Rhetorik und Argumentationstheorie 4 [[email protected]] Teil 4 Widerlegungsstrategien II 2 Paradoxie Unter einer Paradoxie versteht man ein (scheinbar) gültiges Argument mit (scheinbar) wahren Annahmen und einer (scheinbar) unannehmbaren Konklusion. 3 Paradoxie Sorites Paradoxon Ein Körnchen Sand ist kein Haufen. Wenn zu etwas, das kein Haufen ist, ein Körnchen Sand gelegt wird, entsteht daraus kein Haufen. Keine noch so große Zahl an Sandkörnern ergibt einen Haufen. 4 Vagheit Spezifität eines Arguments Vagheit nicht-formaler Ausdrücke ist nicht nur Quelle von Paradoxien, sondern kann auch Ansatzpunkt für Kritik sein, wenn die Annahmen oder die Schlussfolgerung eines Arguments sehr unspezifisch sind. Beispiel Weil finanzielle Grundsicherung im Interesse aller ist, hat der Staat all jene zu unterstützen, die nicht von ihrem Einkommen leben können. 5 Dilemma Unter einem Dilemma versteht man eine Situation, in der eine Wahl getroffen werden muss, wobei jede einzelne der Wahlmöglichkeiten (scheinbar) unannehmbaren Konsequenzen nach sich zieht. 6 Agrippa Trilemma Regress Die zur Begründung eines Satzes herangezogenen Aussagen bedürfen stets einer weiteren Begründung. Dogmatismus Ein Satz wird durch eine Aussage begründet, die ohne eigene Begründung akzeptiert wird. Zirkularität Ein Satz soll durch eine Schlussfolgerung aus eben diesem Satz begründet werden. 7 Agrippa Trilemma Wissen und Rechtfertigung „Wissen“ wird analysiert als gerechtfertigte, wahre Überzeugung Wenn ein Satz als Wissen behauptet wird, dann muss er eine Rechtfertigung besitzen. Eine gute Rechtfertigung muss aber selbst gewusst werden, also wiederum eine Rechtfertigung besitzen, usw. ad. inf. Vorwurf eines infiniten Regress 8 Agrippa Trilemma Wissen und Rechtfertigung Die Wahrheit gewisser Sätze kann intuitiv erfasst werden und bedarf deshalb keiner gesonderten Rechtfertigung. Diese Sätze bilden das Fundament unseres Wissens. Vorwurf eines Dogmatismus 9 Agrippa Trilemma Wissen und Rechtfertigung Die sinnliche Wahrnehmung ist das Werkzeug, mit dem wir die Welt erkennen. Etwas ist wahr genau dann, wenn es sich den Sinnen klar und deutlich darbietet. Also bietet sich etwas den Sinnen nur dann klar und deutlich dar, wenn es wahr ist. Vorwurf zirkulärer Argumentation 10 Plausibilität und Korrektheit Allgemeine Hinweise Ein philosophisches Argument zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass es korrekt ist, sondern auch dadurch, dass es plausibel ist. Nicht alles, was wahr ist, klingt im ersten Moment plausibel. 11 Plausibilität und Korrektheit Allgemeine Hinweise Beispiel Angenommen, wir haben einen Faden um die Erde gespannt. Wenn wir einen zweiten Faden, der einen Meter länger ist als unser erster, ebenfalls um die Erde spannen und dafür sorgen, dass er an jedem Punkt gleich weit vom Boden entfernt ist, wie weit vom Boden entfernt befindet sich dann dieser zweite Faden? 12 Plausibilität und Korrektheit Allgemeine Hinweise Wenn erläutert werden kann, warum man etwas glauben konnte, das als falsch gezeigt werden soll, hilft das die Plausibilität und damit die Anziehungskraft einer Position zu verbessern. 