Horizonte gegenwärtiger Ethik Horizonte gegenwärtiger Ethik Festschrift für Josef Schuster SJ Herausgegeben von Paul-Chummar Chittilappilly © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016 Alle Rechte vorbehalten www.herder.de Umschlaggestaltung: Verlag Herder Umschlagmotiv: ©Worraket/shutterstock Satz und PDF-E-Book: Barbara Herrmann, Freiburg ISBN (Buch): 978-3-451-34875-4 ISBN (E-Book): 978-3-451-84875-9 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Horizonte philosophischer Ethik Praktische Vernunft und Kontemplation . Stephan Herzberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Tugend der Epikie im Spannungsfeld von Recht und Ethik Kerstin Schlögl-Flierl Kant über Charakter und Zurechnung Friedo Ricken 17 . . . . 29 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Geert Keils Verteidigung des Libertarismus Hans-Ludwig Ollig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Horizonte der Fundamentalethik Das Spiel zwischen anthropologischer Integrierung und ethischer Normierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dominik Bertrand-Pfaff . . 71 . . . 84 . . . . . . . . . . . . . . . 96 Theologisch-ethische und grundrechtsdogmatische Perspektiven auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Patenge 114 Würde als normativ-ethische Leitvorstellung im außerhumanen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans J. Münk Was ist ein praktisches moralisches Urteil? Überlegungen zum direkten Konsequentialismus am Beispiel J. J. C. Smarts (1920 –2012) . . . . . . . Stefan Hofmann 5 Inhalt Im Spannungsfeld von Gehorsam und Gewissen Der Entscheidungsweg von Franz Reinisch . . . . . Heribert Niederschlag . . . . . . . . . . . . . . . Zur Relevanz der Wertethik in Zeiten der Pluralität Katharina Westerhorstmann Das Böse – ethisch und symbolisch Jean-Claude Wolf 121 . . . . . . . . . . . . . 130 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Horizonte theologischer Ethik „Gott ist ganz Ordnung“ – Gottes Handeln in einer Welt der Naturgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oliver J. Wiertz Das Liebesgebot bei Johannes . Johannes Beutler . . . . . . . . . 155 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Moralische Reziprozität und Liebesgebot Walter Schaupp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komplementäre Grundhaltungen des Glaubens – Beispiele aus den Evangelien . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Ernst . . . . . . . . . . . . . . . Spüren, was der Andere braucht Zur Neubestimmung des Verhältnisses von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Rosenberger . . . . 189 201 218 Der barmherzige Samariter oder die narrative Ethik Jesu (Lk 10,25 –37) Ein Essay über die Grundidee der Nächstenliebe, ihre Missverständnisse und ihre politische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Dietmar Mieth Versöhnung im Bistum Moraltheologische Überlegungen zu einer kirchlichen Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Edeltraud Koller 6 . . . . . . . . . . . 239 Inhalt Fühlen statt denken? Entscheidungsfindung im Spannungsfeld von Spiritualität und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alexis Fritz . . . . . . . . Für eine neue Theologie der Moral und eine integrale Welt-Ethik Wie Papst Franziskus Theologie und Ethik von innen heraus neu ausrichtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erny Gillen 252 . . . 268 . . . . . . . . . . . . 280 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Was bleibt von der Theologie? Als Moraltheologe im Räderwerk wissenschafts- und politikberatender Ethikgremien . . . . . . . . . . . . . . . . Guenter Virt Horizonte der Beziehungsethik Tugenden in der Sexualmoral Elmar Kos Beziehungsethische Perspektiven der Theologischen Ethik Alois Joh. Buch Die sog. „Homo-Ehe“ – eine Frage der Gerechtigkeit und der Toleranz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz-Josef Bormann . . . . . . . . 309 . . . . . . . . 322 Moraltheologische Überlegungen zu der Forderung nach einem Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Partnerschaften . . . . . Joachim Hagel Kann der Mensch, was er soll? Moralpsychologie als Teilbereich der theologischen Ethik Eine moralhistorische Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan E. Müller . . . . 339 . . . . . . . . . 353 7 Inhalt Horizonte politischer Ethik Politische Utopie und theologische Ethik Walter Lesch Grundentscheidung zum Recht Guardinis Denken vom „Staat in uns“ Peter Schallenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Götzendienst und Blutvergießen Krieg, Pazifismus und Gewaltlosigkeit in der frühen Kirche Werner Wolbert . . . . . . . 387 Lob der Vielfalt Religionsfreiheit, Wahrheitsansprüche, Macht und Toleranz Reiner Wimmer . . . . . . . 407 Vom gerechten Krieg zur humanitären Intervention Die „responsibility to protect“ im Rahmen einer Theorie des gerechten Friedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eberhard Schockenhoff . . . . . . 426 Vom Recht Gottes zum Menschenrecht? Zur Bedeutung von Dignitatis humanae für den Dialog mit dem Islam Martin M. Lintner 440 Horizonte der Sozialethik Das Subsidiaritätsprinzip als Präferenzregel gelesen Dieter Witschen Ethisch-nachhaltig investieren mit DBK und ZdK . Johannes Hoffmann . . . . . . . . . . . . . 455 . . . . . . . . . . . . . . 468 „Das technokratische Paradigma“ – ein Rätselwort? Zur Frage der Macht im öko-sozialen Rundschreiben Laudato si’ Friedhelm Hengsbach „Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine Frau. Hinter jeder erfolgreichen Frau steht eine andere Frau.“ Sozialethische Reflexionen zur Sorgearbeit . . . . . . . . . . . . . . . . Bernhard Emunds/Isabell Merkle 8 . . . 489 . . . . 505 Inhalt Horizonte der Medizin- und Bioethik Ein theologisch-ethischer Blick auf die Genetik Gerhard Höver . . . . . . . . . . . . . . . . Von Natur aus knapp? Ethische Überlegungen zur reziproken Verteilung von Spenderorganen in der Transplantationsmedizin . . . . Christof Breitsameter Wem schenken wir das Herz? Gerechtigkeit in der Spenderorganallokation Andreas Bell Patientenautonomie und ärztliches Ethos Klassische Begriffe in verändertem Kontext . Herbert Schlögel . . . . . . . . . . . 539 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568 Barmherzige Lüge versus Wahrheit am Krankenbett: Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? . . . . . . . . . . Savio Vaz . . . . . . . . . . . . In Search of the Medico-Anthropological Foundations of Human Life with Cognitive Impairment and Dementia . Paul-Chummar Chittilappilly 581 . . . . . . . . . 