CHRISTLICHE JUGEND IM NAHEN OSTEN

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Umbrüche im Nahen Osten
Protokoll des Verlaufs der 20. ICO-Tagung vom 25./26. September 2017
(überarbeitete Fassung der Mitschrift – ohne Gewähr auf Vollständigkeit und Richtigkeit)
25. September 2017
10.10 Uhr Slawomir Dadas begrüßt Prof. Hollerweger, der bei der Vorbereitung der Tagung mitgewirkt hat und später eintrifft, Hans-Walter Vavrowsky, der als Bildungshausrektor über viele
Jahre hinweg die Tagung als Hausherr immer mit Interesse begleitet hat, Erzbischof Alois Kothgasser, Bischof Manfred Scheuer, Erzabt Korbinian Birnbacher u.a., die später dazustoßen, sowie
die anwesenden Referenten: Dr. Markus Ladstätter, Dr. Tessa Hofmann, Dalia Al-Frihat, Stefan
Maier. Er weist auf die Besuchsreisen hin (in den Irak zu Patriarch Raphael Louis Sako, die Jordanien-Reise mit Matthias Disch), auf die Neuerscheinung des Hollerweger-Buches über die
Kreuze im Orient, auf das neue Layout der ICO-Zeitung und die Projekte in der Ninive-Ebene.
Dank an die Geschäftsführerin Romana Kugler und den ICO-Vorstand, Dank an alle für die Unterstützung von ICO.
10.20 Uhr Einführung zum Stichwort „Aufbruch – Umbrüche“ von Bischof Manfred Scheuer: Hat
Flüchtlingslager in der Niniveh-Ebene besucht, auch zwei zerstörte Städte. Hat Bilder des „Zerbrechens“ und der „Zerstörung“ im Kopf. Umbruch ist mit Veränderung der politischen Landschaft verbunden. Er hat mit dem Innen- und Außenminister des kurdischen Autonomiegebiets
gesprochen. Beim Stichwort „Aufbruch“ denkt er an den Aufbruch Abrahams aus Ur in Chaldäa:
Abraham wird einiges zugemutet, er hofft wider alle Hoffnung. Im Irak konnte Bischof Scheuer
erleben, dass im Zerbrechen Hoffnung aufkeimte. Die Aufforderung aus dem Hebräerbrief „Vergesst die Gastfreundschaft nicht!“ verweist auf die Gastfreundschaft Abrahams: Er hat Gott
selbst in sein Zelt aufgenommen. Wir leben als Fremde und sind Gäste in dieser Welt. Wer sich
als Fremder weiß, übt auch leichter Gastfreundschaft: „Wir haben Gastfreundschaft erlebt in der
Ninive-Ebene bei einem Fest der Hoffnung.“ Bei den einen ist das Zerbrechen der Nährboden
der Gewalt, bei anderen der Auftakt zur Hoffnung. Österreich-Dorf Baqoufa 25 km nördlich von
Mossul soll wiederaufgebaut werden, wobei ICO neben anderen Organisationen hilft. Die Politik
(Landeshauptleute, Bundesregierung) ist informiert und in das Projekt des Wiederaufbaus einbezogen.
10.45 Uhr Dr. Tessa Hofmann, vorgestellt und moderiert von Winkler: Vortrag zum Thema „Die
christlichen Kirchen, religiöse Minderheiten und türkische Religionspolitik“. Zunächst zur Problematik der Mindernheiten-Definition. Verfassungsartikel in der Türkei setzt voraus, dass die
Muttersprache aller Einwohner der Türkei türkisch ist. Einen Status als religiöse Minderheiten
haben in Anschluss an die osmanische Praxis nur Armenier, Griechisch-Orthodoxe und Juden.
Widerspruch zum völkerrechtlichen Minderheitenschutz! Sechs Grundprinzipien des Kemalismus: Nationalismus, Laizismus, Etatismus, Populismus, Republikanismus, Reformismus. Sonderstatus des Militärs, das wiederholt in das politische Geschehen eingriff (erst der vierte Putsch
von 2016 schlug fehl).
Artikel 24 über die Garantie der Gewissens- und Religionsfreiheit sowie der staatlichen Aufsicht
über die Religionserziehung. Religion ist Privatsache, d.h. es dürfen in der Öffentlichkeit keine
religiösen Zeichen getragen werden. Aber es ist eine Tatsache, dass Nationalität und islamisches
Glaubensbekenntnis identisch sind. 1928 wurde die Religionsausübung völlig unter staatliche
Kontrolle gestellt. Umfassende Kompetenz der staatlichen Religionsbehörde. Seit Einführung des
Mehrparteiensystems 1946 gingen islamistische Prinzipien in die Parteiprogramme ein. AKP:
Entwicklung zum nationalistischen, zentralistischen, islamistischen Einheitsstaat unter Erdoğan.
