TURKIYE`NIN AVRUPA BIRLIGI`NE GIRIŞININ DINBOYUTU

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DİYANET İŞLERİ·BAŞKANLIGI
YAYlNLARI
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TURKIYE'NIN
AVRUPA BIRLIGI'NE GIRIŞININ
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DINBOYUTU
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(SEMPOZYUM)
17 - 19 Eylül 2001
DÜZENLEYEN
DİYANET İŞLERi BAŞKANLIGI İŞBİRLİGİ
İLE
ÇANAKKALE ONSEKiZ MART ÜNİVERSİTESİ
iLAHiYAT FAKÜLTESi
ANKARA- 2003
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TOrkiye'nin Avrupa
Birliği'ne Girişinin
Din Boyutu Sempozyumu ·
DiE DiFFERENZ DER RELiGiONEN ALS CHANCE
FÜR EiNE NEUE WAHRNEHMUNG iM iNTERKULTURELLEN
DiALOG
Prof. Dr. Pet~r GRAF*
Sehr verehrte Damen und Herren,
1. Kulturelle Veranderung als allgemeiner Erfahrungskontext.
Wenn Sie mir erlauben, das Erscheinungsbild des Kulturellen generell zu
charakterisieren, so würde ich ihm das Merkmal "Veranderung" zuordnen. Mehr
noch: ich meine, dass wir gegenwartig eine Zeit der Veranderung und des kulturellen Wandels erleben, wie sie in der neueren Geschichte der Menschheit,
insoferr,ı sie nicht durch Kriege gekennzeichnet war, einmalig ist. Die Reichweite
und lntensitat kultureller Veranderungen schafft einen Erfahrungshintergrund, der
wesentlich ist für den Kontext, in dem ein Thema wie der interreligiöse Dialog zu
verhandeln ist.
Der Prozess der Veranderung betrifft nicht nur das Kulturelle im spezifschen
Sinn, sondem entfaltet seine Wirkung auf den beiden grossen Ebenen des politisch-geographischen Raumes und der Zeit. Beide bestimmen unser Leben nachhallig:
·
- entlang der Zeitlinie verandert die technisch-zivilisatorische Entwicklung das
Leben der Menschen, im öffentlichen Leben ebenso wie im privaten und persönlichen Lebenskreis, in der Kleinstadt ebenso wie über die Grenzen der Nationen,
Sprachen und Religionen hinweg;
- bezogen auf den soziokulturellen Raum verandert sich das gesellschaftliche
Leben ebenso wie dasVerhaltnis der Nationen zueinander durch internationale
Wirtschaftsbeziehungen, durch Migratian und neue Möglichkeiten des Verkehrs
sowie durch neu entstehende politische Strukturen. Diese Entwicklungen haben
zur Folge, dass die Formen des Kontakts und der Nachbarschaft zwischen
Menschen, die unterschiedlichen Kulturkreisen, Sprachgruppen und Religionen
zuzurechnen sind, eine Normalitat und lntensitat erlangt haben, die noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar waren.
Ein herausragendes Beispiel ist unser Gegenstand: In Westeuropa, in
Deutschland zumal, war bis vor wenigen Jahrzehnten der Islam kein öffentliches
Thema, das Türkische eine exotische Sprache. lnzwischen gibt es in jeder
gröBeren deutschen Stadt mehrere Moscheen, das Türkische ist zu der am haufigsten gesprochenen Sprache in Deutschland nach dem Deutschen geworden.
Universillit Osnabrück, Profeser für interkulturelle Padagogik
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Din Boyutu Sempozyumu
Der Islam ist mit rd. 3 Mio Muslimen in Deutsehland, mit rd. 12. Mio Muslimen in
Westeuropa zur zweiten führenden Religionsgemeinsehaft geworden.
Bezogen auf den soziokulturellen Raum kommt der Prozess der europaisehen
Integration hinzu: Er beinhaltet, dass nationale, einspraehige und monokulturelle
Strukturen in ein Gefüge von internationalen, mehrspraehigen und multikulturellen
Strukturen eingebunden werden. Dabei werden nationale Strukturen abgebaut,
oh ne dass international europaisehe Strukturen sie ersetzen könnten. Der Euro als
neue Wahrung ersetzt nieht einfaeh die deutsche Mark, hinter dieser neuen
Wahrung steht nieht mehr die nur deutsche Wirtschaft, sondem jene der EU. Ahnlieh ist der Dienst in einer internationalen Armee ein anderer als der Wehrdienst in
der nationalen Pfliehtarmee. Der Pro~ess der europaisehen Integration beinhaltet
daher nicht nur formale Veranderungen im Sinne ~on lnternationalisierung, sondem einen grundlegenden Wandel auch der innergesellschaftlichen
Lebensbedingungen, die tür die Mensehen eine ausgesprochene Zumutung
darstellen. In Deutschland hat man wohlweislich die Bevölkerung nieht über die
Einführung der europaisehen Wahrung abstimmen lassen.
Dies sollte der Ausgangspunkt meiner Argumentation sein: bezogen auf den
politischen, sozialen und kulturalien Raum wird den Europaern, die bereits in
einem Mitgliedsstaat leben wie aueh jenen, die .Mitgliedsehaft anstreben, derzeit
ein intensiver Prozess interkulturellen Lernens zugemutet, da die meisten Staaten
bisher von einer nationalen, spraehliehen und kulturalien Homogenitat ausgingen,
die nun internationale, mehrsprachige und multikulturelle · Strukturen einzufügen
sind.
Der Umfang und Tragweite dieser Lernprozesses wird durch Migratian einerseits und Minderheitenfregen andererseits noeh an Bedeutung gewinnen.
Diese Veranderungen des politischen und soziokulturellen Raumes werden
potenziert dureh die naehhaltigen Veranderungen in der Dimension der Zeit, die
aus der technologisch-zivilisatorisehen Entwicklung stammen, denen sieh kaum
jemand entziehen kann und die mehr oder weniger aile Lebensbereiche erfassen.