590 . . . . . . . . . . 605 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616 Responsible Care of the Terminally Sick and the Dying From Partial Curative Care to Holistic Palliative Care . . J. Charles Davis Der mutmaßliche Wille Konrad Hilpert 527 Ärztliches Handeln am Lebensende Der Streit um den ärztlich assistierten Suizid Stephan Sahm . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ist Sterben Privatsache? Überlegungen zum assistierten Suizid und zur Suizidprävention . Johannes Reiter . . . 629 642 9 Inhalt Der christliche Umgang mit dem Sterben, dem Tod und seinem Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Spindelböck . . . 651 . . . . . . 664 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680 Beweinter Biomüll? Notizen zur ethischen Stellung des menschlichen Leichnams Rudolf B. Hein Lebenslauf Josef Schuster SJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 Veröffentlichungen Josef Schuster SJ . Autorenverzeichnis . Personenregister . 10 Vorwort „Wirklichkeiten, in denen wir leben“ – so hat der Philosoph Hans Blumenberg, der sein Philosophiestudium an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main begann, die Zusammenstellung einiger seiner Aufsätze und einer seiner Reden betitelt. Ethiker und Moraltheologen stehen vor den Wirklichkeiten des gesellschaftlichen Alltags. Sie werden immer wieder mit neuen und unausweichlichen Fragen aus den Lebenswelten der Menschen ihrer Zeit konfrontiert und herausgefordert, gültige und relevante Antworten zu geben. Darin liegt der Reiz ihres Faches, je nach den in der Lebenswirklichkeit sich stellenden Fragen. Und je pluralistischer eine Gesellschaft ist, umso mehr stellen sich Fragen, die einer Antwort bedürfen. Solche Fragen und Antworten sind wichtig für eine kreative und funktionierende Gesellschaft. Ethische Prinzipien und Regelungen sind Leitplanken für jede Gesellschaft; denn Freiheit braucht nicht nur äußere, sondern auch innere Orientierung und Verbindlichkeit zu ihrer Entfaltung. Für die Antworten, die die Ethiker zu geben haben, gibt es Grundregeln. Sie sollten zunächst aus der metaethischen Grundlagenreflexion entstehen, die in der philosophischen und auch in der theologischen Ethik betrieben wird. Darüber hinaus sind die theologischen, ethischen Regeln aus den Prinzipien der Fundamentalethik sowie in Übereinstimmung mit der biblischen Theologie und der Lehre der Kirche zu eruieren. Konkreter sollten die Antworten sein, wenn sie tiefer mit den Wirklichkeiten in Berührung kommen. Dies gilt für Fragen aus der Politik, Ökologie, Wirtschaft, des Krieges und Friedens, der Medizin und Lebenswissenschaften und der individuellen zwischenmenschlichen Beziehungen – den Domänen der angewandten Ethik (Applied Ethics). Kurzum, die Ethiker und Moraltheologen haben es in der philosophischen Ethik und in der theologischen Ethik mit hochspezialisierten Anwendungsdiskursen zu tun. Bei der Suche nach den ethischen, vor allem den theologisch-ethischen, Ansätzen und Antworten kann nicht einfach etwas behauptet oder postuliert werden, sondern was gesagt wird, muss mit den human- und naturwissenschaftlichen Wirklichkeiten in Einklang stehen. Die Antworten müssen dabei nicht nur adäquat, gut und vernünftig und auf die Situation des Einzelnen oder einer Gruppe von Personen bezogen sein, 11 Vorwort sondern auch dem Anderen gegenüber, der Menschheit insgesamt, gerecht werden; und vor allem müssen sie mit der Wahrheit übereinstimmen. Die Ethiker haben sich nicht nur mit dem Formulieren von Antworten zu begnügen, sondern sie haben auch die Aufgabe, größere Horizonte aufzuzeigen. Wenn der Begriff Horizont verwendet wird, ist unverzüglich auch ein weitsichtiges Verständnis im Blickfeld. Denn „Horizonte sind vorgezeichnete Potentialitäten“ (Edmund Husserl). Die Potentialitäten ermöglichen jedem Fragenden und Suchenden, die gestellten Fragen und ihre Herausforderungen in neuen Zusammenhängen zu sehen. Sicherlich unterscheiden sich Horizonte, je nach Sichtweise. Dementsprechend können die Ethiker befragen, auslegen und weitere Dimensionen enthüllen. In der Erforschung des Horizonts erschließen sich neue Horizonte mit Offenheit, aber auch Grenzen. So werden grundlegende, aber auch breit gefächerte Erkenntnisse gewonnen. In diesem Sinne beschäftigen sich Philosophen, Ethiker und Moraltheologen im vorliegenden Band mit Fragen aus den unterschiedlichen Bereichen der Ethik – philosophische Ethik, Fundamentalethik, theologische Ethik, Beziehungsethik, politische Ethik, Sozialethik sowie Medizin- und Bioethik – und erforschen so die Horizonte der „Wirklichkeiten, in denen wir leben“. Die Autorinnen und Autoren der Beiträge dieses Bandes nehmen die zentrale Aufgabe theologischer Ethik ernst als Auseinandersetzung vor dem Hintergrund des faktisch herrschenden ethischen Pluralismus in den Wissenschaften wie auch im Alltagsbewusstsein und in den Lebenswirklichkeiten vieler Menschen. Sie stellen mit ihren Beiträgen sowohl die grundlegenden ethischen und moraltheologischen Fragen und Themen als auch „heiße Eisen“ der aktuellen theologisch-ethischen Themen vor, und zwar für weitere Diskussionen in der gegenwärtigen Gesellschaft und in der Kirche. Darüber hinaus entspringt dieser Band dem Anliegen, einen hochgelehrten Ethiker und Moraltheologen anlässlich seines 70. Geburtstags zu ehren: Herrn Pater Prof. Dr. Josef Schuster SJ. Als Aufbaustudent habe ich zunächst aus Neugierde manche seiner Kurse besucht. Dabei hat er uns immer wieder die Wirklichkeiten seines Faches vor Auge geführt und den angehenden Theologen wie auch uns Aufbaustudenten klare, wegweisende Antworten auf unsere ethischen und moraltheologischen Fragen geben können, und dies über einen Zeitraum von über einem Vierteljahrhundert (28 Jahre / 55 Semester). Aber seine Forschungs- und Lehrtätigkeit beschränkte sich keineswegs nur auf die Räume der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen oder etwa das Rhein-Main-Gebiet, sondern erstreckte sich auch auf verschiedene Bistümer und in die bürgerliche Gesellschaft hinein. 