Stand: 19.04.2011 Teil 1 Ausschussvorlage RIA/18/30 Ausschussvorlage SPA/18/43 Eingegangene Stellungnahmen zu der mündlichen Anhörung des Rechts- und Integrationsausschusses und des Sozialpolitischen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU, der SPD, der FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend öffentliche Anhörung und ressortübergreifende Koordinierung zur Bekämpfung sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen – Drucks. 18/3630 – 1. Prof. Dr. Christian Pfeiffer S. 1 2. BAG Verfahrensbeistandschaft S. 15 3. Glasbrechen e. V. *) S. 17 4. Sicheres Netz hilft e. V. S. 22 5. Institut für Rechtsmedizin Gießen u. Marburg S. 26 6. Staatsanwaltschaft Darmstadt S. 28 7. Deutscher Kinderschutzbund e. V. S. 35 8. Landespräventionsrat Hessen S. 39 9. Psychotherapeutenkammer Hessen S. 44 *) Abgeordnete und Mitarbeiter des Landtags können die von Glasbrechen e. V. genannten Anlagen über das Ausschusssekretariat erhalten. 1 Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen * Christian Pfeiffer 1. Forschungsperspektiven zum sexuellen Kindesmissbrauch Nach den 2010 bekannt gewordenen Missbrauchsfällen in Schulen und kirchlichen Einrichtungen ist ein ausgeprägter Forschungsbedarf erkennbar geworden. In der Bundesrepublik verfügen wir gegenwärtig nicht über aktuelle, repräsentative und wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse zur Thematik des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Die Daten der einzigen deutschen Repräsentativbefragung, die das KFN gestützt auf die Projektförderung des Bundesfamilienministeriums im Jahr 1992 durchführen konnte, sind inzwischen veraltet und können bestenfalls als Anhaltspunkte für die aktuelle Diskussion dienen. Für die Beantwortung der Fragen, wo heute besonders hohe Risiken des Missbrauchs drohen und welche Präventions- und Interventionsansätze erfolgsversprechend erscheinen, reichen Common Sense und Praxiserfahrungen nicht aus. Gerade weil es sich hier um ein Phänomen handelt, das sich im Verborgenen abspielt, benötigen wir breit fundierte Erkenntnisse der Dunkelfeldforschung. Das KFN hat deshalb beim Bundesforschungsministerium Mittel dafür eingeworben, die von ihm 1992 realisierte Untersuchung im Jahr 2011 zu wiederholen. Damals hatte sich als Nachteil herausgestellt, dass die Teilstichprobe der von uns zum sexuellen Kindesmissbrauch befragten Männer und Frauen mit 3.289 bei Weitem zu klein gewesen war, um angesichts einer sich 1992 ergebenden Datenbasis von ca. 200 Tätern insbesondere zu den spezifischen Risikokonstellationen des Missbrauchs und verschiedenen Tätergruppen differenzierte Erkenntnisse erarbeiten zu können. Wir sind deshalb sehr dankbar dafür, dass wir 2011 die Grundgesamtheit der Stichprobe auf 11.000 erweitern konnten. Wir beschränken uns dabei auf die Altersgruppe der 16- bis 40-Jährigen, um so Erkenntnisse zu gewinnen, die sich auf die Kindheitsphasen der letzten sechs bis 30 Jahre beziehen. Ferner haben wir die Altersgruppe der 16- bis 20-Jährigen durch ein Oversampling von 2000 auf 3000 vergrößert, um so zur aktuellen Situation von Kindern und Jugendlichen vertiefte Einblicke erhalten zu können. Im Vergleich zu der Untersuchung des Jahres 1992 werden ferner dieses Mal gezielt zwei Gruppen von Migranten einbezogen: türkischstämmige 16- bis 40-Jährige und solche, die aus der früheren Sowjetunion stammen. Methodisch orientiert sich die Opferbefragung des Jahres 2011 an dem bewährten Konzept der KFN-Untersuchung des Jahres 1992. Die Datenerhebung beginnt mit einem kurzen mündlichen Interview zu solchen Opfererfahrungen, die sich sowohl innerhalb als auch außerhalb der Familie ereignen können und zum Gesamtthema der Untersuchung gehören. Ein Beispiel ist hier etwa die Frage nach Körperverletzungen durch dritte Personen, die sich _______________________________________ *Überarbeitete und teilweise erweiterte Version eines Textes, den der Verfasser im Jahr 2010 gemeinsam mit Dr. Lena Stadler und Bettina Zietlow als Drittmittelantrag beim Bundesforschungsministerium eingereicht hatte. 2 außerhalb des familiären Kontextes ereignet haben oder das Thema des Wohnungseinbruchs. Hinzu kommen Fragen zur Person (Alter, Geschlecht, Bildungshintergrund usw.). Anschließend hinterlässt der Interviewer einen ergänzenden Fragebogen mit der Bitte, diesen selber auszufüllen und ihn in einen beigefügten Umschlag zu geben und diesen mit einer vorher überreichten Siegelmarke zu verschließen. Die von den Interviewern ca. zwei Stunden später abgeholten Umschläge erbrachten 1992 eine Rücklaufquote von 98,2 Prozent. Es gelingt also auf diese Weise, die angesprochenen Personen dazu zu motivieren, dass sie zu derart schwierigen Themen wie dem sexuellen Missbrauch im Kindesalter oder der innerfamiliären Gewalt durch Vater, Mutter oder andere Familienangehörige Auskunft geben. Mit der Feldphase der Untersuchung konnten wir Anfang Januar 2011 beginnen. Voraussichtlich wird die Datenerhebung bis Ende April 2011 abgeschlossen sein. Mit ersten Ergebnissen ist im Herbst 2011 zu rechnen. Ergänzend zu dem Forschungskonzept des Jahres 1992 nutzen wir 2011 die Chance des direkten Kontakts zu ca. 400 bis 600 Missbrauchsopfern, sie zu fragen, ob sie sich auf für ein qualitatives, auf Tonband aufgezeichnetes Interview zur Verfügung stellen möchten. Die bisherige Resonanz zeigt, dass wir damit Erfolg haben werden. Wir können damit rechnen, mindestens 30 bis 40 Personen für dieses wichtige Folgeprojekt zu gewinnen. Dies wird uns die Möglichkeit eröffnen, bei der Interpretation der quantitativen Daten das heranzuziehen, was uns die Opfer aus ihrer Sicht über den ihnen widerfahrenen Missbrauch berichtet haben. 2. Definition zum sexuellen Missbrauch von Kindern Sowohl die aktuelle Mediendebatte als auch die wissenschaftliche Diskussion zeigen, dass die Bewertung von Straftaten in hohem Maß von politischen Rahmenbedingungen bzw. den Norm- und Wertvorstellungen unserer Gesellschaft beeinflusst wird. Diese Komplexität hat auch für die Definitionskriterien des sexuellen Kindesmissbrauchs Bedeutung. Eine für alle Anwendungszusammenhänge gültige Definition kann es deshalb nicht geben (Julius & Boehme, 1997). Weite Definitionen versuchen sämtliche als schädlich angesehene Handlungen zu erfassen. Es werden in der Regel auch sexuelle Handlungen ohne Körperkontakt wie Exhibitionismus zum sexuellen Missbrauch gezählt. Enge Definitionen beziehen nur bereits als schädlich identifizierte bzw. nach einem sozialen Konsens normativ als solche bewertete Handlungen ein (Wetzels, 1997, 62). Angesichts der kriminologischrechtspsychologischen Zielsetzung unseres Forschungsvorhabens wird für den sexuellen Kindesmissbrauch hier eine enge, an gesetzliche Vorgaben orientierte abstrakt-normative Eingrenzung vorgenommen. In Anlehnung an die §§174, 176 StGB werden deshalb als sexueller Kindesmissbrauch nur sexuelle Handlungen Erwachsener bzw. in Relation zum Opfer bedeutend älterer Personen einerseits und Kindern andererseits betrachtet. Aufgrund der Asymetrie der Beziehung ist physische Gewaltanwendung kein Definitionskriterium. Bezeichnend für den sexuellen Missbrauch ist vielmehr das Macht- und Autoritätsgefälle zwischen den Beteiligten. Sexuelle Handlungen zwischen Gleichaltrigen und auch Handlungen von Jugendlichen gegenüber Kindern werden also nicht dem sexuellen Kindesmissbrauch zugrechnet. Sie sind 2 3 strafrechtlich erst dann relevant, wenn der Jugendliche bei seinen sexuellen Handlungen Gewalt einsetzt und dadurch eine sexuelle Nötigung oder eine Vergewaltigung begeht. Ausgehend von der KFN-Datenerhebung des Jahres 1992 und dem zu dieser Thematik von Wetzels 1997 veröffentlichten Forschungsbericht (S. 72) wird daher folgende Definition vorgeschlagen: Sexueller Kindesmissbrauch ist die sexuelle Handlung eines Erwachsenen oder in Relation zum Opfer bedeutend älteren Person mit, vor oder an einem Kind, bei welcher der Täter seine entwicklungs- und sozialbedingte Überlegenheit – unter Missachtung des Willens oder der Verstandesfähigkeit eines Kindes – dazu ausnutzt, seine persönlichen, sexuellen Bedürfnisse nach Erregung, Intimität oder Macht zu befriedigen. Es handelt sich um die sexuelle Instrumentalisierung eines Kindes, bei welcher die Intensität der sexuellen Handlung auch von strafrechtlicher Relevanz ist. 3. Erkenntnisse zum sexuellen Kindesmissbrauch Kriminalstatistik und der Strafverfolgungsstatistik aus der Polizeilichen Die nachfolgende Abbildung 1 stellt für den Zeitraum 1993 bis 2009 die Gesamtzahl der in Deutschland polizeilich bekannt gewordenen Fälle des sexuellen Kindesmissbrauchs dar sowie die absolute Zahl der aufgeklärten Fälle, der Opfer und der ermittelten Tatverdächtigen. Abb. 1: Sexueller Kindesmissbrauch in Deutschland, absolute Zahl Opfer, der erfassten Fälle, der aufgeklärten Fälle und der Tatverdächtigen, 1993 bis 2009, Deutschland insgesamt (Quelle: PKS). 25.000 20.000 Opfer 15.000 Fälle aufgeklärte Fälle 10.000 Tatverdächtige 5.000 0 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 3 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 4 Auffallend ist zunächst der starke Rückgang der insgesamt polizeilich registrierten Fälle des Kindesmissbrauchs um fast 30 Prozent, der sich seit 1997 abzeichnet. Auch die Zahl der Opfer hat seit 1997 um 28,5 Prozent abgenommen. Zwar wäre theoretisch denkbar, dass diese Entwicklung auf einen Rückgang der Anzeigebereitschaft der Opfer beruht. Nach einem aktuellen Forschungsbefund des KFN dürfte jedoch eher das Gegenteil zutreffen. Zwischen 1998 und 2006 haben wir in mehreren Städten und Landkreisen mit insgesamt mehr als 20.000 Neuntklässlern wiederholt Repräsentativbefragungen durchgeführt. Danach hat sich im Verlauf dieser sieben bzw. acht Jahre jedenfalls die Anzeigebereitschaft von Mädchen, die Opfer eines Sexualdeliktes geworden sind von 9,8 auf 17,3 Prozent und damit insgesamt um 76,5 Prozent erhöht. Offenbar werden die Opfer solcher Straftaten heute nicht mehr in dem Ausmaß wie früher durch ihre Scham daran gehindert, über ihnen widerfahrene Sexualdelikte mit Polizeibeamten zu sprechen und auf diese Weise ein Strafverfahren in Gang zu bringen. Sollte das der Fall sein, müssten wir davon ausgehen, dass es zwischen 1997 und 2009 im Vergleich zu dem, was die Abbildung zeigt, in Wahrheit einen weit stärkeren Rückgang des sexuellen Missbrauchs gegeben hat. Genaue Aufklärung über die tatsächliche Entwicklung des Missbrauchsrisikos kann hier nur die Wiederholung der KFN-Dunkelfeldbefragung des Jahres 1992 erbringen. Auffallend ist ferner, dass die vier Verlaufskurven sich während der 16 Jahre immer mehr angenähert haben. Dies findet eine einfache Erklärung in der Tatsache, dass die polizeiliche Aufklärungsquote zwischen 1993 und 2009 von 63,4 auf 82,1 Prozent angestiegen ist. Es hat sich also das Risiko der Täter beträchtlich erhöht, dass sie zumindest als Tatverdächtige polizeilich registriert werden. Ein Vergleich der Tatverdächtigenstatistik mit der Strafverfolgungsstatistik macht dann allerdings deutlich, dass die Verfahren für die Mehrheit der Tatverdächtigen nicht mit einer Verurteilung, sondern mit einer Einstellung enden, weil aus der Sicht der Staatsanwaltschaft bzw. des Gerichts kein ausreichender Tatverdacht bestätigt werden konnte. Hinzu kommt, dass die Verurteiltenquote vom Höchststand des Jahres 1994 (34,4 %) bis 2009 auf 26,5 Prozent gesunken ist. Eine Erklärung für dieses überraschende Phänomen ist möglicherweise, dass der Vorwurf des sexuellen Kindesmissbrauchs zunehmend im Rahmen von Scheidungsverfahren von Seiten der Kindesmutter gegen den Vater erhoben wird. Sehr häufig stellt sich dann jedoch auf der Basis von Glaubwürdigkeitsgutachten heraus, dass es sich hier um ein prozessstrategisches Manöver der Kindesmutter handelt, die im Sorgerechtsstreit auf diese Weise zumindest vorübergehend Vorteile erringen will. Solche Verfahren enden dann mit einer Einstellung oder dem Freispruch mit der Folge, dass insgesamt betrachtet die Verurteiltenquote Jahr für Jahr abnimmt. In der der PKS werden zum sexuellen Kindesmissbrauch auch Angaben zur Täter-OpferBeziehung erfasst. In der nachfolgenden Abbildung 2 werden dazu die Daten des Jahres 2008 dargestellt. Danach handelte es sich bei den Tatverdächtigen zu 19 Prozent um Verwandte. 