Mensch, wo bist du? Vortrag beim Neujahrsempfang der Ev. Kirchengemeinde Herrenberg am 23.1.2011 im Ev. Gemeindehaus, Erhardstr. 4 von Dekan Klaus Homann Einleitung Es war Immanuel Kant (1724 – 1804), der Philosoph der Aufklärung, der geschrieben hat: „Die größte Angelegenheit des Menschen ist, zu wissen, wie er seine Stelle in der Schöpfung gehörig und recht verstehe, was man sein muß, um Mensch zu sein.“ Die entscheidende Frage für einen jeden Menschen ist also nach Immanuel Kant: "Was muss ich sein, um Mensch zu sein?" Eine Frage, die zum Menschsein von Anbeginn an dazu gehört. Schon im Paradies ging es um die Frage: Was ist der Mensch? Was kann er? Was darf er? Was ist seine Bestimmung, also was macht ihn zum Menschen? Und schon im Paradies musste Gott fragen: Adam - und das heißt übersetzt Mensch, wo bist du? Adam mußte sich zusammen mit Eva verstecken, weil er aus der Rolle gefallen war, aus seinem Menschsein. Er wollte sein wie Gott und mußte erkennen, wie wenig er das sein konnte, und schämte und versteckte sich, sodaß Gott ihn suchen mußte. Das unschuldige selbstverständliche Miteinander mit Gott war dahin. Gilt es nicht gerade in unserer Zeit auch diese Frage zu stellen: „Mensch, wo bist du?“, und damit die Frage nach dem, was uns Menschen wirklich angemessen ist und gut ansteht, nach dem Menschlichen, nach der Art und Weise, wie wir als Menschen, also menschlich, miteinander und mit der Schöpfung umgehen und für einen jeden Menschen Menschlichkeit infrage steht Menschen, wir der Natur gegenüber? Und erleben wir nicht auch im täglichen Umgang privat und im Geschäft immer wieder, wie die Menschlichkeit auf der Strecke zu bleiben scheint. Wie schnell kann das Menschliche verloren gehen bei allem „Managen“, allem Effizienz-Denken, aller Zeitknappheit, allen ökonomischen, globalen und politischen Zwängen. 1 Es muss uns insgesamt schon zu denken geben, dass Besucher aus sogenannten Entwicklungsländern das Klima in unserer hochtechnisierten Gesellschaft als vergleichsweise kalt empfinden können und damit unmenschlich. Dabei ist Menschlichkeit die höchste Tugend und - wie der große Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (12.1.1746 – 17.2.1827) einmal sagte, köstlicher als alle Schönheit der Erde. Und der amerikanische Schriftsteller Henry James (1843-1916) sagt sogar klipp und klar: „Drei Dinge sind im Leben eines Menschen wichtig. Erstens: Menschlichkeit. Zweitens Menschlichkeit. Und drittens: Menschlichkeit.“ Menschlichkeit wird leider oft erst zum Thema, wenn sie entbehrt wird. Wenn wir sagen: “Das ist doch unmenschlich!“ Und wir leben in Zeiten, in denen die Menschlichkeit durchaus zur Frage steht. Nicht nur wegen Gewalt und Terror. Unter dem Diktat der Ökonomie, des sich Rechnens, dem alles unterworfen wird, bei dem Menschen nur eine Arbeitskraft sind und Kaufkraft bringen, bleibt auch das Menschliche auf der Strecke. Die christlichen Kirchen wenden sich gegen eine alleinige Herrschaft der Ökonomisierung in allen Lebensbereichen. Sie halten daran fest, dass es Bereiche des Lebens gibt, die grundsätzlich dem rein ökonomischen Denken bzw. einer rein monetären Bewertung des Lebens entzogen bleiben müssen. Sonst erleidet die Humanität, die Menschlichkeit einer Gesellschaft empfindlichen Schaden. Die christlichen Kirchen wissen, dass menschliches Leben nicht perfekt ist. Sie erinnern daran, dass alles Leben, auch das behinderte, kranke, schwache, das sich selbst kaum mehr bewusste Leben, Wert und Würde hat, der es vom Anfang bis zum Ende Rechnung zu tragen gilt. Dies lässt sich nur durch den christlichen Glauben begründen. Die Würde des Menschen wird hierbei nicht über Eigenschaften oder Leistungen des Menschen definiert, sondern von Gott her. Und daraus folgt auch die Menschlichkeit. Doch soviel ist auch sicher: Jeder Mensch braucht Menschlichkeit. Aber den Wenigsten ist dies überhaupt bewusst. Weil gerade auch in Zeiten der knappen Ressourcen Menschlichkeit gesichert bleiben muss, muss sie immer wieder neu genauer in den Blick genommen werden. Doch wovon ist da eigentlich die Rede? Was ist mit Menschlichkeit überhaupt gemeint? 