Neue Rettungsinseln Immer mehr

Werbung
Neue Rettungsinseln
Immer mehr Herznotfallambulanzen (CPU)
Interview mit Prof. Dr. med. Thomas Münzel, Direktor der II. Medizinischen Klinik
und Poliklinik, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Herzinfarkt – jede Minute zählt! Wer wartet,
riskiert Gesundheit und Leben, das weiß fast
jeder. Aber wenn es darauf ankommt, warten
viele trotz des hohen Risikos manchmal Stunde um Stunde, bevor sie die Notrufnummer
112 anrufen. Aus Angst? Rettungswagen und
Notarzt – was sagen da die Nachbarn? In der
Hoffnung, dass es doch besser wird? Aus Unsicherheit: Vielleicht ist es doch kein Herzinfarkt?
Für diese Zauderer und Zögerer ist etwas Neues erfunden worden: die CPU (Chest Pain Unit
= Brustschmerzeinheit). Anfang 2008 gab es
nur an wenigen Kliniken CPUs, inzwischen
arbeiten CPUs an immer mehr Orten.
Professor Thomas Münzel war einer der ersten, der an seiner Klinik in Mainz 2005 eine
CPU einrichtete. Er ist Leiter der Taskforce, die
bundesweit die CPUs auf ihre Standards prüft
und zertifiziert.
Herr Professor Münzel, was ist eine CPU?
„Chest Pain Unit“ bedeutet wörtlich übersetzt
„Brustschmerzeinheit“, also eine Abteilung, die
Patienten mit akuten Brustschmerzen versorgt.
Plötzlich einsetzende Schmerzen im Brustkorb,
die länger als fünf bis zehn Minuten anhalten,
können Zeichen eines Herzinfarkts sein, aber
auch bei vielen anderen Erkrankungen auftreten. Der Herzinfarkt ist jedoch die Erkrankung,
bei der ein Zeitverlust die schlimmsten Folgen
für den Patienten hat. Daher muss bei akuten
Brustschmerzen als erstes abgeklärt werden,
ob ein Herzinfarkt vorliegt.
4
Die Deutsche Herzstiftung betont in ihren Informationskampagnen, dass ein Herzinfarkt
nicht immer mit Schmerzen in der Brust einhergehen muss. Zum Beispiel Patienten mit
länger bestehendem Diabetes erleiden nicht
selten einen „stummen Infarkt“ ohne wesentliche Schmerzen. Zudem müssen die Schmerzen
nicht immer im Brustbereich auftreten, manche Patienten haben auch nur Atemnot oder
andere, sogenannte untypische Beschwerden.
Entscheidend ist, dass wir diese Botschaft im
Bewusstsein der Bevölkerung verankern: Eine
CPU ist für Patienten mit Verdacht auf Herzinfarkt zuständig. Außerdem müssen wir den
Menschen immer wieder erklären, welche typischen – aber auch welche untypischen – Beschwerden beim Herzinfarkt vorkommen. In
Mainz sind wir sehr glücklich, dass unser Erstliga-Club, der 1. FSV Mainz 05, unsere Informationskampagnen zur CPU unterstützt. Ein
Thema der Aktion im vergangenen Jahr war:
„Frauenherzen schlagen anders – auch beim
Herzinfarkt“. Wir haben darin erklärt, dass bei
Frauen oder auch bei älteren Patienten, oft
nicht die klassischen Schmerzen hinter dem
Brustbein mit Ausstrahlung in den Hals oder
den linken Arm im Vordergrund stehen, sondern untypische Beschwerden wie Atemnot,
Schweißausbruch und Oberbauchbeschwerden.
Trotz aller Aufklärungsaktionen darüber, wie
lebenswichtig es ist, bei Verdacht auf Herzinfarkt sofort zu reagieren (Herzinfarkt: Jede
Minute zählt), sind die aktuellen Zahlen dazu
ernüchternd: Die Deutsche Herzstiftung hat ermittelt, dass sich die Zeit zwischen dem Auftreten der ersten Infarktzeichen und dem Anruf
bei der 112 von zweieinhalb auf drei Stunden
verlängert hat. Was können CPUs dazu beitragen, um diesen fatalen Trend umzukehren?
Warum viele Menschen sogar bei schwersten
typischen Infarktschmerzen so lange warten,
bis sie ärztliche Hilfe holen, hat unterschiedliche Gründe. Manche spüren sicher den Ernst
der Lage, wollen ihn aber einfach nicht wahrhaben.