12 Vorwort Er hat sich in die Fragen und Antworten seiner Zeit eingemischt. Tiefer Glaube und ein unerschütterliches Vertrauen in das Gute im Menschen haben seinen akademischen und priesterlichen Dienst geprägt. Mit festen Prinzipien, unerschöpflicher Einsatzbereitschaft, liebenswürdiger Bescheidenheit, grenzenloser Geduld und großer persönlicher Glaubwürdigkeit ist der Jubilar zu einem hochrangigen Wissenschaftler unserer Zeit und einer moralischen Autorität geworden. Trotz der Entfernung zwischen Frankfurt am Main und Nairobi blieb er für mich immer ein wichtiger Gesprächspartner in fachlichen Fragen und darüber hinaus auch ein guter Freund. Diese Erfahrung haben auch viele andere mit Pater Josef Schuster gemacht: Kolleginnen und Kollegen, Freunde, Schüler und Weggefährten. Darum ist dieser Sammelband als Festschrift für ihn entstanden. Mein Vorhaben der Herausgabe dieser Festschrift hätte ich keinesfalls verwirklichen können ohne die großzügigen Druckkostenzuschüsse der Bistümer Aachen, Hamburg, Hildesheim, Limburg, Mainz, Osnabrück und Trier sowie der Deutschen Bischofskonferenz und der Stiftung Hochschule Sankt Georgen. Ich bin all den zuständigen Personen dieser Institutionen von Herzen dankbar. Ohne das engagierte Korrekturlesen durch Frau Lic. in re bibl. Annekatrin Warnke wäre ich überfordert gewesen – zumal aus der afrikanischen Ferne –, die Beiträge druckreif an den Verlag Herder abzuliefern, der diese Festschrift dankenswerterweise in sein Programm aufgenommen hat. Ein besonderer Dank gilt dort Frau Maria Steiger und Herrn Clemens Carl für die Betreuung des Bandes. Die Tangaza Universität und die anderen theologischen Fakultäten in Nairobi, an denen ich tätig bin, waren so großzügig, mir manche zeitlichen Freiräume zu gewähren, damit ich diese Arbeit der Herausgabe pünktlich zu Ende führen konnte. Schließlich möchte ich mich auch bei allen Autorinnen und Autoren sehr herzlich für ihre Beiträge zu diesem Band bedanken. Dieser Band erscheint zufällig in einem Jubiläumsjahr der Hochschule Sankt Georgen. Seit 90 Jahren dient sie als renommierte Hochschule für Philosophie und Theologie in ihrer untrennbaren inneren Dynamik von Pietas und Scientia (Frömmigkeit und Wissenschaft) nicht nur Studierenden aus dem Rhein-Main-Gebiet und den deutschen Bistümern, nicht nur Deutschen und Europäern, sondern auch unzähligen Studenten aus der ganzen Welt. Als Gebürtiger aus dem indischen Subkontinent und als Lehrender auf dem afrikanischen Kontinent denke ich immer wieder aus der Ferne voller Dankbarkeit an Sankt Georgen, an meine sehr verehrten Lehrerinnen und Lehrer, an meine geistige und geistliche Heimat. Im Herzstück Sankt 13 Vorwort Georgens, in der Bibliothek, habe ich mich nicht nur sehr wohl gefühlt, sondern aus dieser Quelle habe ich auch immer wieder schöpfen können: Pietas und Scientia. Diese wünsche ich mir sehr für die Hochschule Sankt Georgen in ihrem Jubiläumsjahr: Mögen weiterhin viele Suchende und Fragende – von nah und fern – aus ihrer Frömmigkeit und Wissenschaft schöpfen können und sich in ihr zu Hause fühlen. Nairobi/Frankfurt am Main Pfingsten 2016 14 Paul-Chummar Chittilappilly CMI Horizonte philosophischer Ethik Praktische Vernunft und Kontemplation von Stephan Herzberg Doch er zog sich an einen einsamen Ort zurück, um zu beten. (Lk 5,16) Nach Aristoteles ist das Glück (eudaimonia) das Prinzip menschlichen Handelns: Um seinetwillen tut jeder alles Übrige, d. h. es ist letztes Ziel aller auf einer Entscheidung beruhenden Handlungen, und es ist, so Aristoteles weiter, Prinzip und Ursache der Güter. 1 Im zehnten Buch der Nikomachischen Ethik (= EN) argumentiert Aristoteles dafür, dass die Betrachtung (theôria) 2 diejenige Tätigkeit (energeia) ist, die uns in höchstem Maß, d. h. mehr als alle anderen Tätigkeiten, glücklich macht. 3 Sie verleiht dem für uns erstrebenswertesten Leben die Form eines kontemplativen Lebens. Es stellt sich die Frage, ob in einer solchen Lebensform das tugendhafte oder moralische Handeln einer externen, nämlich intellektualistischen, Norm untergeordnet wird. Aristoteles scheint einen „intellektualistischen Egoismus“ 4 zu vertreten, gemäß dem eine Handlung genau dann moralisch gut ist, wenn sie im Vergleich zu den alternativen Handlungsmöglichkeiten den größeren Beitrag zur Realisierung der eigenen kontemplativen Tätigkeit leistet. Gegenüber dem Verdacht, dass in einer eudaimonistischen Ethik, die das höchste Gut in der betrachtenden Tätigkeit sieht, die Moral der Kontemplation auch ‚ge- 1 Vgl. Nikomachische Ethik I 12, 1102a2– 4 (Aristoteles, Nikomachische Ethik. Übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg 2006). Das Glück ist nicht nur die ‚letzte Begründung‘ für alle auf einer Entscheidung beruhenden Handlungen, sondern ist auch die Ursache für das Gutsein all dessen, was auf es hingeordnet ist. Vgl. G. Richardson Lear, Happy Lives and the Highest Good. An Essay on Aristotle’s Nicomachean Ethics, Princeton 2004, 15. 2 Der Begriff der theôria bzw. des theôrein wird von Aristoteles in einem weiten und in einem engen Sinn verwendet. Im weiten Sinn versteht Aristoteles unter diesem Begriff das genaue, verständige Beobachten oder auch das wissenschaftliche Untersuchen eines Gegenstands, im praktischen Bereich auch das Erwägen. Im engen Sinn wird unter diesem Begriff das Aktualisieren eines schon erworbenen Wissens verstanden; dieses Aktualisieren verhält sich zur epistêmê wie der Gebrauch zum Besitz (EN VII 5, 1146b31–34). Die Betrachtung setzt das Lernen bzw. Erforschen eines bestimmten Gegenstandsbereichs als abgeschlossen voraus. Das Betrachten besteht also darin, sich die schon erworbenen epistemischen Gehalte wieder zu Bewusstsein zu bringen. 3 Vgl. EN X 7, 1177a19 –b26; X 7, 1178a4 – 8; X 8, 1178b7–32; X 9, 1179a22–32. 4 Vgl. R. Kraut, Aristotle on the Human Good, Princeton 1989, 30 Anm. 15. 17 Stephan Herzberg opfert‘ werden könnte, soll zum einen gezeigt werden, dass für Aristoteles die betrachtende Tätigkeit innerhalb der kontemplativen Lebensform notwendig die Betätigung der ethischen Tugenden impliziert, d. h. an die Maßstäbe der Moral gebunden ist. Man muss sich, insofern man ein Mensch ist, die betrachtende Tätigkeit auch moralisch ‚leisten‘ können. Zum anderen soll gezeigt werden, dass der ‚kontemplative Imperativ‘ 5 innerhalb von Aristoteles’ Ethikkonzeption im Ganzen eine interessante Aufgabe übernimmt: Dieser Imperativ weist uns auf die größere metaphysische Einbettung des menschlichen Seins und Handelns hin. Das letzte Ziel menschlichen Seins besteht in der Betrachtung der ontologisch höchsten Gegenstände. Damit wird dem Bereich des Moralisch-Praktischen sub specie aeternitatis eine Grenze gezogen, ohne dass dabei die Eigengesetzlichkeit dieses Bereichs verletzt wird. 1. Der Vollzug der Betrachtung ist Gegenstand einer Entscheidung Für Aristoteles ist die Betrachtung als höchste Form menschlicher Tätigkeit selbst Gegenstand einer Entscheidung (prohairesis). Zu urteilen, dass es richtig ist, hier und jetzt in einem bestimmten zeitlichen Umfang die Betrachtung zu vollziehen, unterliegt den Maßstäben der dianoetischen Tugend der Klugheit (phronêsis). 