Be ide Ebenen, die Entwieklungen im politisch-sozialen Raum zusammen mit jener
der Zeit, verstarken sich gegenseitig und erzeugen eine Erfahrung des Übergangs, die Mensehen vor allem in meinem Alter an die Grenzen ihrer Lernfahigkeit
führen.
Erlauben Sie mir, persönlich von meiner Generatian zu sprechen, der nach
meiner Einschatzung so tiefgreifende Veranderungen zugemutet wurden wie
kaum einer anderen Generation.
leh selbst bin als Kind in einem Dorf aufgewaehsen, in dem es naehts stockfinster wurde, da es keine Strassenbeleuehtung gab. Naeh Einbruch der
Dunkelheit gingen wir mögliehst nicht mehr nach draussen; mit dem Fahrrad oder
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zu Fuss die Walder ringsum zu durchqueren, versetzte uns in Angst. lm Dorf hatte
mit einer Ausnahme niemand ein Auto ader Telefon. Die Ernte auf den Feldern
wurde vornehmlich mit Pferdewagen eingebracht, die Wasche im Bach
gewaschen, die Hauser hatten weder Zentralheizung noch fliessendes warmes
Wasser. Niemand hatte irgendwelche elektronische Medien, abges,ehen vom
Radio. In die nachstgelegene gröBere Stadt, nach München zu kommen, war tür
meine Familie fast so aufwendig wie heute für uns ein Flug nach Paris ader
Istanbul. Als Kinder kamen wir nie nach München, die Grenzen des eigenen
Landes waren auch tür die Erwachsenen fast unerreichbar ader, ini Blick auf die
Grenze im Osten, geschlossen. lm Ausland war niemand gewesen, - ausser als
Soldat im Land des Feindes. Nichtdeutschen Menschen begegnete man nirgendwo, traf keine Menschen, die fremde Sprachen sprachen. Die einzigen Fremden
waren amerikanische Soldaten, die damals noch das Land besetzt hielten.
Meine Generatian hat damit nicht nur aile Phasen der Motorisierung, der
neueren Verkehrstechnik, der Medienentwicklung und lnformationsnetzwerke im
vollen Umfang erfahren und gelernt, sondem auch erfahren, wie sich unsere
Gesellschaft schrittweise fremden Gruppen, Sprachen und Kulturen öffnete, wie
die Bundesrepublik zu einem Teil der EU wurde. Damit waren und sind intensive
Prozesse des Lernens verbunden, die tür manche Mitglieder meiner Generatian
so eng mit dem Vergehen des eigenen Lebens, dem Alter-Werden verbunden
sind, dass sie sich gegen weitere Veranderungen sperren, z.B. den Umgang mit
neueren Technologien r.ıicht mehr lernen. Nicht wenige aus meiner Generatian
lehnen es daher auch ab, sich mit neueren Entwicklungen wie der Prasenz des
Islam intensiv zu befassen.
Mit dieser teilweise persönlich gepragten Einleitung möchte ich den Kontext
verdeutlichen, in dem der interkulturelle und interreligiöse Dialog, wie ich ihn
vorschlage, einordne. Dieser Kontext schafft einen Hintergrund der Zumutung, der
ebenso neue wie kampiexe Fragen aufwirft. Die gewohnte eigene Lebensform
wird durch neue Formen der Begegnung und des Kontakts, des Austausches von
lnformationen und die aııtagliche Prasenz des Fremden in Frage gestellt. Diesem
Kontext der Zumutung müssen jene Menschen sich stellen, die in einen interkulturellen und interreligiösen Dialog einzutreten gedenken. Dabei geht es
keineswegs darum, den sozialen, politischen und kulturellen Wandel als einen
neuen Weg in den freien Markt der Kulturen zu zelebrieren ader ihn zusatzlich
beschleunigen zu wollen. Es geht darum, sich dem Prozess vielfaltiger
Veranderungen zu stellen, um ihn verstehend zu gestalten können.
Dies ist die erste Hürde, die zu nehmen ist, wenn man in den interkulturell-interreligiösen Dialog aintreten möchte. Man muss sich entscheiden zwischen der
Alternative, dem Wandel ins Auge zu sehen ader ihn zu vermeiden und sich im
Blick auf das Tradierte gegen ihn zu stellen und entsprechende Barrieren
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aufzurichten. (Beides wird derzeit in Jugoslawien praktiziert: Slowenien beantragt
die Mitgliedschaft in der EU, Makedonien soll unter den Ethnien aufgeteilt werden).
Die einzig mögliche Alternative kann man nicht praziser beim Naman nennen
als das ein chinesisches Sprichwort tut:
Wenn die Winde des Wandels wehen,
bauen die einen Mauern,
die anderen Windmühlen.
Windmühlen werden zu Energiemaschinen, wenn sie auf soliden
Fundamanten stehen und daher in der Lage sind, den Winden standzuhalten. Sie
drehen sich nicht mit dem Wind, sondem können dessen Energie nur gewinnen,
wenn sie sich gegen den Wind stellen.
·
Dies führt uns zum 2. Schritt auf dem Weg zum interreligiösen Dialog.
.
2. Kultureller Wandel als neue Frage nach Orientierung
Auf dem Hintergrund einer Zeit des sozialen und kulturellen Übergangs stellt
sich die Frage verbindlicher Orientierung in neuer und intensiver Form. Anders als
vielfach befürchtet führt eine multikultureli zusammengesetzte Gesellschaft nicht
in die Beliebigkeit der Stadt Bablyon, sqndern wirft in neuer Form die Frage verlasslicher Orientierung inmitten einer Umwelt auf, die vom Wandel und der Vielfalt
gekennzeichnet ist. Menschen, die in die Fremde gehen, fallen aus der
Natürlichkeit und Selbstverstandlichkeit des Lebens im Herkunftsland heraus und
wahlen, wie etwa die türkische Minderheit in Deutschland, entschieden entweder
die islamische Lebensform, schliessen sich einer bestimmten Partei an ader
übernehmen die Lebensform ihrer neuen Umwelt. Sie suchen Orientierung und
entscheiden sich.