Aus der Erfahrung wissen wir aber auch, dass
viele Patienten Angst davor haben sich zu blamieren, wenn sich nachher herausstellt, dass es
kein Infarkt war und sie „falschen Alarm“ gegeben haben. Oder sie wollen nicht, dass die
Nachbarn sehen, wie sie mit dem Rettungswagen abgeholt werden. Diese Patienten haben
vielleicht weniger Hemmungen, sich sofort
von Angehörigen oder mit dem Taxi in eine
CPU bringen zu lassen. Sie sollten sich aber wegen der Unfallgefahr auf keinen Fall selbst ans
Steuer setzen, denn bei akutem Infarkt kann es
zu schweren Kreislaufstörungen mit Bewusst-
losigkeit kommen. Zu bedenken ist aber auch,
dass der Transport im Rettungswagen sicherer
ist, denn dort kann lebensgefährliches Kammerflimmern, das bei akutem Infarkt auftreten
kann, mit einem Defibrillator augenblicklich
gestoppt werden.
Unsere Kernbotschaft lautet also weiterhin: Bei
Verdacht auf Herzinfarkt sollte man ohne zu
zögern, über 112 den Notarzt rufen. Bei uns in
Mainz entscheidet der Notarzt dann anhand der
Beschwerden und des EKGs, wohin er den Patienten bringt: bei eindeutigen Infarktzeichen
direkt ins Katheterlabor, bei fraglichen Befunden in die CPU zur Abklärung eines Infarktverdachts, in allen übrigen Fällen in die normale
Notaufnahme. Bestehen Hemmungen, 112 zu
wählen oder sind die Beschwerden nicht so
massiv beziehungsweise weniger deutlich, besteht eine Alternative darin, sich von Angehörigen oder mit dem Taxi in eine CPU bringen zu
lassen. Aber in jedem Fall gilt: Schnelles Handeln entscheidet über das weitere Schicksal!
Tragen die gesetzlichen Krankenkassen die
Kosten, wenn ein Patient von sich aus eine
CPU aufsucht?
5
Ja, die Kosten werden übernommen. Unser
Gesundheitssystem profitiert ja von den CPUs,
weil durch die rechtzeitige Behandlung von Infarktpatienten viele schwerwiegende Komplikationen verhindert und dadurch Kosten reduziert werden.
Was erwartet einen Patienten, der mit Verdacht auf Herzinfarkt in eine CPU kommt?
CPUs sind optimal für die Behandlung eines
Herzinfarkts ausgerüstet. Ein Herzkatheterlabor ist rund um die Uhr verfügbar, und ein
im Herzkatheter erfahrener Kardiologe immer
in Rufbereitschaft. Er kann gegebenenfalls sofort eine Herzkatheteruntersuchung durchführen und eine verschlossene Herzkranzarterie
durch eine Ballonerweiterung wieder öffnen
und einen Stent platzieren.
Wenn ein Patient mit Infarktverdacht in die
CPU kommt, wird er untersucht und nach seinen aktuellen Beschwerden und früheren Erkrankungen gefragt. Es wird sofort ein EKG
geschrieben und Blut abgenommen. Das EKG
und bestimmte Blutwerte – das Troponin und
das Enzym Kreatinkinase, abgekürzt CK, – liefern wesentliche Hinweise auf einen möglichen
Infarkt.
Sind das EKG und die Blutwerte normal,
aber Brustschmerz vorhanden, wird sofort
eine Herzultraschalluntersuchung vorgenommen, um Herzdurchblutungsstörungen erkennen zu können, z. B. in der Seitenwand
des Herzens, die nicht immer mit dem EKG
erkennbar sind. Weitere Untersuchungen sind
erforderlich, um eine instabile Angina pectoris
erkennen zu können, die wie ein akuter Infarkt
als ein akutes Koronarsyndrom eingestuft wird
und damit lebensgefährlich ist.
Wie zeigt sich die instabile Angina pectoris,
und warum ist sie so gefährlich?
Bei einer instabilen Angina pectoris treten
Schmerzen im Brustkorb bei kleinster Belastung oder in Ruhe auf. Daraus kann jederzeit
ein Herzinfarkt entstehen.
6
Eine instabile Angina pectoris kann sich bei
Patienten entwickeln, die bisher an einer stabilen koronaren Herzkrankheit litten, aber auch
bei Patienten, die zuvor nie Herzbeschwerden
hatten. Hier ist es besonders wichtig, an die
Möglichkeit einer instabilen Angina pectoris zu
denken und sofort die 112 zu alarmieren oder
sich in eine CPU fahren zu lassen.
Wie groß ist der Anteil der Patienten, die in
die CPU kommen, bei denen aber kein Infarkt
beziehungsweise keine instabile Angina pectoris festgestellt wird?
