Re-Konfigurationen - Uni

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Inneruniversitäres Forschungsnetzwerk der Philipps-Universität
Marburg
zum Thema
Re-Konfigurationen.
Geschichte,
Erinnerung
Transformationsprozesse im Mittleren Osten und Nordafrika
und
Zusammenfassung
Die moderne Geschichte und Gegenwart der MENA-Region (Middle East and North
Africa) werden in diesem am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien (CNMS) der
Philipps-Universität Marburg verankerten Forschungsnetzwerk einer kritischen
Neubewertung unterzogen. Mitauslöser für dieses Vorhaben sind die politischen
Umwälzungen in vielen Ländern der Region im Zuge des Arabischen Frühlings. Die unter
diesem Begriff gefassten Aufstände gegen die etablierten Autokratien in einer Reihe von
Ländern der MENA-Region haben tiefgreifende gesellschaftliche Entwicklungen sichtbar
gemacht, deren Ursprünge weit in die Vergangenheit zurückreichen und die bislang nur
unzureichend im Fokus der Forschung standen. Wir gehen davon aus, dass die
gegenwärtigen Entwicklungen zu einer Re-Konfiguration politischer und diskursiver
Ordnungen in der Region führen (werden). Das hauptsächliche Forschungsinteresse des
Netzwerkes besteht daher in der Frage nach den Voraussetzungen, der Qualität und den
Folgen der gegenwärtigen sozialen, kulturellen und politischen Transformationsprozesse
in der Region. Wir gehen davon aus, dass die Themenkomplexe Erinnerung,
Geschichtsaufarbeitung
und
Transitional
Justice
die
wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit der Region in den kommenden Jahren in bedeutendem Maß
prägen werden. Ziel des CNMS ist es daher, einen Arbeitsschwerpunkt in Marburg zu
etablieren, der es erlaubt, eine nationale und internationale Vorreiterrolle in der MENAForschung zu übernehmen.
Das geplante Forschungsprogramm „Re-Konfigurationen“ nutzt die breite
Regionalkompetenz des CNMS, um die drängenden aktuellen Entwicklungen und ihre
historischen Zusammenhänge fächer- und epochenübergreifend zu erforschen, neue
Perspektiven aufzuzeigen und zu diskutieren. Die nötigen Ressourcen und Kapazitäten
werden zunächst von den am CNMS angesiedelten Professuren zur Verfügung gestellt:
Altorientalistik, Arabistik, Iranistik, Islamwissenschaft, Semitistik, Politik sowie Wirtschaft
des Nahen und Mittleren Ostens. Diese werden in dem beantragten Kompetenznetz
durch Verbundpartner innerhalb der UMR erweitert: das Fachgebiet Neueste Geschichte
des FB 06, das Forschungs- und Dokumentationszentrum für Kriegsverbrecherprozesse,
das Zentrum für Friedens- und Konfliktforschung des FB 03, das Zentrum für
Interdisziplinäre Religionsforschung (ZIR), das Institut für Medienwissenschaft des FB 09,
das Institut für neuere deutsche Literatur des FB 09, das Institut für Vergleichende
Kulturforschung – Religionswissenschaft und Völkerkunde des FB 03, das Institut für
Politikwissenschaft des FB 03, das Institut für Soziologie des FB 03, das Fachgebiet
Religionsgeschichte des FB 05. Dadurch werden Länder und epochenübergreifende
Forschungsperspektiven ermöglicht, die gerade mit Bezug auf die MENA-Region noch
weitgehend ausstehen.
Mit dem Begriff
Re-Konfigurationen wollen wir, angelehnt an Nobert Elias, die
Figurationsprozesse und Interdependenzen zwischen einzelnen Akteuren, Akteursgruppen
und dem Staat sowie die daraus resultierende Neuordnung der Machtbalancen erforschen.
Der Begriff beschreibt die unauflösbare Verflechtung von Geschichte, Menschen und ihrer
Entwicklung. Entgegen der Stagnationsthese gehen wir davon aus, dass sich die
gesellschaftlichen Gruppen und Individuen im Nahen und Nordafrika in ständigen
Repositionierungsdynamiken befinden. Die unterschiedlichen Wechselwirkungen zwischen
Gruppen der Gesellschaft, Normen und gesellschaftlichen Zwängen sowie Einflüsse
indirekter (regionaler und globaler) Verflechtungen in materieller und diskursiver Form
führen zu einer ständigen Re-Konfiguration und Re-Interpretation von Machtverhältnissen.
