Germanistik Romy Stegen Veränderte Adoleszenz in Gesellschaft und neuerer Literatur unter besonderer Berücksichtigung der Homosexualitätsthematik - interessant auch für den Deutschunterricht? Examensarbeit Romy Stegen Pädagogische Hochschule Karlsruhe Wissenschaftliche Hausarbeit zum Thema: Veränderte Adoleszenz in Gesellschaft und neuerer Literatur unter besonderer Berücksichtigung der Homosexualitätsthematik – interessant auch für den Deutschunterricht? Fach: Deutsch Abgabetermin: 04.05.2010 Inhaltsverzeichnis Einleitung ............................................................................................................................. 1 I. Adoleszenz ....................................................................................................................... 5 1. Adoleszenz: eine neue Lebensphase? .............................................................................. 5 1.1 Begrifflichkeit und Abgrenzung ............................................................................................... 5 1.2 Kennzeichen .................................................................................................................................. 8 2. Adoleszenz im soziologisch-psychologischen Brennpunkt ...................................... 11 2.1 Veränderte Lebensbedingungen von der Kindheit bis zur Adoleszenz .......................... 11 2.2 Strukturwandel der Lebensphase Adoleszenz...................................................................... 16 2.3 Die Problematik der Geschlechterrollen ................................................................................ 16 2.4 Scheitern in der Adoleszenz ..................................................................................................... 19 3. Adoleszenz in der Gegenwartsliteratur – der Adoleszenzroman ............................. 24 3.1 Definition ..................................................................................................................................... 24 3.2 Geschichte und Abgrenzung .................................................................................................... 24 3.3 Thematik und Merkmale .......................................................................................................... 27 3.4 Die Initiationsreise – ein literarisches Modell ...................................................................... 31 4. Der Adoleszenzroman im aktuellen Diskurs ............................................................... 33 II. Homosexualität ............................................................................................................ 36 1. Homosexualität: Phänomen und Geschichte ................................................................ 36 1.1 Begrifflichkeit und Erklärungsansätze................................................................................... 36 1.2 Historische Perspektive ................................................................................................................ 39 2. Homosexualität im soziologisch-psychologischen Brennpunkt ............................... 41 2.1 Die homosexuelle Identitätskrise ............................................................................................ 41 2.2 Der homosexuelle Bewusstseinsprozess – das Coming Out .............................................. 44 2.3 Aktuelle Entwicklungen ........................................................................................................... 46 3. Homosexualität im zeitgenössischen Adoleszenzroman ........................................... 53 3.1 Historische Darstellungsweise................................................................................................. 54 3.2 Literarische Darstellungsweise ................................................................................................ 59 3.3 Systematische Darstellungsweise............................................................................................ 