30 Prozent waren Bekannte des Kindes. In neun Prozent der Fälle lag der Tat eine flüchtige Vorbeziehung zugrunde. Zu 35 Prozent kannten sich Täter und Opfer vorher nicht. In sieben Prozent der Fälle konnten zum Täter-Opfer-Verhältnis keine Daten erhoben werden. Im 4 5 Hinblick auf die angezeigten Fälle zeigt sich damit, dass das Hauptrisiko für Kinder von solchen Personen ausgeht, die aus ihrem näheren sozialen Umfeld stammen. Abb. 2: Das Täter-Opfer-Verhältnis bei Fällen des sexuellen Kindesmissbrauchs (Quelle: PKS 2008). ungeklärt 7% Verwandtschaft 19% keine Vorbeziehung 35% Bekanntschaft 30% flüchtige Vorbeziehung 9% Der PKS lässt sich im Übrigen entnehmen, dass bei den angezeigten Fällen die Opfer in den letzten 15 Jahren zu drei Viertel bis vier Fünftel weiblich waren. Bei den Tatverdächtigen dominieren dagegen die Männer zu 96,1 Prozent. All diese Angaben sind freilich aufgrund der Tatsache, dass es sich nur um Daten aus dem Hellfeld handelt, nicht als Abbild der Wirklichkeit anzusehen. So spricht viel dafür, dass in der Abbildung 2 die fremden Täter überrepräsentiert sind, weil es hier den betroffenen Opfern leichter gefallen sein dürfte, eine Anzeige zu erstatten als in den Fällen, in denen der Täter aus dem engeren sozialen Umfeld kam. 4. Befunde der Dunkelfeldforschung zum sexuellen Kindesmissbrauch Die umfassendste Dunkelfeldforschung, die in Deutschland bisher realisiert werden konnte und zugleich die einzige, die auf einer repräsentativen Stichprobe basiert, ist bis heute die es KFN. Im Rahmen einer vom BMFSFJ geförderten bundesweiten Opferbefragung konnten wir im Jahr 1992 eine repräsentative Teilstichprobe von 3289 Personen unter anderem zum sexuellen Missbrauch befragen. Ausgangspunkt der Datenerhebung war ein mündliches faceto-face-Interview, bei dem zunächst Daten zu allgemeinen Opfererfahrungen erfasst wurden – also zum Beispiel, ob die Interviewpartner im Laufe der letzten fünf Jahre Opfer eines Wohnungseinbruchs geworden sind. Am Ende dieses Interviews erhielt eine Zufallsauswahl von ihnen einen ergänzenden Fragebogen zu den Themen der innerfamiliären Gewalt und des sexuellen Missbrauchs im Kindesalter mit der Bitte, diesen selber auszufüllen, ihn in einen beigefügten Umschlag zu geben und mit einer ihnen vorher überreichten Siegelmarke zu verschließen. Die von den Interviewern ca. zwei Stunden später abgeholten Umschläge 5 6 erbrachten eine Rücklaufquote von 98,2 Prozent (Wetzels, 1997). Die Teilstichprobe dieses Teils der Opferbefragung umfasste 1604 Männer und 1685 Frauen im Alter von 16 und 59 Jahren und war für diese Altersgruppe der Bevölkerung Deutschlands repräsentativ. Bei Anwendung einer engen Definition sexuellen Missbrauchs (nur Delikte mit Körperkontakt vor dem 16. Lebensjahr durch erwachsene Täter) ergab sich eine Prävalenzrate von 8,6 Prozent für Frauen und 2,8 Prozent für Männer, die in ihrer Kindheit Opfer des sexuellen Missbrauchs geworden sind. Weiterhin zeigte sich, dass die Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs zu einem Drittel auch Opfer elterlicher physischer Misshandlung geworden waren. Diese Rate liegt damit etwa drei Mal höher als die der nicht sexuell Missbrauchten. Ferner waren 45 Prozent der Missbrauchsopfer in ihrer Kindheit auch mit physischer Gewalt in der Beziehung der Eltern konfrontiert – einer Rate, die doppelt so hoch ist wie die der sexuell nicht missbrauchten Personen. Und schließlich bestätigte sich in der KFN-Untersuchung ein Befund, der bereits aus früheren Dunkelfeldforschungen aus den USA bekannt war (Finkelhor & Baron, 1986). Die Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs kamen überproportional häufig aus unvollständigen Familien („broken home“). Die dargestellten Befunde legen die Schlussfolgerung nahe, dass solche Kinder ein besonders hohes Risiko des sexuellen Missbrauchs haben, die zuhause nicht satt an elterlicher Liebe geworden sind und sich deswegen auf die Suche nach Zuwendung begeben. Umgekehrt scheinen solche Kinder am besten geschützt, die in stabilen familiären Rahmenbedingungen aufwachsen und Dank einer von Liebe und Geborgenheit geprägten Erziehung zu selbstbewussten und sozial kompetenten Persönlichkeiten heranreifen (Bange & Deegener, 1996). Die KFN-Dunkelfeldbefragung hat differenzierte Erkenntnisse zu der dem Missbrauch vorangegangen Täter-Opfer-Beziehung erbracht. Sie werden für Jungen und Mädchen getrennt in der nachfolgenden Abbildung 3 dargestellt. Abb. 3: Die Täter-Opfer-Beziehung beim sexuellen Kindesmissbrauch; Repräsentativbefragung des Jahres 1992 (Quelle: Wetzels, 1997, 159). 6 KFN- 7 100% 90% 3,90% 5,80% 7,30% 7,80% 3,60% 5,50% 14,30% 16,40% 80% 70% weibl.Täter 60% 27,30% 21,80% 50% Vater männl. Familie 40% mannl.unbekann t 30% 20% Stiefvater 40,90% 45,50% 10% 0% Frauen Männer Die Nennungen zur Beziehung zwischen Täter und Opfer verteilen sich insgesamt betrachtet wie folgt: 25,7 Prozent Unbekannte, 41,9 Prozent Bekannte aus dem sozialen Umfeld des Kindes und 27,1 Familienangehörige einschließlich der Stiefväter. Die meisten bundesdeutschen Studien wie auch ausländische Erhebungen an nicht-klinischen Stichproben sind zu ähnlichen Resultaten gelangt (vgl. etwa Brockhaus & Kolshorn, 1993; Bange & Deegener, 1996; Engfer, 1997; Sariola & Uutela, 1994). Das Hauptrisiko ging nach den Daten der Befragung des Jahres 1992 sowohl für Mädchen als auch für Jungen von Personen aus, die dem sozialen Umfeld des Kindes entstammen. Wie oben schon vermutet wurde, liegt die Quote der fremden Täter deutlich niedriger als bei den Hellfelddaten der Abbildung 2. Zwar hat sich 1992 auch für das Dunkelfeld bestätigt, dass nur eine Minderheit der Befragten von gut einem Viertel innerfamiliär Opfer des sexuellen Missbrauchs geworden ist. Vergleicht man inzestuöse Missbrauchshandlungen mit nicht-inzestuösen Delikten, dann zeigt sich allerdings anhand der Daten des Jahres 1992, dass Opfer von Vätern oder Stiefvätern signifikant häufiger mehrfach missbraucht wurden und zu 53,6 Prozent Opfer von Handlungen mit Penetration waren. Bei Opfern von Missbrauchshandlungen mit Körperkontakt durch andere Täter sind entsprechende Handlungen in 33,1 Prozent der Fälle vorgekommen. Die Opfer inzestuösen sexuellen Missbrauchs haben zudem ein signifikant niedrigeres Erstviktimisierungsalter angegeben (N = 9,9; SD = 2,6) als Opfer anderer Täter (M = 11,3; SD = 3,0). Der vergleichsweise seltene inzestuöse sexuelle Missbrauch durch Väter oder Stiefväter hat also aus der Sicht der Befragten des Jahres 1992 früher begonnen, er hat schwerwiegendere eingriffsintensivere Handlungen umfasst und war in der überwiegenden Anzahl der Fälle ein mehrfacher sexueller Missbrauch. Hinzu kommt, dass jedenfalls die Missbrauchsopfer der Befragung des Jahres 1992 innerfamiliäre Taten nur zu 0,5 Prozent polizeilich angezeigt hatten. Bei den außerhalb der Familie vorliegenden 7 8 Vorfällen war dagegen zu 11,4 Prozent eine Anzeige erfolgt. Im Durchschnitt ergab sich 1992 für Missbrauchsfälle mit Körperkontakt durch erwachsene Täter eine Anzeigequote von 7,4 Prozent. Zwar ist zu vermuten, dass sich das Strafverfolgungsrisiko sowohl für innerfamiliäre als auch für extrafamiliäre Täter im Verlauf der seitdem vergangenen 18 Jahre deutlich erhöht hat. Aber auch hier kann nur eine erneute Repräsentativbefragung die Aufklärung erbringen und damit zugleich eine Antwort auf die Frage ermöglichen, in welchem Ausmaß der sexuelle Missbrauch seit 1992 tatsächlich gesunken ist. Zur Frage einer Reviktimisierung im Erwachsenenalter hat sich gezeigt, dass Frauen, die in ihrer Kindheit Opfer elterlicher Misshandlung oder sexuellen Missbrauchs waren und auch elterliche Partnergewalt beobachtet haben, später im Leben signifikant höhere Raten der Viktimisierung durch schwere physische und/oder sexuelle innerfamiliäre Gewalt aufweisen. In der Gruppe der Mütter, die im Erwachsenenalter Opfer innerfamiliärer Gewalt waren, findet sich zudem eine höhere Rate von Frauen, die in der Erziehung ihrer eigenen Kinder aktiv physische Gewalt anwendet. International ist das Thema des sexuellen Missbrauchs ganz ähnlich wie in Deutschland erst in den 80er und 90er Jahren in den Blickpunkt der Forschung geraten. Sehr schnell zeigte sich, dass die relativ kleine Anzahl öffentlich bekannt gewordener Fälle keinesfalls als Beleg für eine niedrige Opferrate gewertet werden kann (Finkelhor, Hotailing, Lewis & Smith, 1990). Finkelhor hat 2005 im Rahmen einer Sekundäranalyse anhand von Studien aus 21 Ländern verglichen, welche Opferraten sich jeweils gezeigt haben. Dabei stellte sich zunächst heraus, dass die Daten zu einem großen Teil nicht vergleichbar waren, weil sich zu große Divergenzen in der Definition des sexuellen Missbrauchs oder der Befragungsmethode ergeben haben. Zudem war es den Forschern in den meisten Ländern nicht möglich gewesen, ihren Untersuchungen repräsentative Bevölkerungsstichproben zugrunde zu legen. Dort, wo Letzteres realisiert werden konnte, erbrachten die Befragungen sexuelle Missbrauchserfahrungen bei wenigstens sieben Prozent der Frauen und bei drei Prozent der Männer (Finkelhor, 2005). Generell bestätige sich, dass Mädchen im Vergleich zu Jungen ein deutlich höheres Risiko haben, Opfer sexuellen Missbrauchs zu werden (1,5 bis 3-mal so hoch) und dass sich hier besonders große Unterschiede im Bereich der innerfamiliären Viktimisierung zeigen. Gleichzeitig ist aber auch deutlich geworden, dass es Jungen und Männern erheblich schwerer fällt als Mädchen und Frauen, über ihre Erfahrungen zu sprechen, Anzeige zu erstatten und möglicherweise auch gegenüber Wissenschaftlern zuzugeben, dass sie Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind (Bange, 2007). Insoweit ist allerdings nicht auszuschließen, dass sich auch bei den Männern im Laufe der letzten 10 Jahre die Bereitschaft deutlich erhöht hat, zu ihren sexuellen Viktimisierungserfahrungen in der Kindheit zumindest bei Fragebogenerhebungen vollständige Angaben zu machen. Auffallend ist jedenfalls, dass es sich bei den meisten Opfern, die in den letzten Jahren öffentlich über entsprechende Opfererfahrungen berichtet haben, um Männer handelt. In der öffentlichen Debatte zum sexuellen Missbrauch Minderjähriger stand in den letzten Monaten häufig der Tätertyp des Pädophilen im Vordergrund. Hierbei handelt es sich um 8 9 Männer, die in ihrer sexuellen Ausrichtung ausschließlich oder überwiegend auf vorpubertäre Kinderkörper (Jungen und/oder Mädchen) fixiert sind und deswegen meist nicht in festen Partnerschaften bzw. Sexualbeziehungen mit altersgleichen Partnern leben (Ahlers, 2010, 14). Das Interesse der Pädophilen bezieht sich dabei nicht nur auf sexuelle Kontakte mit einem Kind. Darüber hinaus besteht meist ein ganzheitlicher, partnerschaftlicher Beziehungswunsch, wie dies in partnerschaftlichen Beziehungen von Erwachsenen auch der Fall ist (Vogt, 2006). Pädophile betonen deshalb sehr, dass ihr sexuelles Handeln gegenüber den Kindern von Liebe geprägt sei und nicht davon, die Kinder mit Gewalt zu missbrauchen (Beier et al, 2006, 2009, Ahlers, 2010). In den Medien ist in den letzten Monaten vielfach der Eindruck entstanden, pädophile Täter würden beim sexuellen Kindesmissbrauch dominieren. Hiergegen spricht jedoch bereits der Befund einer Untersuchung der