Funktionsbegriff und Symbolbegriff : Ernst Cassirers

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Resümee
Die Begriffsbildung in der aristotelischen traditionellen Logik ist dadurch gekennzeichnet,
dass der allgemeine Begriff durch die Klassifikation von Gattungen und Arten gewonnen
wird, wobei nur die Ähnlichkeit der Merkmale zwischen ‚Dingen‘ berücksichtigt wird.
Durch diese Klassifikation entsteht ein reziprokes Verhältnis zwischen Inhalt und Umfang
des Begriffs, das letztlich zu einem inhaltsärmeren Allgemeinbegriff, dem allgemeinen
Gattungsbegriff führt, und zugleich das Besondere seine spezifische Bedeutung verlieren
lässt. Der allgemeinste Begriff besitzt somit keine auszeichnende Eigentümlichkeit und
Bestimmtheit und führt folglich nicht zur Bestimmung der Gegenstände. In der
aristotelischen traditionellen Logik erhebt er trotz seiner Inhaltsarmut dennoch Anspruch
auf die ganze Wirklichkeit, welche sich letztlich als eine Wirklichkeit der ‚Substanz‘
herausstellt. Den Substanzbegriff in der traditionellen Logik interpretiert Cassirer als
‚Dingbegriff‘, als ‚Abbild‘ der sinnlichen Gegenstände und deshalb lehnt er ihn und seinen
Begriffsrealismus strikt ab. Es muss an dieser Stelle betont werden, dass Cassirers
Augenmerk in seiner Kritik am ‚Substanzbegriff‘ besonders auf die ‚dingliche‘
Substanzauffassung gerichtet ist.
Dem substantiellen Gattungsbegriff stellt Cassirer in SuF seinen Funktionsbegriff
gegenüber, um durch ihn die gegenständliche Geltung der Erkenntnis und damit deren
Objektivität gewinnen zu können. Der Funktionsbegriff oder Reihenbegriff soll die
Besonderheiten der Inhalte achten und die Zusammenhänge dieser Besonderheiten als
notwendig erweisen. Darüber hinaus soll er eine universelle Regel für die Verknüpfung des
Besonderen bereitstellen, die dadurch gewonnen wird, dass man das Allgemeine und das
Besondere unter Korrelation betrachtet. Letztlich soll sich der allgemeine Begriff als der
inhaltsreichere erweisen.
Der Funktionsbegriff in der Begriffstheorie in SuF gleicht dem Zuordnungs- und
Gesetzesbegriff, der die naturwissenschaftliche Begriffsbildung kennzeichnet. Dabei
erkennt Cassirer, dass dieser Begriff der allgemeinen Form des ,Begriffs überhaupt‘ nicht
genügen kann und eine ‚kritische Revision‘ benötigt. So ist der Symbolbegriff in PsF eine
erweiterte, revidierte Form des Begriffs, die sowohl für die Geisteswissenschaften als auch
für die Naturwissenschaften, also für die allgemeine Begriffsform steht. Dieser
Symbolbegriff wird in drei Stufen, Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion,
gebildet und erreicht in der letzten Stufe seinen höchsten Grad der Objektivität.
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Hervorzuheben ist die Rolle der Wahrnehmung bei dieser Begriffsbildung, deren Funktion
Cassirer im Prozess des Erkennens von Anfang an als einen Urteilsakt interpretiert.
Charakteristisch für Cassirers Begriffstheorie ist, dass es dieser Theorie nicht um den
Begriff an sich, sondern um die Begriffsbildung und die ‚Begriffslogik‘ der
gegenständlichen Erkenntnis geht. Die Begriffslogik bemüht sich, die Beziehung, die
Korrelation zwischen Allgemeinem und Besonderem, zwischen Bewusstsein und
Gegenstand offenzulegen und die Frage zu klären, wie das ‚Ich‘ die ‚Welt‘ aufnehmen,
verstehen und zur Wahrheit des Wissens gelangen kann.