60 I III. Romananalyse ............................................................................................................. 66 1. Literarische Kritik nach Hans-Heino Ewers ................................................................. 66 2. Aidan Chambers: „Tanz auf meinem Grab“ ................................................................. 67 2.1 Historische Darstellungsweise................................................................................................. 68 2.2 Literarische Darstellungsweise ................................................................................................ 69 2.3 Systematische Darstellungsweise ................................................................................................. 78 3. Inger Edelfeldt: „Jim im Spiegel“ ................................................................................. 87 3.1 Historische Darstellungsweise................................................................................................. 87 3.2 Literarische Darstellungsweise ................................................................................................ 89 3.3 Systematische Darstellungsweise............................................................................................ 92 4. Mirjam Pressler: „Für Isabel war es Liebe“............................................................... 100 4.1 Historische Darstellungsweise............................................................................................... 100 4.2 Literarische Darstellungsweise .............................................................................................. 101 4.3 Systematische Darstellungsweise.......................................................................................... 105 5. Zusammenfassung der Ergebnisse ............................................................................. 110 5.1 Literarische Kritik gestützt auf die Romananalysen.......................................................... 110 5.2 Kritik an der Vielfalt ästhetischer Gestaltphänomene ...................................................... 115 IV. Didaktische Analyse ................................................................................................ 117 1. Didaktische Relevanz des Themas „Homosexualitätsbewusstsein in der Adoleszenz“ für den Literaturunterricht im Fach Deutsch ...................................... 118 1.1 Bildungsplanbezug .................................................................................................................. 118 1.2 „Literatur begeistert“ ............................................................................................................... 120 1.3 Literaturdidaktische Emanzipation und Aufklärung ........................................................ 123 2. Didaktische Begründungsansätze................................................................................. 125 2.1 Pädagogische Bildungsziele ................................................................................................... 126 2.1.1 Identitätsentwicklung ...................................................................................................... 126 2.1.2 Fremdverstehen ................................................................................................................. 127 Exkurs: Erfahrungsbericht einer 61-jährigen homosexuellen Frau ..................................... 128 2.2 Literarische Bildungsziele....................................................................................................... 130 2.2.1 Kritisches Lesen ................................................................................................................. 130 2.2.2 Ästhetische Bildung .......................................................................................................... 131 2.3 Literarisches Lernen ................................................................................................................. 