275 Resümee Die Begriffsbildung in der aristotelischen traditionellen Logik ist dadurch gekennzeichnet, dass der allgemeine Begriff durch die Klassifikation von Gattungen und Arten gewonnen wird, wobei nur die Ähnlichkeit der Merkmale zwischen ‚Dingen‘ berücksichtigt wird. Durch diese Klassifikation entsteht ein reziprokes Verhältnis zwischen Inhalt und Umfang des Begriffs, das letztlich zu einem inhaltsärmeren Allgemeinbegriff, dem allgemeinen Gattungsbegriff führt, und zugleich das Besondere seine spezifische Bedeutung verlieren lässt. Der allgemeinste Begriff besitzt somit keine auszeichnende Eigentümlichkeit und Bestimmtheit und führt folglich nicht zur Bestimmung der Gegenstände. In der aristotelischen traditionellen Logik erhebt er trotz seiner Inhaltsarmut dennoch Anspruch auf die ganze Wirklichkeit, welche sich letztlich als eine Wirklichkeit der ‚Substanz‘ herausstellt. Den Substanzbegriff in der traditionellen Logik interpretiert Cassirer als ‚Dingbegriff‘, als ‚Abbild‘ der sinnlichen Gegenstände und deshalb lehnt er ihn und seinen Begriffsrealismus strikt ab. Es muss an dieser Stelle betont werden, dass Cassirers Augenmerk in seiner Kritik am ‚Substanzbegriff‘ besonders auf die ‚dingliche‘ Substanzauffassung gerichtet ist. Dem substantiellen Gattungsbegriff stellt Cassirer in SuF seinen Funktionsbegriff gegenüber, um durch ihn die gegenständliche Geltung der Erkenntnis und damit deren Objektivität gewinnen zu können. Der Funktionsbegriff oder Reihenbegriff soll die Besonderheiten der Inhalte achten und die Zusammenhänge dieser Besonderheiten als notwendig erweisen. Darüber hinaus soll er eine universelle Regel für die Verknüpfung des Besonderen bereitstellen, die dadurch gewonnen wird, dass man das Allgemeine und das Besondere unter Korrelation betrachtet. Letztlich soll sich der allgemeine Begriff als der inhaltsreichere erweisen. Der Funktionsbegriff in der Begriffstheorie in SuF gleicht dem Zuordnungs- und Gesetzesbegriff, der die naturwissenschaftliche Begriffsbildung kennzeichnet. Dabei erkennt Cassirer, dass dieser Begriff der allgemeinen Form des ,Begriffs überhaupt‘ nicht genügen kann und eine ‚kritische Revision‘ benötigt. So ist der Symbolbegriff in PsF eine erweiterte, revidierte Form des Begriffs, die sowohl für die Geisteswissenschaften als auch für die Naturwissenschaften, also für die allgemeine Begriffsform steht. Dieser Symbolbegriff wird in drei Stufen, Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion, gebildet und erreicht in der letzten Stufe seinen höchsten Grad der Objektivität. 276 Hervorzuheben ist die Rolle der Wahrnehmung bei dieser Begriffsbildung, deren Funktion Cassirer im Prozess des Erkennens von Anfang an als einen Urteilsakt interpretiert. Charakteristisch für Cassirers Begriffstheorie ist, dass es dieser Theorie nicht um den Begriff an sich, sondern um die Begriffsbildung und die ‚Begriffslogik‘ der gegenständlichen Erkenntnis geht. Die Begriffslogik bemüht sich, die Beziehung, die Korrelation zwischen Allgemeinem und Besonderem, zwischen Bewusstsein und Gegenstand offenzulegen und die Frage zu klären, wie das ‚Ich‘ die ‚Welt‘ aufnehmen, verstehen und zur Wahrheit des Wissens gelangen kann. Der an Poncelet anschließende Korrelationsgedanke Cassirers (vgl. 3.3.3, 150) tritt bei der Begriffsbildung deutlich hervor, insofern als die Korrelation zwischen ‚Begreifen‘ und ‚Beziehen‘ als die reine Form des Gedankens verstanden wird. Der Begriff soll eine bestimmte Richtung vorgeben und den ‚Gesichtspunkt‘ angeben, unter dem eine Mannigfaltigkeit von Inhalten gefasst wird. Er bedeutet für Cassirer nicht nur ein gebahnter Weg, sondern bildet auch eine Methode, ein Verfahren der ‚Bahnung selbst‘. In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, diese Hauptgedanken Cassirers herauszuarbeiten. Während der Analyse des Symbolbegriffs ist deutlich geworden, dass es sich bei diesem Begriff um einen komplexen Begriff handelt, der eigentlich unsere Tätigkeit des Geistes repräsentiert. Insgesamt unterlag die Untersuchung der Einschränkung, dass Leibnizens Einfluss auf den Symbolbegriff und die Zeichentheorie nicht im gewünschten Umfang berücksichtigt werden konnte, da dies allein ein umfangreiches Unternehmen ist, das über den eigentlichen Rahmen der Arbeit hinausgegangen wäre. Cassirer erklärt die Funktion des Symbolbegriffs mit der des Zeichens, wobei auch das Zeichen über die drei Dimensionen der Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion stufenweise Objektivität erreichen soll. Während der Untersuchung stellte sich heraus, dass die Funktion des Zeichens unerwartet nach und nach an Bedeutung gewann. Cassirers Zeichentheorie ist nicht eine, die durch sprachliche Semiotik geklärt werden kann, vielmehr basiert sie auf den wissenschaftlichen Theorien von Helmholtz und Hilbert. Es muss an dieser Stelle jedoch eingeräumt werden, dass in der vorliegenden Arbeit