Beispiellose Säuberungsaktion nach dem Putsch von 2016.
Aleviten: Nach dem Militärputsch von 1980 fielen viele Aleviten den Übergriffen zum Opfer.
Juden: 96 % sind sefardische Juden. In der Selbstwahrnehmung der Türken sind Juden „loyale
Gäste“ aber keine gleichberechtigten Einwohner. Starker Rückgang von 100.000 auf heute ca.
15.000. Pogrom 1984: 10.000 Edirne-Juden verließen das Land. Antijüdische Rhetorik von
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Erdoğan. Auch nach dem Putschversuch von 2016 verstärkte Emigration. Spanien und Portugal
haben nach 500 Jahren die Rückwanderung der sefardischen Juden erlaubt. 2.500 sind seither in
die Iberische Halbinsel emigriert.
Christen: 0,2 % der Einwohner, ca. 60.000 Armenier in Istanbul, weitere 10.000 in der übrigen
Türkei. Katholiken (einschließlich der Unierten) ca. 30.000. Griechisch-Orthodoxe weniger als
5.000 in Istanbul.
Arbeitsmigration: 80.000 armenische, 200.000 georgische Arbeitsmigranten, in lezter Zeit verstärkt griechische Staatsangehörige. Muslimische Kryptoarmenier (Hemşinliler), von Türken als
„Überbleibsel des Schwertes“ bezeichnet. Griechische Zuwanderer am Pontus und aus Kreta.
Vor dem türkischen Gesetz existieren Minderheiten nicht als eigene Körperschaft. Seit 1976 dürfen christliche Kirchen im Land keinen Priester ausbilden.
Die Nicht-Muslime waren am Beginn des 19. Jh.s mit 68 % noch die Mehrheit. Gegen Ende des
19. Jh.s Gleichstand. Beim ersten Zensus 1927 war der Anteil der Nicht-Muslime nur mehr 2 %.
Zwei dauerhafte Problemfelder: Keine offizielle Aufarbeitung des Völkermords durch die Kemalisten bis heute. Türkische Schulbücher schwiegen sich über Jahrzehnte vollständig aus. Dann
verfälschende Darstellungen. Vorwürfe des Verrats der Christen. Christentum erscheint als „europäisches“ bzw. „archäologisches“ Phänomen. Ein weiteres Problemfeld der Denkmalschutz
und die Denkmalzerstörung (nicht näher ausgeführt).
Fazit: Ein Paradigmenwechsel der türkischen Minderheitenpolitik ist unter der AKP nicht festzustellen. Es gab Angriffe auf türkische Abgeordnete im Bundestag nach dem von ihnen mitgetragenen Beschluss bezüglich des Genozid-Gedenkens. Es gibt in der Türkei Erleichterungen und
Verbesserungen seit 2008. Aber das sind nicht mehr als sporadische Gunsterweise. Das zeigt sich
besonders im Tur Abdin. Zwei Großklöster von Hunderten sind übrig geblieben. Mor Gabriel
muss sich gegen Enteignung von Grundbesitz wehren. Alle Änderungen sind von Widersprüchlichkeit und Halbherzigkeiten geprägt. Weiterhin schleichende Enteignung christlichen Grundbesitzes.
Diskussion: Seit den 1990er-Jahren taucht das Thema Genozid verstärkt in der türkischen Literatur auf, oft versteckt. Atatürk ist zwar nicht verantwortlich für die Massaker während des Ersten
Weltkriegs, aber er hat die jungtürkischen Verbrecher juristisch geschützt und bei der Vertreibung der Griechen dasselbe Muster angewandt. Andererseits hat er gegenüber einer amerikanischen Zeitung offen von den jungtürkischen „Verbrechen“ gesprochen. – Zum islamischen Religionsunterricht: Man hat in Deutschland (und Österreich?) allzu naiv die Veranwortung an die
türkische Religionsbehörde delegiert. Eine Ausbildung islamischer Religionslehrer an den heimischen Hochschulen ist unerlässlich. Es wird auf die großen Unterschiede zwischen der Situation
in Österreich und Deutschland hingewiesen: In Österreich gibt es ein Islamgesetz, das die Bezahlung der Imame durch das Ausland verbietet. – Metulla Gülen: Der Vorwand für die beispiellose
Säuberungsaktion, die seit lange vorbereitet gewesen sein muss, ist haltlos. Aber man sollte die
Gülen-Bewegung nicht verklären.