Einen akuten Infarkt oder eine instabile Angina
pectoris finden wir bei etwa 35 % der Patienten,
die zu uns in die CPU kommen. Bei den anderen 65 % liegt die Ursache der Beschwerden
nicht im Herzen. Die meisten von ihnen, können nach eingehender Untersuchung wieder
nach Hause gehen.
Wenn die Beschwerden nicht auf das Herz zurückzuführen sind ...
Auf keinen Fall dürfen in einer CPU die nicht
durch das Herz bedingten Beschwerden übergangen oder unterbewertet werden. Auch nicht
durch das Herz bedingte Beschwerden können
lebensbedrohlich sein und müssen abgeklärt
werden.
Welche Vorteile hat ein Patient, wenn er mit
Verdacht auf Herzinfarkt in einer CPU versorgt wird, im Vergleich zur Behandlung in
einer „herkömmlichen“ Notaufnahme?
Wertvolle Zeit geht bei denjenigen Infarktpatienten verloren, die untypische Beschwerden
haben wie Luftnot, Oberbauchbeschwerden
oder auch eine rein vegetative Symptomatik
wie Übelkeit und Erbrechen. In einer herkömmlichen Notaufnahme würde man sich
hier als Magen-Darm-Spezialist vielleicht bei
der Untersuchung zunächst auf andere Organe
konzentrieren. Durch die gezielten kardiologisch orientierten Untersuchungen in der CPU
kann ein Herzinfarkt dagegen
viel schneller erkannt und behandelt werden.
Aktuelle Auswertungen der
Daten aus unserer Klinik (Keller et al., Clin Res Cardiology
2010) zeigen, dass Patienten,
die mit einem Herzinfarkt in
der CPU behandelt werden,
eine bessere Prognose haben
als Patienten, die mit einem
Infarkt in die klassische Notaufnahme kommen.
Ähnliche Daten wurden auch in
den USA und in Großbritannien erhoben. Das
zeigt, dass wir mit dem Konzept der Chest Pain
Unit auf dem richtigen Weg sind. Befragungen
von Patienten mit Infarkt zeigen ebenfalls ein
deutlich besseres Abschneiden der CPU im
Vergleich mit der Notaufnahme.
Um im Ernstfall schnell reagieren zu können, sollten die Menschen – vor allem wenn
sie infarktgefährdet sind – wissen, ob es in
ihrer Nähe eine CPU gibt. Wo finden sie solche Informationen? Wie viele CPUs gibt es in
Deutschland mittlerweile?
Über CPUs informieren zum Beispiel die
Internetseiten der Deutschen Herzstiftung
(www.herzstiftung.de) und der Deutschen
Gesellschaft für Kardiologie (www.dgk.org),
abgekürzt DGK. Die DGK hat einen Katalog
von Leistungsanforderungen zusammengestellt, den eine CPU erfüllen muss, um sich zertifizieren zu lassen. Zurzeit (Stand: 20.5.2010)
gibt es in Deutschland 75 durch die DGK zertifizierte CPUs. Wir hoffen, dass diese Zahl in
zwei bis drei Jahren auf etwa 250 bis 300 steigt.
Die CPUs sind Rettungsinseln. Deshalb sollte
jeder darüber Bescheid wissen. Aber kann ein
Fernlastfahrer, eine Kassiererin, eine türkische Mutter, ein Rentner, der bei der Post gearbeitet hat, mit dem Begriff CPU etwas anfangen? In den letzten Jahren haben sich viele
Professor Münzel in Aktion.
Patienten deswegen mahnend an die Herzstiftung gewandt. Deshalb schlägt die Herzstiftung vor, den Begriff CPU durch „HerznotfallAmbulanz“ zu ergänzen. Was sagen Sie dazu?
Diese Frage wird in der Tat heftig diskutiert.
Nehmen wir doch das Beispiel Stroke Unit,
eine Einrichtung, die die Prognose von Schlaganfallpatienten drastisch verbessert hat. Wir
wissen, dass der Fernlastfahrer, die Kassiererin
im Supermarkt etc. die Stroke Unit gefunden
haben und sie werden auch die Chest Pain
Unit finden. Für alle haben wir in Klammer
Brustschmerzeinheit gesetzt, damit es klar
wird, dass hier Patienten mit diesen Beschwerden behandelt werden.
Interview: Dr. Ulrich Scharmer
Wie weit bis zur nächsten Chest Pain Unit
(CPU)?
Zertifizierte CPUs sind in Deutschland ungleich
verteilt. Eine Liste der CPUs kann bei der Deutschen Herzstiftung angefordert werden.
