Vergleichende Genomik Mensch, schiMpanse, neandertaler W ie ein aufgeschlagenes Buch liegt das vollständige Erbgut des Menschen heute vor uns. Auch die Genome unserer nächsten lebenden Verwandten, der Menschenaffen, sind inzwischen zumindest grob entziffert. Und selbst über einen unserer nächsten, längst ausgestorbenen Verwandten – den Neandertaler – werden immer mehr genetische Geheimnisse gelüftet. All diese Erkenntnisse helfen uns, eine Reihe zentraler Fragen über die Natur des Menschen zu beantworten: Welche Gene definieren die biologische Spezies Homo sapiens? Was ist die Grundlage typisch menschlicher Eigenschaften wie Denken, Sprache und Kultur? Und welche Defekte führen zu Störungen wie Autismus oder Schizophrenie? AbstAmmung vom Affen Was die Gene heute lebender oder ausgestorbener Verwandten über den Menschen verraten, beschäftigt Forscher auf dem Gebiet der vergleichenden Genomik. Dasjenige Primatenerbgut, das sie bei Weitem am besten kennen, stammt vom Menschen1,2; die Genome von Schimpanse, Gorilla, Orang-Utan und Rhesusaffe sind dagegen erst teilweise entziffert 3,4. In den kommenden Jahren sollen deshalb die Erbinformationen der wichtigsten Tieraffenarten sowie der Menschenaffen genauso exakt entziffert werden wie die des Menschen. Auf dieses Wissen aufbauend lassen sich dann detaillierte Vergleiche anstellen. Um zu den stammesgeschichtlichen Wurzeln des Menschen zu gelangen, müssen wir fünf bis sieben Millionen Jahre in die Vergangenheit blicken (Bild 1). Damals lebten die letzten gemeinsamen Vorfahren, die wir mit dem Gemeinen Schimpansen Neandertaler (links) und Mensch und dem Bonobo (Zwergschimpansen) teilen. Vor sechs bis acht Millionen Jahren hatten sich die Wege dieser Ahnen vom Gorilla getrennt. Und noch einige Zeit früher, nämlich vor rund zwölf bis 16 Millionen Jahren, kam es zur Abspaltung vom Orang-Utan. Mensch und Schimpanse sind so nah verwandt, dass Biologen sie zur selben Familie der Hominiden zählen. Nach der Trennung des Menschen von der Schimpansenlinie tauchten zahlreiche menschenartige Spezies auf (Homininen). Sie sind bis auf Homo sapiens inzwischen alle ausgestorben. Darunter auch der Neandertaler, mit dem wir vor etwa 400 000 bis 500 000 Jahren letzte gemeinsame Vorfahren teilten. Er lebte in Europa und im westlichen Asien, teils gleichzeitig und in unmittelbarer Nachbarschaft zu unseren direkten Ahnen. Vor rund 30 000 Jahren verschwand er. Dennoch machen sich heutige Forscher erfolgreich daran, das Erbgut des Neandertalers zu entziffern. Dabei müssen sie vor allem gewährleisten, dass ihre Ergebnisse nicht etwa auf Kontamination mit heutiger menschlicher DNA zurückgehen. Im Jahr 2008 gelang es, die komplette Sequenz des Mitochondrien-Erbguts eines Neandertalers zu analysieren. Die Wissenschaftler arbeiten jetzt an der Entzifferung des gesamten Neandertalergenoms5. Auf Grundlage dieser Daten werden sich viele Veränderungen aufspüren lassen, die sich im Lauf der Evolution im Humangenom ansammelten, seit sich die menschliche Linie vom Schimpansen und später vom Neandertaler trennte. Sobald die Forscher zuverlässige Standardverfahren für den Umgang mit alter DNA – insbesondere in Fossilien – etabliert haben, gilt es, diese Arbeit auf weitere Funde von E ine erste entwurfsversion des neandertalergenoms wurde kürz­ lich am max­Planck­Institut für evolutionäre Anthropologie er­ stellt. sie ermöglicht die Identifikation der genomischen eigen­ schaften, durch die sich alle heute lebenden menschen von unserem 36 Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft | 2010+ Neandertalerindividuen sowie auf andere Arten von Homininen auszudehnen. Ebenso wichtig wie der Vergleich zwischen verschiedenen Spezies ist es, die Genvariationen innerhalb einer Art zu identifizieren. Damit lassen sich solche DNA-Sequenzen aufspüren, die von der natürlichen Selektion begünstigt wurden. Mehrere internationale Projekte befassen sich heute mit den genetischen Variationen des Menschen; für die Genome von Menschenaffen gibt es noch keine vergleichbaren Vorhaben. Ein Problem stellt sich hier bei der