14.30 Uhr Prof. Dr. Hans Hollerweger / Brigitte Hauke: „Frühling im christlichen Orient“. Kein
eigentlicher Vortrag, nur Einleitung zur Powerpoint-Präsentation, die Brigitte Hauke erstellt hat.
Hollerweger ärgert sich, wenn man zu lesen bekommt, dass es mit dem Christentum im Orient
zu Ende geht. Ein Wort eines Arztes in Midyat ist ihm hängen geblieben: „Die Christen sind
stärker als wir (Muslime).“ Er bleibt bei der Hoffnung, dass das Christentum im Orient Zukunft
hat – das soll sein „letzter“ Beitrag für 20 Jahre ICO-Tagung in Salzburg sein.
15.00 Uhr Dalia Al-Frihat: Zur Lage in Syrien. Shemunkasho stellt die Referentin vor. Sie gehört
der griechisch-orthodoxen Kirche an und lebt in Damaskus. Ihr Geburtsort ist Suweida an der
jordanischen Grenze in der Nähe von Dera’a, wo durch das brutale Vorgehen der Regierung gegenüber demonstrierenden Jugendlichen der syrische Bürgerkrieg seinen Anfang nahm. Vor
dem Krieg war Syrien, die Wiege der Menschheit, ein blühendes Land, eines der am weitesten
entwickelten Länder im Nahen Osten. Der erste Ölbaum wurde in Syrien gepflanzt, der erste
Pflug wurde in Syrien konstruiert, hier das erste Weizenfeld ausgesät, das Alphabet und die älteste Notenschrift wurden hier erfunden.
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Beispiele aus dem Kriegsgeschehen: Das christliche Dorf Maalula mit dem Theklakloster, einem
der ältesten christlichen Stätten, wurde vom IS erobert. Beilspiel Al Zabadani: Der Schwester der
Referentin erging es wie vielen Christen. Ihre Häuser wurden zerstört. Beispiel Bab Tuma, das
alte christliche Zentrum in Damaskus: Bomben fielen, christliche Symbole mussten entfernt werden. Beispiel Aleppo: Die Kämpfe begannen im Juli 2012 und endeten 2016. Verheerende Zerstörungen in der Altstadt von Aleppo, eine der blutigsten Kriegsschauplätze in Syrien. Entführung
der beiden Bischöfe Mar Gregorius Ibrahim und Bischof Yazigi. Zur Statistik: Von 1,5 Millionen
Christen vor dem Krieg sind in Syrien 500.000 übrig geblieben.
Diskussion: Shemunkasho sieht es als Zeichen der Hoffnung, dass Al-Frihat wieder nach Syrien
zurückkehrt. Wie sieht die praktische Arbeit der Sonntagsschule in Damaskus aus? Die ist wie
alle pastoralen Initiativen in Bab Tuma ausgesetzt. Man hat zu Beginn nach alternativen Lokalitäten Ausschau gehalten, aber es war zu gefährlich und deshalb hat man davon gelassen. Al-Frihat
beklagt, dass die Unterstützung kaum bei den Notleidenden ankommt. – Kann sie sich vorstellen, dass es ein Syrien ohne Assad gibt? „Ja, natürlich“! Patriarch Sako: Die Kirche sollte nicht
Personen unterstützen, sondern den Dialog. Shemunkasho: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass
Christen in „sichere“ Gebiete zurückkehren, es gilt vielleicht für einzelne Familien. Klärendes
Statement zur Situation der Christen vor dem Krieg: Das Leben unter der Diktatur war beengt
und man landete schnell im Gefängnis. Hofmann: Sie würde nicht empfehlen, eine Rückführung
nur von Christen zu betreiben, ohne eine politische Lösung anzustreben. Es muss eine Aussicht
geben, dass sie in Würde leben können. Shemunkasho: Es ist zur Kenntnis zu nehmen, dass die
Christen in der Region immer Bürger zweiter Klasse waren und nur dadurch überleben konnten,
dass sie ihren Status akzeptierten und sich nicht politisch engagierten. Das Beste, was ihnen in
den letzten Jahrhunderten passierte, war ein Dasein ohne Verfolgung und Unterdrückung.