6 Das geht aus folgender Passage hervor: Allerdings hat die Klugheit gerade nicht die Herrschaft über die Weisheit oder über den besseren Seelenteil, wie auch die Medizin nicht die Herrschaft über die Gesundheit ausübt; denn sie macht nicht von ihr Gebrauch, sondern sieht zu, dass sie entsteht. Um ihretwillen also gibt sie Anordnungen, nicht aber ihr (§keËnhj oìn ¢neka §pit!ttei, #ll' oÆk §keËnä). Ferner: Das [d. h. zu sagen, die Klugheit herrsche] wäre ebenso, als würde jemand sagen, das politische Wissen herrsche über die Götter, weil es über alle Dinge im Staat Anordnungen erteilt. (EN VI 13, 1145a6 –11; Übers. Wolf mit Änderungen) 5 Vgl. EN X 7, 1177b31–1178a2: „Doch dürfen wir nicht denen folgen, die uns raten, wir sollen als Menschen an menschliche Dinge denken und als Sterbliche an sterbliche Dinge. Vielmehr müssen wir uns, soweit es möglich ist, unsterblich machen und alles tun, um in Übereinstimmung mit dem Höchsten in uns zu leben. Denn auch wenn dies klein im Umfang ist, überragt es doch alles umso mehr an Vermögen und Wert“ (Übers. Wolf mit Änderungen). 6 Vgl. S. Sauvé Meyer, Living for the sake of an ultimate end, in: J. Miller (ed.), Aristotle’s Nicomachean Ethics. A Critical Guide, Cambridge 2011, 47– 65, 62: „he also recognizes that theoria is the subject of choice for human beings, for the decision to engage in theoria is itself an exercise of practical reason“. 18 Praktische Vernunft und Kontemplation Die phronêsis hat zunächst einmal die Aufgabe zu urteilen, was man hier und jetzt tun soll, d. h. was moralisch richtig ist. 7 Sie trifft ihre Anordnungen in erster Linie um des ‚Schönen‘ (kalon) willen, d. h. um des aufgrund seiner selbst Wählenswerten und Lobenswerten willen 8, denn das kalon ist das Ziel jeder Tugend. 9 Die einzelne moralisch richtige Handlung wird gewählt, um mit und in ihr das kalon zu verwirklichen. Der Grund, warum die schöne Handlung aufgrund ihrer selbst wählenswert ist, ist die Tatsache, dass sie der Vernunftnorm entspricht. 10 Da nun aber das, was es heißt, (praktisch) vernünftig zu sein, je nach Situationstyp verschieden ist (vgl. die verschiedenen Parameter, welche die ‚Mitte für uns‘ definieren11), ist auch das kalon hinsichtlich seiner materialen Bestimmung je ein anderes. Der Kluge überlegt, was es hier und jetzt, in dieser konkreten Situation, bedeutet, z. B. tapfer zu sein, er überlegt, mit welcher Handlung sich das ‚umrisshaft‘ gegebene Tugendziel der Tapferkeit in dieser Situation konkretisieren lässt. 12 Die phronêsis unterliegt in dieser Art von anordnender Tätigkeit der 7 Vgl. EN VI 11, 1143a8 –10: „Denn die Klugheit gibt Anweisungen: Denn was man tun soll oder nicht, ist ihr Ziel. Die Verständigkeit aber ist nur beurteilend.“ 8 Das Schöne (kalon), das eine Form des Guten (agathon) ist, ist dasjenige Gut, das zugleich aufgrund seiner selbst wählenswert und lobenswert ist: „Schön also ist das, was aufgrund seiner selbst gewählt wird und dabei lobenswert ist, oder das, was gut und dabei aufgrund des Gutseins angenehm ist. Wenn also dies das Schöne ist, dann ist notwendigerweise die Tugend schön; sie ist nämlich gut und dabei lobenswert“ (Rhetorik I 9, 1366a33 –36; Aristoteles, Rhetorik. Übersetzt und erläutert von Christof Rapp, Berlin 2002). Nach der Eudemischen Ethik (= EE) sind von allen Gütern diejenigen Ziele, die aufgrund ihrer selbst wählenswert sind. Von diesen sind diejenigen „schön“, die „unter allen Umständen ihrer selbst wegen wählbar sind und als solche lobbar sind“ (EE VIII 3, 1248b19f.; vgl. F. Buddensiek, Die Theorie des Glücks in Aristoteles’ Eudemischer Ethik, Göttingen 1999, 153). Darunter fallen die Tugend und die tugendhaften Handlungen. Hierzu F. Ricken, Art. kalon/schön, gut, in: O. Höffe (Hg.), Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, 296 –298. 9 Vgl. EN III 10, 1115b12f.; IV 2, 1120a23f.; IV 4, 1122b6f. Das kalon vereint in sich einen ‚attraktiven‘ Aspekt und einen ‚vorschreibenden‘ Aspekt (vgl. J. Owens, The KALON in the Aristotelian Ethics, in: D. J. Billy/T. Kennedy [ed.], Some Philosophical Issues in Moral Matters. The Collected Ethical Writings of Joseph Owens, Rom 1996, 27– 44, 40). 10 Vgl. F. Ricken, kalon (s. Anm. 8), 298. 11 Vgl. EN II 5, 1106b21–23. 12 In dieser kontextsensitiven Konkretisierung oder Determination eines allgemeinen normativen Gehalts auf eine bestimmte Situation hin unterscheidet sich die praktische Überlegung von der technischen Überlegung, die sich ausschließlich an der Effizienz der Mittel im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel orientiert. In der praktischen Überlegung geht es darum, zu einem allgemeinen Handlungsziel ein ‚passendes‘ Teilziel, das in ‚Symphonie‘ mit dem moralisch richtigen Ziel steht (symphônein: Politik VII 13, 1331b27–30; Aristoteles, Politik. Nach der Übersetzung von Franz Susemihl, Reinbek bei Hamburg 1994), zu finden. Vgl. hierzu U. Wolf, Warum Aristoteles 19 Stephan Herzberg Norm des praktisch Vernünftigen, d. h. des hier und jetzt von der Vernunft Gebotenen. Die phronêsis hat bei ihren Anordnungen aber auch, wie Aristotele sagt, das „gute Leben überhaupt“ im Blick (pros to eu zên holôs: VI 5, 1140a28 13), und das bedeutet, wenn die theôria als das höchstes Gut des eigenen Lebens angesehen wird, dass die phronêsis ihre Anordnungen auch um der theôria bzw. um der Weisheit (als der ihr zugrundeliegenden dianoetischen Tugend) willen gibt. 14 Die phronêsis sorgt also, wie Aristoteles in der oben zitierten Passage sagt, auch dafür, dass die Weisheit (sophia) entstehen bzw. die theôria als Tätigkeit gemäß der Weisheit stattfinden kann. Wie sie das leistet, kann in unterschiedlicher Weise verstanden werden: (a) Eine Möglichkeit wäre zu sagen, dass die phronêsis insofern auch die Voraussetzungen für die theôria schafft, als ihre Anordnungen im Bereich des Moralischen, wenn sie erfolgreich sind, eine Einheit oder Freundschaft mit sich selbst (als ‚innere Folge‘ moralischen Handelns) und