Daher stellt sich aus der Sicht der Minderheit im Kontext des Lebens in der
Fremde die Frage der übergreifenden Strukturen der Orientierung ebenso wie aus
der Sicht der Mehrheit im Blick auf die Integration von Minderheiten. Orientierung
verstehe ich im Sinne der Kognitionspsychologie als die Fahigkeit, sich als
lndividuum auf der Basis einer inneren kognitiven Landkarte (cognitive map) verlasslich zu orientieren, als Person verantwortlich zu handeln und sich verbindlich
tür einen individuellen Lebensweg zu entscheiden .
Übrigens, der in fast aile Sprachen übernommene Begriff Orientierung bezieht
sich auf den 'Orient' als Ort der aufgehenden Sonne, um die eigene Landkarte
nach dem Licht des Orients auszurichten (ex oriente lux!)
Auf dem Hintergrund des kulturellen Wandels kommt dem Dialog zwischen den
Weltreligionen eine spezifisehe Bedeutung zu. Dies aus mehreren Gründen:
1. In Zeiten der lnternationalisierung und des Prozesses der europaisehen
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Integration sind es nicht mehr die Nationen, die allein und vorwiegend die
Rahmenbedingungen für die Lebensformen in ihrer Gesellschaft schaffen.
2. Nach dem Zusammenbruch des Ost-West-Konflikts haben internationale
Ideologian keine überzeugende Kraft mehr, um gressen Gruppan Orientierung
anzubieten, die nicht nur darin besteht, zu Kampfund Konflikt aufzufordern.
3. Das Angebot der Orientierung, das uns taglich aus den Mediennetzwerken
erreicht, ist in grossen T eilen auf den Markt des Konsums, des politischen
Einflusses und des Geldes eingestellt, die den Menschen auf Da~:J~r keine verlassliche Orientierung anbieten.
4. Ei ne kritische Haltung des aufgeklarten Rationalismus', erreicht nur eine
eher kleine Gruppan von Menschen und stösst schnell an ihre Grenzen, wenn es
darum geht, Gewalt und Schuld unter den Menschen zu erklaren.
Die. spezifische Relevanz Religionen für ein interkulturelles Konzept der
Orientierung, das nicht nur national gebunden und monokultureli ausgerichtet ist,
liegt in falgenden vier Merkmatan der grossen Religionen:
1. Aile Weltreligionen haben sich über Lander und Kontinente verbreitet, sind
weder an eine Nation noch an eine bestimmte Kultur gebunden. Sie stellen bereits global-internationale lnstitutionen dar und sind daher befahigt, eine Basis für
einen internationalen Dialog über kulturelle Orientierung anzubieten.
2. Aile Weltreligionen waren immer von dem Versuch getragen, Menschen
unterschiedlicher Sprache, Kultur und Nationalitat eine gemsinsame Haltung
moralisehen Handelns zu vermitteln. Weltreligionen sind daher befahigt,
Strukturen ethischer Orientierung anzubieten, die tür Menschen unterschiedlicher
Gruppan Überzeugungskraft besitzen.
3. Aile Weltreligionen sind von zahllosen Generationen über die Zeiten und
Zivilisationen hinweg bezüglich ihrer Relevanz tür menschliche Lebenssituationen
erprobt worden. Allein die Tatsache, dass sie über Jahrhunderte an den verschiedensten Orten gelebt und weitergegeben worden sind, unterstreicht die
Bedeutung ihres Angebots an existentieller Orientierung, das auch für die gegenwartige Generatian besteht.
4. Alle Weltreligionen erreichen grosse Gruppan von Menschen aus alien
Schichten, stadtischer und tandticher Herkunft. Orientierung, die sie anzubieten
vermögen, ist auf keine bestimmte Bildungsschicht oder Berufsgruppe beschrankt,
sondern bezieht sich gleichermassen auf alle Menschen einer Religion.
Meine abigen Aussagen in Zeiten religiöser Fundamentalismen, - ich wahle
bewul3t den Plural, denn es gibt keineswegs nur den islamisehen
Fundamentalismus -, mag sie überraschen. Trotz des Konfliktpotentials, das auch
im Religiösen liegt, gelten sie, wenn man den grossen Zusammenhang im Auge
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hat: In Westeuropa war trotz einer langen Geschichte von Kriegen, die auch kirchlich begründet wurden, das Europaisch-Verbindende letztlich starker als das
Nationai-Trennende, erschienen die Menschenrechte wichtiger als nationale
Gesetze. Diese Entwicklung kann ahne die gemeinsamen christlichen Grundlagen
des Bildungs- und Universitatswesens in Europa, einer über Jahrhunderte
christlich in~pirierten Philosophie- und Rechtsgeschichte nicht erklart werden.
Wenn die grossen Religionen aufgerufen sind, im Feld einer globalen, interkulturellen Orientierung eine herausragende Rolle zu übernehmen, dann stellt sich
die Frage, wie die Religionen mit Veranderung und Wandel umgehen. Wie können
sie zu Windmühlen werden, die sich den Winden des Wandels stellen und daraus
Energie herausholen, wahrend viele Th.eologen die Sorge bewegt, die Religionen
selbst könnten von den Windstürmen der Veranderung hinweggefegt werden?
Bildhaft gesprochen müssen die Religionen ihre Fundamente, ihren je eigenen
Ort im Verhaltnis zueinander neu bestimmen , um dann ihre Flügel ausbreiten und
sich gemeinsam den Winden der Veranderung stellen zu können. Diese Aufgabe
beinhaltet zwei Schritte nach dem bereits genannten ersten Schritt, dem Prozess
des Wandels ins Auge zu sehen:
2. Sich gegenseitig wahrnehmen und Differenzen erkennen lernen,
3. Vom je eigenen Ort aus den Blick auf die gemeinsame Umwelt richten und
die je eigene Wahrnehmung miteinander vergleichen.