die Zeichentheorie nur in dem Umfang berücksichtigt wurde, wie es für die eigentliche Untersuchung notwendig war. Eine vollständige Untersuchung über Cassirers Zeichentheorie kann eine Aufgabe für die Zukunft sein, da die Forschung über selbige noch am Anfang steht. Die Wahrnehmungstheorie, deren besondere Bedeutung sich im Zuge der Untersuchung 277 der Symbolfunktion herauskristallisierte, nimmt innerhalb Cassirers Begriffstheorie einen wichtigen Platz ein. Seine Kritik an Kants ‚Wahrnehmungsurteil‘ macht seinen Standpunkt deutlich. Während Kant zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteil unterscheidet, verknüpft Cassirer die Funktion der Wahrnehmung eng mit der Symbolfunktion, worin für ihn eine grundlegende Funktion der Erkenntnis liegt. In seinen nachgelassenen Schriften wird deutlich, dass die Phänomenologie der Wahrnehmung, die er in PsF betont, mit den ‚Basisphänomenen‘ zusammenhängt. Ausgehend von Goethes Maximen erläutert Cassirer die mit Wahrnehmung zusammenhängende geistige Tätigkeit und die Denkleistung innerhalb der Wissenschaften, wobei sich die drei Stufen der Objektivität der Erkenntnis deutlich zeigen. Bild, Schema und Symbol sind die Begriffe, die für die drei Stufen der Begriffsbildung stehen und die drei symbolischen Formen, Mythos, Sprache und wissenschaftliche Erkenntnis in PsF kennzeichnen. Die gegenwärtige Forschung über Cassirer zeigt zum einen, dass diese noch lange nicht abgeschlossen ist und zum anderen, dass sich ihre Hauptrichtung dadurch auszeichnet, Cassirers Philosophie als eine Kulturphilosophie aufzufassen. Dennoch vermisst man, dass Cassirers Erkenntistheorie als Teil dieser Kulturphilosophie angesehen wird. An dieser Stelle muss nochmal betont werden, dass sein philosophischer Grundgedanke ohne Bruch von der Erkenntniskritik, dem Erbe aus der Marburger Schule, bis zur späteren Kulturphilosophie erhalten bleibt. Dies macht auch Cassirers holistische Auffassung der Wissenschaften deutlich. Demgegenüber weisen die Kritiker, die von unterschiedlichen Standpunkten aus an Cassirers Philosophie der symbolischen Formen Kritik üben, auf unterschiedliche Mängel hin (vgl. Einleitung, 6; 3.4.2, 176 f; 3.5.2.2; 3.6 ). Wie Bermes bereits anmerkt, werfen die Kritiker Cassirer auch vor, dass „die Auswahl der empirischen Beispiele willkürlich ist, die Argumentationsebenen nicht klar getrennt werden, das Verhältnis von Logik und Sprache nicht genau besprochen wird und Cassirer in die Nähe psychologistischer Auffassungen gerät“.634 Wie in der Kritik an der symbolischen Prägnanz (3.5.2.2) und am Symbolbegriff (3.6) gezeigt wurde, basierten manchmal aber kritische Bemerkungen auf Missverständnissen. Der Betrachtungsweise der meisten Kritiker ist gemeinsam, dass sie von ihren festen Standpunkten aus, ohne dabei andere Aspekte zu berücksichtigen, an 634 Bermes (1997), S. 169. Bermes verweist auf Orth (1985), S. 173; Göller (1986) S. 125 f.; Graeser (1994), S. 135; Wolandt (1964), S. 626; Strauss (1984), S. 30. Michael Strauss weist zudem darauf hin, dass bei Cassirer die „Art der Identität zwischen Ausdruck und Ausgedrücktem [...] nicht genügend geklärt“ ist und die „Dichotomie Rezeptivität–Spontaneität [...] nicht überwunden“ wird. Darüber hinaus führt er an, dass dieser nicht gezeigt habe, „wie der Ausdruck eine Verbindung zwischen Symbol und Symbolisiertem und zwischen Zeichen und Bezeichnetem herstellen kann“. 278 Cassirers Philosophie der symbolischen Formen Kritik üben. Auch die Kritik am Funktionsbegriff (2.3) zeigt, dass dies der Fall ist. Man möchte mit Cassirers Worten anmerken, dass das „‚Verstehen von Ausdruck‘ [...] wesentlich früher als das ‚Wissen von Dingen‘“ ist (PsF III, 74). Volker Gerhardt hebt am Schluss seines Aufsatzes Die Einheit des Wissens Cassirers holistische Auffassung hervor. Cassirer hatte es nicht nötig, wie Gerhardt betont, „gegen den Geist zu polemisieren, um dennoch den Begriff der Kulturwissenschaften zu favorisieren“.635 Man kann nach Gerhardt die Kulturwissenschaften bei Cassirer, wie in Essay on Man gezeigt, als Humanwissenschaften bezeichnen. Die Studien Cassirers zur Relativitätstheorie, zum Erkenntnisproblem innerhalb der Wissenschaften sowie seine Untersuchungen in Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik haben deutlich gamacht, „dass Wissenschaft letztlich darauf beruht, keine festen Grenzen zu akzeptieren“.636 Bei Cassirers Theorie des Begriffs geht es im Grunde genommen um die Erweiterung des Wissens durch die Funktion der Begriffe, die gemäß den Stufen der Objektivierung gebildet werden und somit um die kontinuierliche Entwicklung der Wissenschaften. Mit der Hervorhebung der ‚Aktivität‘ oder ‚Tätigkeit‘ des Geistes, indem seine Gedanken oft auf Platons Ideenlehre zurückgreifen, will Cassirer eine Phänomenologie der Erkenntnis, die auf ‚Basisphänomene‘ basiert, aufstellen. 635 Gerhardt (2007), S. 14. 636 Gerhardt (2007), S. 14.