ein konfliktfreies Zusammenleben in der Gemeinschaft der Polis nach den Maßstäben der Gerechtigkeit (als ‚äußere Folge‘ moralischen Handelns) zur Frucht haben: Nur wenn man es ‚bei sich selbst‘ 15 und ‚mit den anderen‘ aushalten kann, kann man theôria betreiben. Die Verwirklichung des moralisch Guten kann somit zugleich als Voraussetzung für die keine einheitliche Konzeption der praktischen Überlegung hat, in: K. Corcilius/C. Rapp (Hg.), Beiträge zur Aristotelischen Handlungstheorie. Akten der 8. Tagung der Karl-und-GertrudAbel-Stiftung vom 8. bis 11.7.2004 in Blankensee (Philosophie der Antike 24), Stuttgart 2008, 123 –129, 125: „Die Überlegung hat also weder die Struktur einer Mittel-Zweck-, noch die Struktur einer Teil-Ganzes-Überlegung. Vielmehr versucht sie herauszufinden, was in der vorliegenden Situation Tapfersein bedeutet, anders gesagt, ein in der Charaktergewohnheit implizit und unbestimmt anvisiertes Ziel zu artikulieren bzw. zu konkretisieren. Dabei könnte sie z. B. in der genannten Situation herausfinden, dass hier und jetzt das Standhalten nicht von der Tapferkeit gefordert ist.“ 13 Es geht nicht um das Gute und Nützliche in Bezug auf eine besondere Eigenschaft des eigenen Lebens (Gesundheit, körperliche Stärke), sondern um die Art und Weise des eigenen Lebens überhaupt, d. h. um die Art und Weise der Aktualität der eigenen Seele. 14 Zur grundsätzlichen Frage, wie ein und dieselbe intellektuelle Kompetenz für diese beiden sehr verschiedenen Aufgaben geeignet sein kann, vgl. U. Wolf, Eudaimonia und phronêsis. Eine Anmerkung zur Nikomachischen Ethik, in: F.-J. Bormann/Chr. Schröer (Hg.), Abwägende Vernunft. Praktische Rationalität in historischer, systematischer und religionsphilosophischer Perspektive (FS Friedo Ricken), Berlin/New York 2004, 39 – 43. 15 Vgl. EN IX 4, 1166a23 –27: „Der Mensch, der so beschaffen ist, will Zeit mit sich verbringen. Dies nämlich tut er mit Lust, denn die Erinnerungen an das, was er getan hat, sind erfreulich, und die Hoffnungen auf künftige Handlungen sind gut; solche Hoffnungen aber sind erfreulich. Und er verfügt im Denken über einen reichen Besitz an Gegenständen der Betrachtung“ (Übers. Wolf). 20 Praktische Vernunft und Kontemplation Entstehung der Weisheit bzw. für den Vollzug der theôria betrachtet werden. 16 (b) Das ‚Anordnen um der Weisheit willen‘ kann aber auch in dem stärkeren Sinn verstanden werden, dass die phronêsis das Urteil fällt, die praktischen Tätigkeiten als solche zu begrenzen oder zugunsten der Betrachtung ganz auszusetzen. In dieser zweiten Art von anordnender Tätigkeit unterliegt die phronêsis dem ‚kontemplativen Imperativ‘, der sich aus dem perfektionistischen Prinzip, immer nach dem Besten in einem selbst zu leben, ergibt: Doch dürfen wir nicht denen folgen, die uns raten, wir sollen als Menschen an menschliche Dinge denken und als Sterbliche an sterbliche Dinge. Vielmehr müssen wir uns, soweit es möglich ist, unsterblich machen und alles tun, um in Übereinstimmung mit dem Höchsten in uns zu leben. Denn auch wenn dies klein im Umfang ist, überragt es doch alles umso mehr an Vermögen und Wert. (EN X 7, 1177b31–1178a2; Übers. Wolf mit Änderungen) Entscheidend ist, dass auch diese stärkere Interpretation nicht notwendig eine Abwertung des moralisch-politischen Handelns bedeutet: Die perfektionistische Norm lässt sich so interpretieren, dass sie nur dann bindet, wenn die Voraussetzungen gegeben sind, d. h. wenn es für den Einzelnen moralisch möglich ist, 17 sich der betrachtenden Tätigkeit zu widmen. 18 Es lassen sich folgende Möglichkeiten denken, wie derjenige Kluge (phronimos), der die kontemplative Tätigkeit als höchstes Gut im Blick hat, bei seinen Entscheidungen mit der Moral umgeht: (a) Er entscheidet sich in manchen Situationen erst einmal für die Verbesserung seiner Charaktereigenschaften oder für die Betätigung seiner ethischen Tugenden und ver16 In einer solchen (schwachen) Interpretation stellt sich weder das Problem, wie die phronêsis für zwei so unterschiedliche Aufgaben geeignet sein kann, noch das Problem der möglichen Infragestellung des intrinsischen Werts tugendhaften Handelns: Die phronêsis hat hier nur eine Aufgabe, die Verwirklichung des kalon; das moralisch-politische Handeln ist weiterhin Selbstzweck (zum letzten Punkt vgl. U. Wolf, Eudaimonia und phronêsis [s. Anm. 14], 41). 17 Ich verstehe das §f' Àson §nd¤cetai in X 7, 1177b33 also im Sinne von „soweit es (moralisch) möglich ist“ und nicht im Sinne von „soweit man selbst kann“. Ich würde deshalb den zugehörigen Imperativ gerade nicht so wie J. Ackrill, Aristotle on Eudaimonia, in: O. Höffe (Hg.), Aristoteles. Die Nikomachische Ethik (Klassiker auslegen 2), Berlin 1995, 39 – 62, 60, formulieren: „maximize theoria, and for the rest act well“, sondern: „Handle tugendhaft und, wenn es moralisch möglich ist, betreibe theoria!“ 18 Vgl. S. Broadie/Chr. Rowe, Aristotle. Nicomachean Ethics, Oxford 2002, 79: „this sort of work [i.e. theoretical; S.H.] is what occupies him when he is free from other commitments; he plans so as to be as free of other commitments as human nature and practical excellence allow; he finds in this work his greatest pleasure and personal fulfilment.“ 21 Stephan Herzberg zichtet vorerst auf die betrachtende Tätigkeit (etwa um Konflikte in seinem näheren Umfeld zu lösen, um Rechtsverhältnisse wiederherzustellen, um Beziehungen zu pflegen etc.). (b) Er versucht bewusst Situationen und Lebenslagen zu vermeiden, in denen mit einer umfangreichen Betätigung der ethischen Tugenden zu rechnen ist, und erstrebt außerdem äußere Güter nur im Rahmen des Notwendigen (etwa indem er sich für ein eher zurückgezogenes Leben entscheidet, auf öffentliche Ämter verzichtet, nicht an einem großen Besitz interessiert ist etc.). Damit versucht er, die praktischen Tätigkeiten und die mit ihnen einhergehenden ‚Verwicklungen mit der Welt‘ einzugrenzen. (c) Er entscheidet sich, wenn alle Voraussetzungen gegeben sind, d. h. wenn grundlegende Normen nicht verletzt werden und elementare Forderungen der Gerechtigkeit erfüllt sind, bewusst für die betrachtende Tätigkeit in einem bestimmten zeitlichen Umfang. Die betrachtende Tätigkeit verdient, schlechthin gesehen, d. h. von den konkreten Umständen abgesehen, eine umfassende Förderung, sie verdient schlechthin den Vorzug. 