13 Plausibilität und Korrektheit Allgemeine Hinweise Beispiel Die Vorstellung, die Erde stelle den Mittelpunkt des Universums dar wird heute manches mal als offenkundiger Unsinn belächelt. Was sagt einem aber die tägliche Erfahrung? Die Sonne bewegt sich während eines Tages von Osten nach Westen. Das allein ist mit der Vorstellung, die Sonne bewege sich um die Erde, ebenso gut vereinbar wie mit der Auffassung, die Erde bewege sich um die Sonne. Auch was die Berechnung der Planetenbewegung betrifft, lassen beide Erklärungsmodelle richtige Voraussagen zu. 14 Plausibilität und Korrektheit Allgemeine Hinweise Regressargumente tragen oft dazu bei, die Plausibilität einer Position dadurch zu unterminieren, dass eine unendlich Zahl an Begründungsschritten angenommen wird. Sofern dadurch nicht der Erklärungsanspruch der Theorie untergraben wird, kann ein Regress auch akzeptiert werden. 15 Plausibilität und Korrektheit Sprachphilosophie Wie erlernt man eine erste Sprache? Der Regress kann nicht akzeptiert werden ohne den Erklärungsanspruch zu untergraben. Es muss ein Regressstopper eingeführt werden. Dieser kann verschiedene Formen annehmen. (z.B. Language of Thought bei J. Fodor oder die Background Thesis von J. Searle) 16 Plausibilität und Korrektheit Sprachphilosophie Wie kommt es zur Einheit eines Urteils? Wir betrachten den Satz „Der Sommer ist warm“. Wenn Subjektausdruck und Prädikatsausdruck jeweils einen Gegenstand, im weitesten Sinn des Wortes, bezeichnen, wie können diese beiden Gegenstände in Verbindung wahr oder falsch sein? 17 Plausibilität und Korrektheit Sprachphilosophie Jemand könnte antworten: „Sommer und Wärme stehen miteinander in einer besonderen Beziehung der Anteilnahme.“ Aber diese Beziehung der Anteilnahme ist selbst wieder ein (abstrakter) Gegenstand, der mit den beiden früheren verbunden werden muss. Der entstehende Regress kann (eventuell) als zum Verstehen einer Sprache gehörend akzeptiert werden. 18 Plausibilität und Korrektheit Allgemeine Hinweise Wenn bestimmte Annahmen mit einer gegnerischen Position geteilt werden, ist es stets ein guter Anfangspunkt, diese geteilten Annahmen klar zu machen. Daraus ergibt sich eine Stärke von reductio Argumenten, denn in solchen werden die Annahmen der Gegenposition vollständig angenommen werden. 19 Reductio ad absurdum Unter einer reductio ad absurdum versteht man eine Argumentationsform, die aus den Annahmen einer zu kritisierenden Position eine (scheinbar) unannehmbare Konklusion ableitet. 20 Beispiel 1 Geteilte Annahmen … „Es ist eine natürliche Vorstellung, daß, ehe in der Philosophie an die Sache selbst, nämlich an das wirkliche Erkennen dessen, was in Wahrheit ist, gegangen wird, es notwendig sei, vorher über das Erkennen sich zu verständigen, das als das Werkzeug, wodurch man des Absoluten sich bemächtige, oder als das Mittel, durch welches hindurch man es erblicke, betrachtet wird.“ (G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Einleitung) 21 Beispiel 1 … und reductio ad absurdum mit Dilemma. „[I]st das Erkennen das Werkzeug, sich des absoluten Wesens zu bemächtigen, so fällt sogleich auf, daß die Anwendung eines Werkzeugs auf eine Sache sie vielmehr nicht läßt, wie sie für sich ist, sondern eine Formierung und Veränderung mit ihr vornimmt. Oder ist das Erkennen nicht Werkzeug unserer Tätigkeit, sondern gewissermaßen ein passives Medium, durch welches hindurch das Licht der Wahrheit an uns gelangt, so erhalten wir auch so sie nicht, wie sie an sich, sondern wie sie durch und in diesem Medium ist.