132 3. Elf Aspekte literarischen Lernens durchgeführt an Aidan Chambers „Tanz auf meinem Grab“................................................................................................................... 135 Fazit .................................................................................................................................. 144 II Literaturverzeichnis ....................................................................................................... 147 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis ........................................................................ 154 Anhang ............................................................................................................................. 155 1. Werbung entdeckt die Homosexuellen ...................................................................... 155 2. Fragebogen zum Erfahrungsbericht einer homosexuellen Frau ........................... 160 III Einleitung “Wir müssen mehr tun für die Familien von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender. Gleichberechtigung in Fragen der Beziehung, der Familie und beim Recht auf Adoption sei kein abstraktes Konzept, sondern es gehe darum, dass Millionen von Amerikanern endlich ihr Leben mit Würde und in Freiheit leben können. […] Wir müssen jede Diskriminierung gegen Homo-Familien abschaffen.“1 Im Kalenderjahr 2008 setzt sich der heute mächtigste Mann der Welt für ein „Leben in Würde und Freiheit“ aller Menschen ein. Er berücksichtigt in seiner Aussage ganz besonders die sexuellen Minderheiten, die heutzutage immer noch in den meisten Nationen der Erde diskriminiert oder gar verfolgt werden. Noch vor wenigen Jahren wäre ein solches Anliegen im öffentlichen Diskurs, vor allem von einer so großen Persönlichkeit, undenkbar gewesen. Dieser Einsatz bestätigt, dass die Welt nicht stehen bleibt, sie dreht und entwickelt sich stetig weiter. Doch erst wenn alle Menschen dazu bereit sind, ihre Nächsten anzuerkennen und ihre persönlichen Toleranzgrenzen gegenüber der gesamten Menschheit erweitern, kann Minderheiten mit der Unterstützung staatlicher Übereinkünfte ein Leben in Freiheit und Unabhängigkeit gewährleistet werden. Hierzu gehört es, die tabuisierten Themenkomplexe öffentlich anzusprechen. Ein Bereich, in dem diese öffentliche Aussprache stattfindet, ist traditionell die Literatur. Alle Menschen werden durch das Rezipieren literarischer Texte direkt als auch indirekt beeinflusst. Diese Tatsache wirkt sich auf die Denkstrukturen oder gar Verhaltensweisen eines jeden aus, die wiederum Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse nehmen können. In diesem Zusammenhang kommt der Kinder- und Jugendliteratur eine 1 Obama, Barack: In einem Briefwechsel an den Family Equality Council erklärt der amerikanische Präsidentschaftskandidat in seinem Wahlkampf 2008, dass er Adoptionen durch Homo‐Paare unterstützen werde. In: http://www.homonauten.de/20080807/obama‐fuer‐homo‐adoption/ (Stand: 14.04.2010) 1 besondere Funktion zu. Sie leistet „kulturelle Bewertung, ist Durcharbeitung und Reflexion der Veränderung von Kindheit im Prozess der Modernisierung. […] Sie ist Teil eines Diskurses […] immer wieder dazu herausgefordert, in Zustimmung und Abwehr der gesellschaftlichen Veränderungen Anderes und Neues zu entwerfen und zu gestalten.“2 Je eher Kinder und Jugendliche mit diversen Themenkomplexen durch geeignete Literatur konfrontiert werden, desto eher lernen sie, sich von Vorurteilen zu befreien und eigene Sichtweisen zu entwickeln. Durch eine angemessene Beschäftigung mit Literatur im Unterricht kann die jeweilige Lehrperson diesen Prozess positiv beeinflussen. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein bringt die dafür benötigte Grundvoraussetzung auf den Punkt. „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“3 Wie auch immer er selbst seine Worte gedeutet haben mag, so drücken sie aus, dass eine Welt ohne Sprache4 explizit nicht existiert. Menschen kommunizieren, sie teilen sich mit, drücken Emotionen aus – erst durch die Repräsentanz der Sprache entsteht ein Bild von der Welt und somit die Existenz einer Sache. Auf diese Weise herrscht immer eine Wechselseitigkeit zwischen der Sprache und der Welt vor. In der Welt geschehen Ereignisse, die zur Sprache gebracht und diskutiert werden. Bringt man Ereignisse nicht zur Sprache, existieren sie theoretisch nicht in der Welt. Ziehen wir exemplarisch die Geschichte des Holocausts heran. Durch die sprachliche Reflexion dieser Ereignisse entsteht unser Geschichtsbewusstsein. Stirbt die Kommunikation, so stirbt die Thematik. Gäbe es keine Sprache, so gäbe es keine Vergangenheit. Das heißt konkret, Sprache und Themen bedingen sich gegenseitig und bestehen nicht nur nebeneinander. Ebenso wird diese Feststellung durch den aktuellen Skandal der römisch-katholischen Kirche um den sexuellen Missbrauch von Jugendlichen bekräftigt. Erst das Verbalisieren von Erlebnissen seitens der Opfer ermöglicht eine Auseinandersetzung mit der Thematik, die wiederum Reaktionen nach sich zieht. Aktuell beteuert der Kardinalstaatssekretär Bertone „Nicht das Eheverbot für katholische Priester, 2 Ewers, Hans‐Heino: Kinder‐ du Jugendliteratur im Modernisierungsprozess. In: Wild, Reiner: Gesellschaftliche Modernisierung und Kinder‐ und Jugendliteratur. Röhrig Universitätsverlag. St. Ingbert, 1997. S.27 3 Wittgenstein, Ludwig in: http://www.neon.de/kat/sehen/gesellschaft/3430.html (Stand: 10.04.2010) 4 Hierbei ist nicht ausschließlich die Sprache in Form von Wortlauten gemeint. Jede Sprache, die in irgendeiner Form Ausdruck verleiht, soll Berücksichtigung finden, sei es beispielsweise die Körpersprache oder die geschriebene Sprache etc. 2 sondern die Homosexualität habe Schuld an den Missbrauchsfällen.“5 Wie hoch der Wahrheitsgehalt dieser Äußerung tatsächlich ist, bleibt abzuwarten. Wurde Homosexualität am Beispiel Obamas eben noch als positiv anzuerkennendes Wesensmerkmal bejaht, so wird sie in einem nächsten Atemzug gleich wieder negativ konnotiert. Genau dieses Wechselspiel von Toleranz und Ablehnung spiegelt den aktuellen Stand der Homosexualitätsauffassung in unserer Gesellschaft wieder. Es gibt Dinge, deren Existenz sich die Menschheit durchaus bewusst ist, Dinge, die aber nicht ins Bewusstsein gerufen werden wollen, die die Menschen nicht wahrhaben wollen. Die häufigste Quintessenz daraus, besteht im Verschweigen potentieller Existenz. Das bedeutet, Themen wie Missbrauch oder Homosexualität sind in der Praxis gegenwärtig, werden theoretisch jedoch verschwiegen, ganz gleich, ob die betroffenen Individuen Schaden davon tragen oder nicht. Sie sind tabu. „Eigentlich geht es genau darum […] – dass du nicht leben kannst, wenn du dich der Welt nicht öffnest. Wenn du Kommunikation vermeidest, bist du nicht lebensfähig. Dann stirbt etwas in dir ab.“6 Allein durch die Vermittlung von Zeichen oder Sprache wird eine Sache (oder gar ein Mensch) zum Leben erweckt und gelangt damit in den öffentlichen Diskurs, wodurch unterschiedliche Blickwinkel gebildet werden können. Eigene Meinungen und Ansichten entwickeln sich beim Sehenden, Fühlenden, Hörenden oder Lesenden. Standpunkte manifestieren sich. Hierzu leistet, neben der Sprache, besonders das Medium Buch bzw. der Text seinen Beitrag. Der Adoleszenzroman ist eine exemplarische Gattung, die in dieser Arbeit als sprachliche und somit existentielle Grundlage der Homosexualitätsthematik dient, diese aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und den gegenwärtigen Entwicklungsstand beleuchtet. Als besonders interessant erschien bei der Recherche die Tatsache, dass sich eine enorme Anzahl an Autoren mit der Homosexualitätsthematik befassen. Generell wird das Interesse an diesem Themengebiet stark unterschätzt. Inwiefern diese vielfache Beschäftigung von literarischer Qualität zeugt, wird in dieser Arbeit exemplarisch untersucht. 5 Bertone, Tarcisio in: http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,688824,00.html. (Stand: 15.04.2010) In einem Interview mit der deutschen Presseagentur macht der Kardinalstaatssekretär Schuldzuweisungen (Stand: 13.04.2010) 6 Steinhöfel, Andreas zitiert nach Bütow, Wilfried: Außenseiter und die Mitte der Welt. Gespräch mit Andreas Steinhöfel. In: Deutschunterricht 53. 