19 Ob aber im konkreten Fall die betrachtende Tätigkeit der praktischen Tätigkeit vorgezogen wird, diese Entscheidung richtet sich in erster Linie nach den Standards der Moral, d. h. ob bestimmte Normen verletzt werden bzw. erfüllt sind etc., und erst in zweiter Linie nach der Hierarchie innerhalb der Klasse der seelischen Güter: Die Entscheidung, die praktische Tätigkeit auszusetzen um der Betrachtung willen, muss selbst moralisch gerechtfertigt sein; sie unterliegt moralischen Maßstäben, zu deren Erkenntnis die phronêsis disponiert. 20 Dass die Klugheit der Weisheit untergeordnet ist und um ihretwillen Anordnungen trifft, bedeutet also nicht, dass die moral-internen Normen um der theôria willen verletzt werden könnten. Der Bereich moralischen Handelns ist insofern ‚eigengesetzlich‘, als er keiner externen Normierung, über das kalon hinaus, mehr unterliegt. Von einem solchen normierenden Einfluss 19 EE VIII 3, 1249b16 –23; EN X 7, 1178a1f. S. Sauvé Meyer, Living for the sake of an ultimate end (s. Anm. 6), 62: „While engaging in theoria involves disengaging, for a time, from practical reasoning, the decision to disengage is itself within the scope of practical reasoning and thus subject to the norms of the virtues of character.“ Vgl. auch N. O. Dahl, Contemplation and eudaimonia in the Nicomachean Ethics, in: J. Miller (ed.), Aristotle’s Nicomachean Ethics. A Critical Guide, Cambridge 2011, 66 – 91, 70, 87: „Since human beings can’t continuously exercise contemplation in the course of their lives, it will take an exercise of the practical intellect to determine when, where and how a person will contemplate. In order for this exercise of the practical intellect to be engaged in well, it must be an exercise of phronêsis, the supreme virtue of the practical intellect.“ 20 22 Praktische Vernunft und Kontemplation ist allerdings ein regulierender Einfluss zu unterscheiden.21 So wie der Mensch nicht das (ontologisch) Beste im Universum ist und der Raum des Praktischen nicht der höchstrangige Bereich der Wirklichkeit, so ist auch die Klugheit, absolut gesehen, nicht die höchste dianoetische Tugend und die praktische Tätigkeit nicht die höchste Weise des Lebensvollzugs. Es gibt hier eine objektive Werthierarchie, die in einer ontologischen Hierarchie der Wirklichkeit eingebettet ist. Die Klugheit herrscht nicht über die Weisheit, sie gebraucht sie nicht um eines bestimmten praktischen Zwecks willen. Sie entscheidet zwar darüber, ob und wann und in welchem Umfang die betrachtende Tätigkeit vollzogen wird, dies aber immer vor dem Hintergrund der Überzeugung, dass die theôria, die sich auf die ontologisch höchsten Gegenstände bezieht, die höchstrangige Weise des Lebensvollzugs ist. Die Weisheit ist die am meisten herrschende Wissenschaft: Am gebietendsten unter den Wissenschaften, gebietender als die dienende, ist die, die den Zweck erkennt, worum willen ein jedes zu tun ist; dieser ist aber das Gute für ein jedes, überhaupt aber das Beste in der ganzen Natur. 22 Die Klugheit ist aber nicht einfach nur eine ‚Befehlsempfängerin‘ oder bloß dienend. Sie gibt vielmehr selbst Anordnungen in ihrem Bereich, dem Bereich des Praktischen, und zwar in erster Linie um der Verwirklichung des ‚Schönen‘ willen, dann aber auch, nämlich im Rahmen der theoretischen Lebensform, um der Realisierung der betrachtenden Tätigkeit willen. Sie trägt nicht nur dafür Sorge, dass das ‚richtige‘ und ‚gute‘ Handeln, die eupraxia, und damit das praktische Vernünftigsein verwirklicht wird, sondern auch dafür, dass im Raum des Sublunaren die ontologisch höherrangige theôria von vernunftbegabten Lebewesen vollzogen wird. 23 Auf diese zweifache Weise trägt sie zur größeren Aktualität der Vernunft im Bereich des Kontingenten bei. 21 Zu dieser Unterscheidung vgl. S. Sauvé Meyer, Living for the sake of an ultimate end (s. Anm. 6), 50f. 22 Metaphysik I 2, 982b4 –7 (Aristoteles, Metaphysik. Übersetzt von Hermann Bonitz, Reinbek bei Hamburg 1994). 23 Vgl. EE VIII 3, 1249a21–b25 (Übers. Buddensiek [s. Anm. 8], 229f.). 23 Stephan Herzberg 2. Die Grenzen des Moralischen Die Betrachtung als bestmögliche Tätigkeit zu vollziehen, wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind, d. h. wenn der Bereich des Praktischen, insofern er den Betrachtenden betrifft, moralisch geordnet ist, ist nicht bloß erlaubt oder wünschenswert im Sinne einer begrüßenswerten Freizeitbeschäftigung oder eines intrinsischen Guts unter anderen. Die betrachtende Tätigkeit zeichnet sich vielmehr durch ihre Ernsthaftigkeit (spoudê) aus 24; sie ist alles andere als eine Vergnügung (paidia). 25 Gemäß dem perfektionistischen Prinzip ist die betrachtende Tätigkeit aufgrund ihrer ontologischen Würde vielmehr gefordert. 26 (Der Abweis eines ‚intellektualistischen Eudaimonismus‘ führt also nicht notwendig zu einer strikt inklusiven Interpretation der aristotelischen eudaimonia, in der die Betrachtung ein intrinsisches Gut neben anderen intrinsischen Gütern wäre. 27) Wenn die phronêsis das ‚exekutive Organ‘ auch für diese Art von Forderung ist, dann setzt das allerdings voraus, dass sie zumindest den überragenden Wert der theôria kennt 24 Vgl. EN X 7, 1177b19. Einem flachen, hedonistischen Glücksverständnis könnte man mit Aristoteles entgegnen: „Es wäre ja auch seltsam, wenn das Ziel die Vergnügung wäre und wenn wir uns das ganze Leben abmühen und Übel auf uns nehmen würden um der Vergnügung willen. Denn wir wählen, so kann man sagen, alles um anderer Dinge willen, nur das Glück nicht. Dieses ist nämlich das Ziel. Sich aber ernsthaft zu betätigen und sich anzustrengen der Vergnügung zuliebe, ist offenbar töricht und allzu kindisch“ (EN X 6, 1176b28 –33; Übers. Wolf). 26 Für diejenigen Bürger, die in ihrem Leben nicht die günstigen Bedingungen hatten, das praktische Tätigsein auszusetzen, um theoretisches Wissen zu erwerben und dieses zu reflektieren (und das dürften die meisten sein), die sich vielmehr ‚nur‘ im Praktischen tugendhaft betätigt haben, reserviert Aristoteles den Titel eines „zweitbesten Glücks“ (EN X 8, 1178a9). Ihnen macht niemand einen Vorwurf daraus, die perfektionistische Norm nicht ganz erfüllt zu haben. Jedes Sollen setzt ein Können voraus. 