Die Aufbrüche von 2011 in breiten Teilen der MENA-Region nehmen wir hier zum Anlass, um
die Frage der Re-Konfigurationen in der Region systematisch zu untersuchen. Für eine
globale, vergleichende, historische und interdisziplinäre Erforschung der MENA-Region
identifizieren vier Forschungsfelder:
Forschungsfeld 1: ‚Geschichte von unten‘
Das erste Forschungsfeld des Netzwerkes „Re-Konfigurationen“ wird sich der Aufgabe
widmen, die aktuellen Entwicklungen im Sinne einer Geschichte von ‚unten‘ in einem
breiteren historischen Kontext zu untersuchen, auch jenseits der jeweiligen
nationalstaatlichen Grenzen in einem regionalen Zusammenhang. Hier geht es darum, die
substaatlichen Akteure in den Mittelpunkt der Forschung zu rücken. Uns geht es um das
Alltagsleben autonomer und semi-autonomer Akteure und Akteursgruppen. Wo und wie
findet ihr soziales und politisches Handeln statt - in Konformität oder Rebellion, in
organisierten oder eher in unorganisierten sozialen Bewegungen? Diachron werden ähnliche
Phänomene und soziale Milieus wie Minderheiten, Subalterne, Jugendproteste, politisierte
Kultur und Religion, subversive Dynamiken, Arbeitskämpfe etc. seit dem 19 Jahrhundert
verglichen. Mit der Untersuchung der longue durée von Interaktionen wird nach
Ähnlichkeiten und Unterschieden, Konvergenzen und Divergenzen gefragt.
Forschungsfeld 2: Re-Konfigurationen des kulturellen Gedächtnisses
Das zweite Forschungsfeld befasst sich mit zeitgenössischen Re-Konfigurationen des
kulturellen Gedächtnisses in verschiedenen Ländern der Region in Folge der Schwächung
ehemals hegemonialer großer Erzählungen und der damit korrespondierenden autoritären
Systeme. Hier wollen wir an der in Marburg stark vertretenen Forschung zu kulturellem
Gedächtnis und Erinnerungskulturen im Bezug auf Deutschland anknüpfen. Der Iran-IrakKrieg, der libanesische Bürgerkrieg und der israelisch-palästinensische Konflikt, sowie die
Kolonialgeschichte sind einige Beispiele aus dem Nahen Osten, in denen sich
zivilgesellschaftliche Gruppen und Individuen gegen das konsensuelle Schweigen, staatliche
Amnestien und daraus resultierende gesellschaftliche und individuelle Amnäsie wehren. Vor
allem in den Bereichen der bildenden und darstellenden Künste, Literatur, Film und
Architektur, aber auch im Bereich Bildung und Medien werden die „lieux de memoires“ und
das „kollektive Gedächtnis“ neu verhandelt.
Forschungsfeld 3: Politische Transformationsprozesse und Transitional Justice
Das Forschungsfeld Transitional Justice wurde bisher für den Raum des Nahen Ostens und
Nordafrikas so gut wie gar nicht beforscht. Aufbauend auf der Marburger
Forschungstradition zu Transitional Justice geht es in diesem Forschungsfeld um die
juristischen und politischen Dimensionen der Aufarbeitung von diktatorischer Herrschaft,
(Bürger-)Krieg und politischer Unterdrückung, die einzelne Staaten der Region im Laufe ihrer
jüngeren Geschichte initiiert haben (z.B: Marokko, Irak, Tunesien, Ägypten, Libyen). Dabei
soll eine vergleichende Perspektive eingenommen werden, um die Entwicklungen im Nahen
Osten mit denen in anderen post-kolonialen Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika
sowie in Osteuropa in Beziehung zu setzen. Dieses Forschungsfeld hat nicht nur notwendige
Grundlagenforschungen zum Ziel, sondern auch die Überprüfung von vorhandenen
Theorien am Beispiel der nahöstlichen Staaten.
Forschungsfeld 4: Transregionale Verflechtungen
In diesem Forschungsfeld sind drei Ebenen, die Re-Konfigurationen bestimmen werden,
wichtig:



Einfluss von Diasporagruppen (europäische Muslime) auf Entwicklungen im
Nahen Osten und Nordafrika sowie die Rolle der Rückkehrströmungen
Einfluss von regionalen und zwischenstaatlichen Migrationsströmungen sowie vor
allem die Einflüsse aus anderen islamischen Staaten (z.B: Türkei, Indonesien und
Malaysia)
Einfluss der globalen Dynamiken: Weltwirtschaft, Weltsystem, Weltmächten etc.;
mögliche Wechselbeziehung und Vergleich zu globalen Bewegungen wie die
Occupy-Bewegung.
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