3. Strategien der Vermeidung interkulturellen Lernens
Keine Religion, so alt und gross sie auch sein mag, kann sich mehr als eine
lnsel begreifen, begrenzt auf die Reichweite ihrer Kernregionen, jede muss den
eigenen Ort im Verhaltnis zu den anderen vermassen und neu bestimmen. Sich
gegenseitig selbst unter den abrahamitischen Religionen schlechthin nicht
wahrzunehmen, wie das noch in den Zeiten, in denen ich Theologie studiert habe,
möglich war, sollte der Vergangenheit angehören. Die neue Aufgabe, sich selbst
im Verhaltnis zu anderen zu verorten, ist mit der Erfahrung von Differenz verbunden. Jede der Religionen hat ihren eigenen zeitlichen und raumlichen Ursprung,
schuf ihren eigenen Kulturkreis und setzt spezifische Akzente im Umgang mit der
Offenbarung.
Diese Differenz sehen zu lernen, im aufmerksamen die eigene Position einordnen zu lernen, beinhaltet einen ebenso komplexen wie schmerzlichen
Lernprozess. Er führt
- heraus aus der Natürlichkeit der eigenen und vertrauten Lebensform,
- heraus aus der Selbstverstandlichkeit des gruppeninternen Urteilens,
- heraus aus der normgebenden Normalitat des Eigenen.
Vielmehr begründet auch die Position der anderen einen stringenten Umgang
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mit Offenbarung, schafft überzeugende.Normen und verbindliche Lebensformen.
Aile. Dialogpartner stehen vor der Aufgabe, die aktuelle, historisch und kultureli
spezifische Oberflache der eigenen Lebenspraxis aufzubrechen und nach
religiösen Tiefenstrukturen zu suchen, die gleichermassen die eigene Position verankern wie sie Brücken zu Positionen der anderen tragen.
Diese Arbeit ist weithin noch zu leisten, denn bisher herrschen Formen der
Nicht-Wahrnehmung, der Verdrangung oder Exklusion der Positionen der anderen
var. Es gibt eine Reihe von bewahrten Formen des Übergehens von Differenz und
der Vermeidung von interkulturell-irıterreligiösen Lernprozessen:
3.1 Die Strategie der Toleranz gegenüber dem Fremden
Anstatt sich mit dem Fremden auseinanderzusetzen, eventuell auch von ihm
zu lernen, teleriert man den Trager der Fremdheit in seinem Andersein, aus einer
eher herablassenden Position der Überlegenheit. Darin liegt eine vorlaufige und
vorübetgehende Haltung, die es vermeidet, dauerhafte Strukturen des Verstehens
aufzubauen und in kritischen Zeiten in der Regel über Bord geworfen wird. Schon
Johann W. v. Goethe vermerkte in seinen Maximen und Reflexionen über Literatur
und Ethik:
"Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muB
zur Anerkennung führen. Dulden heiBt beleidigen."
3.2 Die Strategie der Exklusion der anderen
Diese Haltung behauptet einen exklusiven Wahrheitsanspruch tür die eigene
Position gegenüber den anderen. Sie übersieht, dass der Wahrheitsanspruch nur
innerhalb der eigenen Gruppe nachvollzogen werden kann. Entsprechend werden
andere so nicht überzeugt, sondem allein ausgegrenzt. Daher bewirkt diese
Position eine Grenzziehung gegenüber dem Partner und hat zur Folge, dass man
sich mit dessen Wahrheitsanspruch nicht mehr auseinanderzusetzen braucht.
Glaubige, die tür ihr Leben diesen den absoluten Wahrheitsanpruch ihrer Religion
übernehmen, schmalern ihre religiöse Praxis keineswegs, wenn sie dessen
Anerkennung nicht gleichermassen von anderen einfordern. Tun sie es, so verhindern sie einen partnerschaftlichen Dialog und werden von den anderen nichts
mehr über den eigenen Standort lernen.
3.3 Die Strategie der Schnittmenge
Religionen kann man nach Gemeinsamkeiten auswerten und so jene
Schnittmenge ermitteln, die sie aile kennzeichnet. Der so ermittelte pool an
Positionen beschreibt einen gemeinsamen Rest, der keineswegs das Herzstück
der jeweils erfaBten Religionen mit umfassen muss. Hans Küng hat in seinem
"Projekt Weltethos" die Kernstücke der Ethik der Weltreligionen verglichen und
daraus eine globale Welt-Ethik entworfen, der aile Religionen zuzustimmen. lch
folge diesem Konzept nicht, da es theologischen Kernthemen zugunsten einer all-
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gemeinen Ethik zurückstellt, also den eigentlich theologischen Dialog vermeidet.
Glaubige, die die Ethik ihrer Religion leben, benötigen Schnittmengen dieser Art
nicht, sie überzeugen sie nicht einmal. Unglaubige batriffen sie überhaupt nicht.
Ahnlichen Vereinfachungen folgt die Diskussion um eine "Europaische
ldentitat", zusammengesetzt aus einer Schnittmenge nationaler ldentitaten.
ldentitat als eine kulturspezifische Lebensform stellt allerdings eine integrale
Einheit dar, die nicht aus Teilen unterschiedlicher Herkunft zusammengesetzt werden kann, like a patchwork. Man kann nicht ein wenig Spanier und Finne oder
Schotte gleichzeitig sein, wenn man diese Lebensformen wirklich lebt. Kulturelle
ldentitat muss ebenso konkret auf eine bestimmte Umwelt bezogen sein wie
koharent-verbindliche Entscheidungen tragen. Sie besteht keineswegs aus einem
Kofter möglicher Verhaltensweisen, aus denen man çiann beliebig die eine ader
andere Version, sich zu verhalten, entnimmt. Mir scheint, dass das Konzept einer
"Euro-ldentitat" ebenso irrelevant bleiben wird wie der Versuch, bestimmte
Sprachen durch ein intemationales ldiom wie "Esperanto" zu ersetzen. Esperanto
ist nie zu einer Sprache als Lebensform geworden, sondem eine Spielwiese tür
Linguisten geblieben. (Vgl. Eine Form der Airport-Orientierung: alles ist vorweg
definert, niemand weiss, wo er steht und in welche Richtung er tatsachlich geht.)
