Suizid im Alter

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Suizid im Alter
Prof. Dr. Martin Teising, IPU Berlin
Fachtag Gerontopsychiatie Mittelfranken, Nürnberg, 15.6.2016
Prof. Dr. Martin Teising, IPU Berlin
Suizid im Alter
1. Vorbemerkung zum Phänomen menschlicher
Selbsttötung
2. Definitionen von Suizidalität
3. Epidemiologie
4. Psycho-Soziale Aspekte
5. Psychodynamische Aspekte
6. Therapeutische Aspekte
Prof. Dr. Martin Teising, IPU Berlin
Suizidalität
ist die Summe aller Denk- und Verhaltensweisen von Menschen oder
Gruppen von Menschen, die
- in Gedanken,
- durch aktives Handeln,
- Handeln lassen oder
- passives Unterlassen
den eigenen Tod anstreben bzw. als mögliches Ergebnis einer
Handlung in Kauf nehmen.
(nach Wolfersdorf und Schmidtke, 2005)
Suizidales Erleben
verstehen wir als einen Ausdruck der Zuspitzung einer seelischen
Entwicklung, geprägt durch Gefühle von Ausweglosigkeit,
Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit und Verzweiflung, die in Wut Erregung
und Hass umschlagen kann.
(Therapiezentrum für Suizidgefährdete Hamburg, UKE, 2007)
Weltweit 1,5 Mio Suizide pro Jahr:
• Alle 40 Sekunden nimmt sich ein Mensch selbst
das Leben
• In den Staaten der EU: 159 Personen täglich
:
ca. 10.000 Suizide pro Jahr in Deutschland:
Alle 47 Minuten stirbt jemand durch Suizid
Todesursachen: ein Vergleich
15.000
10.000
Frauen
Frauen
5.000
Männer
0
Suizide
Verkehrstote
40
35
Verlauf der Suizidraten in
Deutschland 1952 – 2009
Männer
Frauen
Zusammen
Suizide/100.000
30
25
20
15
10
5
0
1955
1960
1965
1970
1975
1980
Jahr
1985
1990
1995
2000
2005
Suizidraten Deutschland nach Alter und Geschlecht
90
80
Suizide/100.000
70
60
50
40
30
20
10
0
Bis -19 -24
20- -29 -34
30- -39 -44
40- -49 -54
50- -59 -64
60- -69 -74
70- -79 -84
80- -89 90+
>90
15
25
35
45
55
65
75
85
Altersgruppe
Alter (Jahre)
weiblich
männlich
Suizidalität und Suizidprävention im Alter
Risikofaktoren für Suizidalität im Alter
·
Psychische Erkrankungen
insbesondere Depressionen und Suchterkrankungen,
Suizidversuche und seelische Traumen in der Vorgeschichte
·
·
Körperliche Gesundheitsstörungen
·
Fehlen stabilisierender sinnstiftender Faktoren
(z.B. Kinder, religiöse Bindung)
Kritische Lebensereignisse
Einsame mit Zukunftsangst; Verwitwet, geschieden
Emigration
Berufsaufgabe bei Männern (unterer sozialer Schichten)
Depression und Suizidalität
ca. 90 %
der Suizidenten
– hatten psychiatrische
Erkrankungen im Vorfeld
am häufigsten eine Depression
Depressive Menschen haben ein um das 15 fache erhöhte
Suizidrisiko !
15 %
Der Patienten mit schwerer Depression versterben durch Suizid
40 %
der Suizidopfer haben eine Woche vorher ihren Hausarzt
aufgesucht!
Die Suizidalität ist bei folgenden körperlichen
Erkrankungen im Alter erhöht:
I.
II.
III.
IV.
V.
coronare Herzerkrankungen
Chronisch Obstruktive Lungenerkrankung
Krebserkrankungen
Rückenmarkserkrankungen
Chronische Schmerzzustände
Juurlink et al. 2004; Waern et al 2002; Schneider 2003;
Crump 2013, Ilgen 2013
Suizidale Handlungen sind in aller Regel Ausdruck
großer seelischer Not und Unfreiheit.