16.30 Uhr Stefan Maier über die Caritas-Arbeit im Libanon, in Ägypten und Syrien. An der Situation der Flüchtlinge hat sich nichts Wesentliches verbessert. Sie soll aber heute nicht im Zentrum
seiner Ausführungen stehen, sondern sein Vortrag stellt eher eine „Tour d’Horizont“ über die
Tätigkeit der Caritas in Nahen Osten dar. Die Auslandshilfe der Caritas Salzburg ist im Libanon
seit 1992, in Syrien seit 1995 und in Ägypten seit 2002 präsent.
Ägypten: Zusammenarbeit mit Caritas Ägypten, den Barmherzigen Schwestern und den Comboni-Missionaren. Schwerpunkt ist die Arbeit für Kinder und Jugendliche. Jugendzentrum im
Armenviertel Haggana, von Eb. Kothgasser eingeweiht. Nach Schätzungen leben in diesem Viertel eine Million Menschen auf engstem Raum. Das Caritas-Jugendzentrum ist der einzige Ort, wo
Kinder aller Konfessionen und Religionen zusammenkommen. Die Zukunftsaussichten für Mädchen und Frauen sind in Ägypten desaströs. Inzwischen sind 60 Kinder in der Schule der Barmherzigen Schwestern aufgenommen. Lehrer werden miserabel bezahlt und sind auf bezahlte
„Nachhilfe“ der Kinder angewiesen. Comboni-Missionare haben sich der sudanesischen Flüchtlinge angenommen. Über 800 Schüler in zwei Schulen erhalten ein nahrhaftes Schulfrühstück.
Als sehr erfolgreich erwies in Alexandria die Vergabe von Kleinkrediten an Familien, damit sie
durch Gründung von Gewerben und und Umsetzung von Geschäftsideen Arbeit und Einkommen haben. Kleinkredite an Frauen verhelfen zur Aufzucht von Hühnern, Gänsen, Ziegen etc.
Hauptprojekt der Caritas in Alexandria sind die Straßenkinder. Die Caritas Alexandria war in
1990er-Jahren die erste Organisation, die mit Straßenkindern arbeitete: Mobiler Streetwork-Bus,
Tageszentrum für Straßenkinder, betreutes Wohnprojekt für Straßenkinder (derzeit für 30 Kinder). Insgesamt werden im Straßenkinderprojekt zur Zeit 2000 Kinder unterstützt. Separates
Sttraßenkinderprojekt für Mädchen (zur Zeit 20).
Libanon: Zusammenarbeit u.a. mit Barmherzigen Schwestern, Lazaristen. Waisenhaus in Baskinta, wo auch viele syrische Kinder aufgenommen wurden. In Beirut Betreuung von Migrantenkindern, die ohne Papiere dastehen. Schule und Internat von Broumana der Barmherzigen
Schwestern sind zum Modellprojekt für die Aufnahme von Flüchtlingskindern – im letzten Jahr
120! – geworden. Nachhilfesystem für die Integration der Kinder ins libanesische Schulsystem.
Frauenhaus der Caritas Libanon zunächst für Migranten, jetzt hauptsächlich für irakische und
syrische Flüchtlingsfrauen, die Opfer von familiärer Gewalt wurden, mit ihren Kindern. Hilfs-
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projekte für syrische Flüchtlinge, in letzter Zeit bevorzugt durch Geldzahlungen. Der Gefahr des
Heranwachsens einer verlorenen Generation soll durch Bildungsprojekte begegnet werden.
Syrien: Caritas-Arbeit ist hier extrem schwierig. Maier kann das Land momentan selbst nicht
bereisen. Projekt für sudanesische Flüchtlingskinder, das nun für syrische Flüchtlingskinder geöffnet wurde. Darüber hinaus Nothilfe-Projekte, z.B. in Hassake. Orthopädische Werkstätte für
Kriegsversehrte in Lattakia. Schulprojekt Lattakia: Kinder von Inlandsflüchtlingen werden soweit unterstützt, dass sie wieder in die Schule gehen können.
Diskussion und Anfragen: Die Vertreterin der Korbgemeinschaft Sr. Waldburga Starkl betont,
dass man in Syrien viel tun könne. So könne man vermeiden, dass die Inlandsflüchtlinge zu echten Flüchtlingen werden. Auf die Frage, warum es im christlich geprägten Libanon keinen wirksamen gesetzlichen Schutz für Migranten gibt, antwortet Maier: Man mag in einem Land, das 17
Jahre Bürgerkrieg hinter sich hat, Verständnis dafür haben, dass sie andere Prioritäten setzen.