2000. S.119 3 Ein erster Zugang zu der Thematik erfolgt durch eine ausführliche Klärung der beiden Themenbereiche Adoleszenz und Homosexualität. Innerhalb dieser Darstellungen werden sie zueinander in Beziehung gesetzt und unter Einbezug der literarischen Gattung des Adoleszenzromans zusammengeführt. Als exemplarische Beispiele dienen die Romane „Tanz auf meinem Grab“ von Aidan Chambers, „Jim im Spiegel“ von Inger Edelfeldt und „Für Isabel war es Liebe“ von Mirjam Pressler. Diese werden anhand eines erarbeiteten Kriterienkatalogs auf ihre historische, literarische und systematische Darstellungsweise untersucht und gedeutet. Schließlich soll mit Hilfe einer didaktischen Analyse das literarische Lernpotential dieser Romane erörtert werden. Ob und inwiefern der Deutschunterricht die Homosexualitätsthematik als einen Beitrag zum „Literarischen Lernen“ nutzen kann, wird unter besonderem Einbezug von Aidan Chambers „Tanz auf meinem Grab“ geprüft. 4 I. Adoleszenz Die Adoleszenz ist eine Lebensphase, die im Folgenden näher beleuchtet werden soll. Begonnen bei der Begriffsklärung sowie der Einordnung in den menschlichen Lebenslauf folgen anschließend Merkmale, die diese Lebensphase auszeichnen. Anhand eines Abrisses der veränderten lebensweltlichen Bedingungen vom Kindesalter an, wird Adoleszenz in den Kontext der Gesellschaft gesetzt. Mit der Adoleszenz geht stets die endgültige Ausbildung der jeweiligen Geschlechtsrolle einher. Ein kurzer Abriss gibt in einem letzten Punkt Aufschluss darüber, unter welchen Bedingungen ein Mensch in seiner Adoleszenzphase zu scheitern droht. 1. Adoleszenz: eine neue Lebensphase? 1.1 Begrifflichkeit und Abgrenzung Der Begriff Adoleszenz entstammt der modernen Entwicklungs- und Jugendpsychologie und ist vom Pubertätsbegriff abzugrenzen. Während unter Pubertät ein rein biologischer Prozess verstanden wird, umfasst der Begriff Adoleszenz den fortwährenden soziokulturellen Entwicklungsprozess der Integration Jugendlicher in die Erwachsenenwelt.7 Die Adoleszenz beschreibt grundlegend eine Lebensphase, eingebettet in mehrere Übergangsphasen, die über das Jugendalter hinaus bis in das Erwachsenenalter anzusiedeln ist. Nach Carsten Gansels Eingrenzung erstreckt sich die Adoleszenz annäherungsweise innerhalb der Zeitspanne zwischen dem elften und dem 25. Lebensjahr8, überschneidet sich demnach drastisch mit den umgebenden Phasen und impliziert ursprünglich den Gedanken einer Phase des Schonraumes beziehungsweise des Erprobens.9 Obwohl dieser Eingrenzungsversuch altersmäßig etwas abwegig erscheint, da zehnjährige nicht als Adoleszente eingestuft werden sollten, bezieht sich diese Arbeit weiterhin auf Gansels Ausführungen. In der Sekundärliteratur ist keine allgemeingültige Definition einer konkreten Eingrenzung der Adoleszenzphase nach Alter vorzufinden. 7 Vgl. Lange, Günter: Erwachsen werden. Jugendliterarische Adoleszenzromane im Deutschunterricht. Schneider Verlag. Hohengehren, 2000. S.7 8 Die durch kulturelle Veränderungen geprägte Postadoleszenz reicht nach Gansel mitunter sogar bis in das vierte Lebensjahrzehnt hinein. 9 Vgl. Gansel, Carsten (Hrsg. Lange, Günter): Taschenbuch der Kinder‐ und Jugendliteratur. Band 1. Schneider Verlag. Baltmannsweiler, 2000. S.360 5 Der Vollzug unterschiedlicher Übergangsphasen ist von Entwicklungsaufgaben geprägt, die sich als psychisch und sozial vorgegebene Anforderungen an Personen in einem bestimmten Lebensabschnitt darstellen.10 Remschmidt stellt 1992 eine Systematik auf, die die Vielschichtigkeit von Adoleszenz auf dreierlei Ebenen zu erfassen versucht. Deren Mit- und Gegeneinander ist entscheidend für einen gelingenden Sozialisationsprozess. Es handelt sich um das Zusammenwirken von physiologischen, psychologischen und soziologischen Prozessen. Von besonderer Bedeutung ist unter dem Gesichtspunkt physiologisch die Veränderung aller somatischen Entwicklungsgänge während der Adoleszenz, insbesondere die körperliche und sexuelle Reifung. Psychologisch betrachtet, stehen