„Bilanzsuizide“ (rationale suicide) können als
Ausdruck menschlicher Freiheit gedacht werden, sie
entziehen jeder weiteren Freiheit die existenzielle
Grundlage.
Psychodynamik der Suizidalität im Alter 1
Das Älterwerden und das Ringen um die Anerkennung unvermeidlicher
Verluste stellt eine Herausforderung dar, die für die hohen Suizidraten
alter Menschen von großer Bedeutung ist.
Suizidale Gedanken, Absichten und Handlungen werden ganz wesentlich
von individueller und oft unbewusster Erlebnisverarbeitung bestimmt.
Insbesondere Verlusterlebnisse, Einschränkungen und Kränkungen des
Selbstwertgefühls bewirken Krisen, in denen verzweifelte Menschen im
Suizid einen letzten Ausweg aus einer als unerträglich empfundenen
Situation suchen.
Psychodynamik der Suizidalität im Alter 2
Suizidale Krisen werden durch Kränkungen (mortifications) ausgelöst, die
das Selbstwertgefühl verletzen.
Kränkungen werden häufig bewirkt durch:
- Verluste (inbesondere narzißtischer Selbstobjekte)
Sie betreffen oft
- die weibliche oder männliche Identität
- Einfluss und Macht (z.B. in Beruf, Familie und Gesellschaft)
- das Erleben von Abhängigkeit z.B. durch Pflegebedürftigkeit
Grundlegende Kränkungen menschlicher Existenz sind die „facts of life“, mit
denen das Alter in besonderer Weise konfrontiert:
- abhängig sein
- ausgeschlossen sein
- sterblich sein
Psychodynamik der Suizidalität im Alter 3
•
•
•
•
•
•
Wendung der Aggression gegen sich selbst
von anderen tot gewünscht werden
Hilferuf an andere
Ambivalenz
nicht überwältigt werden wollen
Suche nach Ruhe, Frieden und Geborgenheit
Psychodynamik der Suizidalität im Alter 4
• Die suizidale Handlung ist in der Regel ein Versuch,
eine Krise regressiv zu lösen
• Illusionäre Wunschvorstellungen werden im Tod
gesucht
„Ich will endlich Ruhe haben und schmerzfrei sein“
• Gute innere Objekte und ein entsprechend sicheres
Selbstwertgefühl ermöglichen das Ertragen von
Verlusten und äußerer Abhängigkeit
Psychodynamik der Suizidalität im Alter 5
Zur Bedeutung der männlichen Geschlechtsidentität für die Suizidalität im Alter
Hinweise auf Suizidalität 1
•
•
•
•
•
Wahnhafte Depression
Hoffnungslosigkeit
Suizidversuch in der Vorgeschichte
Suizide/Suizidversuche in der Familie
Endgültige Regelung von Angelegenheiten:
Verschenken von Wertgegenständen, Testament
Hinweise auf Suizidalität 2
•
•
•
•
•
•
•
„Wiedervereinigungswünsche“
„Gedenktage“
Äußerung von Lebensüberdruss
Sammeln von Suizidmitteln
Verweigerung der Nahrungsaufnahme
Verweigerung medizinischer Maßnahmen
Kontaktverlust in der therapeutischen Beziehung
Präsuizidales Syndrom im Alter
• Zunehmende Einengung
a) situativ (z.B. Krankheiten, Gedächtnis, Finanzen)
b) dynamisch
c) zwischenmenschlicher Beziehungen (Lichtung der
Reihen)
d) der Wertwelt (z.B. Entwertung der Werte und
Normen)
• Aggressionsstau und -Umkehr
• (sich aufdrängende) Suizidphantasien
Suizidprävention bei älteren Menschen
• Vorbereitung auf das Alter
• Hilfen bei Krankheit und Behinderung
• Hilfsmöglichkeiten in der Krise
• Hilfen am Lebensende
• Hilfen für Angehörige
• Gespräche mit suizidalen alten Menschen
Niemand nimmt sich das Leben,
weil er gefragt wird,
ob er dies beabsichtige !