2 1. Was ist Menschlichkeit? Grundsätzlich hat Menschlichkeit – lateinisch humanitas – zwei Bedeutungen: Einmal geht es gewissermaßen um eine neutrale Sichtweise, die alles, was Menschen zugehörig oder eigen ist, beinhaltet. Die Manifestationen des Menschlichen sind die Menschenrechte in der amerikanischen Verfassung, beruhend auf der „Deklaration of Independence“, im Grundgesetz und in der Bibel im Evangelium von Jesus Christus. Sie legen fest, wie in den Erklärungen zu den Menschenrechten bei uns im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, was menschlich ist. Danach ist menschlich und menschwürdig der Schutz vor Hunger, Krankheit und Obdachlosigkeit, das Recht auf Arbeit, persönliches Eigentum und Mitbestimmung im öffentlichen Leben. Aber wenn wir von „Menschlichkeit“ reden, dann denken wir eigentlich zunächst an die andere Bedeutung von Menschlichkeit, an eine Verhaltensweise im ethischen Sinn, an Wertvorstellungen über menschliches Handeln, an eine menschliche Gesinnung, an ein Denken und Handeln, das auf Selbstlosigkeit, Mitgefühl, Warmherzigkeit, Herzensgüte, Ehrlichkeit, Verständnis, Toleranz, Einfachheit, Gewissenhaftigkeit, Zufriedenheit, Achtsamkeit, gegenseitiges Verantwortungsgefühl und Respekt beruht. Menschlichkeit bedeutet ein sorgsames, einfühlsames Umgehen miteinander. Nicht ein Prinzipielles, nicht Prinzipienreiterei, nicht ein von einem Ideal bestimmtes und ein Ideal um jeden Preis einforderndes Handeln, sondern ein Denken und Handeln, das auch um die Grenzen und Schwächen weiß – „menschlich, allzu menschlich,“ sagt man dann im Volksmund. Das Maß unseres Menschlichen bemißt sich danach, inwieweit wir das Erleben und die Gefühlswelt von Menschen miteinbeziehen. Menschlich ist ein Umgehen miteinander, das den anderen nicht zum Objekt macht, das man beherrschen will und kann und eigenen Vorstellungen und Interessen anpaßt. Darum sagt auch der Theologe und Arzt Albert Schweizer (1875-1965): „Menschlichkeit besteht darin, daß niemals ein Mensch einem Zweck geopfert wird.“ 2. Menschlichkeit in der Gesellschaft Was bedeutet nun Menschlichkeit in den verschiedenen Bereichen gesellschaftlichen Lebens? Wo kommt Menschlichkeit zum Tragen? 3 2.1 Menschlichkeit als Diakonisches Handeln Ganz nahe liegend ist natürlich bei Menschlichkeit, an das diakonische und caritative Handeln, die Hilfe für Menschen, die Unterstützung brauchen, zu denken. Das wohl bekannteste Beispiel für Menschlichkeit ist in diesem Zusammenhang der barmherzige Samariter, von dem Jesus im Gleichnis im Lukasevangelium (Lk 10, 25-37) erzählt - einem überaus eindrücklichen Beispiel für menschliches Umgehen miteinander. Es war menschlich, daß der Samariter, der ein Ausländer und kein rechtgläubiger war, nicht wegsah, sondern handelte, als er den unter die Räuber gefallenen halbtot in der Schlucht am Weg nach Jericho liegen sah. Er richtet ihn auf, verbindet ihn, hilft ihm auf seinen Esel. Er lässt sich seine Menschlichkeit etwas kosten: Öl, Wein, Salbe, Verbandszeug, beschmutzte Satteldecke, Kleidung. Dazu Risikobereitschaft, denn die Räuber sind wohl noch in der Nähe, und Zeit, viel Zeit, die damals auch schon Geld war. Eine ganze Nacht pflegte er den Verwundeten. Am nächsten Tag gibt er noch dem Gastwirt für die Pflege des Verwundeten zwei Silberstücke. Das ist ziemlich