hierbei individuelle Vorgänge, wie die Bewältigung dieser somatischen und sozialen Veränderung sowie psychosomatische Faktoren im Vordergrund. Die Motivation einer verantwortungsvollen, aktiven Teilnahme in gesellschaftlichen Belangen bildet den Kern des soziologischen Prozesses, wobei hier noch keine institutionelle Absicherung vorausgesetzt wird.11 Die Adoleszenz wird erst seit kurzem als eigenständiger Lebensabschnitt definiert, weil Menschen ohne verfügbare Ressourcen zur Lebenssicherung kürzlich noch unweigerlich als jugendlich eingestuft worden sind. Anders als die Abgrenzung Kindheit – Jugend, bei der die Geschlechtsreife den entscheidenden Übergangspunkt in den nachfolgenden Lebensabschnitt markiert, ist eine an das biologische Alter gekoppelte Spanne beim Übergang Jugend – Adoleszenz – Erwachsenenalter nicht gegeben. Die Übergänge sind fließend. Noch vor wenigen Jahren war von der Adoleszenz als Lebensphase keine Rede, weshalb Klaus Hurrelmann noch im Jahr 1997 lediglich drei Lebensphasen, Kindheitsalter – Jugendalter – Erwachsenalter, unterschied.12 Er sprach jedoch von einem „Nachjugendalter“13, das vermutlich dem heute verwendeten Begriff „Adoleszenzalter“ entspricht. Eine Berücksichtigung politischer, sozialer oder kultureller Partizipation, die sich zumeist erst nach dem Jugendalter (etwa im Alter zwischen 20-35 Jahren) entwickelt, wurde bis dahin vollständig ausgeblendet. Jedoch obliegt die 10 Remschmidt zitiert nach Hurrelmann, Klaus: Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Juventa Verlag. Weinheim und München, 1997. S.33 11 Vgl. Remschmidt zitiert nach Gansel, Carsten (1992): Moderne Kinder‐ und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Cornelsen. Berlin, 1999. S.114 12 Vgl. Hurrelmann, Klaus: Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Juventa Verlag. Weinheim und München, 1997. S.47 13 Vgl. ebd. S.23 6 Jugendphase seit wenigen Jahrzehnten einem Strukturwandel, der kulturhistorische Rahmenbedingungen als Kriterium für eine autonome Adoleszenzphase zulässt.14 In erster Linie erfordert die Adoleszenz einen unmittelbaren „Abschied von der Kindheit“15, um den Sprung in die Erwachsenenwelt meistern zu können. Sie darf jedoch keinesfalls auf eine unbedeutende „Durchgangsphase zum Erwachsenenalter“16 reduziert werden. Vielmehr „ergeben sich außerordentlich hohe Anforderungen an die biographische Selbstgestaltung der Lebensphase Jugend“17, die schließlich einen enormen Einfluss auf den Prozess der Individuierung in der Adoleszenz hat. Selbstverantwortung, Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung seien hier als Leitmotive für einen gelingenden Identitäts- und Sozialisationsprozess genannt.18 Abschließend ist anzumerken, dass eine klare Abgrenzung der Begriffe „Jugend“ und „Adoleszenz“ schwierig ist. Nach Gansels Überlegungen kann vor der Adoleszenzphase quasi nur die Kindheit liegen, so dass sich die Adoleszenz unmittelbar an diese anschlösse und somit die eigenständige Phase „Jugend“ ausbliebe. Anhand der verwendeten Lektüre entsteht der Eindruck, dass „Adoleszenz“ den Begriff „Jugend“ in der Soziologie abgelöst hat, da der Begriff „Jugend“ in diesem Zusammenhang zu unscharf ist. „Jugend“ ist generell ein Begriff, der im gesellschaftlichen Diskurs synonym mit „jung bleiben“ gebraucht wird. Er bildet im alltagssprachlichen Gebrauch keine klare Abgrenzung zu anderen Lebensabschnitten. Somit kann sich eine sechzigjährige Inlineskaterin durchaus als „jugendlich“ bezeichnen, da ihr Verhalten durch diese Freizeitaktivität als ein jugendliches definiert werden könnte. Die Begrifflichkeit „Adoleszenz“ hingegen wird fast ausschließlich in der Fach- und Sachliteratur verwendet und kann beinahe äquivalent mit dem soziologischen Verständnis von „Jugend“ betrachtet werden. 