Der an Poncelet anschließende Korrelationsgedanke Cassirers (vgl. 3.3.3, 150) tritt bei der
Begriffsbildung deutlich hervor, insofern als die Korrelation zwischen ‚Begreifen‘ und
‚Beziehen‘ als die reine Form des Gedankens verstanden wird. Der Begriff soll eine
bestimmte Richtung vorgeben und den ‚Gesichtspunkt‘ angeben, unter dem eine
Mannigfaltigkeit von Inhalten gefasst wird. Er bedeutet für Cassirer nicht nur ein gebahnter
Weg, sondern bildet auch eine Methode, ein Verfahren der ‚Bahnung selbst‘.
In
der
vorliegenden
Arbeit
wurde
versucht,
diese
Hauptgedanken
Cassirers
herauszuarbeiten. Während der Analyse des Symbolbegriffs ist deutlich geworden, dass es
sich bei diesem Begriff um einen komplexen Begriff handelt, der eigentlich unsere
Tätigkeit
des
Geistes
repräsentiert.
Insgesamt
unterlag
die
Untersuchung
der
Einschränkung, dass Leibnizens Einfluss auf den Symbolbegriff und die Zeichentheorie
nicht im gewünschten Umfang berücksichtigt werden konnte, da dies allein ein
umfangreiches Unternehmen ist, das über den eigentlichen Rahmen der Arbeit
hinausgegangen wäre.
Cassirer erklärt die Funktion des Symbolbegriffs mit der des Zeichens, wobei auch das
Zeichen über die drei Dimensionen der Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion
stufenweise Objektivität erreichen soll. Während der Untersuchung stellte sich heraus, dass
die Funktion des Zeichens unerwartet nach und nach an Bedeutung gewann. Cassirers
Zeichentheorie ist nicht eine, die durch sprachliche Semiotik geklärt werden kann,
vielmehr basiert sie auf den wissenschaftlichen Theorien von Helmholtz und Hilbert. Es
muss an dieser Stelle jedoch eingeräumt werden, dass in der vorliegenden Arbeit die
Zeichentheorie nur in dem Umfang berücksichtigt wurde, wie es für die eigentliche
Untersuchung
notwendig
war.
Eine
vollständige
Untersuchung
über
Cassirers
Zeichentheorie kann eine Aufgabe für die Zukunft sein, da die Forschung über selbige noch
am Anfang steht.
Die Wahrnehmungstheorie, deren besondere Bedeutung sich im Zuge der Untersuchung
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der Symbolfunktion herauskristallisierte, nimmt innerhalb Cassirers Begriffstheorie einen
wichtigen Platz ein. Seine Kritik an Kants ‚Wahrnehmungsurteil‘ macht seinen Standpunkt
deutlich. Während Kant zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteil unterscheidet,
verknüpft Cassirer die Funktion der Wahrnehmung eng mit der Symbolfunktion, worin für
ihn eine grundlegende Funktion der Erkenntnis liegt. In seinen nachgelassenen Schriften
wird deutlich, dass die Phänomenologie der Wahrnehmung, die er in PsF betont, mit den
‚Basisphänomenen‘ zusammenhängt. Ausgehend von Goethes Maximen erläutert Cassirer
die mit Wahrnehmung zusammenhängende geistige Tätigkeit und die Denkleistung
innerhalb der Wissenschaften, wobei sich die drei Stufen der Objektivität der Erkenntnis
deutlich zeigen. Bild, Schema und Symbol sind die Begriffe, die für die drei Stufen der
Begriffsbildung stehen und die drei symbolischen Formen, Mythos, Sprache und
wissenschaftliche Erkenntnis in PsF kennzeichnen.
Die gegenwärtige Forschung über Cassirer zeigt zum einen, dass diese noch lange nicht
abgeschlossen ist und zum anderen, dass sich ihre Hauptrichtung dadurch auszeichnet,
Cassirers Philosophie als eine Kulturphilosophie aufzufassen. Dennoch vermisst man, dass
Cassirers Erkenntistheorie als Teil dieser Kulturphilosophie angesehen wird. An dieser
Stelle muss nochmal betont werden, dass sein philosophischer Grundgedanke ohne Bruch
von der Erkenntniskritik, dem Erbe aus der Marburger Schule, bis zur späteren
Kulturphilosophie erhalten bleibt. Dies macht auch Cassirers holistische Auffassung der
Wissenschaften deutlich.