viel. Und vorsorglich bietet er sogar noch einen nachträglichen Aufschlag an. Menschlichkeit geht nicht am Notleidenden vorbei und lässt sich das auch etwas kosten. Das ist nach wie vor ganz aktuell. So hilft die Diakonie – von Kostenträgern unterstützt – unterschiedlichsten Menschen, die Hilfe brauchen, an Leib und Seele. Sie stellt sich an die Seite der Menschen, deren Würde bedroht ist. „Von Menschen zu Mensch“ heißt zum Beispiel das Motto von Mariaberg. Denn es soll Menschen auf gleicher Ebene mit Respekt und Wertschätzung ihrer Person begegnet werden und sie sollen mit dieser Haltung die notwendige Unterstützung erfahren. Weil sie alle Kinder Gottes sind, seine Ebenbilder, darum geht es auch bei ihnen um die Würde und Ehre Gottes. Diakonie braucht aber auch eine menschliche Gesellschaft, die sich die Unterstützung der darauf Angewiesenen etwas kosten lässt, die öffentliche Hand als Kostenträger und private Spender. Menschlichkeit muß sich auch rechnen. Sonst lässt sie sich nicht durchhalten. Unser Sozialstaat ist ein in der Welt beispielhafter Ausdruck dieser Menschlichkeit, die die Not des Mitmenschen sieht, nicht vorübergeht und es sich auch etwas kosten lässt. Dies hat das höchste Qualitätsmerkmal unter Menschen: Das ist menschlich. Das dürfen wir bei aller Kostendiskussion nicht in Vergessenheit geraten lassen. 4 2.2 Menschlichkeit in der Wirtschaft Was kann nun im Bereich des Wirtschaftslebens „menschlich“ heißen? Zählen hier nicht Zahlen, Daten und der Markt? Und ist der Markt nicht gnadenlos? Hat da Menschliches überhaupt einen Platz? Wenn es hier um „Menschliches“ geht, dann ist damit nicht das „menschlich, allzu menschlich“, ein Verhalten, das eher menschlicher Schwäche entspringt, und das eher entschuldigend für kleine Fehler benutzt wird, gemeint. Es geht hier vielmehr um eine Menschlichkeit, die selbst verantwortetes Gestalten beinhaltet. Geht man davon aus, dass die zentralen Aufgaben der Wirtschaft das Erzielen von Gewinn ist, dann hat das zunächst nichts Menschliches. Dies ist nur möglich, wenn der Wirtschaft ein Sinn gegeben wird. Wenn wir freilich die Wertschöpfungskette verfolgen, dann wird deutlich, dass das Wirtschaftliche immer für die Kunden, für die Menschen da ist. Sinn und Zweck der Wirtschaft ist Bereistellen von Gütern, die dem Menschen zur Verwirklichung seiner Freiheit und seinem Wohlbefinden dienen. Wenn aber der Mensch im Mittelpunkt all der wirtschaftlichen Bemühungen steht, dann geht es bei der Gestaltung der Produkte und Dienst um die Frage: Wie gelingt es, den Produkten eine besondere Qualität zu geben, eine Qualität, die über das hinausgeht, was die Natur uns schenkt. Und diese kann auch nur vom Menschen erdacht und erbracht werden. In der Art aber, wie wir die Produkte herstellen, wie wir zusammenarbeiten, wie wir miteinander umgehen, können wir mehr zum Ausdruck bringen, als dass es wirtschaftliche Zusammenhänge für sich tun. Die Erde stellt dem Menschen die Güter und Dienste zur Verfügung, die ihm seine Existenz ermöglichen. Jedoch in der Verwandlung und Bearbeitung der Natursubstanzen entwickelt der Mensch seine Fähigkeiten und verleiht dem Stoff eine besondere Form. Diese Form ist Ausdruck der menschlichen Kreativität und sein einzigartiges Vermögen. Und dabei kommt es auf die richtige Balance zwischen Menschlichkeit und wirtschaftlichem Erfolg an. Im Blick auf die Mitarbeiter ist es eigentlich gar keine Frage, dass eine angenehm faire und menschliche Behandlung, die Stimmung im Team und die generelle Firmenatmosphäre eine sogar höhere Bedeutung einnehmen können als die Vergütung. Ein menschlicher Führungsstil muß keineswegs automatisch ein schwacher Führungsstil sein. Firmenentscheidungen sollten fair und menschlich verlaufen. Wenn ein Mitarbeiter seine Arbeit nicht erledigen kann, braucht er Unterstützung. Menschlichkeit bedeutet auch langfristige Perspektiven entwickeln, um „Trendentlassungen“ zu vermeiden. 