Warum kümmern sich in Ägypten die zuständigen staatlichen Einrichtungen nicht um die Straßenkinder? Maier: Es ist extrem schwierig, beim Ministerium die Genehmigungen für die Projekte der Caritas zu bekommen, weil man seitens der Regierung die ausländische Unterstützung der
Muslimbrüder unterbinden will. Die Caritas ist so etwas wie ein „Kollateralschaden“ dieser Politik. Seit zwei Jahren sind keine Genehmigungen erteilt worden und er weiß nicht mehr, wie er
die Projekte unter diesen Umständen weiterführen kann.
19.30 Uhr Öffentlicher Abendvortrag gemeinsam mit PRO ORIENTE Salzburg: Patriarch Raphael
I. Sako zum Thema „Irak – Wohin?“. Einführung von Militärbischof Dr. Werner Freistetter.
Begrüßung durch Winkler. Grußwort von Bischof Werner Freistetter: Er ist in der Bischofskonferenz u.a. zuständig für die Kommission Weltreligionen. Vor 30 Jahren war er fast ein Jahr bei den
im Nahen Osten stationierten Soldaten. Damals konnte man Syrien problemlos bereisen. Die Begegnung mit den einheimischen Christen hat ihn tief beeindruckt. Er möchte und kann sich nicht
vorstellen, dass es einmal keine Christen im Orient gibt. Patriarch Sako ist einer ihrer mutigsten
Fürsprecher.
Referat Patriarch Raphael Louis Sako: Gibt es Zukunft für Christen? Es gibt Hoffnung, aber sie ist
„schwach“. 58 Kirchen wurden in Kirkuk und Bagdad zerstört. Die syrische Kathedrale in
Mossul wurde gesprengt, 48 Christen fanden den Tod. 1,5 Mio Christen zur Zeit Saddam
Husseins, jetzt ca. 500.000 im Irak, davon im kurdischen Autonomiegebiet 120.000. Drei Jahre
Herrschaft von IS in der Region Mossul. West-Mossul war zu 90 % zerstört, in Nord-Mosul ist
die Situation besser. Fünf christliche Familien wohnen dort, in seinem eigenen Elternhaus sind
drei muslimische Familien einquartiert. Die Niniveh-Ebene wurde befreit. Es gibt acht christliche
Dörfer, die mehr oder weniger zerstört wurden und in die doch eine größere Anzahl Christen
zurückgekehrt ist. Aber viele sind inzwischen ausgewandert. Die Kurden wollen die NinivehEbene ihrem Gebiet eingliedern. Das ist für die Christen gefährlich. Die irakische Regierung, die
Golfstaaten und der Iran sind gegen die Autonomie. „Wir haben Angst vor einem Krieg, denn
das geht auf Kosten der Christen.“ Die Grenzen zwischen Iran, Irak und der Türkei sind geschlossen, d.h. dass das kurdische Autonomiegebiet isoliert bleibt. Das Referendum ist überstürzt
angesetzt worden, ohne Koordination mit der Zentralregierung. Ohne Trennung von Staat und
Religion gibt es kein gedeihliches Miteinander von Christen und Muslimen. Kirchen und christliche Immobilien wurden geraubt. Er glaubt, dass die Möglichkeit, die Religion nach dem Gewissen zu wählen, auch im Irak einmal kommen wird. Er hat Hoffnung: Vielleicht gibt es einmal
keine alteingesessenen Christen, dafür aber „neue“ Christen. Das größte Problem ist die fehlende
Sicherheit. Die religiöse Ausbildung der Muslime muss reformiert werden. Bis jetzt lernen die
Muslime noch immer, dass die Christen „Ungläubige“ sind.
Diskussion: Wie mit dem Islam in Europa umgehen? Sako: Muslime wurden zu sehr in Ghettos
gehalten. Integration ist wichtig. Die Christen hätten sich stärker mit den Muslimen befassen
müssen, die nach dem Weltkrieg nach Europa gekommen sind. Man hat es verabsäumt, Katechesen zu entwickeln. Zum Referendum: Die Teilung des Irak ist problematisch. Hanna Ghoneim:
Was braucht es, dass Christen im Irak und in Syrien bleiben und ihre Aufgabe erfüllen? Sako:
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Politische Stabilität, Freiheit und Demokratie. Shemunkasho: Ist die kurdische Autonomie nicht
doch auch eine Chance, dass die Christen in Sicherheit leben können? Sako: Es ist eine ambivalente Sache. Cullman: In Afghanistan ist der Westen mit seinem Programm zur Demokratisierung und der Gleichberechtigung der Frauen kläglich gescheitert. Sako: Irak oder Syrien sind
nicht Afghanistan. Hier beginnen auch die Imame langsam umzudenken und die Symbiose von
Staat und Religion in Frage zu stellen.