Demgegenüber weisen die Kritiker, die von unterschiedlichen Standpunkten aus an
Cassirers Philosophie der symbolischen Formen Kritik üben, auf unterschiedliche Mängel
hin (vgl. Einleitung, 6; 3.4.2, 176 f; 3.5.2.2; 3.6 ). Wie Bermes bereits anmerkt, werfen die
Kritiker Cassirer auch vor, dass „die Auswahl der empirischen Beispiele willkürlich ist, die
Argumentationsebenen nicht klar getrennt werden, das Verhältnis von Logik und Sprache
nicht genau besprochen wird und Cassirer in die Nähe psychologistischer Auffassungen
gerät“.634 Wie in der Kritik an der symbolischen Prägnanz (3.5.2.2) und am Symbolbegriff
(3.6)
gezeigt
wurde,
basierten
manchmal
aber
kritische
Bemerkungen
auf
Missverständnissen. Der Betrachtungsweise der meisten Kritiker ist gemeinsam, dass sie
von ihren festen Standpunkten aus, ohne dabei andere Aspekte zu berücksichtigen, an
634 Bermes (1997), S. 169. Bermes verweist auf Orth (1985), S. 173; Göller (1986) S. 125 f.; Graeser
(1994), S. 135; Wolandt (1964), S. 626; Strauss (1984), S. 30. Michael Strauss weist zudem darauf hin,
dass bei Cassirer die „Art der Identität zwischen Ausdruck und Ausgedrücktem [...] nicht genügend
geklärt“ ist und die „Dichotomie Rezeptivität–Spontaneität [...] nicht überwunden“ wird. Darüber hinaus
führt er an, dass dieser nicht gezeigt habe, „wie der Ausdruck eine Verbindung zwischen Symbol und
Symbolisiertem und zwischen Zeichen und Bezeichnetem herstellen kann“.
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Cassirers Philosophie der symbolischen Formen Kritik üben. Auch die Kritik am
Funktionsbegriff (2.3) zeigt, dass dies der Fall ist. Man möchte mit Cassirers Worten
anmerken, dass das „‚Verstehen von Ausdruck‘ [...] wesentlich früher als das ‚Wissen von
Dingen‘“ ist (PsF III, 74).
Volker Gerhardt hebt am Schluss seines Aufsatzes Die Einheit des Wissens Cassirers
holistische Auffassung hervor. Cassirer hatte es nicht nötig, wie Gerhardt betont, „gegen
den Geist zu polemisieren, um dennoch den Begriff der Kulturwissenschaften zu
favorisieren“.635 Man kann nach Gerhardt die Kulturwissenschaften bei Cassirer, wie in
Essay on Man gezeigt, als Humanwissenschaften bezeichnen. Die Studien Cassirers zur
Relativitätstheorie, zum Erkenntnisproblem innerhalb der Wissenschaften sowie seine
Untersuchungen in Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik haben
deutlich gamacht, „dass Wissenschaft letztlich darauf beruht, keine festen Grenzen zu
akzeptieren“.636
Bei Cassirers Theorie des Begriffs geht es im Grunde genommen um die Erweiterung des
Wissens durch die Funktion der Begriffe, die gemäß den Stufen der Objektivierung
gebildet werden und somit um die kontinuierliche Entwicklung der Wissenschaften. Mit
der Hervorhebung der ‚Aktivität‘ oder ‚Tätigkeit‘ des Geistes, indem seine Gedanken oft
auf Platons Ideenlehre zurückgreifen, will Cassirer eine Phänomenologie der Erkenntnis,
die auf ‚Basisphänomene‘ basiert, aufstellen.
635 Gerhardt (2007), S. 14.
636 Gerhardt (2007), S. 14.
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