5 Und zur Menschlichkeit gehört auch ein soziales Engagement. Ein Großteil der Firmen ist bereits in unterschiedlichster Weise sozial engagiert. Einen Tag im Jahr als Firma sozial tätig zu sein, das gehört bereits zum Selbstverständnis einiger Firmen dazu, auch hier in Herrenberg. Menschlichkeit kann so sogar zum „Marketingtool“ werden. Es gibt ein englisches Motto, das die Bedeutung der Menschlichkeit gewissermaßen auf weltliche Weise - sehr treffend umschreibt: „You can have anything you want, if you give enough people what they want“ - Du kannst im Leben alles, was du willst, bekommen, wenn du genügend Menschen hilfst, das zu bekommen, was sie wollen.“ 2.3 Menschlichkeit in der Politik? Und was heißt Menschlichkeit in der Politik? Über 7 Millionen Menschen in Deutschland beziehen derzeit Hartz IV. Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, Menschen die gesundheitlich eingeschränkt sind, Familien, Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose Menschen. Die Gründe dafür sind vielfältig und nicht allein bei den Betroffenen zu suchen. Es müsste ein Markenzeichen einer menschlichen Gesellschaft bleiben, menschlich zu sein und Menschen zu unterstützen, die darauf angewiesen sind. Und es sollte keine Frage sein, dass ein entsprechender Rettungsschirm für menschliche Not genau so aufgespannt wird, wie für finanzpolitische Probleme. Natürlich gilt es immer finanzielle Möglichkeiten und Hilfsmaßnahmen auszubalancieren. Auch der Umgang miteinander in der Politik sollte den Rahmen des Menschlichen nicht verlassen, so sehr Profilierung auch notwendig ist. Vielleicht wäre es menschlicher, auch einmal Fehler einzugestehen und zuzugestehen, daß es nicht immer die eindeutige Antwort gibt. 3. Menschlichkeit und Höflichkeit Menschlichkeit ist auch eine Frage des Umgangs miteinander und das bringt mich auch auf die Frage nach den Formen des Umgangs. Denn ein Akt der Menschlichkeit ist auch die Höflichkeit. Von der Höflichkeit hat der äthiopische Kaiserenkel Asfa-WossenAserate, ein hervorragender Kenner und Verehrer unserer deutschen Kultur, einmal gesagt: Benimmregeln, wenn sie zutreffend angewandt werden, sind ein Akt der Nächstenliebe und damit auch menschlich. Denn Menschlichkeit bedeutet, sich dem Wohl des anderen, seiner Achtung, seiner Würde verpflichtet zu fühlen. „Ein manierlicher Mensch“, schreibt er in seinem neuen Buch, „wird den anderen immer als einen Höherstehenden betrachten, als einen, dem höchste Aufmerksamkeit zusteht.“ Und das gilt besonders auch für einen christlich geprägten Menschen, der sich von den Prinzipien der Nächstenliebe leiten lässt. 6 Er begegnet seinem Nächsten so, wie es einst Jesus Christus getan hat, als er sich beim letzten Abendmahl dazu herabließ, seinen Jüngern die Füße zu waschen. Eigentlich ein Sklavendienst. Aber es ist ein Ritual des Respekts und der Wertschätzung des Nächsten. Man mag einwenden, im religiösen Bereich mögen solche Gesten der Demut ihren Platz haben, vielleicht auch im privaten Umgang. Aber im Geschäftsleben beim Einkaufen, wo die Dienstleistung nichts weiter als eine Ware ist, für die wir mit gutem Geld bezahlen, ist das doch abwegig. Aber soll man deswegen auf einen respektvollen Umgang miteinander verzichten, nur weil Geld im Spiel ist? Das Geld verleiht nicht dem Mitmenschen gegenüber eine höhere Stellung. Menschlich ist, wenn dies nicht der Fall ist. Der Kunde darf König sein. Das sollte ihn aber nicht davon abhalten, in dem, der ihn bedient, den verborgenen Kaiser zu sehen. Der in Österreich geläufige Gruß: „servus“ bewahrt das lateinische Wort „Diener“ und meint eben diese Achtung vor dem anderen. 