26. September 2017
7.30 Uhr Hl. Messe mit Weihbischof Hansjörg Hofer.
9.15 Uhr Begrüßung durch Prof. Winkler und Hinweis auf Änderung im Programm. Die Anwesenheit von Pfarrer Salar gibt Gelegenheit, einen zweiten Experten zum Irak zu hören.
Dr. Markus Ladstätter, u.a. Prof. für vergleichende Religionswissenschaft an der KPH Graz, Berater für interreliöse Fragen der Österr. Bischofskonferenz. Sein Thema sind die „Religiösen Minderheiten im Iran“. Er spricht aus der „Außenperspektive“, er hat Respekt vor den Statements
der Tagung, die die „Innenperspektive“ beleuchtet haben.
Hintergründe: Der Iran geht auf eine alte vorchristliche Hochkultur zurück, die die iranische
Mentalität bis heute prägt. Man denke nur an Kyros als „Messias“ (Jes 45,1), der den Juden die
Rückkehr aus der Verbannung ermöglicht. In der Epoche der Sassaniden (3. bis 7. Jh.) ist der Zoroastrismus Staatsreligion und die Minderheiten werden verfolgt. Die Verfolgung von Christen
ist im Iran kein ausschließlich islamisches Phänomen! Islamisierung im 7. Jh. Die schiitische
Ausprägung ist im 16. Jahrhundert in der Dynastie der Safawiden zur Dominanz gelangt. Im
19./20. Jh. sind europäische Mächte auf den Plan getreten: Koloniale Interessen von Seiten der
Briten und Russen. Die Briten haben sich durch einen Exklusivvertrag die Ausbeutung der Ölquellen gesichert. Konstitutionelle Revolution im Jahr 1906, aus der die Dynastie der Pahlevis
hervorging (1925–1979): Verstaatlichung der Ölquellen und Konflikt mit Großbritannien, Öffnung und Weiterentwicklung mit Ansammlung großen Reichtums in den Händen der Herrscherdynastie. Vor allem die USA haben in der Folge den Schah gegen oppositionelle Bewegungen unterstützt. Der letzte Schah versuchte, die zoroastrische Religion zu förden und einen neuen Kalender einzuführen, was die Muslime als Affront empfinden mussten. 1979 Sturz des
Schahs und Ausrufung einer Islamischen Republik unter der Fürhung von Ayatollah Khomeini.
Die Verhältnisse wechselten unter den Präsidenten. Khatami (1997–2005) war der gemäßigste
von allen, seit 2013 Ruhani, der eher liberal agiert und das Land einer Öffnung zuführt. Die eigentliche Macht liegt aber beim „Führer“ (jetzt Khameini), dem „Wächterrat“ und gewählten
Institutionen. Der Führer bestimmt den Wächterrat und unter den vom Wächterrat vorgeschlagenen Kandidaaten darf das Volk wählen. Die Islamische Republik wird von den anderen muslimischen Ländern nicht anerkannt. Großen Einfluss haben die sog. „religiösen Stiftungen“. Es
handelt sich um mächtige, mit großen Mitteln ausgestattete und schon auch karikativ tätigen
Einrichtungen. Es gibt 15 Stiftungen, die großen politischen Einfluss haben. Sie habe bis zu einer
Milliarde Euro Umsätze und haben nur den „Führer“ über sich. Die „Stiftung für die Armut“
etwa hat eine Million Angestellte. „Lieblingsfeindbild“ des Iran sind die USA, was aber mehr
eine ideologische Angelegenheit ist. Zur Brisanz des Wiener Atomvertrags: Formal sind einige
Sanktionen aufgehoben, aber nicht der Zugang zu iranischen Banken und damit z.B. die Möglichkeit, Kreditkarten zu verwenden, d.h. es herrscht der Eindruck, dass der Vertrag keine Erleichterungen für den Iran gebracht hat. Gefährlich ist Trumps Ankündigung, die Sanktionen zu
verschärfen.