Filmausschnitt :
„Der Suizident und sein Therapeut“
Gespräche nach einem Suizidversuch
• Möglichst frühzeitige Kontaktaufnahme
• Suche nach dem (banal erscheinenden) Anlass
• Suche nach dem zentralen (unbewussten) Beziehungskonflikt
• Suche nach dem gemeinsamen Nenner für Anlass und Konflikt
• Beachten der Szene und der Interaktion
• Psychosoziale Hilfen und Abwägung ihrer Bedeutung
• Bei Bedarf psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung
(z.B. „notfallindizierte psychodynamische Therapie Suizidaler“)
Optional
Abklärung von Suizidalität:
Vom Allgemeinen zum Konkreten:
– passiver Todeswunsch?
– Suizidgedanken, -absichten?
– Suizidideen
– aktive Planung?
– Suizidankündigungen/Vorbereitungen?
Für die Bewertung entscheidend:
Wie hoch ist der akute Handlungsdruck einzuschätzen?
Therapie - Hemmnisse von Seiten des Therapeuten
• Fehlannahme einer geringeren Erfolgsaussicht von Psychotherapie
• (Fehl-) annahme geringer Einflussmöglichkeiten auf auslösende Bedingungen
• (Pseudo-) Verständnis für symptomatisches Verhalten
• Annahme einer geringen Änderungsmotivation
Therapie - Hemmnisse von Seiten des älteren Patienten
• Abwertung des meist jüngeren Therapeuten:

mangelnde Kenntnis

fehlendes Verständnis für die Probleme alter Menschen
• Fixierung auf somatische Probleme
• Abwehr der Psychotherapie generell
Rahmenbedingungen
Schaffung einer Möglichkeit des unvoreingenommenen Gesprächs
Der suizidale Ältere soll sich in Ruhe aussprechen können:
seine Phantasien und Vorstellungen in Bezug auf den Suizid,
sein Erleben und seine Gründe äußern,
sich grundsätzlich akzeptiert fühlen.
Institutioneller Rahmen wichtig, der diese Haltung trägt.
Diagnostische Einschätzung der Akuität der Suizidalität:
Äußerungen der Patienten (Zeichen besonderer Gefahr)
Hinweise von Angehörigen, Mitbewohnern, Freunden und Bekannten
Qualität des Kontaktes zu dem Betroffenen
Gefühle des Therapeuten
Gespräche mit suizidalen Menschen
• Unbedingte Verlässlichkeit
• Stabiles Containment
• Notwendigkeit „kontrollierter Verwicklung“
• Beachten negativer Gegenübertragungsphänomene
• Relativieren von Rettungsphantasien
• Absicherung im therapeutischen Team/Supervision
Gesprächsverhalten mit älteren Suizidenten 1
• Anzustreben ist ein nicht-wertendes Gesprächsverhalten, bei dem
Offenheit und Vertrauen vorherrschen und sich der suizidale alte Mensch in
seiner Not angenommen fühlt
• Todeswünsche, suizidale Gedanken und Absichten offen ansprechen
• Suizidalität ernst nehmen, nicht verharmlosen, aber auch nicht
dramatisieren
• Gründe, Begleitumstände und akute Auslöser besprechen
• lebensgeschichtliche Zusammenhänge verstehen und einbeziehen
Möglichkeiten der Unterstützung im sozialen Umfeld erkunden (z. B.
Bezugspersonen, soziale Dienste, medizinische Hilfen)
• Angebot zur Fortsetzung des Gesprächskontakts machen (Ängste
ansprechen; weitere Beratungs- und Hilfemöglichkeiten aufzeigen)
Gesprächsverhalten mit älteren Suizidenten 2
•
•
•
•
Wie geht es jetzt unmittelbar weiter ?
Wer ist als Ansprechpartner unmittelbar verfügbar ?
Welche Personen werden einbezogen ?
Ist eine stationäre Unterbringung notwendig, ggfs. auf einer geschützten
Station ?
• Sind soziale Hilfen angebracht ?
• Ist eine medikamentöse Therapie (vorübergehend) sinnvoll ?