American Psychiatric Association (APA, 1999). Von den wegen sexuellen Missbrauchs verurteilten Täters eines Jahrgangs war dort nicht einmal ein Viertel als pädophil einzustufen. Dies mag allerdings auch damit zusammen hängen, dass pädophile Täter möglicherweise ein geringeres Anzeigerisiko haben, weil sie sich häufig darum bemühen, zu ihren Opfern eine enge persönliche Beziehung herzustellen. Von den Pädophilen ist eine zweite Gruppe des sexuellen Missbrauchs zu unterscheiden – die Hebephilen. Sie bevorzugen in ihrer sexuellen Ausrichtung jugendliche Mädchen- und Jungenkörper. Gegenstand ihres sexuellen Interesses ist die beginnende, sich vollziehende oder gerade abgeschlossene Geschlechtsreife, wenn sie sich in äußerlich erkennbaren Zeichen dokumentiert wie etwa der Brustbildung bei den Mädchen oder dem Stimmbruch bei den Jungen (Schiefenhövel, 2003; Grammer & Renninger, 2004; Fink et al 2006). Im Vergleich zu den Pädophilen stellen die Hebephilen offenbar eine größere Gruppe dar. Für diese These spricht jedenfalls der Befund einer empirischen Studie, die Ahlers 2010 vorgelegt hat. Er konnte eine Gruppe von 466 Männern zu ihrer sexuellen Ausrichtung befragen, die sich in Berlin freiwillig für seine Untersuchung zur Verfügung gestellt hatten. Danach zeigte sich, dass die hebephile sexuelle Präferenz in Bezug auf Mädchen um das 3,5-fache (bei Jungen um das 2,2-fache) häufiger ist als die Pädophile (Ahlers, 2010: 58). Damit ist freilich, was Ahlers selber auch deutlich hervorhebt, noch nicht belegt, dass sich bei einer Repräsentativbefragung eine entsprechende Dominanz der Hebephilen ergeben würde. So ist es bei einer Befragung von Freiwilligen durchaus denkbar, dass Pädophile sich seltener zur Verfügung stellen als Hebephile, weil sich erstere mit ihrer Vorliebe für Kinder noch stärker als Außenseiter fühlen dürften als die Vergleichsgruppe derer, die Jugendliche kurz nach der Pubertät bevorzugen. Und selbst wenn man unterstellt, dass bei Ahlers eingetretene Zahlenverhältnis der beiden Gruppen entspräche weitgehend der Wirklichkeit, wäre damit noch nicht geklärt, in welchem Ausmaß Pädophile und Hebephile ihre sexuellen Phantasien und Wünsche auch in die Tat umsetzen und mit Minderjährigen ihrer Zielgruppe sexuellen Missbrauch begehen. Zu beachten ist ferner, dass es nach Einschätzung führender Sexualwissenschaftler unter diesen Tätern des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger eine dritte Gruppe gibt, die möglicherweise sogar zahlenmäßig dominiert: Männer und Frauen, die eigentlich erwachsene 9 10 Sexualpartner bevorzugen würden und sich, weil sie ihre Zielgrupe nicht erreichen konnten, ersatzweise an Minderjährigen vergriffen haben (Beier et al, 2005; Ahlers, 2010). Die Gründe dafür, warum es diesen Missbrauchstätern nicht möglich, eine Sexualbeziehung mit erwachsenen Partnern einzugehen, sind bisher ebenso wenig erforscht worden wie die Frage, zu welchem Anteil diese verschiedenen Tätergruppen bei der Realisierung ihrer Sexualwünsche Gewalt eingesetzt haben und ob diesen Taten gegebenenfalls sadistische und an Machtausübung orientierte Persönlichkeitsstrukturen zu Grunde liegen. Angesichts der Tatsache, dass nach den Daten der KFN-Befragung des Jahres 1992 nur ein Viertel der Missbrauchskontakte in der Familie entstanden ist, stellt sich die Frage, in welchen Bereichen die Kinder ein besonders hohes Risiko haben, potentiellen Tätern zu begegnen. Nach den vorliegenden empirischen Befunden ist sexueller Missbrauch in der Regel kein zufälliges Geschehen, sondern langfristig geplant (Bange, 2007, 58). Das Ziel der Täter ist es, die Kinder gefügig und wehrlos zu machen. Diese Kinder sollen nicht über ihre Erlebnisse sprechen, der Missbrauch soll unentdeckt bleiben und fortgesetzt werden können (Heiliger, 2000; Enders, 2001). Zentral ist für die Täter der Aufbau bzw. das Ausnutzen einer Vertrauensbeziehung zum Opfer durch besondere emotionale und soziale Zuwendung. Besonders empfänglich und von daher bevorzugt als Opfer ausgewählt sind Kinder mit entsprechenden Defiziten: Kinder, die durch emotionale Vernachlässigung, ein familiäres Klima der Gewalt oder auch durch ein Leben in sozialen Randlagen besonders geschwächt sind. Zur Kontaktaufnahme werden Orte aufgesucht, an denen sich Kinder bevorzugt aufhalten (Spielplätze, Schwimmbäder, Computerabteilungen großer Kaufhäuser) oder es werden auch Berufe gewählt, die häufige Kontakte zu Kindern bzw. Jugendlichen gewährleisten. Die Tatsache, dass in den letzten Monaten mehrere Internate wegen gehäufter Missbrauchsfälle in die Schlagzeilen geraten sind, dürfte kein Zufall sein. Zum einen ist davon auszugehen, dass dort der Anteil von belasteten Kindern aus problematischen Familienverhältnissen deutlich höher liegt als an normalen Schulen. Zum anderen ist zu befürchten, dass pädophil orientierte Pädagogen sich mit besonderer Vorliebe auf Stellen an Internaten bewerben, weil sich dort erweiterte Möglichkeiten ergeben, in engen Kontakt zu Kindern treten zu können. 5. Zur aktuellen Debatte um den Kindesmissbrauch durch Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige In der Öffentlichkeit ist im Jahr 2010 der Eindruck entstanden, dass katholische Kinder, die in ihren Kirchengemeinden beispielsweise als Ministranten tätig sind, ein besonders hohes Risiko haben könnten, Opfer sexuellen Missbrauchs durch Priester zu werden. So schätzte Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 1./2. April 2010 in seinem Leitartikel „Das Leiden der Kirche“, dass in unserem Land 90 Prozent der Missbrauchsfälle sich außerhalb der Katholischen Kirche ereignet. 10 Prozent wären danach den Priestern zuzurechnen. Der Theologe Hans Küng hatte ferner in der SZ vom 8. März 2010 die These aufgestellt, der Zölibat sei mitverantwortlich für einen massenhaften sexuellen Missbrauch von Kindern 10 11 durch katholische Priester und Ordensangehörige. Die bisher bekannt gewordenen Fakten sprechen allerdings nicht dafür, dass diese Einschätzungen zutreffen. So hat der SPIEGEL Anfang Februar bei allen 27 Diözesen Deutschlands nachgefragt, wie viele Priester oder kirchlich angestellte Laien in ihrem jeweiligen Amtsgebiet seit 1995 als Tatverdächtige oder Verurteilte dieses Deliktes registriert worden sind. 24 Diözesen haben geantwortet. Wenn man die von ihnen benannten sieben Laien streicht, ergeben sich 117 verdächtige Priester – im Durchschnitt pro Bistum also 4,9. Unterstellt man ferner für die drei fehlenden Bistümer sicherheitshalber jeweils eine doppelt so große Zahl, also 30 weitere Personen, errechnet sich eine Gesamtzahl von 147 Priester, die in den 15 Jahren bundesweit von der Polizei als Tatverdächtige registriert worden sind. Dem steht gegenüber, dass in Deutschland zwischen 1995 und 2009 die Zahl der polizeilich erfassten Tatverdächtigen des sexuellen Kindesmissbrauchs insgesamt 137.407 betrug. Der Anteil der tatverdächtigen katholischen Priester liegt damit bei 0,1. Nun könnte man einwenden, dass das Dunkelfeld bei Missbrauchsfällen in der Kirche besonders groß sein könnte. Möglicherweise ist die Hemmschwelle, einen Priester anzuzeigen, für viele Opfer höher als bei Tätern aus ihrem sonstigen nicht-familiären Umfeld. Aber selbst wenn die kirchliche Dunkelfeldquote deswegen dreimal größer wäre als im Durchschnitt der anderen Fälle, läge der Anteil der Priester bei den Tätern lediglich bei drei statt bei einem Promille. Zweifel ergeben sich ferner an der These von Küng, dass katholische Priester durch den Zölibat ein deutlich erhöhtes Risiko hätten, Täter des Missbrauchs zu werden. Gegen diese Behauptung spricht zunächst, dass es sich bei einem großen Teil der Täter um pädophile Männer handeln müsste, also um Personen, die bereits unmittelbar nach der Pubertät darauf festgelegt sind, durch vorpubertäre Kinderkörper sexuell erregt zu werden und sich in Kinder zu verlieben. Bei ihnen kann die spätere Entscheidung, als Priester eine Keuschheitsverpflichtung einzugehen, ihre sexuelle Grundorientierung also in keiner Weise befördert haben. Offen ist allerdings, ob Priester, die von ihrer sexuellen Grundorientierung her eigentlich erwachsene Partner bevorzugen würden, gewissermaßen ersatzweise auf Kinder zugehen, wenn ihnen – auch zölibatsbedingt – der Weg zu ihrer eigentlichen Zielgruppe versperrt erscheint. Zu dieser wichtigen Frage verfügen wir in Deutschland über keine empirischen Befunde. Anders als in den USA hat sich die katholische Kirche bisher nicht dazu entschließen können, Wissenschaftler damit zu beauftragen, sämtliche bekannt gewordenen Fälle des sexuellen Missbrauchs durch Priester systematisch zu untersuchen. In den USA ist aus diesem großen Forschungsprojekt, zu dem sich dort die katholische Bischofskonferenz bereits im Jahr 2004 entschlossen hat, eine Fülle von breit fundierten Erkenntnissen erwachsen. Einen Überblick zu den aktuell vorliegenden Befunden vermittelt eine von Karen Terry, der Projektleiterin, herausgegebene Sondernummer der Zeitschrift „Criminal Justice And Behavior“ (Terry, 2008; Smith et al., 2008; Perillo et al., 2008, Tallon & Terry, 2008). 11 12 Die oben unter 1. dargestellte Dunkelfeldforschung wird zwar zur Häufigkeit der von Priestern begangenen Missbrauchstaten sowie zu ihrer Vorgehensweise und den Merkmalen der Opfer erste Erkenntnisse ermöglichen. Es ist aber zu bezweifeln, dass die Zahl der Fälle ausreichend groß sein wird, um zu diesem Teilbereich des Missbrauchs breit fundierte Befunde erarbeiten zu können. Es wäre der Katholischen Kirche deshalb sehr zu wünschen, dass sie sich nach dem Vorbild der amerikanischen Bischofskonferenz dazu entschließt, zum sexuellen Missbrauch durch Priester, Diakone und männliche Ordensmitglieder eine umfassende Untersuchung zu ermöglichen. 6. Literaturverzeichnis American Psychiatric Association (APA) (1999). Dangerous sex offender. A Task-ForceReport. Washington DC. Ahlers, Ch. J. (2010). Paraphilie und Persönlichkeit – Eine empirische Untersuchung zur Prävalenz von Akzentuierungen der Sexualpräferenz und ihrem Zusammenhang mit dem Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit. Dissertation am Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Medizinischen Fakultät Charité, Universitätsmedizin Berlin. Bange, D. (2007). Sexueller Missbrauch an Jungen. Die Mauer des Schweigens. Göttingen: Hogrefe. Bange, D. & Deegener, G (1996). Sexueller Missbrauch von Kindern. Ausmaß, Hintergründe, Folgen. Weinheim: Psychologie Verlags Union. Beier, K. M.; Ahlers, Ch. J.; Schaefer, G. A.; Goecker, D.; Neutze, J. & Feelgood , S. (2006). Das Präventionsprojekt Dunkelfeld (PPD): Der Berliner Ansatz zur therapeutischen Primärprävention von sexuellem Kindesmissbrauch. Humboldt-Spektrum. 13 (3). Beier, K. M.; Ahlers, Ch. J.; Goecker, D.; Neutze, J.; Mundt, I. A.; Hupp, E. & Schäfer G. A. (2009a). Can pedophiles be reached for primary prevention of child sexual abuse? First results of the Berlin Prevention Project Dunkelfeld (PPD). Journal of Forensic Psychiatry and Psychology. (Accepted for Publication). Beier, K.M.; Bosinski, H.A. G. & Loewit, K.K. (2005). Sexualmedizin (2. Auflage). Jena: Urban & Fischer Brockhaus, U. & Kolshorn, M. (1993). Sexueller Gewalt gegen Mädchen und Jungen. Frankfurt/M.: Campus. Deutsche Bischofskonferenz (2010). Rahmenordnung zur Prävention von sexuellem Missbrauch an Minderjährigen. Von der dbk am 23.9.2010 verabschiedet. Deutsche Bischofskonferenz (2010). Prävention von sexualisierter Gewalt an Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen . Handreichung für katholische Schulen, Internate und Kindertageseinrichtungen. Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 12 13 Deutsche Bischofskonferenz (2011): Handreichung der Jugendkommission zur Prävention von sexualisierter Gewalt im Bereich Jugendpastoral. Bonn: Sekretariat Deutsche Bischofskonferenz http://www.dbk.de/nc/veroeffentlichungen/?tx_igmedienkatalog_pi1[catsearch]=6&tx_igmedi enkatalog_pi1[show]=1&cHash=2b11ed377f281e744f9b10416b49789) Deutsche Bischofskonferenz, 2010. Zwischenbericht der Hotline der Deutschen Bischofskonferenz für Opfer sexueller Gewalt. http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/Dossiers/Zwischenbericht_Teil2_ StatistischeDaten101117.pdf Enders, U. (2001). Zart war ich, bitter war’s. Handbuch gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen. Köln: KiWi. Fink, B. Grammer, K. & Kappeller, P. (2006). Zum Verlieben schön. Spektrum der Wissenschaft. November, 28-35. Finkelhor, D. (2005). Zur internationalen Epidemiologie von sexuellem Missbrauch an Kindern. In G. Amman & R. Wipplinger (Hrsg.). Sexueller Missbrauch – Überblick zu Forschung, Beratung und Therapie. Ein Handbuch. 3. Aufl. (S. 81-94). Tübingen: dgvtVerlag. Finkelhor, D. & Baron, L. (1986). High-risk children. In D. Finkelhor (Ed.), A sourcebook on child sexual abuse (pp 60-88). Newbury Park: Sage. Finkelhor, D.; Hotailing, G.;Lewis, I.A. & Smith, C. (1990). Sexual abuse in national survey of adult men and women: Prevalence, characteristics, and risk factors. Child Abuse &Neglect, 14, 19-28. Grammer, K.; Renninger, L. (2004). Disco. Clothing, Female Sexual Motivation and Relationship Status: Is She Dressed to Impress? Journal of Sex Research. 41 (1), 66-74. Heiliger, A. (2000). Täterstrategien und Prävention. München: Frauenoffensive. Julius, H. & Boehme, U. (1997). Sexuelle Gewalt gegen Jungen. Göttingen: Verlag für Angewandte Psychologie. Österreichische Bischofskonferenz (2010). Die Wahrheit wird euch frei machen. Rahmenordnung für die Katholische Kirche in Österreich (Maßnahmen, Regelungen und Orientierungshilfen gegen Missbrauch und Gewalt), 8. Perillo, A.D., Mrcado, C.C. & Terry, K.J. (2008). Repeat Offending, Victim Gender, and Extend of Victim Relationship in Catholic Church Sexual Abusers. Criminal Justice and Behavior, Special Issue: Child Sexual Abuse by Catholic Priests. Guest Editor: Karen J. Terry, Vol. 35. No.5, 600-614. Sariola, H. & Uutela, A. (1994). The prevalence and context of incest abuse in Finland. Child Abuse & Neglect, 18, 827-835. Schiefenhövel, W. (2003). Geschlechterverhältnisse und Sexualität auf den Trobriand-Inseln. Sexuologie. 10 (1), 2-13. 13 14 Tallon, J. & Terry, K. (2008). Analyzing paraphilic activity, specialization, and generalization in priests who sexually abused minors. Criminal Justice and Behavior, 35, 615628. Terry, K.J. (2008).The nature and Scope of Child Sexual Abuse in the Catholic Church. Criminal Justice and Behavior, Special Issue: Child Sexual Abuse by Catholic Priests. Guest Editor: Karen J. Terry, Vol. 35. No.5, 549-569. Vogt, H. (2006). Pädophilie. Leipziger Studie zur gesellschaftlichen und psychischen Situation pädophiler Männer. Lengerich: Pabst Science Publishers. Wetzels, P. (1997). Gewalterfahrungen in der Kindheit. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. 14 15 An die Vorsitzenden des Rechts- und Intergationsausschusses und des sozialpolitischen Ausschusses Hessischer Landtag Postfach 3240 65022 Wiesbaden Stellungnahme der BAG Verfahrensbeistandschaft zum Antrag der Fraktionen im Hess. Landtag betreffend öffentliche Anhörung und ressortübergreifende Koordinierung zur Bekämpfung sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen Berlin, den 09.04.2011 Die BAG Verfahrensbeistandschaft/Interessenvertretung für Kinder und Jugendliche e. V. setzt sich grundsätzlich für die Partizipationsrechte von Kindern gemäß der UN-Kinderrechtekonvention ein. Aus diesem Grunde halten wir folgende Maßnahmen im Interesse der betroffenen Kinder für sinnvoll und notwendig: 1. Kommt es im Rahmen des Vorwurfs eines sexuellen Missbrauchs oder Übergriffs zu einem familiengerichtlichen Verfahren, so soll für das Kind grundsätzlich ein Verfahrensbeistand gemäß § 158 FamFG bestellt werden! 2. Kommt es im Rahmen eines Verdachtes auf sexuellen Missbrauch zu einer Herausnahme des Kindes im Rahmen einer Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII und anschließendem Sorgerechtsverfahren, so soll dem Kind im familiengerichtlichen Verfahren nach § 158 Abs. 2 Satz 3 FamFG ebenfalls umgehend ein Verfahrensbeistand an die Seite gestellt werden. 3. Grundsätzlich soll gemäß § 158 Abs. 3 FamFG in diesen Fällen eine Verfahrensbeistandsbestellung frühzeitig, also zu Beginn des Verfahrens erfolgen. 4. Kommt es im Rahmen des Vorwurfs eines sexuellen Missbrauchs oder Übergriffs zu einem polizeilichen Ermittlungsverfahren oder einem strafgerichtlichen Verfahren, so soll für das Kind grundsätzlich ein Ergänzungspfleger für den Bereich „Aussagegenehmigung“gemäß §§ 1909 BGB bestellt werden! Dabei soll bei der Auswahl auf die ausreichende Qualifikation dieser Ergänzungspfleger im Bereich Pädagogik und Psychologie sowie Umgang mit Kindern besonders geachtet werden. 5. In den Fällen, in denen von einem Elternteil ein Verdacht auf sexuellen Übergriff auf ein Kind geäußert wurde, soll zur Absicherung des Rechts des Kindes auf Umgang mit beiden Elternteilen nach §§ 1684 Abs. 1 BGB ein geschützter Umgang nach §§ 1684 Abs. 4 Satz 3 BGB dann umgesetzt werden, wenn dies dem Kindeswohl entspricht. Dies ist im Einzelfall zu prüfen. Dabei kann es aber auch in begründeten Fällen, insbesondere bei eindeutiger Umgangsverweigerung des Kindes, zu einem vorübergehenden Umgangsauschluss kommen. 16 6. Der nach §§ 1684 Abs. 4 Satz 3 BGB „mitwirkungsbereite Dritte“, also die Person, die den beschützten Umgang in diesen Fällen durchführt, soll über eine entsprechende Qualifizierung verfügen. Das Land soll im Interesse der Kinder darauf hinwirken, dass die Kommunen eine Finanzierung des beschützten Umgangs sicherstellen können. 7. Sollte es nach erfolgter Kindeswohlprüfung und der Anordnung eines beschützten Umgangs zu einer Verweigerung des betreuenden Elternteils kommen, den Umgang zuzulassen, so soll eine Ergänzungspflegschaft für den Bereich „Umgang“ nach §§ 1909 BGB eingerichtet werden. 8. Alle Personen, die als Professionelle in solchen Verfahren direkt mit Kindern zu tun haben, sollen ein erweitertes Führungszeugnis gem. § 30a BZRG vorlegen können. 9. Als präventive Maßnahme halten wir die Information aller Kinder über ihre Rechte auf gewaltfreies Aufwachsen und die rechtliche Vertretung in gerichtlichen Verfahren für dringend erforderlich. Diese Informationen sollten Kindern in den Kindertagesstätten von den Erziehern und in den Schulen von den Lehrern vermittelt werden. Für den Vorstand 1. Vorsitzender der der BAG Verfahrensbeistand/Interessenvertretung für Kinder und Jugendliche e.V. 17 Per Email: [email protected] Die Vorsitzenden des Rechts- und Intergrationsausschusses und des Sozialpolitischen Ausschusses z.H. Dr. Ute Lindemann Hessischer Landtag PSF 3240 65022 Wiesbaden 12. April 2011 I A 2.2 Öffentliche Anhörung des Rechts- und Integrationsausschusses und des Sozialpolitischen Ausschusses des Hessischen Landtags Stellungnahme des Glasbrechen e.V. Sehr geehrte Damen und Herren, vielen Dank für Ihr Schreiben vom 16. März 2011 und die Einladung zu der öffentlichen Anhörung am 25. Mai 2011 in Wiesbaden. Gern nehmen wir die gebotene Gelegenheit wahr, um schriftlich vorab Stellung zu nehmen. I. Wer ist Glasbrechen e.V. und was wollen wir? 1. Am 4. September 2011 wurde Glasbrechen e.V. von ehemaligen Schülern der Odenwaldschule gegründet und rund 2 Monate später als gemeinnütziger Verein eingetragen. In Glasbrechen sind inzwischen viele Betroffene und nicht-betroffene ehemalige Schüler organisiert, die sich für die Interessen der betroffenen Ex-Schüler einsetzen. Hinzu kommen derzeitige Mitarbeiter der Schule, wie auch ehemalige Lehrer und Lehrerinnen. Drei ehemalige Vorstandsmitglieder des Trägervereins der Odenwaldschule (seit 05.2010) sind Mitglieder bei Glasbrechen, darunter auch die beiden zurückgetretenen Sprecher des Trägervereins. Hinzu kommt jetzt auch der ehemalige Landrat des Kreises Bergstrasse, Norbert Hofmann. Die von der Schule seinerzeit beauftragten “Aufklärerinnen” – Frau Burgsmüller und Frau Tilman – sind Mitglieder; Anwälte, Ärztinnen und Juristen, die teils selbstlos Opfer der Verbrechen auf der OSO vertreten, Psychologinnen und Finanzfachleute ebenso. Zwei Mitglieder des 2010 personell „erneuerten“ Trägervereins sind ebenfalls bis dato zu Glasbrechen gestoßen. 18 Stellungnahme Glasbrechen e.V. vom 12.04.2011 Seite 2 von 5 2. Im Einzelnen können Sie die Ziele von Glasbrechen aus der anliegenden Kopie unserer Satzung ersehen (Anlage 1). 3. Zum Anlass der Vereinsgründung im weiteren Sinne verweisen wir auf die umfangreichen Presseveröffentlichungen zum Thema „Missbrauch an der Odenwaldschule“ und die drei Berichte der von der Schule beauftragten Ermittlerinnen, Frau vorsitzende Richterin am OLG i.R. und ehemalige Präsidentin des OLG Frankfurt Brigitte Tilmann und Rain Claudia Burgsmüller (Anlagen 2-4). II. Was hat Glasbrechen seit vergangenem Herbst getan? Wir haben einen Beirat eingerichtet, der sich mit der Verteilung möglicher Kompensationsgelder schon jetzt beschäftigt; und zwar vordringlich mit dem Thema, wie das unter Wahrung des Persönlichkeitsschutzes transparent, menschlich und auch aus Sicht der Betroffenen nachvollziehbar erfolgen kann. Wir sind durch Eigeninitiative beteiligt am Runden Tisch der Bundesregierung, der von Frau Dr. Bergmann organisiert und einberufen wurde. Wir haben uns, unter strikter Beachtung des Datenschutzes, an alle bekannten Opfer mit der Bitte gewandt, uns zu sagen, was jeder/jede Einzelne erwartet oder sich wünscht – von uns im Rahmen unserer Satzung und von der Schule. Wir haben ein erstes fachlich kompetent geführtes Projekt für die Betroffenen auf den Weg gebracht, aus dem weitere Angebote für Gruppen oder Einzelne hervorgehen sollen. Voraussichtlich wird es vor Juni 2011 stattfinden. Wir suchen nach Wegen, die wissenschaftliche Aufarbeitung der Taten zu fördern. Für die Aufarbeitung müssen nicht unerhebliche Mittel mobilisiert werden. Sie soll frei von Einflussnahmen aus dem Kreis der im weiteren Sinne Beteiligten erfolgen. Hier stehen wir ganz am Anfang. III. Wünsche und Forderungen von Glasbrechen e.V. an die Politik Glasbrechen solidarisiert sich unabhängig von Tatzeit und Tatort mit allen Betroffenen sexualisierter Gewalt. Glasbrechen fordert im Zusammenhang mit pädosexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen – wo auch immer sie geschieht – Verjährungsfristen (zivil- wie strafrechtlich), die ihnen eine wirksame Rechtsverfolgung ermöglichen, sobald sie dazu tatsächlich die Kraft und innere Möglichkeit haben. Mord verjährt – erst seit den siebziger Jahren – als einzige Straftat nicht. Der pädosexuelle Missbrauch an Kindern allerdings lässt die Opfer wie die Täter weiterleben – die Täter in aller Regel ungestraft, die Opfer bestraft für ihr Leben. Die bestehenden Verjährungsregelungen verhindern eine gerichtliche Klärung. Glasbrechen fordert größere und nachhaltigere Anstrengung durch Schaffung von Tatsachen seitens der Gesetzgeber, der zuständigen Behörden, sowie der von der Bundesregierung eingerichteten Gremien zur Prävention und Aufklärung der pädosexuellen Gewalt an Kindern und Schutzbefohlenen. Glasbrechen setzt sich dafür ein, ein für die Tatbegehung ungünstiges Umfeld zu schaffen. Das erfordert, dass die Personen in diesem Umfeld früher und eher geneigt sind, einzugreifen. Das setzt zunächst voraus, dass es dem weiteren Umfeld erschwert wird, Druck auf Eingreifende 19 Stellungnahme Glasbrechen e.V. vom 12.04.2011 Seite 3 von 5 auszuüben. Es setzt weiter voraus, dass ein Rahmen geschaffen wird, in dem geeignete Maßnahmen schnell so ergriffen werden, dass in jeder Richtung die Menschenwürde