Sunniten und Schiiten: Letztere sind für eine erbliche Nachfolge des Propheten eingetreten, erstere für die Wahl des Khalifen. Die Ermordung des Imams Hussein war eine Katastrophe, aus
der bei den Schiiten eine Theologie des Leidens entwickelt wurde. Nachfolge bis zum 12. Imam
im Mittelalter, der aber nicht gestorben sondern verschwunden ist und als Mahdi wiederkommen wird. Bis zur Wiederkunft sind Stellvertreter eingesetzt. Gepresste Lehmscheiben aus Kerbela, wo Hussein gestorben ist, finden beim Gebet Verwendung. Wenn sich die Gläubigen verneigen, berühren sie diese heilige Erde. Es liegen bei den Schiiten Elemente vor, die dem Chris-
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tentum nahestehen. Es gibt Bilder in Moscheen, die Gebetszeiten sind anders organisiert. Eine
Besonderheit ist die „Ehe auf Zeit“.
1) Der Islam hat sich in seiner historischen Frühzeit als gesellschaftsgestaltende Kraft, als „Staatsreligion“ erfahren. Muhammad war auch politischer Füher. Das ist dem Christentum völlig
fremd. Viele Normen der Gründungszeit sind aus der Perspektive politischer Herrschaft formuliert. 2) Nichtislamische Minderheiten haben in diesem Kontext ein Existenzrecht, genießen Toleranz, aber sie sind keine gleichberechtigten Bürger. Man kann das nicht „Religionsfreiheit“ nennen. 3) Im öffentlichen Bereich haben islamische Regeln Vorrang. 4) Weil Nicht-Muslime vom
Militärdienst befreit sind, haben sie als „Ersatz“ die Kopfsteuer zu zahlen.
Zugänge: Bericht von drei Reisen mit unterschiedlichen Begegnungen. Drehscheibe war die österreichische Botschaft, die eine beeindruckende Kompetenz an den Tag legte. Das „Institut für
religiöse Studien“ mit einer erstaunlichen Bibliothek über das Christentum in der „Hardlinerstadt“ Qom beeindruckte Ladstätter. Er hat Gespräche mit dem Bruder des Religionsführers
Kahmeini geführt und war vom Niveau dieser Gespräche überrascht. Besuch religiöser Gemeinschaften (Juden, Gespräch mit einem jüdischen Parlamentsabgeordneten, mit Christen verschiedener Konfessionen, dem chaldäisch-katholischen Erzbischof von Teheran (Bild mit Hermann
Klettler, dem neuen Bicshof von Innsbruck!).
Allgemeine Charakteristika in der Situation von religiösen Minderheiten im Iran: Wichtig ist die
Unterscheidung zwischen anerkannten religiösen Minderheiten (Zoroastrier, Juden, Christen)
und nicht anerkannten (Bahai). Die Verfassung spricht von „Religionsfreiheit“, allerdings im
Rahmen einer islamischen Gesellschaft. Religionswechsel vom Islam weg ist ausgeschlossen.
Extrem benachteiligende Maßnahmen existieren im Bildungswesen: Direktoren müssen Muslime
sein, der halbe Lehrkörpert muss muslimisch sein, für jede christliche Religionsstunde muss eine
muslimische gehalten werden. Ein großes Problem sind Rechtsunsicherheit und Willkür.
Die Sunniten gelten im Iran nicht als Minderheit, aber auch ihre Tätigkeit wird eingeschränkt.
Der Neubau von sunnitsichen Moscheen ist fast nicht möglich. Zoroastrier mit Feuertempel in
Jast. „Türme des Schweigens“ als klassische Bestattungsplätze. Erdbestattung ist verboten, daher
heute Bestattung in Steingräbern. Es gibt 50.000 Zoroastrier im Iran. Sie werden zu den Völkern
des Buches gerechnet. Alte Hauptstadt Persepolis mit Spuren der groß aufgezogenen 5.000Jahrfeier der persischen Religion unter Schah Reza Pahlevi. Juden müssen sich öffentlich immer
wieder lossagen von Israel. Ca. 30.000 Juden leben heute im Iran. Viele sind nach der Staatsgründung 1948 ausgewandert. Juden dürfen ihre Tora drucken, Christen dürfen keine Bibeln drucken.
