Originalarbeit Eisenmangel ohne Anämie Nur bei 114 Personen – also 14 Prozent von 873 Eisenmangel-Patienten – konnte im Rahmen einer multizentrischen deskriptiven Arzneimittel-Anwendungsbeobachtung eine Anämie nachgewiesen werden. Ebenso zeigte sich, dass 68 Prozent der depressiven Menschen, die gleichzeitig einen Eisenmangel aufweisen, von einer individuell korrekt dosierten Eisenbehandlung profitieren. Von Beat Schaub et al.* B esonders Frauen im Menstruati­ onsalter leiden oft unter Symp­ tomen, welche die Autoren erst­ mals 2006 als Eisenmangelsyndrom IDS (Iron Deficiency Syndrome) be­ schrieben haben. Die ersten Symptome treten oft schon bei Ferritin-Werten unter 50 ng/ml auf. In dieser Studie wurde untersucht, wie sich eine rasche individuell dosierte Aufsättigung mit Eiseninfusionen - mit einem FerritinZielwert von 200 ng/ml – auf die bei tiefen Ferritinwerten vorliegenden Symptome auswirkt. Zusätzlich zu den 2006 untersuchten Fragestellungen wurden für diese Studie die Symptome mit Alters- und Ferritingruppen korre­ liert sowie die Problematik der Anämie untersucht. Es zeigt sich, dass das Eisenmangel­ syndrom IDS ein weit verbreitetes und gut behandelbares Problem darstellt. Anhand der Daten drängt es sich sogar auf, nicht nur das IDS zu definieren, sondern auch beispielsweise die Eisen­ mangel-Depression, das EisenmangelADHS oder die Eisenmangel-Insom­ nie. Methodik © SPL, picturedesk.com Die Datenerhebung erfolgte in 20 ärztlichen Eisenzentren (19 in der Schweiz und eines in Berlin). Die The­ rapieverläufe wurden im Rahmen einer prospektiven deskriptiven Arzneimit­ tel-Anwendungsbeobachtung zwischen März 2006 und November 2007 in ei­ ner Internet-Datenbank dokumentiert. Die in die Kohorte aufgenommenen Patienten waren v.a. Frauen im Mens­ truationsalter und Kinder, die über Erschöpfungszustände und Konzen­ trationsstörungen, depressive Verstim­ mungen, Schlafstörungen und Kopf­ schmerzen berichteten. 46 Zwecks Indikationsstellung für das IDS wurden die Beschwerden anhand eines Fragebogens erfasst und die rele­ vanten Laborwerte (CRP, Hb, Ferritin, LTR, TF) bestimmt. Lag bei den ge­ nannten Symptomen gleichzeitig ein › österreichische ärztezeitung ‹ 7 › 10. April 2008 medizin Häufigkeit der Symptome* Symptome (n = 873 Patienten) Häufigkeit bei < 15 Eisenmangelpatiente n = 873 n = 27 Erschöpfungszustände 84 % (n = 732) 63 % Konzentrationsstörungen 57 % (n = 495) 63 % Depressive Verstimmungen 49 % (n = 425) 6 % Nackenverspannungen 49 % (n = 430) 6 % Kopfschmerzen 49 % (n = 429) 30 % Schwindel 45 % (n = 390) 12 % Schlafstörungen 42 % (n = 364) 33 % * in Prozent; korreliert mit Altersgruppen Eisenmangel vor und konnten andere potentielle Ursachen sowie Kontraindi­ kationen ausgeschlossen werden, wurde umgehend eine Behandlung mit Eisen­ infusionen durchgeführt. Die Menge an Eisen, die für eine optimale Aufsät­ tigung in jedem einzelnen Fall nötig ist, wurde anhand eines im health-banking 15-20 21-30 31-40 41-50 n = 103 77 % 57 % 34 % 27 % 38 % 34 % 37 % n = 176 88 % 57 % 48 % 50 % 53 % 49 % 40 % n = 240 88 % 58 % 54 % 52 % 50 % 46 % 39 % n = 327 87 % 59 % 54 % 55 % 51 % 43 % 47 % Tab. 1 implementierten Computerprogramms ermittelt. Anschließend erhielten die Patienten zweimal wöchentlich 200 mg Eisen per infusionem über den indivi­ duell berechneten Zeitraum. Nach der Aufsättigung sowie nach weiteren drei Monaten erfolgte ein Fol­ low-up der behandelten Patienten. Es wurden erneut die Symptome und La­ borwerte erfasst. Auf der Basis der nach drei Monaten ermittelten Ferritinwerte und unter Berücksichtigung der aktu­ ellen Symptomatik wurde anschließend die Folgetherapie festgelegt: Auch im Hinblick auf eine wirksame : Originalarbeit Erfolgsquoten nach der Aufsättigung und drei Monate später : Rezidiv­Prophylaxe kann die dafür individuell notwendige Menge an Ei­ sen mit dem Computerprogramm im health­Banking berechnet werden. Um den Therapieerfolg zu doku­ mentieren, wurden sowohl Symptome als auch die Labordaten vor und nach Aufsättigung sowie drei Monate da­ nach erfasst und in eine Internet­Da­ tenbank eingegeben. Die Daten nach der Aufsättigung mit Eiseninfusionen wurden mit denen vor Therapiebeginn verglichen. Resultate Insgesamt wurden 873 Patienten in diese prospektive Anwendungsbeobach­ tung eingeschlossen beziehungsweise mit Eiseninfusionen behandelt. Von al­ len 873 Patienten wurden die relevanten Daten vor und nach Aufsättigung doku­ mentiert. Bei 583 Patienten erfolgte ein Follow­up nach weiteren drei Monaten. 92 Prozent der Patienten der Kohorte waren Frauen und acht Prozent Männer mit einem Durchschnittsalter von 39 beziehungsweise 31 Jahren. 27 Patienten (drei Prozent) waren jünger als 15 Jah­ re (zwölf Mädchen und 15 Knaben mit einem Durchschnittsalter von zwölf be­ ziehungsweise elf Jahren). Die häufigsten Symptome, über die vor der Aufsättigung berichtet wurde, sind Erschöpfungs­ zustände (84 Prozent), Konzentrati­ onsstörungen (57 Prozent) gefolgt von depressiver Verstimmung, Nackenver­ spannungen und Kopfschmerzen mit je 49 Prozent, sowie Schwindel (45 Pro­ zent) und Schlafstörungen (42 Prozent; siehe Tab. 1). Konzentrationsstörungen und Erschöpfungszustände sind mit 63 Prozent die im Kindesalter am häu­ figsten genannten Beschwerden gefolgt von Schlafstörungen (33 Prozent) und Kopfschmerzen (30 Prozent) – Symp­ tome, die ein ADS charakterisieren. Diese Darstellung zeigt die Nachhaltigkeit der Behandlung: Der Therapieerfolg hat nach drei Monaten kaum abgenommen. Der Anteil derjenigen Patienten, die symptomfrei sind oder eine deutliche Besserung der Symptome erfahren haben, ist beinahe gleich geblieben. Diagramm 1 Korrelation Patientenzahlen zu Ferritingruppen Von den 873 Patienten haben 88 Prozent einen Ferritinwert unter 50 ng/ml und von diesen 52 Prozent einen Ferritinwert unter 25 ng/ml. Diagramm 2 Häufigkeit der Symptome (%)* Nebenwirkungen Von den 873 behandelten Patienten registrierten 38 Personen (4,4 Prozent) vorübergehende leichte unerwünschte 48 Aus diesem Diagramm ist ersichtlich, dass die Symptomhäufigkeit vom Ferritinwert kaum beeinflusst wird. Diagramm 3 * korreliert mit Ferritingruppen › österreichische ärztezeitung ‹ 7 › 10. April 2008 medizin Aufsättigung mit Eiseninfusionen Dieses Diagramm zeigt die Veränderung der Laborwerte durch die Behandlung: Der Ferritinwert lag vor der intravenösen Aufsättigung im Durchschnitt bei 31 ng/ml, danach bei 194 ng/ml (Zielwert des Internet-Calculators: 200). Der Hämoglobinwert stieg während dieser Zeit von 130 g/l auf 131 g/l an. Diagramm 4 Arzneimittelnebenwirkungen: am häu­ figsten Müdigkeit, Magen­Darm­Pro­ bleme, Hautausschlag, Gelenkschmerzen und Schwindel. Es traten keine anaphy­ laktischen Reaktionen auf. Nur 114 Personen (14 Prozent) von 873 wiesen eine Anämie auf (Hb < 12.0 g/dl), die in 73 Prozent nach Eisenin­ fusionen erfolgreich behandelt werden konnte. Die höchste Erfolgsquote zeigte sich bei den unter 15­Jährigen. 