gewahrt wird. Bedenkt man, dass anfangs die Hinweise auf eine Tatgefahr diffus sein können, ist es auch nötig, einen Tatverdacht für potentielles Opfer und möglichen Täter schonend ausräumen zu können, wenn er nicht begründet ist. Am Ende soll so gut es geht gewährleistet sein, dass der Täter keine Gelegenheit erhält, auf potentielle Opfer zuzugreifen; und zwar zunächst bis zur Klärung der Umstände, sowie bei begründetem Verdacht bis auf Weiteres. Glasbrechen spricht sich auch dafür aus, potentiellen Tätern die Möglichkeit zu geben, mit fachlich qualifizierter Anleitung zu lernen, wie sie nach Kräften vermeiden, Taten zu begehen. Sie sollten hierzu auch verpflichtet werden können. Glasbrechen hält eine Verstärkung der Bemühungen für wesentlich, Kinder und Jugendliche zu „stärken“ und zu befähigen, sich Übergriffen zu widersetzen und die Täter laut zu benennen. Das Strafrechtsystem ist Angeklagtenzentriert gestaltet. Das hat seine guten Gründe und fußt in der s.g. Unschuldsvermutung. Im Zivilprozess – meist auf Schadenersatz aber auch Unterlassung von Anschuldigungen gerichtet – sind Opfer Partei wie jede andere. Egal, wie man es dreht oder wendet, tragen die Verfahren ihrer oft fragilen Verfassung nicht zureichend Rechnung. Leicht werden sie unerträglichen Befragungsmethoden ausgesetzt oder durch die Presse ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Die Öffentlichkeit orientiert sich dabei leicht an spektakulären Verfahren, wie sie in Frankreich, Worms oder Mannheim stattfanden bzw. -finden, ohne die Vielzahl jener Fälle zu berücksichtigen, in denen sich der Tatverdacht bestätigte. Das Thema ist schwer angemessen zu bewältigen. Gleichwohl fordert Glasbrechen nachdrücklich eine einfühlende, fürsorgliche Behandlung aller Opfer von pädokriminellen Tätern in jeder Art von Verfahren; sei dies vor Behörden oder Gerichten. Auch Opfer, die später dem Kindesalter entwachsen sind, sollten so geschützt werden, wie jugendliche Missbrauchsopfer, die vor Gericht oder Behörden gezogen werden. IV. Wünsche und Forderungen von Glasbrechen e.V. an die Politik in Hessen 1. Die allgemeinen Forderungen von Glasbrechen richten sich im Wesentlichen an den Bundesgesetzgeber. Unsere Wünsche und Forderungen an das Land Hessen betreffen vor allem das Verhalten der zuständigen Landesbehörden und Ämter. Wen man auch fragt - alle erklären sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen sei abscheulich. Allein, im Angesicht des Verdachts oder der Tat ist das engere und weitere Umfeld dann seltsam verstock, schaut weg, und nimmt eine abwehrende Haltung ein, statt tatkräftig zu helfen. Das hilft den Tätern. Behörden und Ämter exponieren sich bei der Wahrnehmung ihrer gesetzlichen Aufgaben ungern und nehmen leicht eine als ‚defensiv’ zu qualifizierende Haltung ein. Die Opfer sind nicht nur im Verhältnis zum Täter ‚verstrickt’ und fühlen sich befleckt oder schuldig. Ab dem Tag, an dem sie die Tat und den Täter benennen können, sehen sie sich einem Stigma ausgesetzt. Vor allem bei im gesellschaftlichen Umfeld gut beleumundeten oder beliebten Tätern erfahren sie weniger Solidarität, denn Zweifel oder verdeckte Ablehnung. Schnell mobilisiert werden hier zur Diskreditierung der Opfer Beispielsfälle, in denen der Verdacht sexueller Gewalt sich später als unbegründet erwies. Das Land Hessen ist aufgerufen, die verantwortlichen Mitarbeiter von Ämtern und Behörden so zu schulen, dass sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten selbst nicht in solche Verhaltensmuster verfallen und der Entstehung oder Verfestigung dieser Muster im Umfeld entgegenwirken. 20 Stellungnahme Glasbrechen e.V. vom 12.04.2011 Seite 4 von 5 Im Zusammenhang mit sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen wird zu sehr auf das Strafrecht geschaut. Das vorrangige Ziel von Glasbrechen ist, dass möglichst wenige dieser Taten geschehen. Glasbrechen wünscht sich vom Land Hessen kreative Kampagnen, mit denen das nähere und weitere Täterumfeld zum frühzeitigen Hinschauen und zur Intervention mit Augenmaß angehalten wird. Das wird es erfordern, dass nach Kräften vermieden wird, im letztlich nicht gerichtsfest zu konkretisierenden Verdachtsfall all jene, die tätig wurden, mit disziplinarischen oder sonstigen rechtlichen Konsequenzen zu ‚überziehen’. Denn Glasbrechen hat den Eindruck, dass Wegschauen und Negieren zu einem guten Teil der Furcht geschuldet ist, negative Konsequenzen erleiden zu müssen. Ziel sollte sein, die (potentiellen) Täter für alle Beteiligten schonend aus dem beruflichen oder sonstigen Umfeld herauszunehmen, in dem sie mit potentiellen Opfern in zu engen Kontakt geraten können. Konkret wünscht sich Glasbrechen vom Land Hessen deshalb eine wissenschaftlich fundierte Entwicklung von Handlungskonzepten, die dann durch Schulungen der Verantwortlichen in Behörde und Schulen, sowie auch der Kinder und Jugendlichen im Unterricht dauerhaft umgesetzt und ständig beobachtet und verbessert werden. Im Zusammenhang mit sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen an der Odenwaldschule erschreckt, wie lange der Tatzeitraum ist und wie verspätet die Taten ins Blickfeld geraten sind. Glasbrechen fordert eine Überprüfung der damaligen hessischen Kontrollorgane (Staatsanwaltschaften, Ermittelnde Polizei, Schulaufsichtsbehörden, Trägerverein, Hessisches Kultusministerium [hier Holzapfel: - es sollen dort angeblich Akten im Zusammenhang mit der Odenwaldschule verschwunden sein]). Es sind dabei die Mechanismen und Verhaltensmuster aufzudecken, die letztlich den Tätern zugute kamen. Im Zusammenhang mit sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen auf der Aufsicht von Landesbehörden unterliegenden Einrichtungen werden nach Eintritt von Taten Verfahren in Gang gesetzt, die auf Sanktionen zielen - wie dem Entzug von erforderlichen Erlaubnissen. Es ist klar, dass die Angst vor derartigen Konsequenzen die betroffenen Einrichtungen dazu motiviert, Vorfälle zu verschweigen oder zu unterdrücken. Es wird also staatlicherseits ein falscher Anreiz gesetzt. Glasbrechen spricht sich demgegenüber dafür aus, einen Problemlösungsorientierten Absatz zu verfolgen. Das bedeutet, dass die Landebehörden sich vordringlich auf die Intervention zur Bestandaufnahme und Verbesserung der internen Prozesse in der ‚befallenen’ Einrichtung konzentrieren sollten und – wenn noch nicht geschehen - befugt werden müssten, hier Auflagen zu machen. Verwaltungsmäßige Sanktionen sollten nur ultima Ratio sein, wenn eine Verbesserung scheitert. Im Übrigen sollte personenbezogen vorgegangen werden; z.B. gegen Vertuschungs- oder Unterdrückungsversuche als Amtspflichtverletzung. Glasbrechen wünscht sich vom hessischen Landtag Unterstützung für die wissenschaftliche Aufarbeitung der sexuellen Gewalt an Kindern und Jugendlichen an der Odenwaldschule und des passiv fördernden weiteren Umfelds, das diese über einen so langen Zeitraum ermöglichte. Als qualifizierter Wissenschaftler kommt hier Prof. Dr. Jörg Fegert (Universitätsklinikum Ulm) in Betracht, der willens und in der Lage ist, ein entsprechendes Projekt zu konzipieren und durchzuführen, wenn er dazu von unbeteiligter Seite beauftragt wird. Glasbrechen würde ihn durch seine Mitglieder bei der Informationsgewinnung unterstützen. Das erforderliche Budget überschreitet die Möglichkeiten von Glasbrechen bei weitem. Glasbrechen will seine Mittel für die Betroffenen einsetzen. Glasbrechen bittet deshalb den hessischen Landtag hier um Hilfe und möchte mit den zuständigen Stellen in Hessen zu diesem Projekt ins Gespräch kommen. Schließlich wünscht sich Glasbrechen eine nachhaltige öffentliche Debatte über Schuld, Sühne und damit auch einen Ausgleich der von den Opfern erlittenen Nachteile. Glasbrechen hofft, dass der hessische Landtag sich hierbei energisch engagiert. Glasbrechen bedauert, dass die 21 Seite 5 von 5 Stellungnahme Glasbrechen e.V. vom 12.04.2011 derzeitige öffentliche Debatte die Opfer aus dem Blick verliert, weil sie die sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen an der Odenwaldschule in Zusammenhang mit behaupteten ‚Geburtsfehlern’ der Reformpädagogik thematisiert. Das verstellt den Blick auf das Wesentliche und mobilisiert Abwehreaktionen, die - wohl ungewollt - den Tätern und ihren Gehilfen nutzen. Allerdings wird irgendwann getrennt der Frage nachgegangen werden müssen, wie die Täter ihr Umfeld so manipulieren konnten, dass reformpädagogisches Gedankengut von innen heraus erst usurpiert und dann pervertiert werden konnte. Glasbrechen e.V. ist jederzeit an einem offenen Dialog mit allen interessiert, die sich darauf einlassen wollen Hochachtungsvoll, Glasbrechen e.V. Der Vorstand Adrian Koerfer Anlagen: Sabine Pohle 1) Satzung Glasbrechen e.V. 2) 1. Ermittlungsbericht 3) 2. Ermittlungsbericht 4) 3. Ermittlungsbericht Patrick de la Trobe Erik Schäfer 22 Sicheres Netz hilft e.V. Markus Wortmann M.A. Äffentliche AnhÅrung und ressortÇbergreifende Koordinierung zur BekÉmpfung sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen Der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen stellt eine gesamtgesellschaftliche und ernstzunehmende Bedrohung dar. Auch wenn in der aktuellen Polizeilichen Kriminalstatistik1 in Hessen 2010 ein R€ckgang der Fallzahlen um 36 auf 753 F•lle (- 4,6 %) zu verzeichnen ist, sollte uns bewusst sein, dass jedes Opfer ein Opfer zu viel ist. Auf Bundesebene ist laut PKS seit 20092 der niedrigste Wert (- 6,1 % auf 11.319 F•lle) seit 1993 zu verzeichnen Das Dunkelfeld in diesem Deliktsbereich spielt dabei eine wesentliche Rolle und sollte nicht untersch•tzt werden. Seitens der Medien- und Presseberichterstattung werden €ber aktuelle, aber auch zur€ckliegende Straftaten im Zusammenhang mit dem sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen sowie €ber den Erwerb/Besitz und die Verbreitung von Kinderpornografie im Internet berichtet ("Tatort Internet – Sch€tzt endlich unsere Kinder"). In der Regel werden solche „Eilmeldungen/Sondermeldungen“ durch die …ffentlichkeit kurzfristig sehr ernst genommen. Im schlimmsten Fall kann je nach Stil der Berichterstattung auch eine sogenannte Kriminalit•tsfurcht in der Bev†lkerung ausgel†st werden. Die Frage, die wir uns stellen sollten, m€sste lauten: „Und was kommt nach dem Opferwerden auf die Opfer zu? Werden die Opfer umfangreich, nachhaltig und angemessen betreut, sodass eine sekund•re bzw. terti•re Viktimisierung ausgeschlossen werden kann? Haben wir einheitliche M†glichkeiten und Strukturen um einen qualifizierten Opferschutz zu gew•hrleisten? Ist es uns m†glich, dass wir durch geeignete Pr•ventionsma‡nahmen das Opferwerden erheblich reduzieren k†nnen? 1 Polizeiliche Kriminalstatistik 2010 des Landes Hessen, Pressepapier, herausgegeben vom LKA in Zusammenarbeit mit dem HMdIS am 24. Februar 2011, Seite 5. 2 Polizeiliche Kriminalstatistik 2009, Bundesministerium des Inneren, Seite 9. 1 23 Sicheres Netz hilft e.V. F€r die Verhinderung des Opferwerdens sollte aktive Kriminalpr•vention auf regionaler und €berregionaler Ebene stattfinden. Diese kann aber letztendlich nur funktionieren, wenn alle Professionen und Institutionen sowie Vereine und Verb•nde auf Grundlage von Wertsch•tzung und einem Miteinander, ohne Konkurrenzen, die gleichen Ziele verfolgen - n•mlich der qualifizierte Opferschutz und die Verhinderung des Opferwerdens. Die Botschaft kann in aller Konsequenz nur lauten: „Taten statt Worte - gemeinsam handeln und mehr erreichen durch interdisziplin•res Handeln.