Wenn die CPU weiter als 30 Kilometer bzw.
länger als 30 Minuten entfernt ist, sollten Sie
sich nicht dorthin fahren lassen, sondern den
Rettungsdienst (112) rufen.
7
Zertifizierte CPUs in Deutschland
Baden-Württemberg:
Ostalb-Klinikum Aalen
Universitätsklinikum Heidelberg
SLK-Kliniken Heilbronn GmbH
St. Vincentius-Kliniken gAG Karlsruhe
Klinikum Ludwigsburg
Universitätsmedizin Mannheim
Theresienkrankenhaus Mannheim
Klinikum der Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Schwarzwald-Baar Klinikum Villingen-Schwenningen
Bayern:
St. Elisabeth Krankenhaus GmbH, Bad Kissingen
Herz- und Gefäßklinik GmbH, Bad Neustadt a.d. Saale
Universitätsklinikum Erlangen
Herzkatheter und Cardio MR am Krankenhaus Agatharied, Hausham
Medizinische Klinik und Poliklinik der Ludwig-Maximilians-Universität, München
Städt. Klinikum München GmbH, Klinikum Neuperlach
Deutsches Herzzentrum München
Klinik Augustinum München
Klinikum rechts der Isar der TU München
Klinikum Rothenburg ob der Tauber
Universitätsklinikum Würzburg
Berlin:
Universitätsmedizin Berlin Charité Campus Virchow-Klinikum
Universitätsmedizin Berlin Charité Campus Mitte
Deutsches Herzzentrum Berlin
8
Brandenburg:
Evangelisches Freikirchliches Krankenhaus und Herzzentrum Brandenburg in Bernau
Städtisches Klinikum Brandenburg GmbH
St. Josefs-Krankenhaus Potsdam-Sanssouci
Hessen:
Kerckhoff-Klinik GmbH, Bad Nauheim
Alice-Hospital Darmstadt
Krankenhaus Nordwest GmbH, Frankfurt am Main
Städtische Kliniken Frankfurt am Main-Höchst
Klinik Rotes Kreuz, Frankfurt am Main
Cardioangiologisches Centrum Bethanien (CCB)/
Bethanien-Krankenhaus Frankfurt am Main
Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main
Hospital zum heiligen Geist GmbH, Frankfurt am Main
Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH Standort Gießen
Klinikum Kassel GmbH
Asklepios Kliniken Langen-Seligenstadt GmbH
Herz- und Kreislaufzentrum Rotenburg an der Fulda
Mecklenburg-Vorpommern:
Klinikum Karlsburg, Herz- und Diabeteszentrum
Niedersachsen:
Universitätsmedizin Göttingen
Herz- und Gefäßzentrum am Krankenhaus Neu-Bethlehem, Göttingen
Medizinische Hochschule Hannover
Klinikum Hildesheim GmbH
Nordrhein-Westfalen:
Klinikum Bielefeld Mitte
St. Josef-Hospital Klinikum der Ruhr-Universität Bochum
Universitätsklinikum Düsseldorf
Klinikum Lippe-Detmold
Kath. St.-Johannes-Gesellschaft Dortmund gGmbH
Herzzentrum Duisburg
St.-Antonius-Hospital, Eschweiler
Westdt. Herzzentrum Essen am Universitätsklinikum Essen
Kath. Kliniken Essen-Nord-West gGmbH
Elisabeth-Krankenhaus Essen GmbH
Marienhospital Gelsenkirchen GmbH
Evangelisches Krankenhaus Hamm gGmbH
St. Marien-Hospital Hamm
Kliniken Maria Hilf GmbH, Mönchengladbach
Johannes Wesling Klinikum Minden
Städt. Kliniken Neuss-Lukaskrankenhaus-GmbH
Elisabeth Krankenhaus GmbH, Recklinghausen
Marienkrankenhaus Soest GmbH
Katharinen-Hospital Unna gGmbH
Allgemeines Krankenhaus Viersen GmbH
Marien-Hospital Wesel gGmbH
HELIOS Klinikum Wuppertal
Rheinland-Pfalz:
Westpfalz-Klinikum GmbH, Kaiserslautern
Klinikum der Stadt Ludwigshafen gGmbH Herzzentrum
Klinikum der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz
DRK Krankenhaus Neuwied
Diakonissen-Stiftungs-Krankenhaus Speyer
Saarland:
Klinikum Saarbrücken gGmbH
Sachsen:
MVZ am Küchwald, Chemnitz
Technische Universität Dresden
Herzzentrum Dresden Universitätsklinik
Herzzentrum Leipzig GmbH
Schleswig-Holstein:
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Lübeck
Quelle: Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (Stand: 20.5.2010)
Herunterladen