Handlungsoptionen nach Suizid(versuch)
• In der Klinik
– Mitarbeiterkonferenz, um Informationen und Gefühle auszutauschen
und die eigene Handlungsfähigkeit zu stärken
– Gesprächsrunde mit Mitpatienten
– Ansprechen suizidaler Tendenzen
– CAVE: Werther Effekt
Handlungsoptionen bei Suizidversuch
• Wann in eine psychiatrische Abteilung einweisen lassen?
– Schwere des Suizidversuchs
– Weiter bestehende Suizidabsicht
– Schlechte Qualität des Kontakts zwischen Suizidalem und Professionellen
– Überlegen: Wie erleben der Suizidale und wie der Therapeut die
Einweisung in eine psychiatrische Klinik
Handlungsoptionen nach Suizid
• Formale Abläufe, Polizei benachrichtigen
• Drei Gruppen beachten:
– Mitbewohner/-patienten
– Angehörige
– Mitarbeiter
Handlungsoptionen nach Suizid
• Gespräch mit den Mitpatienten, auch im Einzelkontakt
• Gespräch mit den Angehörigen - Entlastung und Verstehen im Vordergrund,
keine gegenseitigen Schuldzuweisungen, Gefühle aushalten und teilen
• Suizidkonferenz aller Professionellen: Austausch von Informationen,
Gefühlen, Gedanken zum Suizid, keine Wertung, Bewertung, Beurteilung,
Schuldzuweisung, juristische Aufarbeitung
Gespräch mit Hinterbliebenen 1
•
•
•
•
•
Ruhige Gesprächsatmosphäre
Was, wann, wie lange?
Klärung der Beziehungen und vorherrschenden Gefühle
Emotionales Befinden des Angehörigen
Eindeutige Ratschläge auf dem Boden der eigenen Profession, ihrer
Möglichkeiten und Grenzen
Gespräch mit Hinterbliebenen 2
• Ambulante Hilfen: Hausarzt, Psychiater/Nervenarzt, Beratungsstelle,
Psychotherapeut
• Stationäre Hilfen (Psychiatrische Klinik) bei
– Schweren psychiatrischen Symptomen
– Rückzug, Misstrauen
– Wenn ambulante Hilfen nicht ausreichend verfügbar
• Zwangsmaßnahmen bei akuter Lebensgefahr
– Polizei
– Sozialpsychiatrischer Dienst
Suizidprävention ist möglich:
SELBSTMORD
Die letzte aller Türen
Doch nie hat man
an alle schon geklopft
Reiner Kunze (1984)
t
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Postfach 48 10 09, 8132 Rostock
Telefon 01888 80 80 800
Fax 01888 10 80 80 800
e-mail [email protected]
www.bmfsfj.de
www.suizidpraevention-deutschland.de
Depression und Narzissmus:
Störungen des Ich
• Einer Depression liegt der Verlust eines (Selbst-) Objektes zugrunde, das
nach dem narzisstischen Typ der Objektwahl besetzt worden ist. Dieser
Verlust kann nicht betrauert werden, Funktionen des Ich „sterben ab“,
das Selbst wird entwertet.
(Freud in „Trauer und Melancholie“).
• Bei einer narzisstischen Störung wird das Selbst idealisiert,
Objektabhängigkeit verleugnet.
Depression und Narzissmus:
Störungen des Ich
• Der Depressive leidet unter einem grausamen Über-Ich. (Schuldgefühle)
• Der Narzisst leidet unter einem grausamen Ich- Ideal (aus Idealselbst- und
Idealobjektrepräsentanzen)
(Schamgefühle)
Altern und Narzissmus in der Mythologie
• Narziss
• Ödipus
Narzisstische Aspekte des Alters
• Libidinöse Besetzung des eigenen Körpers
Somatisierung, Hypochondrie
• Selbstwertgefühl als Ausdruck des Ich-Ideals
der Glanz im Auge der anderen erlischt, Kränkbarkeit
• narzisstische Objektbeziehungen
Isolation und Deprivation bei Verlusten
• Linie der Persönlichkeitsentwicklung
Nicht anerkennen können eigener Begrenztheit
• Affektive Komponenten
„Paradiesisch- ozeanische Wünsche“; destruktive Wut
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