“ (ib.) 22 Beispiel 2 Geteilte Annahmen … „In diesen Worten erhalten wir, so scheint es mir, ein bestimmtes Bild von dem Wesen der menschlichen Sprache. Nämlich dieses: Die Wörter der Sprache benennen Gegenstände---Sätze sind Verbindungen von solchen Benennungen.---In diesem Bild von der Sprache finden wir die Wurzeln der Idee: Jedes Wort hat eine Bedeutung. Diese Bedeutung ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand für welchen das Wort steht.“ (L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 1) 23 Beispiel 2 … und reductio ad absurdum. „Die Definition der Zahl Zwei ‚Das heißt ‚zwei‘.‘--wobei man auf zwei Nüsse zeigt---ist vollkommen exakt. Aber wie kann man denn die Zwei so definieren? Der, dem man die Definition gibt, weiß ja dann nicht was man mit ‚zwei‘ benennen will.“ (L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 28) 24 Vorwurf einer petitio principii Allgemeine Hinweise Eine petitio principii (engl.: question-begging) liegt vor, wenn in einem Argument vorausgesetzt wird, was zu zeigen ist. Aber Vorsicht! Wir haben gültige Argumente so definiert, dass die Schlussfolgerung in den Annahmen enthalten sein muss. Wo ist hier der Unterschied? Eine petitio principii stellt jedenfalls keinen formalen Fehler dar! 25 Vorwurf einer petitio principii Abgrenzung von gültigen Argumenten Ein Argument soll von der Richtigkeit einer Schlussfolgerung überzeugen. Eine petitio principii liegt vor, wenn das Argument nur diejenigen überzeugen kann, die ohnedies an die Schlussfolgerung glauben. Das funktioniert meist dadurch, das relevante Annahmen ausgelassen oder verdeckt werden. 26 Vorwurf einer petitio principii Beispiel „In einfacherer Weise und doch auch nach dem Schema, daß die Nichterfüllung des einen Wunsches die Erfüllung eines anderen bedeutet, löste sich der Widerspruch gegen meine Traumlehre bei einer anderen Patientin, der witzigsten unter all meinen Träumerinnen. Ich hatte ihr an einem Tage auseinandergesetzt, daß der Traum eine Wunscherfüllung sei; am nächsten Tage brachte sie mir einen Traum, daß sie mit ihrer Schwiegermutter nach dem gemeinsamen Landaufenthalt fahre. Nun wußte ich, daß sie sich heftig gesträubt hatte, den Sommer in der Nähe der Schwiegermutter zu verbringen, wußte auch, daß … 27 Vorwurf einer petitio principii Beispiel … sie der von ihr gefürchteten Gemeinschaft in den letzten Tagen durch die Miete eines vom Sitz der Schwiegermutter weit entfernten Landaufenthalts glücklich ausgewichen war. Jetzt machte der Traum diese erwünschte Lösung rückgängig; war das nicht der schärfste Gegensatz zu meiner Lehre von der Wunscherfüllung durch den Traum? Gewiß, man brauchte nur die Konsequenz aus diesem Traum zu ziehen; um seine Deutung zu haben. Nach diesem Traum hatte ich unrecht; es war also ihr Wunsch, daß ich unrecht haben sollte, und diesen zeigte ihr der Traum erfüllt.“ (Sigmund Freud, Traumdeutung, S. 166-7) 28 Vorwurf einer petitio principii Abgrenzung von zirkulären Argumenten Ein zirkuläres Argument liegt vor, wenn die Schlussfolgerung eines Arguments eine der Annahmen rechtfertigt. Weil die Schlussfolgerung einer petitio principii mit einer der Annahmen identisch ist, handelt es sich um eine Form zirkulärer Argumentation. Allerdings wird die Schlussfolgerung nicht explizit als Rechtfertigung der Annahme genannt. Merkmal der petitio principii ist eben, dass die problematische Annahme verdeckt wird. 29