Datengewinnung: Zwar lassen sich relativ leicht Blut- und Gewebeproben von Tieren in Gefangenschaft sammeln, doch gewähren diese nur begrenzte Einblicke in die genetische Vielfalt der Arten in freier Wildbahn. Wir brauchen daher dringend mehr Proben von wild lebenden Menschenaffen – zumal deren Populationen im natürlichen Verbreitungsgebiet bereits häufig vom Aussterben bedroht sind. Wissenschaftler bemühen sich deshalb, möglichst leicht zu findendes Material wie Kot- oder Haarproben aller Menschenaffenarten zu sammeln, um daraus Zelllinien und Sequenzbibliotheken für ihre Forschung zu gewinnen. Bloße Erbgutvergleiche – ob zwischen verschiedenen Spezies oder zwischen Individuen derselben Art – genügen freilich noch nicht, um der Macht der Gene auf die Spur zu kommen. Entscheidend hierfür ist die Regulation der Genaktivität: Wann, wo und wie stark werden die jeweiligen Gene im Organismus abgelesen beziehungsweise »stillgelegt«6? Dank verbesserter Sequenziertechniken können wir in Zukunft Muster von Genaktivitäten bei verschiedenen lebenden Arten direkt untersuchen. Dabei nächsten evolutionären verwandten unterscheiden. Zudem ermöglicht es, die genomischen Regionen zu entdecken, die während der evolution zum modernen menschen für die positive selektion verantwortlich waren (Green, R. E. et al., Science 316, 222 – 234, 2010). Biologie und Medizin Das gesamte erbgut einer spezies, genom genannt, lässt sich dank neuer techniken immer leichter entziffern. Der vergleich des menschlichen genoms mit dem unserer nächsten verwandten soll offenbaren, wie spezifisch menschliche eigenschaften entstanden. Zu wissen, was genau uns von anderen spezies unterscheidet, hat auch praktischen nutzwert – zum beispiel für die medizin. Bild 1: Ian Tattersall / Photo: Kenneth Mowbray / Rekonstruktion: Gary J. Sawyer, AMNH, und Blaine C. Maley, WUSTL; Bild 2: Bonobo: Friends of Bonobos Bild 1 | Stammbaum von Mensch und Menschenaffe gilt es, jene Abschnitte des Genoms zu betrachten, die keine Bauanleitungen für Proteine tragen, sondern regulierende Funktion haben. Zusammen mit speziellen Methoden der Proteomik lassen sich die komplexen Beziehungen zwischen Genen und ihren molekularen Produkten exakter erfassen – und zwar gesondert nach Zelltyp, Körperorgan und der jeweiligen Phase im Lebenszyklus eines Individuums. Letztlich wird die Analyse der Primatengenome und ihrer Genaktivität DNA-Abschnitte identifizieren, die einzig beim Menschen vorkommen. Um die genauen biologischen Auswirkungen dieser Gene und ihrer Regulation zu untersuchen, benötigen wir geeignete neue Versuchssysteme – etwa Zellkulturen, die menschliches Gewebe nachbilden. Diese könnte man beispielsweise aus induzierten pluripotenten Stammzellen erzeugen, die sich in die jeweiligen Gewebskomponenten umwandeln lassen. Denkbar wäre auch, in Modellorganismen wie der Maus einzelne Gene oder ganze Stoffwechselwege nach dem menschlichen Vorbild umzubauen – die Versuchstiere also zu »humanisieren«. So könnten wir Teilaspekte typisch menschlicher Charakteristika im Labor experimentell untersuchen7. All diese Ansätze und Methoden – von der Genomanalyse lebender und ausgestorbener Primaten bis zur Bestimmung von Genaktivitätsmustern heutiger Organismen – werden uns vieles über die Erbfaktoren verraten, die den Menschen zu dem machen, was er ist. Die biologischen Grundlagen spezifischer Eigenschaften wie Denken, Sprache und Kultur zu verstehen, ist dabei nicht nur von gesellschaftlichem Interesse. Diese Forschung verspricht auch großen medizinischen Nutzen, etwa bei der Behandlung von Autismus, Schizophrenie oder auch Sprachstörungen. Dabei sind jeweils typisch menschliche Fähigkeiten beeinträchtigt, deren genetische Wurzeln bislang weit gehend unbekannt sind. Die vergleichende Genomik dürfte hier letztlich auch zur Entwicklung besserer Therapien beitragen. ➟ Bibliographie siehe Seiten 38 und 39 4–6 Mio. Jahre 6–8 Mio. Jahre 12 –16 Mio. Jahre Nach: Kaessmann, H. & Pääbo, S., 20028 unten Künstlerische Interpretation des Mausmodells 2010+ | Forschungsperspektiven der Max-Planck-Gesellschaft 37