Christliche Kirchen im Iran: Armen.-Apost. Kirch 150.000, Assyr. und Chald. Kirche
16.000/18.000-60.000). Das Gedenken an den Genozid der Armenier wird erlaubt. Christliche
Kirchen in Täbris, zwei Klöster am Urmiasee, gut erhalten ist das Thaddäus-Kloster, zugleich
Weltkulturerbe. Diese christlichen Stätten wurden mit der Grazer PRO ORIENTE-Delegation
besucht. Ladstätter bringt einige einschlägige Zitate von Erzbischof Ramzi Garmou.
Die Bahai als größte religiöse Minderheit sind im Iran nicht anerkannt. Es handelt sich um eine
monotheistische Religion, die im 19. Jahrhundert im Iran entstanden ist. Heute hat sie ihr Zentrum in Haifa. Ca. 250.000, ein Viertel der weltweit lebenden Bahai, leben im Iran. Sie gelten als
häretische Muslime, ihre Glaubenspraxis ist verboten. Besitz und religiöse Liegenschaften sind
konfisziert. Verfolgung wegen „Prostitution“ (es können keine gültigen Ehen geschlossen werden), kein Erbrecht, sie haben keine Rechte als Staatbürger.
Diskussion: Kontakte mit schiitischen Persönlichkeiten sind wichtig. Sie sind oft gut gebildet, sie
stehen uns näher als die Sunniten. Die Menschen im Iran suchen sich zu arrangieren und reizen
die Möglichkeiten aus, ohne dass sich eine Protestbewegung formieren würde. Die Beziehungen
zu den Schiiten im Irak sind nicht sehr intensiv, intensiver sind sie in Richtung Jemen, Syrien
und in den Libanon. Stefan Maier fragt nach der „Ehe auf Zeit“: Er hat erfahren, dass auch Sunniten „eine Ehe auf Zeit“ praktizieren. Ladstätter: Dass es bei den Sunniten einen offiziellen Ehevertrag für „eine Ehe auf Zeit“ gäbe, ist ihm bekannt. In der Regel entsetzen sich Sunniten über
diese Einrichtung bei den Schiiten.
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11.15 Uhr Moderation Schemunkasho. Fr. Salar vom Päpstlichen Orientalischen Institut in Rom.
Über den Wiederaufbau christlicher Dörfer in der Ninive-Ebene. Er ist der Direktor und Koordinator des Aufbauprogramms von vier Dörfern. Im Auftrag von Patriarch Raphael Sako hat er das
Kommitee dafür begründet. Zuerst ging es darum, Informationen zu sammeln, schließlich um
Kostenvoranschläge für die Instandsetzung von Häusern und Geschäften und um Kontakte zu
NGOs. Im Zuge der Aufräumarbeiten sind zwei Kurden durch Minen umgekommen. Nur die
Kirche ist am Wiederaufbau beteiligt. Es galt, die Wasser- und Stromversorgung sicherzustellen.
Bau einer Klinik. Zwei Millionen Euro sind aus Ungarn eingegangen, die für den Wiederaufbau
von 800 Häusern verwendet werden. Es gibt ein Aufbauprogramm für Schulen.
Diskussion: Zur Vorgangsweise: Es wird kein Geld direkt an die Familien gegeben, sondern es
wird eine Bestandsaufnahme und ein Vertrag mit den Arbeitern gemacht, die von der Kommission bezahlt werden. Die Menschen sind voll Hoffnung und haben darauf bestanden, dass zuerst
die Kirche als Symbol ihrer Hoffnung restauriert wird. Das Dorf Teleskof, in dem 1500 Familien
vor dem Krieg wohnten, ist soweit restauriert, dass 1000 Familien (zum Teil auch aus den Nachbardörfern) dorthin zurückgekehrt sind und dieses Dorf als Modell für den Wiederaufbau dient.
Zur Frage, ob detaillierte Kostenvoranschläge für einzelne Objekte publiziert werden könnten,
was Organisationen, Stiftungen, kirchliche und staatliche Einrichtungen für Patenschaften etc.
aufgreifen könnten: Es gibt für die Instandsetzung eines Hauses jeweils einen dokumentierten
Kostenvoranschlag. Es gibt eine „Konkurrenz“ der NGOs, die sich manchmal allzu zu sehr ins
Zentrum spielen, was die von ihnen unterstützen Objekte anbelangt.
Zum Abschluss dankt Shemunkasho für das Interesse und gibt das Datum für die ICO-Tagung
2018 bekannt: 17./18. September.
Für das Protokoll: P. Gottfried Glaßner OSB
Vorstandsmitglied der ICO
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