14 Vgl. Remschmidt zitiert nach Gansel, Carsten (1992): Moderne Kinder‐ und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Cornelsen. Berlin, 1999. S.114 15 Kaplan zitiert nach Gansel, Carsten (1988): Moderne Kinder‐ und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Cornelsen. Berlin, 1999. S.114 16 Gansel, Carsten: Moderne Kinder‐ und Jugendliteratur. Cornelsen. Berlin, 1999. S.114 17 Hurrelmann, Klaus: Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Juventa Verlag. Weinheim und München, 1997. S.71 18 Vgl. Gansel, Carsten: Der Adoleszenzroman. Zwischen Moderne und Postmoderne. In: Lange, Günter: Taschenbuch der Kinder‐ und Jugendliteratur. Band 1. Schneider Verlag. Baltmannsweiler, 2000. S.362 7 1.2 Kennzeichen Wie bereits im obigen Abschnitt angedeutet, ist die Adoleszenzthematik stets soziokulturell geprägt. Aus dem „Wechselspiel zwischen dem Verhalten und den Reaktionen des Jugendlichen und der ihn umgebenden Gesellschaft“19 ergeben sich zwei Grundtendenzen der Rollenfindung: „eine nach innen, auf das eigene Selbst gerichtete, und eine nach außen, auf die Auseinandersetzung mit der soziokulturellen Umwelt bezogene.“20 Lange geht grundlegend davon aus, dass die nach innen gerichtete Grundtendenz, die Beschäftigung mit psychischen Unsicherheiten aufzuarbeiten versucht und folglich in einen Individuationsprozess mündet. Diese Grundtendenz umfasst beispielsweise Angelegenheiten wie die Verarbeitung körperlicher Veränderungen, die Ablösung von der elterlichen Autorität und das Streben nach Eigenständigkeit, was schließlich ein verstärktes Nachdenken über sich selbst, die eigene Psyche sowie seinen Platz in der Gesellschaft zur Folge hat. Bei dieser nach innen gerichteten Form der Rollenfindung hat die Existenz einer Peergroup tragende Funktion.21 Voraussetzung für den Erfolg dieses persönlichen Individuationsprozesses ist der Erwerb kognitiver, motivationaler, sozialer und praktischer Kompetenzen.22 Er beinhaltet nach Klaus Hurrelmann: a) schulische und berufliche Qualifikationen, b) Geschlechtsrollenübernahme und soziales Bindungsverhalten zu Gleichaltrigen, c) Nutzung des Konsumwarenmarktes und des kulturellen Freizeitmarktes, d) Aufbau eines eigenen Wert- und Normsystems und eines ethischen und politischen Bewusstseins.23 Abweichend von den herausgearbeiteten Qualifizierungsleistungen anhand der inneren Merkmale verlangt die äußere Grundtendenz der Rollenfindung vielmehr eine Anpassung an die sich wandelnden Lebensverhältnisse und Veränderungen der Umwelt. Begonnen bei der traditionellen Zeitplanung, die sich üblicherweise an der Rangfolge „Schulzeit, Ausbildung, Berufseintritt, Auszug aus dem Elternhaus, Heirat, Gründung einer eigenen 19 Lange, Günter: Erwachsen werden. Jugendliterarische Adoleszenzromane im Deutschunterricht. Schneider Verlag. Hohengehren, 2000. S.7 20 Ebd. 21 Vgl. ebd. 22 Vgl. Hurrelmann, Klaus: Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Juventa Verlag. Weinheim und München, 1997. S.194 23 Ebd. 8 Familie“24 orientiert, entwickelt sich die Lebensplanung eines Individuums mittlerweile zu zunehmend individuell verlaufenden Übergangsprozessen und ist von veränderten Abfolgen der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben geprägt.25 Grundlegend bleiben die Inhalte der zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben in den jeweiligen Lebensphasen erhalten. Die nachfolgende Grafik wird die jeweiligen Anforderungen veranschaulichen. Abbildung 1: Entwicklungsaufgaben in drei Lebensphasen und dazwischenliegende Statuspassagen26 Würde man von Carsten Gansels Definition von „Adoleszenz“ ausgehen, so könnte man diesen Lebensabschnitt in dieser Grafik direkt anknüpfend an die Entwicklungsaufgaben des Kindesalters bis zum Erwachsenenalter ansetzen. Die Phase der Adoleszenz würde die dazwischenliegenden Statuspassagen mit einbeziehen. Insgesamt herrscht eine Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen vor. Eine ausgeprägte Vielfalt von Lebensentwürfen, Weltbildern und Gruppengefügen ist zu 24 Gansel, Carsten: Der Adoleszenzroman. Zwischen Moderne und Postmoderne. In: Lange, Günter: Taschenbuch der Kinder‐ und Jugendliteratur. Band 1. Schneider Verlag. Baltmannsweiler, 2000. S.361 25 Vgl. ebd. 26 Hurrelmann, Klaus: Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Juventa Verlag. Weinheim und München, 1997. S.47 9