“ Zudem ist zu gew•hrleisten, dass die Betreuung von Opfern ausschlie‡lich von geeignetem und qualifiziertem Personal erfolgt. Dieses Fachwissen wird jedoch bislang bestenfalls fragmentarisch genutzt. Einige Fachberatungsstellen sowie Opferverb•nde und Institutionen bieten einzelne Fortbildungen/Fachtagungen an – anderen Einrichtungen fehlen die finanziellen Voraussetzungen bei vorhandenen Fachkenntnissen g•nzlich. Zudem werden auch in den aktuellen †ffentlichen Diskussionen die fachlichen Ressourcen der Fachberatungsstellen nicht ausreichend wahrgenommen, wertgesch•tzt und ausgesch†pft. Die Bundesweite Handlungsf•higkeit Fortbildungsoffensive (Pr•vention und 2010-20143 Intervention) von zur St•rkung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kinder- und Jugendhilfe zur Verhinderung sexualisierter Gewalt zielt darauf ab, das vorhandene Wissen und die Erfahrungen der Fachberatungsstellen f€r die Pr•ventionsarbeit gewinnbringend zu nutzen. Statt unter gro‡em zeitlichen und finanziellen Aufwand neue Konzepte zu entwickeln und strukturell umzusetzen, gilt es, auf den Erfahrungen jahrzehntelanger Pr•ventionsarbeit aufzubauen und vorhandene Best-Practice-Modelle zu st•rken und auszuweiten. Qualit•tsmanagement und Controlling sowie die Gew•hrleistung der Nachhaltigkeit 3 Deutsche Gesellschaft f€r Pr•vention und Intervention bei Kindesmisshandlung und -vernachl•ssigung e.V., Dr. Esther Klees, Seite 1 – 7. 2 24 Sicheres Netz hilft e.V. sind Grundvoraussetzungen um einen h†chstm†glichen Kinderschutz zu gew•hrleisten. Folgende Punkte sollten kurz- und mittelfristig im Vordergrund stehen, damit ein optimaler Kinderschutz gewÉhrleistet werden kann. Sensibilisierung der …ffentlichkeit f€r den aktiven Kinderschutz (hinschauen statt wegschauen), Selbstverantwortung und Anzeigepflicht als (Netz) B€rgerpflicht. Interdisziplin•res Handeln bei der aktiven Kriminalpr•vention und dem qualifizierten Opferschutz und fl•chendeckende Umsetzung folgender Schwerpunkte: a. Information und Wissen f€r Kinder, Eltern, Kindergarten- und Lehrpersonal, Vereine und alle, die in ihrer Funktion als Erziehungsverantwortliche wirken. b. die Erziehung von selbstbewusstem Verhalten von Anfang an c. das Vorleben von erw€nschten Verhalten und die Thematisierung von Erfahrungen im Umgang mit Grenz€berschreitungen in Familien d. die Vernetzung aller an der Erziehung, Ausbildung, Jugend-, Familienhilfe, Strafverfolgungsorgane e. Aufnahme der Thematik in Lehr- und Studienpl•ne als Grundvoraussetzung Sensibilisierung von Kindern, Jugendlichen und Eltern €ber die Gefahren im Internet, Vermittlung von Internetsicherheit und Erlangung von Medienkompetenz durch Projekte wie die zertifizierte Aus- und Fortbildung zum zertifizierten Internet-Medien-Coach4 f€r Erziehungsverantwortliche. Schaffung und Sicherung von Hilfsangeboten f€r Opfer (qualifizierter Opferschutz5). Ausbau beratender und therapeutischer Angebote f€r Menschen mit p•dosexuellen Neigungen. Professionelle Einbindung von Wissenschaft und Forschung - enge Verzahnung von Theorie und Praxis. 4 Ideengeber/Konzeptverantwortlich f€r die zertifizierte Aus- und Fortbildung zum IMC sind Frau Dr. Korinna Kuhnen und Herr Markus Wortmann M.A., Kooperationspartner: Netzwerk gegen Gewalt/Microsoft Deutschland GmbH und Sicheres Netz hilft e.V., 5 siehe DGfPI; WEISSER RING e.V.; zertifizierter Fachberater Opferhilfe durch die Alice Salomon Hochschule in Berlin etc.. 3 25 Sicheres Netz hilft e.V. Eschborn, den 13. April 2011 im Original unterschrieben Markus Wortmann M.A. Kriminologe und Polizeiwissenschaftler, Dipl.-Verwaltungswirt, zertifizierter Fachberater Opferhilfe Vorstandsvorsitzender Sicheres Netz hilft e.V. www.sicheres-netz-hilft.de 65760 Eschborn Nikolausengasse 3 a [email protected] 4 26 Stellungnahme anlässlich der öffentlichen Anhörung des Rechts- und Integrationsausschusses sowie des sozialpolitischen Ausschusses des Hessischen Landtags am 25. Mai 2011 zum Thema „Bekämpfung sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen“ Das Institut für Rechtsmedizin der Universitätsklinikum Gießen & Marburg GmbH ist zuständig für die rechtsmedizinische Versorgung von 5 LG-Bezirken (Gießen, Marburg, Limburg, Fulda, Kassel). Der Beitrag der Rechtsmedizin zur „Bekämpfung sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen“ umfasst u.a.: 1. Körperliche Untersuchung von missbrauchten Kindern und Jugendlichen mit Dokumentation und sachverständiger Interpretation festgestellter Verletzungen. Die Untersuchung kann in der institutseigenen Ambulanz in Gießen stattfinden oder in Räumen des Universitätsklinikums Gießen. Unter dem Aspekt der Beweissicherung wäre die einmalige gleichzeitige gynäkologische und rechtsmedizinische Untersuchung sinnvoll. 2. Sicherung von Spuren am Körper des Opfers, an Kleidungsstücken, am Tatort und an Tatgegenständen etc. 3. Erstellen von Rechtsmedizinischen Gutachten zur Kausalität von Verletzungen für u.a. Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte, Jugendämter, Heimaufsicht, konsiliarisch für Ärztinnen und Ärzte, im Privatauftrag. 4. Beratung von insbesondere Mitarbeitern der Polizei- und Justizbehörden (Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte) zur konkreten Beweissicherung im Einzelfall, zum Umfang der Beweissicherung, zu relevanten Fragestellungen an Gutachter. 5. Tätigkeit als Sachverständige in Gerichtsverfahren, v.a. Strafverfahren bei Anklagen wegen Sexualstraftaten (13. Abschnitt des StGB – Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, §§ 174 bis 184f StGB) zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen. Diese Tätigkeit wird von anderen ärztlichen Berufsgruppen ungern übernommen, weil dort die Erfahrung mit der Rolle als Sachverständiger vor Gericht fehlt – dies gilt nicht nur für Strafverfahren. 6. Untersuchung von Körperflüssigkeiten (Urin, Blut) und Haaren zum Nachweis von Fremdsubstanzen (mögliche Fremdbeibringung? Wehrlosigkeit des Opfers?), bei Sexualdelikten v.a. zum Nachweis von sog. K.o.-Tropfen wie GHB. 7. Spurentechnische und mikroskopische Untersuchungen vor allem zum Nachweis von Sekretspuren, v.a. Spermaspuren bzw. Spermien und Spurensicherung für molekularbiologische Untersuchungen (DNA-Analyse). 8. Weiterbildungsvorträge u.a. für angehende Polizeibeamte, Polizisten, Staatsanwälte, Mitarbeiter von Jugendämtern, Ärzte, (Kinder-)Krankenschwestern, Hebammen etc. zum Thema Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch. 9. Beratung niedergelassener Ärztinnen und Ärzte bei fraglichen Fällen von Kindesmisshandlung und sexuellem Missbrauch, Beratung und Unterstützung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Schutzambulanz Fulda (erfolgt regelmäßig). 27 10. Einbringen der Themen „Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch“ in die studentische Ausbildung von Studierenden der Humanmedizin und der Rechtswissenschaft. 11. Selten: Obduktion von minderjährigen Opfern eines sexuellem Missbrauchs bei Tötung des Opfers, dann vorab Tatortinspektion, Interpretation des Spurenbildes am Tatort, Untersuchung des Leichnams (Zustand und Auffindeposition, Verletzungsmuster, Leichenliegezeitbestimmung usw.), weiterführende postmortale biochemische, feingewebliche und chemisch-toxikologische Untersuchungen. Institut für Rechtsmedizin Universitätsklinikum Gießen&Marburg GmbH Frankfurter Straße 58 35392 Gießen Prof. Dr. Dr. R. Dettmeyer Prof. Dr. M.A. Verhoff 28 Öffentliche Anhörung des Rechts- und Integrationsausschusses und des Sozialpolitischen Ausschusses des Hessischen Landtages Bekämpfung sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen Kerstin Reckewell Oberstaatsanwältin und Ständige Vertreterin des Leitenden Oberstaatsanwalts, Staatsanwaltschaft Darmstadt Die Strafverfolgungsbehörden sind auf dem Gebiet des sexuellen Missbrauchs von Kindern repressiv tätig. Dabei darf jedoch die spezial- und generalpräventive Wirkung von Verurteilungen nicht vernachlässigt werden. Auch für das betroffene Kind ist die Durchführung eines Strafverfahrens nicht nur belastend. Vielmehr kann von einem Strafverfahren auch eine Entlastungs- und Erledigungsfunktion ausgehen (vgl. Busse, Volbert, Steller, Belastungserleben von Kindern in Hauptverhandlungen, S. 198 m.w.N.). Entscheidend hierfür sowie für die spezial- und generalpräventive Wirkung ist die Art und Weise der Durchführung des Strafverfahrens. Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern stellen die Strafverfolgungsbehörden vor die besondere Aufgabe, Opferschutz und Prävention in Einklang zu bringen mit Tataufklärung und den hierfür geltenden strafprozessualen Grundprinzipien wie Unschuldsvermutung, Mündlichkeits- und Öffentlichkeitsprinzip. Wichtigstes und häufig einziges Beweismittel in Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs ist zumeist ein kindlicher Zeuge. Dessen besondere Schutzbedürftigkeit, die hierdurch bedingte hohe Emotionalität aller Beteiligten sowie die besonderen Schwierigkeiten der Würdigung kindlicher Aussagen erfordern ein spezielles Vorgehen, das sowohl den besonders schützenswerten Zeugen, den Kindern, als auch den Schwierigkeiten der Wahrheitsfindung und damit nicht zuletzt dem Schutz unschuldig Verfolgter gerecht wird. Opferschonendes Vorgehen in derartigen Ermittlungsverfahren ist aber alternativlos. Nur ein Verfahren, das die Belastungen für den kindlichen Zeugen möglichst gering hält, führt zu einer guten, verwertbaren Aussage und schafft damit die Voraussetzungen für die prozessuale Wahrheitsfindung. Die potentiell verfahrensindizierten Belastungen von Kindern in Strafverfahren haben Busse, Volbert und Steller in einem Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz bereits im Jahr 1996 untersucht. Die Ergebnisse gelten nach wie vor. Belastungsfaktoren sind danach im Wesentlichen: 29 2 • • • • • • • lange Wartezeiten bis zur Hauptverhandlung, wiederholte Befragungen, Verunsicherung durch fehlendes rechtliches Wissen, Aussage in der Öffentlichkeit, Befragung durch fremde Personen, Begegnung mit dem Angeklagten, unerwünschter Verfahrensausgang. Ziel des Ermittlungsverfahrens sollte es sein, diese Belastungen für das Kind auf das geringst mögliche Maß zu reduzieren. Dies setzt zunächst voraus, dass die Sachleitungsbefugnis durch die Staatsanwaltschaft (§ 160 StPO) in Anspruch genommen wird. Eine koordinierte Planung und Durchführung des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft ist nur möglich, wenn sie von Beginn an in das Verfahren eingebunden ist. Dieses erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft. Es muss die Absprache getroffen werden, dass die Staatsanwaltschaft – wie es § 160 StPO vorsieht – unmittelbar bei Bekanntwerden eines Missbrauchsvorwurfes bei der Polizei von dieser kontaktiert wird. Nur wenn sichergestellt ist, dass der zuständige Sonderdezernent der Staatsanwaltschaft bei Aufnahme der Ermittlungen unterrichtet wird, besteht für ihn die Möglichkeit, das Vorgehen im konkreten Fall zu konzipieren: zu entscheiden, zu welchem Zeitpunkt Untersuchungsmaßnahmen stattfinden, wann der Beschuldigte rechtliches Gehör erhält, von wem und wann der kindliche Zeuge vernommen wird. Nur so ist es möglich, vermehrte Vernehmungen des kindlichen Zeugen zu vermeiden und auf – im besten Fall – nur eine zu reduzieren. Ob die Vernehmung durch die Polizei, die Staatsanwaltschaft oder das Gericht erfolgt, ist von der konkreten Fallkonstellation abhängig. Die Auswahlentscheidung sollte aber immer die Staatsanwaltschaft unter Berücksichtigung der prozessualen und tatsächlichen Besonderheiten des Einzelfalles treffen. Eine Stärkung der Sachleitungsbefugnis bzw. deren verstärkte Inanspruchnahme durch die Staatsanwaltschaft führt mithin zu einer Verbesserung der Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern. Auch wenn die Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs ein zügiges Vorgehen erfordern, sind übereilte Maßnahmen kontraproduktiv. Derartige Verfahren entwickeln häufig – insbesondere durch die am Strafverfahren nur indirekt Beteiligten – eine Eigendynamik, die dazu verführt, hektisch