Predigt beim Rittertag der Hessischen Genossenschaft am 18.06.2016 Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Das Wort der Heiligen Schrift für die heutige Predigt steht im Brief des Paulus an die Römer, Kapitel 14, Verse 10 bis 13: „Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. Denn es steht geschrieben: ‚So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.‘ So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben. Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.“ Liebe Gemeinde, wir haben Grillsaison. Manch einer lädt gerne Freunde oder Verwandte ein, um gemeinsam gemütlich im Garten zu sitzen. Man genießt die Sonne, redet über das letzte Fußballspiel. Vielleicht kommt Ihnen die folgende Szene bekannt vor. Einer der Grill-Gäste hat seine Tochter mitgebracht: Johanna. Sie ist sechzehn. Und Veganerin. Und es ist nicht nur so, dass sie selbst kein Fleisch isst. Nein, sie hat eine Mission. „Wie kann man nur Leichen essen?“, fragt sie angewidert und zeigt auf den Grill. Die Stimmung sinkt. „Du spinnst doch“, sagt ihr Cousin zu ihr. Johanna antwortet: „Und du bist mit schuld daran, dass Millionen von Tieren unter schrecklichen Bedingungen gefangen gehalten und ermordet werden.“ „Dafür sind die Tiere da“, sagt der Cousin und wedelt demonstrativ mit seinem Steak vor ihrem Gesicht hin und her. Einen ähnlichen Streit gab es auch Mitte des ersten Jahrhunderts in den ersten christlichen Gemeinden. Nur mit anderen Argumenten. In den Gemeinden gab es so genannte Judenchristen und so genannte Heidenchristen. Wenn Juden sich dem christlichen Glauben zuwandten, dann fühlten sie sich meist nach wie vor den Anforderungen des jüdischen Gesetzes verpflichtet. Wenn Heiden sich dem christlichen Glauben zuwandten, dann fühlten sie sich den Anforderungen des jüdischen Gesetzes natürlich nicht verpflichtet. Da beide Gruppen in den Gemeinden zusammenlebten, kam es zu Problemen. Und zwar insbesondere beim Thema Fleisch essen. So gut wie alles Fleisch, das man damals auf dem Markt kaufen konnte oder bei Essenseinladungen angeboten bekam, war beim Schlachten mit heidnischen Opferriten in Berührung gekommen. Aus judenchristlicher Sicht war es damit Götzenopferfleisch und sein Verzehr eine schwere Sünde. Auf der anderen Seite betonten viele Heidenchristen, dass die Freiheit, die Christus ihnen geschenkt hat, gerade auch die Freiheit von solchen Gesetzen beinhalte. Außerdem gebe es sowieso nur einen Gott und damit müsse man auch keine Angst vor Götzenopfern haben. Wie kann nun das Zusammenleben dieser beiden Gruppen in einer Gemeinde funktionieren? Für die einen ist es Teil ihrer religiösen Identität, dass sie den Verzehr von Fleisch aus Gewissensgründen radikal ablehnen. Für die anderen ist es Teil ihrer religiösen Identität, dass sie die Freiheit zum Verzehr von Fleisch betonen. Paulus gibt den Gemeinden in mehreren seiner Briefe Ratschläge zum Umgang mit dieser Spannung. Zum Beispiel auch im Römerbrief. In dem Kapitel, aus dem der heutige Predigttext stammt. Da ist von einem gegenseitigen Richten und Verachten der beiden Gruppen die Rede. Also eine echte Bedrohung der Einheit der Gemeinde. 1 Heute sind es andere Themen, die die Gemeinden spalten. Wo es um mehr geht als um unterschiedliche persönliche Meinungen zu tagespolitischen Fragen. Wo beide Seiten davon überzeugt sind, dass sie den wahren christlichen Glauben verteidigen müssen. Die älteren von Ihnen erinnern sich vielleicht an die erbitterten innerkirchlichen Diskussionen in der Nachkriegszeit zu den Themen Wiederbewaffnung und atomare Rüstung. Oder wie war es, als in den neunziger Jahren viele Spätaussiedler aus Russland kamen? Da prallten in den evangelischen Gemeinden teilweise unvereinbare Vorstellungen aufeinander. In den vergangenen Jahren war es der Streit um die Frage nach kirchlichen Segenshandlungen für gleichgeschlechtliche Paare, der die Gemüter vielerorts erhitzte. Und in der letzten Woche unterhielt ich mich mit einem Kollegen aus Dresden, dessen Gemeinde gerade durch ein neues Thema von Spaltung bedroht ist: In seiner Gemeinde gibt es Personen, die jede Woche bei den Pegida-Demonstrationen mitlaufen, und gleichzeitig andere Personen, die Woche für Woche bei den Gegendemonstrationen mitlaufen. Die sich gegenseitig als Verbrecher beschimpfen und sich nicht mehr im selben Raum aufhalten wollen. Was sagt Paulus nun zu solchen Streithähnen? Richte nicht über deinen Bruder. Gott wird über deinen Bruder richten – und über dich auch. Und Gott wird dich nicht danach richten, ob deine Meinung die richtige war. Sondern er