79 (69 Prozent) der 114 Anämiepatienten wiesen einen Ferritinwert < 25 auf, die restlichen 35 (31 Prozent) einen Ferri­ tinwerten zwischen 25 und 50. Bei 86 Prozent der Patienten lag keine Anämie vor, obwohl der Ferritinwert bei etwa der Hälfte (n= 397) unter 25 ng/ml lag (siehe Diagramm 9). Auffallend ist die Tatsache, dass bei einem Ferritinge­ halt unter 25 ng/ml das Hämoglobin im Durchschnitt zwar in der unteren Norm, aber immer noch im bisher definierten Referenzbereich liegt – ein Hinweis darauf, dass der offizielle un­ tere Normwert in der Regel genügt, um eine Anämie zu verhindern. Diskussion Wie diese multizentrische Anwen­ dungsbeobachtung zeigt, lag bei fast al­ len Betroffenen, auch bei Kindern, die sich mit den genannten Symptomen gemeldet haben, der Ferritinwert : Originalarbeit Entgegen dem bis­ herigen Vorurteil wur­ den diese Personen – basierend auf den Er­ kenntnissen von 2006 und bestätigt durch die Ergebnisse dieser multizentrischen Erhebung – als Patienten mit einem Eisenmangel diagnostiziert und ihrem individuellen Bedarf entsprechend ge­ zielt mit Eiseninfusionen behandelt. Die insgesamt hohe Erfolgsquote durch eine Aufsättigung mit Eisen spricht da­ für, dass Ferritinwerte unter 75 ng/ml zu Symptomen führen können – auch ohne Vorliegen einer Anämie. Weiters zeigte sich, dass niedrige Ferritin-Werte schon im Kindesalter Beschwerden hervorrufen können, de­ ren Häufigkeit bis zum 20. Altersjahr zunimmt und dann in etwa konstant bleibt. Diese Beobachtungen legen nahe, dass man Symptome, die of­ fenbar auf niedrigen Ferritin-Werten basieren, frühzeitig behandeln sollte. Die häufigsten Eisenmangelsymp­ tome, die im Kindesalter auftreten, sind Erschöpfungszustände, Konzen­ trations- und Schlafstörungen sowie Kopfschmerzen. Ein Ferrtin-Wert unter 25 und bis zu 75 ng/ml zwar kaum Einfluss auf die Art und Häufigkeit der Symptoment­ wicklung, allerdings sehr wohl auf den Behandlungserfolg. Bei Ferritin-Werten zwischen 50 und 75 ng/ml ist der The­ 50 © SPL, picturedesk.com : unter 50 ng/ml (bei fast der Hälfte davon über 25 ng/ml) – in einem Bereich also, der von den meisten Labors als normal de­ finiert wird, weshalb nach der bisher vor­ herrschenden Lehr­ meinung eine Eisen­ behandlung überhaupt nicht indiziert ist. rapieerfolg konstant geringer (durchschnitt­ lich 51 Prozent) als bei niedrigeren FerritinWerten (61 Prozent). Vermutlich werden die vorhandenen Symp­ tome bei höheren Ferritin-Werten durch andere Ursachen (mit) bedingt werden und ein Ferritin-Wert von 75 ng/ml weist in Rich­ tung Optimalbereich. Die Tatsache, dass nur 14 Prozent der 873 Eisenmangel-Patienten als anämisch identifi­ ziert wurden, beweist, dass die Diagno­ se Eisenmangelsyndrom IDS nicht von einer Anämie abhängt. Dies ist nur bei der Eisenmangelanämie der Fall. Auch bei einem Ferritin-Wert von 25 ng/ml liegt der Durchschnittswert von Hämoglobin bei 86 Prozent der Patienten im normalen Bereich, ob­ wohl viele unter Beschwerden leiden – auch ohne Anämie. Schlussfolgerung 1) Diese Studie belegt, dass es das Ei senmangelsyndrom IDS gibt und dass dieses Syndrom erfolgreich behandelt werden kann, und zwar je früher desto besser. Bei zuneh menden Beschwerden und stei gendem Leidensdruck werden heu te mangels Kenntnis des IDS zahl reiche unnötige Abklärungen und Therapien durchgeführt – in der Regel ohne Erfolg, da die Ursache nicht behandelt wird. Nicht zu unterschätzen sind die dadurch ent stehenden gesundheitsökonomi schen Probleme. 