Ich bin so schüchtern - pressesyndikat, Berliner Journalistenbüro

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Ich bin so schüchtern
Von Angelika Friedl | 03. Mär 2010 | Psychologie
Soziale Phobie
Viele Menschen sagen, sie seien schüchtern. Sie bekommen Lampenfieber vor einer Rede,
werden rot, wenn jemand sie anschaut, trauen sich nicht, eine fremde Person anzusprechen.
Solche Angstgefühle sind nicht generell schlecht. Sie helfen, um sich auf eine neue Situation
vorzubereiten. Der Adrenalinausstoß trägt dann dazu bei, sich zum Beispiel bei einer Rede
auf den Punkt konzentrieren zu können. Viele Schauspieler etwa brauchen vor ihrem Auftritt
Lampenfieber, um gut zu spielen.
Auch extreme Schüchternheit wird erst zum Problem, wenn die Betroffenen ihre Ängste
kaum mehr ertragen können. Soziale Phobie heißt der Fachbegriff. Die Ängste müssen
übermäßig stark sein, häufig auftreten, lang andauern und dazu führen, dass bestimmte
Situationen vermieden oder nur unter großen Anstrengungen ertragen werden. „Die normale
Lebensführung ist in solchen Fällen ziemlich eingeschränkt. Vor einer Prüfung ist man zum
Beispiel schon Wochen vor dem Termin nervös und kann kaum mehr schlafen“, sagt Andreas
Ströhle, Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité in Berlin. Oder
die Betroffenen gehen nicht mehr in ein Restaurant essen, weil sie Angst haben, es könnte
etwas auf den Boden fallen und sie würden sich blamieren. Die Scheu vor Kontakten kann so
überwältigend werden, dass manche es nicht mehr schaffen, die Wohnung zu verlassen.
„Da kann ich mich doch nur blamieren“
„Die Trennlinie zwischen Schüchternheit, Scham, unsicheren Gefühlen und einer sozialen
Phobie ist manchmal schwer zu ziehen. Wenn jedoch ein Leidensdruck vorhanden ist und der
Betroffene durch die Symptome oder die Vermeidung beeinträchtigt ist, wird man die
Diagnose stellen können “, sagt Psychiater Ströhle. Was andere über einen denken könnten,
ist ein wesentliches Merkmal einer sozialen Phobie. Gedanken wie „Da kann ich mich doch
nur blamieren“ oder „Gleich wird der Typ anfangen, mich zu kritisieren“ kommen quasi
automatisch, auch wenn die Betroffenen objektiv durchaus wissen, dass ihre Befürchtungen
und Sorgen übertrieben sind.
Die Angst schlägt sich auf den Körper nieder: Symptome sind Stottern, Herzrasen,
Schweißausbrüche, Zittern, Atembeschwerden oder das Gefühl von Enge in der Brust.
Manche erleben in angstbesetzten Situationen auch eine „Depersonalisation“ – Dinge werden
unwirklich, man fühlt sich weit entfernt – oder sie fürchten, die Kontrolle zu verlieren oder
gar verrückt zu werden.
Experten schätzen, dass etwa fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens
an Sozialphobie erkranken. Meist beginnt das Leiden schon in der Jugend oder im frühen
Erwachsenenalter. Frauen haben ein leicht höheres Risiko als Männer.
Wie eine verzerrte Wahrnehmung korrigiert werden kann
Psychiater und Psychotherapeuten stellen häufig weitere psychische Erkrankungen fest wie
Depressionen, andere Angststörungen oder eine Alkoholsucht. „Vor allem unter den älteren
Menschen hat etwa die Hälfte noch eine andere Erkrankung. Daher ist es besonders wichtig,
früh mit einer Therapie zu beginnen“, sagt Andreas Ströhle. Krankhafte Schüchternheit lässt
sich psychotherapeutisch behandeln, vor allem die kognitive Verhaltenstherapie hat sich
bewährt.
Ängste werden auch durch Meinungen, Wünsche und Vorstellungen beeinflusst und lassen
sich verringern, wenn der Patient diese Zusammenhänge erkennt. In Einzel- oder
Gruppentherapie soll die verzerrte Wahrnehmung korrigiert werden – die Patienten üben etwa
in Rollenspielen mit Unterstützung des Therapeuten eine Situation, in der ihnen
normalerweise Schweiß auf die Stirn tritt. „Man steht dann zum Beispiel an der Kasse, sucht
nach dem Kleingeld und lernt aus der Reaktion des Therapeuten oder der anderen Teilnehmer,
dass es keine Katastrophe ist und unter Umständen andere überhaupt nicht stört, wenn ich
nach meinem Geld krame“, sagt Ströhle.
Es geht darum, Strategien im Umgang mit anderen Menschen zu lernen und sich mit der
eigenen Angst zu konfrontieren. Gegen starke Nervosität helfen auch Entspannungstechniken.
In schwereren Fällen können Psychiater Psychopharmaka einsetzen, vor allem sogenannte
selektive Serotonin-Wieder(aufnahme-Hemmer.
US-Studien lassen vermuten, dass auch internetbasierte Therapien bis zu einem gewissen
Grad wirksam sein können. Ein solches vierwöchiges Programm – in dem man Grad und
Ausrichtung seiner Aufmerksamkeit trainieren kann – bieten zurzeit Psychologen der Freien
Universität Berlin an unter: http://userpage.fu-berlin.de/sozphob. Teilnehmer können
kostenlos eine internetbasierte Übung nutzen, um auch positive Signale wahrzunehmen.
Viele Menschen überwinden ihre extreme Schüchternheit oder können sie in ihr Leben
integrieren. Manche sind sogar ihr eigener Therapeut. Wie der berühmte Dramatiker George
Bernard Shaw, der sich als junger Mann kaum traute, an die Tür von Leuten zu klopfen, die er
nicht gut kannte. Er trat einer Debattiergesellschaft in London bei und übte jahrelang, vor
anderen Menschen zu sprechen. Schließlich wurde der Autor einer der besten Redner
Großbritanniens.
(erschienen am 05.03.2010 in der gedruckten Ausgabe GESUND-­‐Magazin in der Berliner Morgenpost, Hannoversche Allgemeine Zeitung/Neue Presse, Leipziger Volkszeitung/Dresdener Neueste Nachrichten, Hamburger Abendblatt) 
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