3.4 Strategie der fachspezifischen !'bstraktion
Religionswissenschaftler wie John Hick, die eine "pluralistische Theologie"
vertreten, haben vorgeschlagen, die konkreten Weltreligionen als spezifische
Auffacherungen einer übergreifenden religiösen Logik' zu verstehen. Sie
untemehmen den Versuch, auf einer übergreifenden Ebene der Abstraktion die
Grundpositionen der vielen religiösen Sichtweisen zu bündeln. Anstelle der
Gottesbegriffe wie Jahwe, Gott ader Allah erscheinen in dieser Theologie allgemeine Abstraktionen wie "The Real". Dieser Versuch, theologische
Hyperstrukturen zu entwerfen, wird nicht nur von den meisten
Religionsgemeinschaften abgelehnt. Er erreicht nicht die Glaubigen, sondem
beschaftigt allein eine kleine Gruppe von Religionswissenschaftlem und stellt
insofem keine Basis für den interreligiösen Dialog dar.
Nun, was bleibt angesichts dieser vielfaltigen Praktiken der Vermeidung des
interreligiösen Dialogs zu tun? Soll jede Seite weiterhin bei sich selbst bleiben,
sich von den anderen abgrenzen, wie die bakannten Konfliktparadigmen von
Samuel P. Huntington oder Gilles Kepel vorschlagen? Die Haltung der Toleranz ist
wichtig, um aufeinderander zuzugehen, doch sie genügt nicht. Die rechtliche
Gleichstellung aller Glaubigen in der Gesellschaft ist unabdingbar, doch sie sichert
immer nur bestimmte Grenzen des Handelns, die nicht überschritten werden dürfen, nicht den lnnenraum interreligiöser Begegnung.
Die not-wendige Haltung, in der dautsehen Sprache jene, die "die Not wendet",
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ist die Anerkennung von Differenz verbundan mit dem Versuch, die Unterschiede
im Sinne einer lnterferenz, die aus zwei unterschiedlichen Einzelbildern zusammengesetzt ist, neu auszuwerten.
Wir müssen lernen, mit zwei Augen gleichzeitig eine gemeinsam gegebene
Umwelt wahrzunehmen, unsere Wahrnehmung zusammenzuführen un_d gemeinsam auszuwerten. Es geht nicht um die eine ader andere Wahrheit als solche, es
geht nicht um abstrakte Hyperstrukturen noch um vereinfachte
Schnittmengenoder den beliebigen Markt der Kulturen. Menschen immer tun,
wenn schwierige Fragen anstehen. Sie sehen nicht nur mit einem A.tfge und hören
nicht nur mit einem Ohi, sondem erkunden mit belden zusammen den Raum ihrer
Wahrnehmung, sie geben nicht selbst die Antwort, sondern stellen Fragen und
werten die Antwort der anderen aus.
4.0 Das Lesen von Interlerenz als erweiterte Wahrnehmung
Metıschliche Kognition ist biologisch wie strukturell auf die Auswertung von
lnterferenz eingestellt. lnterferenzen sind Strukturen, die entstehen, wenn Bilder
ader Sinneseindrücke, die eine Differenz aufweisen, übereinander gelegt und
simultan gelesen werden:
so hört das linke Ohr hört Laute und Töne anders als das rechte, das rechte
Auge zeigt ein anderes Bild von der Wirklichkeit als das linke. Belde Eindrücke
zusammen stören einander keineswegs, ·trotz ihrer Differenz nehmen sie dem
perzeptiven Eindruck des einen weder etwas weg noch fügen sie etwas hinzu.
Vielmehr wertet unser Gehirn belde Eindrücke simultan, in ihrer Differenzen aus
und erkennt dabei neue Strukturen:
die Tiefe des Raums können wir auf diese Weise sehen, endlos viele Farb- und
Hörtöne unterscheiden, gelbes Licht wahrnehmen, obgleich wir für diese
Wellenlange keine Rezeptoren auf unserer Netzhaut haben. Ebenso entsteht
unsere Wahrnehmung von Bewegung aus der Überlagerung von stehenden
Strukturen, die sich in der Zeit verandern, ganz wie im Film, der aus einer Reihe
von einzeln projizierten Stehbildern besteht, in denen sich selbst nichts bewegt.
4.1 Sozialer und kultureller Dialog als Ort menschlichen Erkennens
Menschliche Kognition ist in ihrer Grundstruktur durchgehend auf die Analyse
von lnterferenzen, d.h. den Vergleich von Eindrücken eingestellt, die zusammengehören, jedoch zueinander Unterschiede aufweisen. Diese Struktur unserer
Wahrnehmung bildet sich im Bauplan unseres Gehirns ab, das in zwei
Hemispharen geteilt ist, die sich keineswegs arbeitsteilig nur erganzen. Vielmehr
wird dort aus der Fülle von 'Mono-Eindrücken', die dort getrennt ermittelt und
miteinander verglichen werden, der 'Stereo-Raum' menschlicher Kognition
erzeugt.
Dieses Prinzip menschlichen Erkennens wenden wir konsequent und höchst
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erfolgreich im sozialen und kulturalien Bereich an, um in Kommunikation mit
anderen zu ertahren, wie man handeln und die Welt interpretieren kann. lm Spiel
von Frage und Antwort werden verschiedene Meinungen übereinandergelegt, aus
den Unterschieden neues Erkennen abgeleitet. Im ernsthaften Dialog hat nicht der
eine oder andere ausschliesslich Recht, vielmehr ertahren beide über die Antwort
des anderen, was sie selbst gemeint haben und genauer meinen können. Darnit
schafft der·Dialog Anstösse tür neues Erkennen, das gleichzeitig originar eigene
Einsicht bleibt, nicht aus der biossen Übernahme fremder lnformationen stammt.