2) Auch wenn das Patientengut der Kinder gering war, kann man bei nahe mit Sicherheit darauf schlie- ßen, dass Kinder mit leerem Eisenspeicher Symptome des klassischen Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms ADHS aufweisen. Somit stellt sich die Frage, ob diese Kinder nicht zuerst mit Eisen behandelt werden sollten und andere Therapiemaßnahmen nur im Fall eines Versagens notwendig werden. 3) Eine optimale Behandlung hängt individuell von der Dosis ab und kann nur anhand eines speziell da für entwickelten Computerpro gramms durchgeführt werden. Das für eine optimale Diagnostik, Be handlung und Rezidivprophylaxe entwickelte Internet-gestützte Kon zept AIM (Advanced IDS Manage ment) hat sich bewährt. Es erlaubt nicht nur die Durchführung einer individuell optimalen Aufsättigung, sondern ein Qualitätsmanagement, welches es ermöglicht, das AIM kontinuierlich zu optimieren. 4) Der bisher anerkannte und offiziell gelehrte untere Normwert für Fer ritin genügt in den meisten Fällen, um eine Anämie zu verhindern. Subjektive Befindlichkeitsstörungen wie depressive Verstimmungen, Konzentrationsstörungen, Schlaf störungen etc. können aber schon bei höheren Ferritinwerten auftre ten. Angesichts der Tatsache, dass nicht nur eine Anämie verhindert werden soll, sondern die Patienten auch ein Recht auf eine Heilung der anderen durch Eisenmangel ver ursachten Symptome haben, schla gen die Autoren vor, den unteren Normwert für Ferritin auf mindes tens 50 ng/ml anzuheben. 5) Schließlich muss erwähnt werden, dass die vorliegenden Daten präli minären (vorläufigen) Charakter aufweisen. Das heißt: Es handelt sich um deskriptive Daten aufgrund von Praxiserfahrungen im Alltag. › österreichische ärztezeitung ‹ 7 › 10. April 2008 medizin Damit die Resultate wissenschaftlich anerkannt werden, sind Folgestudien notwendig, welche die Richtigkeit unserer Beobachtungen beweisen (randomisierte, doppelblind placebokontrollierte Studien, wie sie aktuell an den Universitäten Zürich und Basel durchgeführt werden). 6) Einer Meta-Analyse der US-ameri kanischen FDA (Food and Drug Administration) vom Februar 2008 zufolge sind SSRIs bei milden For men von Depressionen kaum wirk sam. Demgegenüber zeigt un sere Anwendungsbeobachtung, dass 68 Prozent der depressiven Men schen, die gleichzeitig einen Eisen- mangel aufweisen, von einer individuell korrekt dosierten Eisenbehandlung profitieren. Dabei handelt es sich nicht um eine künstliche pharmakologische Maßnahme, sondern um einen natürlichen Vorgang. Durch eine wirksame Zufuhr des fehlenden Eisens werden Stoffwechselfunktionen wieder aktiviert die bisher „auf Sparflamme“ gelaufen sind. Da etwa 50 Prozent der depressiven Menschen leere Eisenspeicher aufweisen und deshalb zuwenig Glückshormone bilden, drängt es sich auf, zunächst den Ferritinwert zu messen und anschließend – bei leerem Eisenspeicher – in erster Linie Eisen zu geben. Obwohl bei Eisenmangel eine De­ pression von innen kommt, sprechen die Autoren in solchen Fällen nicht mehr von einer „endogenen“ Depression, son­ dern von einer Eisenmangel-Depression IDD (Iron Deficiency Depression). 9 Literatur bei den Verfassern Dr. Beat Schaub, Facharzt für Innere Medizin, 4102 Binningen/Schweiz; E-Mail: [email protected]; Co-Autoren: Dr. Peter Duner, Dr. Alois Gut, Dr. Teddy Kaufmann, Dr. Othmar Kehl, Dr. Heribert Möllinger, Dr. Harry Rauscher, Dr. Richard Rordorf, Dr. Karl-Dieter Schuldt, Dr. Guido Suter, Dr. Frédéric von Orelli, Dr. Peter Wagner