4. Menschlichkeit und Zeit Noch einen anderen Aspekt, der mit Menschlichkeit zu tun hat, möchte ich ansprechen, und der heute auch ganz besonders bestimmend ist. Den Zusammenhang von Menschlichkeit und Zeit. „Zeit ist Geld“, ist bezeichnender Weise die landläufige Devise. Wir sind unter anderem auch dadurch, aber auch durch die elektronische Revolution in der Kommunikation in einen ungebremsten Beschleunigungsprozeß geraten, in dem das Leben sich immer schneller verbraucht. Die Zeit fliegt dahin. Diese Zeit kennt keinen Sonntag, keine Zeit, die nicht für Produktion und Konsum, für Vergnügungen und Festivals zur Verfügung stehen könnte und scheinbar unbedingt auch dafür genutzt werden muß. Diese Entwicklung missachtet allein schon die Menschen, die nicht an Konsum und Produktion teilnehmen können. Dies Tempo lässt aber vor allem keine Nähe zu, ein wesentliches Merkmal des Menschlichen. Denn Zeitdruck, Hektik, Geschwindigkeit und Beschleunigung sind Feinde der Begegnung zwischen Menschen und damit Feinde des Menschlichen. Tempo lässt keine Nähe, keine ausreichende Zeit für Pflege und Zuwendung mehr zu. Es ist die Zeit der toten Sachen, die Zeit des Todes. Jesus Christus hatte als Mensch eine andere Zeit, und zeigte uns damit, was eine menschliche Zeit ist: eine verweilende, die Geduld und innere Ruhe kennt. Wo man darum weiß, daß für Begegnungen mit Menschen Zeit haben, langsam vergehende Zeit, reiche Zeit ist. Denn nur sie ermöglicht Gemeinschaft und Vertrauen. Sie ermöglicht ein sorgsames, einfühlsames Umgehen miteinander, mit einem Wort: Menschlichkeit. 7 Einen Menschen kennenlernen, sich näher kommen, einen Kranken besuchen und begleiten, einen Traurigen trösten, mit eine Arbeitsstelle suchen, einen Flüchtling aufnehmen, das braucht Zeit und das ist menschlich um des Menschen Jesus willen. „Ich schenke dir Zeit“ - das ist ein Hauch von Ewigkeit, von Leben und Lebensmut mitten in der vergänglichen Zeit. 5. Menschlichen werden, aber wie? Aber wie kommt es zur Menschlichkeit? Wie werden wir menschlich? 5.1 Menschlichkeit in der Bibel Nach christlicher Glaubenüberzeugung ist jeder Mensch ein Ebenbild Gottes, weil Gott ihn als sein Gegenüber geschaffen hat. Gott hat sich ins Verhältnis zum Menschen gesetzt. Damit ist er sein Ebenbild. Was das nun bedeutet, hat Jesus als Mensch vorgelebt. Er hat Menschsein im Sinne Gottes geliebt. Und das ist im biblischen Sinne menschlich, zusammengefasst im Doppelgebot der Liebe: Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst. Und diese Liebe reitet kein Prinzip. Sie macht nicht gleich. Sie macht nicht zum Objekt. Sie lässt jeden Mensch so sein, wie er ist, mit seinen großen Möglichkeiten, aber auch mit seinen Grenzen, mit seiner jeweiligen Andersheit und auch mit seinen dunklen Seiten. Menschlich im biblischen Sinne heißt, jeden als Ebenbild Gottes behandeln, in jedem Menschen Christus sehen. Und von dem heißt es zunächst einmal: „Er sah ihn an und hat ihn lieb.“ Gott will uns diese Menschlichkeit von ihm erfahren lassen immer wieder neu. Er will, dass unser menschliches Leben gelingt. Darum ist er Mensch geworden und will uns menschlich sein lassen. Ohne Gott kann es keine Menschlichkeit gegen, die um ihre Grenzen weiß und damit leben kann. Gottes Barmherzigkeit und Vergebung uns gegenüber lässt uns erst wirklich menschlich sein. 5.2 Menschlichkeit und Veranlagung Aber auch biologisch ist die menschliche Gemeinschaft auf Kooperieren ausgelegt. Das gilt von Natur aus für uns Menschen. Wir streben alle nach Zuwendung, Wertschätzung und Liebe. Und das geht nicht ohne die Beziehung zu