Entsprechend leben die Wissenschaften von der Kunst des Forschens, d.h. des
Fragen-Stellens nach der dautsehen Wortgeschichte. Der Vater der europaisehen
Philosophie, der Grieche Sokrates, hat im 4. Jht. v.Chr. nicht das Lehrbuch, den
Lehrsatz oder Text, sondern den· Iabendigen Frage-Antwort-Dialog zum
Ausgangspunkt und Quelle von Philosophie erklart. In der Tat, immer dann, wenn
es schwierig wird, wenn die Antwort nicht auf der Hand liegt, eigenes Wissen nicht
ausreicht, stellen wir Fragen und vergleichen eigene Fragen mit den Antworten
·der anderen.
Dieses ertordert den oben beschriebenen doppelten Blick, der zwei oder
mehrere Perspektiven simultan auswertet. Das dialogische Gesprach ist
zwiefaltig, beinhaltet Zweifel und wirft Fragen auf. Es verlangt eine dialogische
Haltung, die hohe Ansprüche an die Dialogpartner stellt. Nach M. Buber, dem
Philosophen des interreligiösen Dialogs geht es darum , die Es-Welt der Dinge und
Objekte zu verlassen, dem anderen nicht als Objekt gegenü.berzustehen, sondern
sich auf eine Beziehung zu ihm einzulassen. (Martin Buber: Das dialogische
Prinzip, Heidelberg 1984.)
4.2 Die doppelte Relevanz der Haltung des Dialogs nach M. Buber
Das 'dialogische Prinzip' nach M. Buber beinhaltet eine doppelte Relevanz:
4.2.1 Selbstverwirklichung durch ln-Beziehung-Stehen
In die Haltung des Dialogs einzutreten ist nach M. Buber nicht ein normativer
Auftrag, sondern ein anthropologisches Prinzip: nur im Dialog kann der Mensch
sich selbst verwirklichen, nur in und aus der Beziehung mit anderen kann der
Menschen erwachsen werden, sich als Mann und Frau erkennen: "Am Anfang ist
die Beziehung", schreibt M. Buber in seinem Buch "Das dialogische Prinzip"
(o.c.S.22} und stellt test, dass Menschen nicht ihr lch definieren, um sich
anschliessend dem Du zuzuwenden. Vielmehr findet er durch sein ln-BeziehungStehen mit anderen sein eigenes Selbst: "Der Mensch wirdam Du zum lch." (o.c.
S.32.}
Sich selbst in und durch die Beziehung mit anderen zu verwirklichen ertordert
nach M. Buber spiegelbildlich einen absolut offenen Raum des Dialogs, um als
Person unvoreingenommen sich und den anderen wahrnehmen zu Iernen. M.
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Buber geht so weit, zu verlangen, dass man in Beziehung nur einzutreten vermag,
wer- absolute Distanz wahrt (M. Buber: Urdistanz und Beziehung", Heidelberg
1951).
4.2.2 Selbsterfahrung in der Distanz des Raums des Dialogs
Dialog ertordert nach dem anthropologischen Konzept einen absolüt offenen
Raum der Anerkennung der personaler Würde der Dialogpartner. Aile Formen,
den anderen vorweg zu definieren, bauen ein Subjekt-Objekt -Verhaltnis auf, das
die Entfaltung von ldentitat in und aus der Beziehung stört. lch kenne keinen pragnanteren Satz dazu als den des deutschen Dichters Robert Walser; der in Zeiten
des Nationalismus' und Rassismus, den Zeiten Martin Bubers also, über sein
Verhaltnis zur Umwelt geschrieben hat: "Niemand ist berechtigt, sich mir
gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich." (Martin Walser: Wer kennt sich
schon, Frankfurt a.M. 1992.)
•
Wenn die Haltung des Dialogs im personalen Bereich Distanz und Achtung der
personalen Würde des anderen verlangt, dann gilt dieseHaltung besonders im
interkulturellen Feld, da es um die Gleichrangigkeit, die Achtung des anderen und
seiner Lebensform geht, über die immer schon eigene Urteile vorlaufiger Art
beste hen.
In einer international und interkulturell bestimmten Umwelt mag es einen
Moment lang vorteilhafter erscheinen, nur mit einem Auge, namlich dem der eigenen Gruppe, zu sehen, mag es einfacher erscheinen, keine Frage an den anderen
zu stellen oder dessen·Antwort nicht abzuwarten. Ab einer gewissen Komplexitat
des kulturellen Raums sind beide Augen unumganglich. Der Übergang von Mono
zu Stereo ist schwierig und 'fragwürdig', denn er macht Unterschiede sichtbar und
erzeugt Fragen. Gleichzeitig stellt er nicht nur eine Störung dar, stellt nicht nur die
eigene Überzeugung in Frage, sondem beinhaltet einen konstruktiven
Lernprozess, der neue Wahrnehmungen erschliesst. Dialogisch gefundene
Erkenntnis ist nicht dadurch gekennzeichnet, dass man fremde Meinungen mit
eigenen nach Belieben vermischt, sie entweder zurückweist oder übernimmt, sondem dadurch, dass man erkannte Differenzen gernainsam zu !esen vermag und
so neue Strukturen erkennt, die gleichzeitig je eigene Erkenntnisse darstellen, da
sie gernainsam mit anderen er-fahren werden.
5.0 Die theologische Relevanz interreligiöser Begegnung
Die grossen Religionen haben Gemeinden aufgebaut und darnit das dialogische Prinzip bestatigt: nur in der Gemeinschaft der Glaubigen kann der Glaube
erfahren und verwirklicht. Nicht die Lehre, nicht das Schul- und Mysterienwissen
sind die Basis, sondern die in Kontakt und Dialog zu erkundende Form, eine
Religion je nach der Zeit und den Lebensbedingungen zusammen mit anderen zu
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leben. "Der Glaube kommt vom Hören", schreibt unser Apostel Paulus. lm Islam
gilt das Wort des Propheten: "Der Glaubige ist der Spiegel der Glaubigen". (A.