27 Es ist m.E. sinnvoll, zwischen einer strikt inklusiven und einer moderat inklusiven Interpretation zu unterscheiden: Gemäß einer strikt inklusiven Lesart besteht das höchste Gut schlicht in der Summe aller intrinsischen Güter. Die moderat inklusive Lesart fasst dagegen das höchste Gut als ein geordnetes Ensemble intrinsischer Güter auf, das eine Hierarchie zulässt. Vgl. M. Nussbaum, The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy, Cambridge 1986, 374: „For one might consistently hold that there are many intrinsic goods without which life is less complete, and which, therefore, by the criteria of EN I will be parts of, not just means to, eudaimonia, while holding at the same time that some of these goods are higher than others. This is plainly the position of EN VI, where in one and the same chapter Aristotle claims that sophia is one part of eudaimonia […] and also that it is in some way the best part. It is, as it were, the biggest and brightest jewel in a crown full of valuable jewels, in which each jewel has intrinsic value in itself, and the whole composition (made by practical wisdom) also adds to the value of each.“ 25 24 Praktische Vernunft und Kontemplation bzw. eine richtige Auffassung von der Ordnung der Wirklichkeit und vom Platz des Menschen in ihr hat. 28 Das spricht wiederum für eine über die Findung der ‚Mittel‘ zu einem moralisch werthaften Ziel hinausgehende Kompetenz der phronêsis. 29 Vor dem Hintergrund einer solchen Hierarchie der Wirklichkeit liegt es nahe, dass nach Aristoteles die praktischen Tätigkeiten, schlechthin gesehen, nur in einem bestimmten Umfang betrieben werden sollen und sich hieran der Bedarf an äußeren und körperlichen Güter zu orientieren hat. 30 (Die von Aristoteles angemahnte Bescheidenheit31 lässt sich damit nochmals von einem höheren Standpunkt aus begründen.) Die Situationen, in denen tugendhaftes Handeln gefordert ist, gibt uns ohnehin das leib-seelische und sozial verfasste Leben – d. h. dasjenige Leben, das wir, insofern wir Menschen sind, 32 führen müssen – mit seinen vielfältigen Bedürfnissen und Interessen vor. Hier sind praktisches Überlegen, Entscheiden und Handeln unausweichlich. Es ist, so lässt sich die Relevanz des theoretischen Lebensideals im Hinblick auf das praktisch-politische Leben interpretieren, nicht vernünftig, solche Situationen bewusst zu suchen oder auf ihr Entstehen hinzuwirken, nur um die eigene Tugendhaftigkeit unter Beweis zu stellen.33 Der Hintergrund für diese Beschränkung liegt in Aristoteles’ maximalistischer Anthropologie: Der Mensch ist seinem Wesen nach am meisten (theoretischer) Intellekt;34 die Betrachtung ist der für ihn höchstmögliche 28 Hier zeigt sich eine Verwandtschaft zwischen der phronêsis und der Fähigkeit zur ‚Selbsterkenntnis‘, wie sie im delphischen gnôthi sauton angemahnt wird. Vgl. hierzu auch P. Aubenque, Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles, Hamburg 2007, 152f., 158f. 29 Wir können auf der Grundlage des Bisherigen folgende Funktionen der phronêsis unterscheiden: (1) Im Hinblick auf das kalon als Ziel der Tugend: (a) Zuordnung der ‚passenden‘ Tugend (mit dem zugehörigen Tugendziel) zu einer konkreten Situation, (b) Konkretisierung des allgemeinen normativen Gehalts auf diese Situation hin, also Ermittlung der ‚moralischen Mittel‘ im Hinblick auf dieses Ziel, (c) Formulierung und Anordnung einer konkreten Handlungsanweisung. (2) Im Hinblick auf die theôria: (a) Festlegung des Umfangs praktisch-tugendhaften Tätigseins, (b) Festlegung des Umfangs der theôria, (c) das der jeweiligen Situation entsprechende Vorzugsurteil. 30 Vgl. F. Buddensiek, Die Theorie des Glücks (s. Anm. 8), 244f. 31 Vgl. EN X 9, 1179a4 – 6: „man kann das Schöne tun, auch ohne über Land und Meer zu herrschen. Auch mit bescheidenen Mitteln kann man nämlich in Ausübung der Tugend handeln“ (Übers. Wolf). 32 Vgl. EN X 8, 1178b5 –7. 33 Vgl. F. Buddensiek, Die Theorie des Glücks (s. Anm. 8), 245. 34 Vgl. EN IX 4, 1166a23f.: „Und der Bestandteil, der denkt, dürfte das sein, was jeder seinem 25 Stephan Herzberg Lebensvollzug. Hier verwirklicht er eine Tätigkeit, die alles andere an Wert übersteigt. Diese Tätigkeit, in welcher der Mensch Gott am ähnlichsten wird, setzt aber Muße voraus. Diese wird nur denen unter den Menschen zuteil, die über die für das Leben notwendigen Güter verfügen und denen es darüber hinaus möglich ist, zeitweise die praktische Tätigkeit um der betrachtenden Tätigkeit willen auszusetzen. Die tugendhaften Handlungen, und hier vor allem die, die es mit dem Krieg, als auch die, die es mit den politischen Angelegenheiten zu tun haben, sind mit der Muße unvereinbar: „Denn niemand“, so Aristoteles, „wählt das Kriegführen oder rüstet zum Krieg um des Kriegführens willen, und man wird einen Menschen, der seine Freunde zu Feinden macht, damit Kampf und Mord geschehen, für gänzlich blutrünstig halten.“ 35 Die Handlungen gemäß den ethischen Tugenden zielen ab auf das Hervorbringen eines von der Tätigkeit selbst unterschiedenen Sachverhalts. Da es um die Veränderung eines Zustands der Welt geht, der vom eigenen Tätigsein verschieden ist und für dessen Veränderung man auf zusätzliche Mittel angewiesen ist, ‚verwickelt‘ man sich um der Hervorbringung dieses Zustands willen in die unterschiedlichsten Tätigkeiten. Der Erfolg der eigenen Tätigkeit ist daher auch von den ‚Launen des Schicksals‘ abhängig, also von dem, was nicht in der eigenen Macht steht. 36 Die Begrenzung tugendhaften Tätigseins, die um der größtmöglichen Hervorbringung der theôria willen erfolgt, bewahrt den Menschen vor einem blinden, zerstörerischen Aktionismus und einer zermürbenden Geschäftigkeit und erinnert ihn daran, dass seine vorzüglichste Lebensweise in der BeWesen nach ist oder jedenfalls am meisten ist“; X 7, 1178a7. Vgl. G. Richardson Lear, Happy Lives and the Highest Good (s. Anm. 1), 189: „By this he must mean that human beings are, in the strictest sense, contemplative creatures.“ 35 EN X 7, 1177b9 –12 (Übers. Wolf). 36 Aristoteles betont zum einen, dass es bei uns liegt, gute oder schlechte Handlungen zu tun bzw. nicht zu tun, und es dann auch bei uns liegt, ob wir gute oder schlechte Menschen sind (EN III 7, 1113b11–14). Zum anderen ist der tugendhaft Handelnde für sein Tun „schöner Dinge“ auch auf äußere Güter als Hilfsmittel angewiesen ist (Freunde, Reichtum, politische Macht: EN I 9, 1099a31–b2; X 7, 1177a30f.; X 8, 1178a28 –b3) und diese Güter „von Natur aus“ beziehen sich auf Glück (eutychia) und Unglück (atychia: EN V 2, 1129b3). Aristoteles versucht allerdings, diesen ‚Zufallsfaktor‘ im Bereich moralischen Handelns so weit wie möglich einzugrenzen, wenn er schreibt, dass man auch mit bescheidenen Mitteln tugendhaft handeln kann; „man kann das Schöne tun, auch ohne über Land und Meer zu herrschen“ (EN X 9, 1179a4 – 6, a10 –13). Nimmt man hier aber noch die Möglichkeit des ‚tragischen Helden‘ hinzu (Poetik 13, 1453a8 –10), dann lässt sich eine gewisse Zufallsabhängigkeit moralischen Handelns nicht ganz ausschließen (hierzu B. Williams, Moralischer Zufall, Königstein/Ts. 1984). 