wird dich danach richten, wie du mit deinem Bruder umgegangen bist, der eine andere Meinung hatte. Noch einmal: Richte nicht über deinen Bruder. Gott wird über deinen Bruder richten – und über dich auch. Und Gott wird dich nicht danach richten, ob deine Meinung die richtige war Sondern er wird dich danach richten, wie du mit deinem Bruder umgegangen bist, der eine andere Meinung hatte. Ja, aber was ist mit der Frage nach der Wahrheit? Wir sind schließlich Johanniter. Evangelisch aus gutem Grund. Wir haben uns dem Dienst am Nächsten und an der Wahrheit des Glaubens verpflichtet. Wenn jeder jeden mit seiner Meinung respektiert, führt das nicht zu Relativismus? Ist das noch gut evangelisch? Hat Luther nicht auch über den Papst und die damalige Katholische Kirche in radikalen Worten gerichtet? Muss man nicht am Wahrheitsanspruch der eigenen Glaubensüberzeugung festhalten, die sich einem erschlossen hat? Ist es nicht ein falsches Verständnis von Toleranz, wenn man alle ethischen Fragen relativiert und vergleichgültigt? Ist es nicht ein Grundproblem der Evangelischen Kirche, dass sie keine klaren Positionen bezieht? Bei diesen Fragen lohnt es sich, theologisch genauer hinzuschauen. Es ist gut evangelisch, wenn die Evangelische Kirche ihre ethischen und politischen Stellungnahmen bescheiden formuliert. So dass deutlich wird, dass es kein unfehlbares Lehramt gibt, dem sich alle Gläubigen unterordnen müssen. Im Unterschied zur Katholischen Kirche. Vielmehr darf und soll sich jeder evangelische Christ seine eigene Meinung zu strittigen Fragen bilden. Dabei sollte er sich stets seiner Erlösungsbedürftigkeit und Begrenztheit bewusst sein. Und darum dazu bereit bleiben, seine eigene Position kritisch zu hinterfragen. Es ist gut evangelisch, seinem Gewissen zu folgen. Aber daraus folgt auch die Achtung vor dem Gewissen anderer. Evangelische Verantwortung wurzelt in der Rechenschaftspflicht Gott gegenüber. Sie kann dem Einzelnen von keiner Institution oder Autorität abgenommen werden. Evangelische Theologie betont, dass die Bejahung einer Person durch Gott nicht von deren problematischen Handlungen oder Meinungen in Frage gestellt wird. Daraus folgt für eine evangelische Ethik eine schwächefreundliche Grundhaltung. Keiner hat Gottes Zuwendung verdient. Alle sind gleichermaßen auf Gottes Gnade angewiesen. 2 Daraus ergibt sich ein unbedingter Vorrang der Person vor ihren Werken. Das Wesen eines Menschen ist nicht von Fähigkeiten, Eigenschaften, Leistungen oder Meinungen her zu verstehen. Sondern von dem her, was dem Menschen von Gott zuteil wird. Die Wahrheit über einen Christen wird nicht von seinem Mitchristen konstituiert, sondern von Gott allein. Darum dürfen und müssen wir in unseren Gemeinden zwar um die Wahrheit streiten. Aber wir sollen es in einer Haltung des gegenseitigen Respekts tun. Paulus sympathisiert theologisch klar mit einer der beiden Gruppen in der römischen Gemeinde, und zwar mit den Fleischessern. Trotzdem ermahnt er beide Gruppen gleichermaßen zur Rücksichtnahme. Wenn man seine Mitchristen von etwas überzeugen will, dann bitte durch Liebe und nicht durch Druck und Ignoranz. Es tut uns sicherlich gut, gerade auch als Johanniter, wenn wir stets die Mahnung des Paulus im Hinterkopf behalten: Richte nicht über deinen Bruder. Gott wird über deinen Bruder richten – und über dich auch. Und Gott wird dich nicht danach richten, ob deine Meinung die richtige war. Sondern er wird dich danach richten, wie du mit deinem Bruder umgegangen bist, der eine andere Meinung hatte. Die Rede von Gottes Gericht will uns nicht Angst machen. Angst bringt uns nicht näher zu Gott, der die Liebe ist. Aber die Rede von Gottes Gericht will uns warnen. Warnen vor einem Leben, das wir am Ende bereuen. Die Rede von Gottes Gericht erinnert uns ohne Wenn und Aber daran, dass wir Menschen eine Bestimmung haben. Von Gott. Eine Bestimmung, die wir auch verfehlen können. Im Gericht wird die Wahrheit über unser Leben aufgedeckt. Was kann es Schlimmeres geben als die Einsicht, dass man sein Leben falsch gelebt hat? Dass man es weggeworfen hat? Und dass man die Uhr nicht zurückdrehen kann? Unsere Bestimmung ist ein Leben mit Liebes-Charakter. Darum entscheidet sich am Umgang mit unseren Brüdern und Schwestern rückblickend, ob unser Leben in den Augen Gottes sinnvoll oder sinnlos war. Weil wir die Uhr dann nicht zurückdrehen können, ist diese Warnung so wichtig. Gerade weil unser Richter kein anderer sein wird als unser Erlöser, der uns ohne Wenn und Aber liebt. Amen. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. 3