Schimmel: Weisheit des Islam, Stuttgart 1994, S.87
In der modernen Umwelt wird daraus ein doppeltes Dialogereignis auf zwei
Ebenen: Nicht nur mit der eigenen Gemeinde steht der Glaubige im Dialog, son- ·
dern auch mit seiner gesamten Umwelt. Dieser Blick muss offen und global sein.
Er darf im ·Prinzip niemanden ausschliessen. Den Glaubigen ist nicht nur eine
Offenbarung geschenkt worden. Nicht nur sie stammt von Gott, sondem auch die
Welt kommt so, wie sie ist, aus Gottes Handen, wie Christen und Muslime gleichermassen glauben. Selbst die Differenz zwischen den Religionen ist von Gott
in seiner Allmacht gewollt. Niemandem .wurde das deutlicher ans Herz gelegt als
den Muslimen im Koran selbst.
Gleichzeitig wurde keiner Religion ihre Offenbarung geschenkt, darnit die
Glaubigen einen wertvollen Text ihr eigen nennen und ihn wie einen Schatz im
Tresor ihrer Bibliotheken wegschliessen. Sie soliten ihn nicht als Besitz betrachten, sondem im Licht der Offenbarung ihre Umwelt neu sehen lernen, sie bereichem und gestalten. Dieser doppelte Blick, der gleichermassen auf die Offenbarung
wie die eigene Gemeinde wie die fremde Umwelt gerichtet ist, verlangt den interreligiösen Dialog.
Keiner Religion hat es bisher geschadet, sich auf fremde Kulturen einzulassen
und von Andersglaubigen zu lemen. Hat nicht der Prophet den Muslimen empfohlen, Wissen selbst in China zu suchen? Hat er ihnen nicht'geraten, dann, wenn
die Christen zahlreiche Wege gehen, noch einen Weg mehr aufzusuchen? Haben
Muslime nicht tatsachlich durch interkulturelle Begegnung das Wissen Asiens und
Persiens über die Seidenstrasse, die in der Türkei endete, dem Orient und
schlieBiich Europa vermittelt? Haben sie nicht arahische Gelehrsamkeit ebenso
wie die griechische bis nach Spanien getragen, wo christliche Lehrer von ihnen
naturwissenschaftliches, mathematisches und philosophisches Wissen
studierten?
Einen Beleg für die Bereicherung, die in der interkulturellen Begegnung liegt,
sehe ich auch in der Tatsache, dass vor allem das Christentum und der Islam nicht
nur in ihrem Ursprungsland, sondem in anderen Landem und Kentinenten spezifische Auspragungen entfaltet haben, die zu den Hochformen beider Kulturen
zahlen.
Abschliessend möchte ich drei theologische Perspektiven aufzeigen, die nach
meiner Einschatzung belegen, dass die Haltung des Dialogs die eigene Tradition
weder schmalert noch ihr etwas abschneidet, sondem die Dialogpartner dazu einladt, ihre Blick zu erweitern und gemeinsam zu vertieften Strukturen religiösen
Erkennens zu finden.
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5.1 Die Entwicklung des Glaubens..im Olalog mit der Umwelt
Dialag gibt es nicht ahne Begegnung und das Aufeinander-Zugehen der
Menschen, die in Kontakt miteinander leben. Wer so handelt, verlasst die
geschlassene Welt des Eigenen, bricht festgetügte Strukturen auf, um. sich mit
fremden auseinanderzusetzen. Der Vergleich beider Karten der Orientierung
ergibt eine Überlagerung, die beiden Seiten mögliche Wege der Efıtwicklung
aufzeigt. lnmitten einer sakularen Umwelt verbindet die Glaubigen einiges, was im
Blick auf die lnnenseite der eigenen Tradition kaum sichtbar wird. Darnit bringt der
Dialog Bewegung in die religiöse Praxis und erschliesst neue Wege der
Entwicklung, die tür beide Religionen von Bedeutung sind.
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Christen und Muslime können sich durchaus gernainsam auf den Weg machen
und aufbrechen, ahne ihr Haus zu verlassen, allerdings auch ahne auf ihrem eigenen Platz einfach sitzen zu bleiben. Wenn, wie in alien grösseren dautsehen
Stadtenl regelmassig nicht nur in Kirche, sondem auch in Moscheen gebetet wird,
fallen aile aus ihrer bisher natürlichen Gewohnheit heraus. Weder für die Christen
nach tür die Muslime ist es dan n weiter selbstverstandlich ader geradezu natürlictJ,
zu beten, wie man immer schan betete. Die Glaubigen werden mit einem vertieften
Bewusstsein beten, wenn sie ihren Glauben weiter entwickeln wollen: nicht in
einer Mischform ader mit einer geteilten Aufmerksamkeit, sondem mit einem intensiveren BewuBtsein tür ihren spezifischen Weg.
Aus den Strukturen vertrauter Selbstverstandlichkeiten herauszufallen beinhaltet eine Aufforderung, intensiver über die Bedeutung religiösen Lebens in der
Mederne nachzudenken ..Eben darin können sich Muslime und Christen eben dart,
wa sie als Mehrheit un·d Minderheit in einer gemeinsamen Stadt leben, gegenseitig unterstützen.
5.2 Aufmerksamkeit für den Raum religiöser Unterscheidung
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Der Stereo-Biick des partnerschaftlichen Dialogs tührt in die Tiefe des Raums
religiöser Erfahrung und fordert dazu auf, in der fast unübersehbaren Fülle religöser Aussagen unterscheiden lernen. Aile Weltreligionen haben eine übergrosse
Fülle an Traditionen, Symbalen, Kulturformen und Texten hervargebracht.
