. No such approach is in night for the sociology of social movements, as the author concludes. Richard Münch: From modernity to the postmodern? Social movements in the process of modernization, FJNSB 2/1994, 27-39 The author's views of social movements bearing modern as well as anti-modern characteristics rest upon a structural theory of modernity referring to Talcott P A R S O N S . Social movements are at the same time products and premises of modern society: on the one hand they appeal to modern principies such as emancipation or equal rights, on the other hand they criticize modernity on its own grounds. A striking example is the ecological movement, renouncing progress: Less is more. Social movements are victims to this dilemma. There is no Solution if modernity should not turn into its opposite. Klaus Eder: The institutionalization of collective action. A new theoretical problem of social movements research, FJNSB 2/1994, 40-52 The author reconstructs the controversy of macro vs. micro social approaches in social movements research. A 'new modesty' is discernible that tries to harmonize opposite approaches such as the approach of Ressource Mobilization and the New Social Movements approach. This willingness for dialogue is productive for research; however, future theoretical 'battles' are necessary that respond to the evolution ofmodern society. E D E R suggests two perspectives: the one is neo-institutional, ascribing a new, more discursive form of institutional rationality to social movements which has retroactive effects on established institutions. The other is constructivistic, also emphasizing the communicative nature of social movements, because their way of seeing themselves is generated by communication. The concept of a 'society of movements' might be utopian; social movements, however, will remain a determinant of modern society. 124 FORSCHUNGSJOURNAL N S B 2 / 9 4 Niklas Luhmann: System theory and protest movements in interview, FJNSB 2/1994, pp. A n interview with L U H M A N N was recorded in the middle of February in Bielefeld. System theory is one of very few 'grand theories' today, so its relevance for social movements research is undoubted. In numerous essays L U H M A N N has tried to describe social movements by means of his theory. The fact that social movements research does not dispose of a genuine theory leaves crucial questions unanswered: What is the topic for social movements research? What sociological theory should it follow? The possibilities of System theory exceed the specific field of social movements by far. Piotr Sztompka: Beyond structure and action: On the way to an integrative sociology of social movements, FJNSB 2/1994, pp. The author aims at a synthesis of the competing approaches of Resource Mobilization and New Social Movements. A n integrative sociology, a theory of ,Social Becoming", would be able to overcome the schism. Rational and communicative aspects should be combined. The false opposite of a theory of structures and one of actions must be dismantled. Werner Bergmann/Rainer Erb: A social movement from the right? Development and network of the extreme right in East Germany, FJNSB 2/1994, pp. The research article investigates whether there is a new social movement from the political right. The emphasis lies upon right-wing extremists in the East German Länder. The authors distinguish between micro and macro mobilization ( G E R H A R D S / R U C H T 1993) and reconstruct the emergence of a new right milieu that had its roots already in the G D R . What is 'the right movement', how elaborate is its infrastructure? The authors conclude that there really is a right movement, and that it will not be merely transitory.