und übereilt zu agieren. Dabei ist ein ruhiges, bedachtes und koordiniertes Vorgehen in diesen Verfahren besonders wichtig. So ist darauf zu achten, dass die Entscheidung über den Zeitpunkt und die Durchführung der Vernehmung des Kindes durch die Staatsanwaltschaft geplant und nicht von außen bestimmt wird. Nur so ist es möglich, das Ziel der Reduzierung der Vernehmungen des Kindes im Ermittlungsverfahren auf möglichst nur eine zu erreichen. Erscheint ein Elternteil mit einem Kind auf einer Polizeistation, um Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs zum Nachteil des betreffenden Kindes zu erstatten, so ist die sofortige Verneh- 30 3 mung des Kindes fast nie angezeigt und im Fall eines bestehenden Aussageverweigerungsrechts im Zweifel ohnehin unverwertbar. Ziel sollte es sein, zu erreichen, dass die Anzeigeerstattung zunächst ohne Begleitung des Kindes erfolgt und ein Dritter (Elternteil oder eine andere Bezugsperson) den Sachverhalt der Staatsanwaltschaft bekannt gibt, damit diese sodann den Ablauf des Ermittlungsverfahrens opferschonend und effektiv planen und durchführen kann. Dieses Ziel kann erreicht werden, durch eine enge Vernetzung mit anderen in Fällen sexuellen Missbrauchs beteiligten Einrichtungen wie Jugendamt und Opferschutzverbänden. Vielerorts existieren bereits Arbeitskreise, an denen unter anderem Opferschutzverbände, Jugendämter, Soziale Dienste, Polizei und die Staatsanwaltschaft teilnehmen. Ein Kennenlernen und Akzeptieren der unterschiedlichen Arbeitsansätze und Aufgabenbereiche ist erforderlich, um ein effektives Zusammenarbeiten zu ermöglichen, das letztlich sowohl dem betroffenen Kind als auch dem möglicherweise unschuldigen Beschuldigten zugute kommt. Die Abgrenzung und das Akzeptieren der unterschiedlichen Aufgabenbereiche sind für ein erfolgreiches Miteinander aller Beteiligten besonders wichtig. Die Staatsanwaltschaft hat nicht therapeutisch tätig zu werden, ebenso haben andere Einrichtungen Ermittlungen zu unterlassen. Das gegenseitige Erkennen und Akzeptieren der unterschiedlichen Aufgabenbereiche sollte vielmehr dazu führen, die Arbeit des anderen zu unterstützen und zu ermöglichen, indem die Grenzen eingehalten werden und Aufgaben ggf. an den Anderen abgegeben werden. So habe ich während meiner Arbeit als Sonderdezernentin der Staatsanwaltschaft Hanau in den Jahren 1993 - 2004 erfolgreiche Vernetzung erlebt. Dies führte dazu, dass Anzeigen häufig direkt – durch Vermittlung insbesondere der Opferschutzverbände – bei der Staatsanwaltschaft erstattet wurden. Das ermöglichte nicht nur eine Planung und koordinierte Durchführung der Ermittlungsverfahren sondern war auch insoweit entlastend als die therapeutische Betreuung der betroffenen Kinder und deren Elternteile sichergestellt war. Die Frage der Erstattung einer Anzeige stand für die Opferschutzverbände nicht nur mit im Fokus, sondern am Beginn ihrer Arbeitsaufnahme. Dieses hatte den Vorteil, dass die Aussage durch die therapeutische Arbeit nicht beeinflusst und verändert wurde. Dieses leitet über zum Schwerpunkt der Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs: der Vernehmung des kindlichen Zeugen. Die Vernehmung und die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der kindlichen Aussage bilden die wesentlichen Problemfelder in Verfahren wegen „sexuellen Missbrauchs“. Durch Einführung der videodokumentierten Vernehmung hat der Gesetzgeber in den zurückliegenden Jahren die entscheidenden rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, Belastungsfaktoren für kindliche Zeugen zu minimieren. Mittels des sog. „Zeugenschutzgesetzes“, das am 1.12.1998 in Kraft trat, hat der Gesetzgeber die Grundlage für die audiovisuelle Vernehmung von Zeugen im Ermittlungsverfahren geschaffen. Durch die ausdrückliche Aufnahme des § 58a StPO in § 163a III S. 1 StPO im 2. Opferrechtsreformgesetz, welches am 01.10.2009 in Kraft trat, besteht nunmehr auch für die polizeiliche Vernehmung insoweit Verbindlichkeit. 31 4 In seiner Entscheidung vom 03.08.2004 (NStZ-RR 2004, 336) hat der 1. Strafsenat des BGH betont, dass § 58a StPO eine grundsätzliche Verpflichtung der Ermittlungsbehörden zur Aufzeichnung der Aussage des mutmaßlich geschädigten Zeugen beinhaltet, wenn eine noch nicht 16-jährige Person Opfer schwerwiegender Sexualstraftaten geworden ist. Die durch den Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz (Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG)) vorgesehene Änderung des § 58a StPO in eine Sollvorschrift hinsichtlich richterlicher Vernehmungen ist zwar grundsätzlich zu begrüßen, sollte jedoch – der Rechtssprechung des BGH folgend – für sämtliche Vernehmungen gelten. Zwar kann die Aufzeichnung einer richterlichen Vernehmung zu Beweissicherungszwecken angezeigt sein, jedoch kann sich auch die Aufzeichnung einer polizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen Vernehmung anbieten. Die Ergänzung des § 58a StPO drängt diese Möglichkeiten in den Hintergrund. § 58a StPO sollte dergestalt ergänzt werden, dass bei den angesprochenen Zeugen unabhängig von der Vernehmungsperson grundsätzlich eine Aufzeichnung auf Bild-Ton-Träger erfolgen sollte. Anderenfalls ist zu befürchten, dass die von mir beobachtete Entwicklung der letzten Jahre, die Vernehmung gerade kindlicher oder jugendlicher Opferzeugen den Ermittlungsrichtern zu überlassen, sich verfestigt und verstärkt. Ziel sollte es jedoch sein, auch die staatsanwaltschaftliche Vernehmung kindlicher Opferzeugen wieder mehr in den Fokus zu rücken. Je nach Einzelfall kann die polizeiliche, die staatsanwaltschaftliche oder die richterliche Vernehmung insbesondere aus Opferschutzgründen die richtige Wahl sein. Die richterliche Vernehmung mit dem Erfordernis der Beiordnung eines Pflichtverteidigers ist in Verfahren, in denen gerade die Vernehmung des Zeugen erst Aufschluss über einen möglichen Tatvorwurf bringen kann, gerade nicht angezeigt. In diesen Fällen macht jedoch die Aufzeichnung der polizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen Vernehmung Sinn, um die (zumindest im Ermittlungsverfahren) Erstaussage zu sichern und transparent für alle Verfahrensbeteiligte zu gestalten. Die geplante Änderung des § 58a StPO ist insoweit kontraproduktiv und führt zu einer Schwächung der Opferrechte, da er die Sachleitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft einschränkt und die Verantwortung für die Vernehmung des Opferzeugen auf die Ermittlungsrichter überträgt, anstatt die Verantwortung einer einzelfallbezogenen Auswahl der Vernehmungsperson bei der Staatsanwaltschaft zu belassen und sie mit in die Verantwortung als ebenfalls mögliche Vernehmungsperson zu nehmen. Für die Hauptverhandlung eröffnet § 255 Abs. 2 S. 1 StPO die Möglichkeit, die Vernehmung eines Zeugen im Rahmen der Hauptverhandlung durch die Vorführung der Videovernehmung vollständig zu ersetzen. § 58a und 255 StPO ermöglichen damit eine Minimierung der Belastungen kindlicher Zeugen im Strafverfahren, indem im besten Fall lediglich eine auf Video aufzuzeichnende Vernehmung im Ermittlungsverfahren erfolgt. Die Belastungsfaktoren • • lange Wartezeiten bis zur Hauptverhandlung, wiederholte Befragungen, 32 5 • • Aussage in der Öffentlichkeit und Begegnung mit dem Angeklagten würden dadurch entfallen. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass die vernehmungsersetzende Bild-TonAufzeichnung enge rechtliche Voraussetzungen hat, die aufgrund tatsächlicher Gegebenheiten – zu denen die nicht flächendeckend vorhandene und teilweise nicht ausreichende technische Ausstattung sowie auch die Besonderheiten des Einzelfalles zählen – nicht in jedem Ermittlungsverfahren zu erfüllen sind, so dass die vernehmungsersetzende Bild-Ton-Aufzeichnung in der Vergangenheit eher die Ausnahme als die Regel war. Zudem eröffnet § 255 a Abs. 2 S. 2 StPO trotz ersetzender Vorführung der Videoaufzeichung nicht zuletzt dem Verteidiger die Möglichkeit, eine ergänzende Vernehmung des Zeugen zu erzwingen. Eine Aufweichung der Voraussetzungen der Norm, um deren Anwendungsmöglichkeiten auszuweiten, scheidet aus, da die Ersetzung der Vernehmung durch die Bild-Ton-Aufzeichnung bereits unter den gegebenen Voraussetzungen eine massive Durchbrechung des in § 250 StPO normierten Unmittelbarkeitsgrundsatzes und Mündlichkeitsprinzips darstellt, die keiner Erweiterung mehr zugänglich ist, ohne die Beschuldigteninteressen unzulässig einzuschränken. Eine weitere rechtliche Möglichkeit Belastungen kindlicher Zeugen in der Hauptverhandlung zu minimieren bietet § 247a StPO, der die Vernehmung von Zeugen in der Hauptverhandlung in Form einer Videokonferenz ermöglicht. Auch wenn die Ausschöpfung der gesetzlichen Möglichkeiten die Aufzeichnung von Aussagen auf Bild-Ton-Träger betreffend erhebliche Chancen der Minimierung von Belastungen kindlicher Zeugen bietet, darf nicht vergessen werden, dass diese einhergehen muss mit persönlicher Eignung und fachlicher Qualifikation der agierenden Ermittlungspersonen. Ausund Fortbildung ist insoweit sicher ein wichtiges Kriterium, kann jedoch persönliche Eignung und Engagement nicht ersetzen. Dieses sind die wesentlichen Faktoren für die Erreichung des Ziels: des im jeweiligen Einzelfall größtmöglichen opferschonenden Vorgehens bei gleichzeitig größtmöglicher Effizienz der Ermittlungen. Die Auswahl geeigneter Dezernenten ist daher von entscheidender Bedeutung für eine erfolgreiche und opferschonende Ermittlungstätigkeit. Die eigentlichen Probleme in Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern ergeben sich aus der Zeugenrolle des Kindes. Das größte Problem ist insoweit die Suggestibilität von Kindern. Dabei geht es nicht – wie häufig verkannt wird – um die Frage, ob das Kind lügt oder ihm ein Erwachsener bewusst die Unwahrheit eingeredet hat, sondern um die schwierige Frage, ob das Kind unbewusst beeinflusst wurde und hierdurch seine Aussage verändert wurde. Jede Vernehmung beeinflusst und verändert die Aussage. Nicht nur Suggestivfragen sondern bereits die Wiederholung bestimmter Fragen, die Reaktion des Fragenden und die mit der Befragung verbundene Auf- 33 6 merksamkeit durch den Erwachsenen beeinflussen das Aussageverhalten. Dieses kann so weit reichen, dass eine falsche Erinnerung beim Kind erzeugt wird. Diese wird vom Kind als tatsächlich erlebt geschildert und von ihm auch als Realität empfunden. In der Kognitionspsychologie werden hierzu drei Thesen vertreten: die Integrationsthese (die Suggestion wird integriert und ist später nicht mehr von dem real Erlebten zu unterscheiden), die Substitutionsthese (die Suggestion überschreibt das tatsächlich Erlebte) und die These von der fehlerhaften Quellattribuierung (die Suggestion erschwert den Abruf der Quellsituation), vgl. hierzu Klein/Jäger, Kinderaussagen, wie glaubhaft sind sie? ZfAL 34, 2001, 27-61. Kann eine solche suggestive Befragung und Beeinflussung der Aussage des Kindes nicht ausgeschlossen werden, sind Anklage und Verurteilung des Beschuldigten nicht möglich, da ein Tatnachweis nicht mit der für eine Verurteilung erforderliche Sicherheit nachzuweisen ist. Selbst wenn zur Überzeugung der Staatsanwaltschaft und/oder des Gerichts feststeht, dass ein sexueller Missbrauch stattgefunden hat, dieser jedoch aufgrund der suggestiven Beeinflussung nicht hinreichend zu konkretisieren ist, weil sich nicht mehr feststellen lässt, was genau vorgefallen und was lediglich suggeriert wurde, ist das Verfahren einzustellen bzw. der Angeklagte freizusprechen. Diese Entscheidung stößt zumeist auf Unverständnis in der Öffentlichkeit und bei den am Verfahren nicht direkt Beteiligten, schildert das Kind doch (zumeist sogar detailreich) einen sexuellen Missbrauch durch den Beschuldigten. Fälschlich wird häufig die Schlussfolgerung gezogen, man habe dem Kind