anderen Menschen. Bei gestörten Beziehungen oder dem Verlust von Bindungen kommt es daher zu Aggressionen. Das zentrale Interesse des Menschen ist auf Zuwendung und gelingende mitmenschliche Beziehung gerichtet. Und dazu gehört: 8 1.: Sehen und gesehen werden, dass man sich als Person wahrgenommen fühlt. Und 2.: Gemeinsame Aufmerksamkeit und gegenseitige Anteilnahme und zuhören. und 3.: Emotionale Resonanz: sich in den anderen hineinfühlen. und 4.: Gemeinsames Handeln: Etwas ganz konkret miteinander tun. und 5.: gewissermaßen die Königsklasse das Verstehen von Motiven und Absichten: Um Jemanden aber verstehen zu können, bedarf es einer guten Beobachtungsgabe und intuitiver Fähigkeiten, aber vor allem auch das Gespräch. Bei gelingender Kooperation und mitmenschlicher Beziehungen entsteht dann Menschlichkeit. Deshalb gilt es vielfältige Formen des sozialen Zusammenwirkens auszubauen, wie z.B. Erziehung der Kinder zu Menschlichkeit, ein von Menschlichkeit geprägtes Management im Bereich der Wirtschaft und die Bereitschaft der Menschen, sich in materieller und gesundheitlicher Not gegenseitig zu unterstützen. 6. Menschlichkeit und wir selbst? Und nun zum Schluss: Wie ist das bei uns selbst mit der Menschlichkeit? Der Schutz der eigenen Würde und Grenzen, Zugehörigkeit, Integrität und Anerkennung müssen selbst erfahren werden, um menschlich auch gegen den anderen sein zu können. Wir haben hier auf uns selbst acht zu geben. Es kommt auf eine gesunde Balance zwischen den beiden Polen, zwischen mir und den anderen an. Im biblische Gebot: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 19,19; 3 Mose 19,18), kommt die Balance mit dem Wörtchen „wie“ gut zum Ausdruck. Wenn wir immer nur geben und geben und stets nur für den anderen da sind, werden wir mit der Zeit immer leerer und laufen Gefahr auszubrennen. Wir müssen auf uns achten und aufmerksam sein und unsere Grenzen schützen. Dann werden wir auch die Grenzen der anderen schützen und ihnen so menschlich begegnen können. Meine sehr verehrten Damen und Herren, vielleicht hat der ehemalige Papst Johannes XXIII. es auf den Punkt gebracht, was für uns selbst als Menschen eine entscheidende Voraussetzung für Menschlichkeit ist, als er zu sich selbst sagte: „Giovanni, nimm dich nicht so wichtig.“ und dabei zugleich auch selbst verkörperte, was ein amerikanischer Humorist aus dem letzten Jahrhundert formuliert hat. 9 „Es ist großartig, ein bedeutender Mensch zu sein, aber es ist großartiger, ein menschlicher Mensch zu sein.“ Mensch, wo bist du? Das ist und war die Frage nach dem Ort des Menschen in der Welt. In der Sündenfall-Geschichte hatte er ihn leichtfertig verspielt und verloren, und es blieb ihm nichts anderes mehr, als sich schamvoll zu verstecken. Aber Gott suchte ihn und fragte: „Adam, Mensch, wo bist du?“ Und Gott hat uns dann in Jesus Christus in all unserer Ort-Losigkeit aufgesucht und uns so wieder zu Menschen gemacht, die sich nicht vor ihm verstecken müssen, sondern dort ihren Ort haben und zu finden sind, wo es menschlich zugeht. Dort ist Gott in Jesus Christus nahe mit seiner Liebe und Barmherzigkeit und mit seinem zu Recht Bringen, weil er eben gerade ein menschlicher Gott ist. Dort ist er zu finden. Dort beginnt sein Reich. Ohne Gott allerdings kann es eigentlich keine Menschlichkeit geben. Denn dann wäre der Mensch sein eigener Richter und das fällt gnadenlos aus. Vielleicht aber fangen wir erst einmal mit Papst Johannes, dem XXIII. Roncalli an und nehmen uns nicht so wichtig. Dann sind wir mit Sicherheit auf dem besten Wege zur Menschlichkeit. In diesem Sinne nehme ich mich jetzt auch nicht mehr so wichtig und das anschließen Essen umso wichtiger und bedanke mich für ihre Aufmerksamkeit. 10