26 Praktische Vernunft und Kontemplation trachtung des ersten Prinzips der Wirklichkeit liegt. Der Mensch ist im eigentlichen Sinn ein ‚kontemplatives Wesen‘. 37 Insofern hat die perfektionistische Norm, „alles zu tun, um in Übereinstimmung mit dem Höchsten in uns zu leben“38, auch eine ethische Relevanz. Sie zieht dem tugendhaft-praktischen Tätigsein im Hinblick auf ein höheres, transmoralisches Lebensziel eine vernünftige Grenze.39 Der Mensch bzw. die ihn auszeichnende Vernunfttätigkeit ist nicht einzig und allein dafür da, das moralisch Richtige zu erkennen und ‚aus vollem Herzen‘ zu tun. (Wobei dies an sich schon eine lobenswerte Sache ist und zur ‚Herrschaft der Vernunft‘ im Bereich des kontingent Seienden einen wesentlichen Beitrag leistet.) Der Mensch ist letztlich um eines (noch) höheren Ziels willen da, nämlich dazu, die Wirklichkeit als ein auf das erste Prinzip, also auf Gott, bezogenes und von dort aus geordnetes Ganzes zu erkennen und dieses Wissen in der theôria zu reflektieren. Die Moral ist eine Institution, in der menschliche Begierden und Affekte kultiviert werden, in der man in einen diskursiven Austausch über Kriterien des richtigen Handelns tritt, in der Gesichtspunkte für die gerechte Verteilung von Gütern und Übeln in einer Gemeinschaft formuliert und begründet werden etc. Die Moral ist aber sub specie aeternitatis nicht alles: Sie ist dafür da, die ‚menschlichen Dinge‘ zu ordnen.40 Weder ist die politische Wissenschaft oder die Klugheit die beste Wissenschaft, noch sind Weisheit und politisches Wissen dasselbe.41 Der Moral wird von Aristoteles aus ‚transhumaner Perspektive‘ eine Grenze gezogen, ohne dass damit ihre ‚Eigengesetzlichkeit‘ verletzt wird. Interessanterweise gehört diese ‚transhumane Perspektive‘ zur Ethik selbst.42 Es ist die Ethik selbst, die der Moral eine Grenze 37 Vgl. Anm. 34. EN X 7, 1177b33f. 39 Vgl. auch B. Williams, Moralischer Zufall (s. Anm. 36), 47. 40 Vgl. EN X 8, 1178a10 –14: „Das Gerechte, das Tapfere sowie das Übrige, worin sich die Tugenden betätigen, üben wir gegeneinander aus, indem wir im vertraglichen Umgang, in Notlagen, in Handlungen aller Art und bei den Affekten das beachten, was einem jeden angemessen ist. Dies alles aber sind offenbar menschliche Dinge“ (Übers. Wolf). 41 Vgl. EN VI 7, 1141a20f., a29. 42 Vgl. O. Höffe, Aristoteles oder Kant – wider eine plane Alternative, in: O. Höffe (Hg.), Aristoteles. Die Nikomachische Ethik (Klassiker auslegen 2), Berlin 1995, 277–304, 283: „Auch Aristoteles beansprucht zumindest für einen Teil der Ethik eine transhumane Gültigkeit, für den bios theôrêtikos nämlich, der immerhin die höchste Form eines dem Glück verpflichteten Lebens bedeutet.“ 38 27 Stephan Herzberg zieht und über sie hinausweist. Für Aristoteles ist die menschliche Praxis in einer bestimmten Weise in das Ganze des Seienden eingebettet.43 Die theôria kann somit durchaus als ein Prinzip menschlichen Tätigseins angesehen werden: Es orientiert das moralische Handeln sub specie aeternitatis, ohne dabei auf die moral-internen Standards normierend Einfluss zu nehmen. Die Aufforderung zur Selbstüberschreitung in der Kontemplation ist ein Prinzip zweiter Stufe. Insofern der Mensch auch am Intelligiblen teilhat und in der epistemischen Beziehung zu den höchsten intelligiblen Gegenständen seine maximale Erfüllung findet, erinnert die Aufforderung zur Kontemplation den Menschen an die höchste Form der Gottähnlichkeit, die ihm zu erreichen möglich ist. 44 43 Vgl. H.-G. Gadamer, Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles, in: ders., Plato im Dialog, Tübingen 1991, 128 –227, 224: „Sofern aber die Welt der menschlichen Praxis ihren Ort im Ganzen des Seienden hat, ist die Sphäre menschlicher Praxis und Poiesis insgesamt in das Reich der Natur eingeordnet. Nicht nur die Kunst ahmt die Natur nach. Auch die menschliche Praxis tut solches, sofern sie auf nichts als auf die höchste Erfüllung des Menschseins selbst hin orientiert ist. Dabei aber zeigt sich, daß sie zugleich über sich selbst hinausweist, und so muß auch Aristoteles, solcher Notwendigkeit folgend, dem theoretischen Lebensideal gegenüber der Praxis und Politik den Vorzug geben […] Das Vorbild des Immerseienden, des Göttlichen bzw. der Gestirne, bleibt der letzte Orientierungspunkt bei der Behandlung der praktischen Natur des Menschen.“ 44 Vgl. EN X 8, 1178b7–32. 28 Die Tugend der Epikie im Spannungsfeld von Recht und Ethik von Kerstin Schlögl-Flierl Dem Geehrten, Josef Schuster, möchte ich einen Beitrag aus dem Bereich der Tugendethik 1 widmen, ist er doch für mich einer derjenigen Lehrer unter den deutschen Moraltheologen, der die Tugendethik neben der Normethik in den letzten Jahren deutlich konturiert hat. „Eine Tugendethik ist als sinnvolle Ergänzung einer normativen Ethik zu verstehen oder anders ausgedrückt: Normenethik und Tugendethik verhalten sich komplementär zueinander.“ 2 Mit dem eindrücklichen Bild der Tugend als Haltungsbild, welches Josef Schuster immer wieder stark gemacht hat, soll in diesem Aufsatz ein für mich so verstandener Idealtypus dieses Konzeptes von Tugend, nämlich dasjenige der Epikie, erläutert werden. Ich werde in einem ersten Schritt die zentralen Begriffe meines Themas einführen: die Epikie, die Tugend der Epikie und den Kontext derselbigen: das Spannungsfeld von Recht und Ethik, um dann in einem zweiten Schritt einen kurzen historischen Abriss zur Begriffs- und Ideenentwicklung der Epikie zu bieten. Im dritten Schritt soll ein systematisches Erfassen und eine Kriteriologie angedeutet und in einem vierten Schritt mögliche Anwendungsmöglichkeiten, so beispielsweise beim medizinisch assistierten Suizid, der Suizidbeihilfe, angeschnitten werden. 1. Die konstituierenden Begriffe der Überschrift 1.1 Epikie Der Begriff kommt vom griechischen epieikeia und bedeutet ganz grundsätzlich die Suche nach der größeren Gerechtigkeit. Dies klingt im ersten Moment sehr unspezifisch. Was heißt „Gerechtigkeit“, und was „die größere“? Bei der Epikie geht es im Grunde darum, die Suche nach der Sinngerechtig1 2 Vgl. J. Schuster, Moralisches Können. Studien zur Tugendethik, Würzburg 1997. Ebd., 231. 29