nicht geglaubt. Kinder, bei denen der Verdacht besteht, dass Sie Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden sind, dürfen mithin keinesfalls hierzu ausgefragt werden. Entscheidend für das Ermittlungsverfahren ist daher, inwieweit es gelingt, eine möglichst spontane (möglichst) Erstaussage des Kindes zu erlangen, die auf Video oder zumindest Tonträger aufzuzeichnen ist. Dieses zu erreichen ist für die Strafverfolgungsbehörden nur möglich durch eine enge Zusammenarbeit mit den anderen betroffenen Einrichtungen. Anknüpfend an oben muss die Vernetzung zu einem gegenseitigen Erkennen und Akzeptieren der unterschiedlichen Aufgabenbereiche führen. Befragungen durch Mitarbeiter des Kindergartens, des Kinderheims, des Jugendamtes, von Therapieeinrichtungen sowie durch die Eltern bzw. Pflegeeltern oder andere Familienangehörige müssen zunächst unterbleiben, wenn ein Strafverfahren durchgeführt werden soll. Nur ein derart professioneller Umgang ermöglicht es den Strafverfolgungsbehörden, eine möglichst unbeeinflusste Aussage des Kindes zu erlangen, auf Video zu konservieren und damit die Möglichkeit eines erfolgreichen Ermittlungs- und Strafverfahrens zu schaffen. Natürlich ist auch jede Befragung im Ermittlungsverfahren geeignet, die Aussage des Zeugen zu beeinflussen, weshalb es – nicht nur aus Gründen des Kindswohls – überaus wichtig ist, wiederholte Befragungen zu vermeiden und die Anzahl der Vernehmungen auf möglichst nur eine im Ermittlungsverfahren zu reduzieren. Aus dem Geschilderten folgt, dass je später die Strafverfolgungsbehörden eingeschaltet werden, desto geringer die Erfolgsaussichten eines Ermittlungs- und Strafverfahrens sind. Zumeist steht aufgrund des Zeitablaufs nur noch der Zeugenbeweis mit den geschilderten Problemen zur Verfügung. Lässt sich eine Beeinflussung der Aussage – beispielsweise durch Therapie – nicht ausschließen, ist eine Verurteilung nicht zu erreichen. Unter diesem Aspekt ist 34 7 eine weitere – auf den ersten Blick wünschenswerte - Verlängerung der Verjährungsregeln abzulehnen. Bereits bei der bestehenden Verjährungsgesetzeslage kommt es aufgrund der geschilderten Problematik kaum zu Verurteilungen gegen Ende der Verjährungsfrist. Anstelle einer Verjährungsverlängerung sollte vielmehr eine Anzeigepflicht zur Diskussion gestellt werden. Dem Argument, eine Strafanzeige sei dem Kindesschutz häufig nicht zuträglich, ist entgegenzuhalten, dass eine frühzeitige Anzeige bei effektiver Zusammenarbeit der beteiligten Professionen die Möglichkeit einer erfolgreichen Strafverfolgung bietet. Demgegenüber endet ein zu späterem Zeitpunkt von dritter Seite oder auch von dem inzwischen erwachsenen Zeugen angestrengtes Ermittlungsverfahren zumeist durch Einstellung oder Freispruch und kann damit zu einer erheblichen psychischen Belastung (s.o. Belastungsfaktor: unerwünschter Verfahrensausgang) führen. Zusammenfassend sind mithin die wesentlichen Faktoren eines im repressiven wie präventiven Sinne effektiven Strafverfahrens die Inanspruchnahme und Stärkung der Sachleitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft sowie die Vernetzung mit anderen Professionen und hierdurch bedingte Zusammenarbeit anstelle von Nebeneinander und im schlechtesten Fall Gegeneinander bei der Durchsetzung des gemeinsamen Ziels der Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Darmstadt, 14.04.2011 35 Deutscher Kinderschutzbund Landesverband Hessen e. V. Stellungnahme zu öffentlicher Anhörung Koordinierung zur Bekämpfung sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen Absatz 1 Die Verpflichtung das Kindeswohl entsprechend Artikel 3 (Wohl des Kindes) Artikel 12 (Berücksichtigung des Kindeswillens ) Artikel 19 (Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung, Verwahrlosung) Artikel 34 (Schutz vor sexuellem Missbrauch) der UN Kinderrechtskonvention und den in der nationalen Rechtsordnung verankerten Schutzes des Kindes vor Gewalt und sein Recht auf gewaltfreie Erziehung zu achten, muss als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden. Es muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass Gewalt gegen Kinder kein Mittel zur Erziehung ist. Die Werte unserer Gesellschaft auf Schutz und Achtung des Individuums muss durch Vorleben und Erleben erreicht werden. Die verbindliche Aufnahme des individuellen Rechts des Kindes in der Hessischen Verfassung und im Grundgesetz der Bundesrepublik muss erfolgen. So wird ein deutliches Zeichen für die Wahrung der Rechte der Kinder gesetzt und das Bewusstsein der Gesellschaft für die Kinderrechte gestärkt. Absatz 2 Durch Forschungs- und Evaluationsergebnisse über Programme zu Gewalt gegen Kinder, dem Thema Missbrauch von Kindern, der Auswirkung von Partnergewalt auf Kinder und andere Gewaltformen können die angesprochenen Konzepte, für die unterschiedlichen Altersgruppen in den jeweiligen Einrichtungen oder Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen, aufgebaut werden. Aus Sicht des Deutschen Kinderschutzbundes (DKSB) muss ein gezielter Auf- und Ausbau der fachspezifischen Angebote und Qualifikationen erfolgen. Dies ist sowohl im Bereich der bezahlten, wie unbezahlten Arbeit notwendig und ebenso bei der Schulung der Erziehungsberechtigten zu Fragen der Bildung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen, wie im SGB VIII verankert. Das Recht der Eltern auf Beratung und Unterstützung muss als Pflichtaufgabe definiert werden. Kinderschutz fängt bei den Eltern an. Gerade auch beim Thema Missbrauch von Kindern brauchen wir Vertrauenspersonen der Kinder, die ein offenes Ohr für die Kinder haben, Verhaltensveränderungen frühzeitig erkennen und handeln. Absatz 3 Die gelungene Vernetzung – auch ressortübergreifend – beschäftigt die unterschiedlichen Disziplinen, Fachrichtungen und Ressortabteilungen schon lange. Als Kinderschutzbund wissen wir: Kinder und Jugendliche erwarten Hilfe und Unterstützung, wenn sie Probleme haben. Sie halten sich nicht an Ressortzuordnungen. Die Fachrichtungen müssen das Ressortdenken im Interesse zur Stärkung des Kinderschutzes, in eine vertrauensvolle und kollegiale Zusammenarbeit in gegenseitiger Achtung und Wertschätzung, aufbauen. Ein Gesamtkonzept soll entsprechende Einheiten für den gemeinsamen 1 36 Deutscher Kinderschutzbund Landesverband Hessen e. V. Austausch vorsehen. Das Ziel „Gewalt gegen Kinder und Gewalt unter Kindern“ einzudämmen, muss Priorität haben. Die Differenzierung der Arbeit mit Opfern und der Arbeit mit Tätern sind zu berücksichtigen. Die Erfahrungen im Täter-Opfer-Ausgleich zeigen, wie sensibel die „Begegnung“ zwischen Opfern und Tätern angesprochen werden muss. Die Differenzierung für die Betroffenen sichtbar und erkennbar sein. Qualitätsstandards gehören zum Aufbau der Netzwerkarbeit dazu. Absatz 4 Es ist dringend erforderlich Maßnahmen so zu gestalten, dass sie auch umgesetzt werden können und die Rahmenbedingungen entsprechend geschaffen werden. Es reicht nicht ein Konzept zu schreiben, Empfehlungen auszusprechen und zu erwarten, dass es auf der Handlungsebene ohne zusätzliche Ressourcen sowohl in personeller, wie auch in räumlicher und finanzieller Hinsicht umzusetzen ist. Eine gute Koordination und ein guter Austausch unterschiedlicher Ansätze müssen ermöglicht werden. Absatz 5 Der gesetzliche Auftrag Kinder und Jugendliche vor Gewalt jeglicher Form zu schützen, erfordert konkrete Handlungen. Allein durch Informationen auf die unterschiedlichen Angebote aufmerksam zu machen, reicht nicht aus. Wir brauchen ein „Mehr“ an Prävention in allen Feldern der Kinder- und Jugendarbeit und einen Ausbau der Beratungskapazitäten. Das Recht auf gewaltfreie Erziehung muss auch in das Recht auf Schutz in Form der entsprechenden Unterstützungs-, Hilfs- und Schutzmaßnahmen münden. In der Gesellschaft muss das Bewusstsein gestärkt werden, dass Kinder und Jugendliche ein Recht darauf haben, vor Gefahren geschützt zu werden und es ist die Pflicht der Erwachsenen, nicht wegzusehen. Insbesondere Prävention ist eine sehr wichtige Grundlage für einen wirksamen Kinderschutz. Prävention fängt mit den „Frühen Hilfen“ an und zieht sich bis zu den Förderungen im Bereich der Jugendbildung und Jugendeinrichtungen. Jedes Kind hat das Recht auf Schutz, aber auch jeder Erwachsene die Pflicht, für den Schutz Sorge zutragen und ebenfalls das Recht bei der Umsetzung der gewaltfreien Erziehung und der Bewältigung eigener Gewaltproblematiken, zum Wohle der Kinder, unterstützt zu werden. Maßnahmen, die aus Sicht des DKSB dringend notwendig erscheinen: Prävention Ausbau der „Frühe Hilfen“. Anbindung des Themas Kinderschutz in das Lebensumfeld der Kinder und Jugendlichen durch Gruppenangebote für die Alterstufen sowie für die unterschiedlichen Personengruppen, die zu den Bezugspersonen der Kinder gehören. (Mütter, Väter, pädagogische Fachkräfte, Lehrerinnen und Lehrer, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Freizeitsektor). 2 37 Deutscher Kinderschutzbund Landesverband Hessen e. V. Gewaltprävention Gruppenangebote in den Einrichtungen mit dem Ziel konstruktive und gewaltfreie Konfliktlösungen aufzubauen und die Stärkung des Aufbaus von Freundschaften mit Gleichaltrigen, sowohl geschlechtergetrennt, wie übergreifend. Barrierefreie, niederschwellige Beratungsangebote und Aufbau eines Netzwerks mit Vertrauenspersonen, die für Kinder und Jugendliche gut erreichbar sind. Verbindliche Unterrichtseinheiten zum Thema Sexueller Missbrauch und Gewalt gegen Kinder. Sowie Gewalt in den Medien mit externen Fachkräften. Theaterangebote zu Themen der Kindeswohlgefährdung mit anschließenden Gruppenangeboten. Beratungsangebote • • • • • • Die Beratungsstellen des DKSB sollen Einzel- und Gruppentherapieangebote für von sexueller Gewalt betroffenen Kindern und Jugendlichen vorhalten können Beratungs- und Therapieangebote für sexuell ausbeutende Erwachsene Beratungsangebot für nicht-ausbeutende Elternteile Thematisierung der Gewalt in Paarbeziehungen und ihre Auswirkungen auf Kinder – Erlebte Gewalt und die Auswirkungen auf eigenes Handeln der Kinder und Jugendlichen Thematisierung der sexuellen Gewalt unter Teenagern und in Teenagerbeziehungen auch in Verbindung mit Mobbing und Stalking Erarbeitung von Konzepten zum Täter-Opfer-Ausgleich unter Jugendlichen bei sexuellen Übergriffen Institutionelle Grundlagen Verankerung des Themas in Aus- und Fortbildungen aller mit diesen Themen befassten Professionen, nicht nur aus dem Bildungs- und Jugendhilfebereich, sondern auch der Justiz. Klare Handlungsleitlinien für die Vorgehensweise mit Verdachtsfällen innerhalb von Institutionen, die sich an den zum Schutz der Kinder und Jugendlichen erarbeiteten Standards orientieren. Hierzu zählt auch die Hinzuziehung der insoweit erfahrenen Fachkräfte – Kinderschutzfachkraft – entsprechend § 8a SGB VIII. Dies muss analog für die anderen Bereiche, in denen sich Kinder und Jugendliche aufhalten, gelten: Sensibilisierung des Fachpersonals für das Thema Kindeswohlgefährdung und Kinderschutz Qualifizierung zum Themenkomplex Verbindliche Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe mit Benennung konkreter Ansprechpartner mit guter Erreichbarkeit Einführung des erweiterten Führungszeugnisses für alle Erwachsenen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, unabhängig von bezahlter und unbezahlter Arbeit, entsprechend dem Bundeskinderschutzgesetz. Jugendschutz im Netz auf- und ausbauen. Evaluation aller präventiven Angebote. 3 38 Deutscher Kinderschutzbund Landesverband Hessen e. V. Friedberg, den 13.04.2011 gez. Verone Schöninger Landesvorsitzende Deutscher Kinderschutzbund Landesverband Hessen e. V. Gebrüder-Lang-Straße 7, 61169 Friedberg Fon: 06031/18733 Fax: 06031/722649 Email: [email protected] www.kinderschutzbund-hessen.de 4 39 40 41 42 43 44 45 46 47