Angesichts dieser endlosen Flache möglicher Pasitionen fordert der interreligiöse
Dialag dazu auf, das Wesentliche vom Vordergründigen zu unterscheiden, die
Distanz zwischen Oberflache und Tiefenstruktur zu erkennen, die Abstande zwischen Randerscheinungen und dem Kern der eigenen Religion auszulaten. lm
interreligiösen Dialog mit anderen geht es darum ,
- zwischen Zentrum und Peripherie zu unterscheiden,
- das zeitgebundene Umfeld von der zeitlosen Mitte zu trennen,
- die sakundare Oberflachen von der primaren Tiefendimension abzuheben.
Niemals war diese Arbeit nötiger als in Zeiten der Migratian und des Prozesses
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der europaisehen lntegration. Die in Westeuropa 'neue' Religion des Islam wird
auf Dauer eine eigenstandige Tradition entwickeln, die eine intensive Besinnung
auf den Kern und den Ort des eigenen Glaubens im Verhaltnis zum christlichen
Raum religiöser Ertahrung ertordert. Dies kann nur gernainsam geschehen. Für
das Christentum wie den Islam wird sich zeigen, dass sie wesentlich durch ihre
Ausrichtung auf die Offenbarung miteinander verbundan sind. Es geht darum, die
einsame Leuchtkraft sowohl des Neuen Testaments wie des Korans neu anerkennan zu lernen, hinter und über alien normativen, theologischen und historisch-kulturellen Positionen, quer durch die endiesen Zelten und Orte religiöser Praxis.
Der interreligiösen Olalog fordert zur gemeinsamen Erkundung der des Raums
religiöser Ertahrung auf: er wird die eirısame Stellung der Offenbarungen in der
endiesen Tiefe des religiösen Raum sichtbar werden _lassen. Für belde Gruppan
ist darnit die einschneidende Ertahrung verbunden, dass es tür die Glaubigen
weniger um lnstitutionen, Theologien ader Traditionen geht, sondem darum, zu
~rkunden, inwieweit eine, wie wir Christen sagen, 'von oben' kommende
Offenbarung ader die 'himmlische Dimension', von der die Muslime sprechen,
aktuell wahrgenommen und in einer gemeinsamen Welt gelebt werden kann.
5.3 Die Grenzen menschlicher Vorstellungen von Gott
Die vielleicht entscheidende Grundertahrung aller, die sich auf den Weg des
interreligiösen Dialogs begeben, liegt in der Ertahrung, dass aile an ihre Grenzen
stossen, wenn sie die Mitte ihres Glaubens, Gott selbst, zu fassen, dem anderen
darzustellen versuchen. Diese Not ist kein Fehler. Sie belegt keinen Mangel an
theologischer Bildung, sie tührt vielmehr in den wertvollen Kern des interreligiösen
Dialogs. Wenn Martin Buber schon tür den Olalog mit Menschen ei ne Position der
"Urdistanz" gegenüber dem Partner einfordert, dann stehen Menschen, gleich
welchen Glaubens, in unendlicher Distanz vor der Unfassbarkeit des göttlichen
Wesens. Diese Distanz ist so gross, dass wir uns ihm nur anzunahern vermögen
und am genauesten über ihn sprechen, wenn wir nichts über ihn aussagen. In
alien Religionen gibt es diese Position, tür die ehristilche hat Dionysius Areapagita
im 5. Jahrhundert die theologia negativa begründet. Von ihm stammt falgender
Vers:
Je naher wir Gott sind,
um so karger werden unsere Worte. (...)
Je naher wir Gott sind,
um so stiller wird es.
Und beginnt das Schweigen,
dann hört auch das Fragen auf:
Dann sind wir bei Gott.
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Dionysius Areopagita: lch schaute Gott im Schweigen, Freiburg 1989, S. 65
"Das gesamte Mittelalter hindurch galt in der christlichen Theologie das Axiom
'Deus maior', d.h. Gott ist grösser als alles, was Mensehen sich je . über ihn
vorzustellen vermögen.
Ganz in diesem Sinne und ahnlich eindringlich wird vom Propheten der Satz
überliefert: "Wer Gott kennt, dessen Zunge schweigt."
A. Schimmel, Weisheit des Islam, Stuttgart 1994, S. 248
Eben an diese zentrale Erfahrung führt der interreligiöse Dialog . .Es geht um die
Annaherung an die unantastbare Erhabenheit des göttlichen Wesens, um
Approximationen von unterschiedlichen Seiten, von denen keine ihren
Gegenstand selbst zu fassen vermag. Es geht um den letztlich unaussprechlichen
Namen Gottes. Sowohl das Judentum, das Christentum wie auch der Islam wissen dqrum. Der interreligiöse Dialog macht dieses BewuBtsein emeut zur Mitte
religiöser Reflexion. Hat etwa Gott die Welt eben in ihrer sprachlichen, kulturellen
und religiösen Verschiedenheit geschaffen, um dieses BewuBtsein der
Annaherung an das Unfassbare wach zu halten?
Exkurs- evt. für die Diskussion:
Die Unantastbarkeit des Kems religiöser Erfahrung ist durchaus mit der
Struktur menschlicher ·wahrnehmung zu vergleichen und erscheint dann nicht
mehr als Mangel und Fehler, sondem als das eigentliche Wunder menschlicher
Kognition. Kognitionspsychologisch sind weniger die vielen Töne, die wir hören
können, erstaunlich, sondem die Fahigkeit, überhaupt zu hören. Sogar die Stille
deutlich zu vemehmen, ist ganzlich wunderbar und keineswegs nur mit der
Abwesenheit von Tönen und Klingen zu erklaren. hnlich sind nicht die vielen
Bilder, die wir sehen können, das Ratsel der visuellan Wahrnehmung, sondem die
Tatsache, dass wir überhaupt sehen, den leeren Raum wahmehmen können und
Licht wahrnehmen, das physikalisch nicht messbar ist, z.B. weisses Licht.
Physikalisch gibt es nur Licht mit den verschiedenen Wellenlangen der Farben.
Weisses Licht entsteht allein in unserem Gehirn aus der Interlerenz des farbigen
Lichts, ist physikalisch keiner Wellenlange zuzuordnen, nicht existent (Folie).
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