Der Vorrang des Rechten vor dem Guten: Ja, aber Ethik ist mehr als

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Der Vorrang des Rechten vor dem Guten:
Ja, aber Ethik ist mehr als Moralphilosophie
Jürgen Wallner
Der religiös-weltanschauliche Pluralismus ist ein wesentliches Merkmal der
Moderne. Er drückt sich unter anderem in einer Vielzahl unterschiedlicher,
teilweise gegensätzlicher Entwürfe davon aus, was Menschen als gut und richtig erachten. In der politischen Philosophie und Rechtsphilosophie haben sich
Denkerinnen und Denker der letzten Jahrhunderte damit auseinandergesetzt,
wie Gesellschaften, Staaten und, in einer globalisierten Welt, supranationale Gebilde angesichts des religiös-weltanschaulichen Pluralismus legitimiert
werden und bestehen können.
Eine nach wie vor wirkmächtige Antwort auf diese Frage wird von der
Konzeption des politischen Liberalismus gegeben. Zu den tragenden Säulen
dieser Konzeption gehört das Axiom des Vorrangs des Rechten vor Ideen des
Guten. Gemeint ist damit ein vernünftiger Entwurf der Gerechtigkeit, zu dem
insbesondere Grundfreiheiten und -rechte, Rechtsstaatlichkeit und eine gewisse kollektive Absicherung gegenüber existenziellen Risiken gezählt werden.
Die partikulären Ideen des Guten, welche sich vor allem aus religiös-weltanschaulichen Überzeugungen speisen, können sich innerhalb dieses Rahmens
der Gerechtigkeit bewegen, solange und soweit sie den Vorrang des Rechten
anerkennen.
Der politische Liberalismus beinhaltet zahlreiche explizite und implizite
ethische Annahmen. Schon das Axiom des Vorrangs des Rechten vor dem
Guten stellt eine gewichtige Kalibrierung der Ethik dar und kann als typisch
für die neuzeitliche politische Ethik und Rechtsethik angesehen werden. Das
Typische ist hierbei die Fokussierung der Ethik auf moralphilosophische Fragen. So gut begründet die moralphilosophische Argumentation des politischen
Liberalismus für den Vorrang des Rechten vor dem Guten ist, so wenig darf
dabei aber vergessen werden, dass sie letztlich – wie jede Theorie – eine methodische Reduktion vornimmt, indem sie Aspekte der Ethik ausblendet oder
hintanstellt, die für die Theoriebildung sekundär sein mögen, für die Praxis
aber von weitreichender Bedeutung sein können. Die Komplexität ethischer
Methodologie wird ersichtlich, wenn man die Werke von John Rawls, dem
Nestor des politischen Liberalismus, chronologisch betrachtet. Ausgehend
von einer stark moralpsychologisch geprägten Arbeit (19511), über das moralphilosophische Hauptwerk (19712), hin zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Faktum des religiös-weltanschaulichen Pluralismus auf nationa-
1
2
J. Rawls, Outline of a Decision Procedure for Ethics, Philosophical Review 1951, 177.
J. Rawls, A Theory of Justice: Original Edition, Cambridge, MA 1971.
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ler (19963) und internationaler (19994) Ebene zeigt Rawls ein differenzierteres
Verständnis von ethischer Methodologie, als ihm als „Liberalen“ meist zugeschrieben wird.
Die vorliegende Arbeit verfolgt ebenfalls das Ziel, ein breiter gefasstes Verständnis von Ethik zu vermitteln, als mit der weit verbreiteten Gleichsetzung
von Ethik und Moralphilosophie zum Ausdruck kommt. Dabei soll der für die
politische Ethik und Rechtsethik grundlegende Vorrang des Rechten vor dem
Guten in einer pluralistischen Gesellschaft nicht in Frage gestellt werden. Es
soll aber bewusst gemacht werden, dass es sich bei dieser Vorrang-Konzeption
um eine methodologische Reduktion zugunsten der Theorie des politischen
Liberalismus handelt, derer man sich bewusst sein sollte, da andernfalls die
Gefahr droht, dass die gut begründete Theorie des politischen Liberalismus an
der kontingenten Praxis des menschlichen Lebens scheitert.
Den Kontext für diese Abhandlung stellt die praktische Ethik im Gesundheitswesen dar. Dieser Kontext unterscheidet sich selbstredend von den klassischen Themen der politischen Philosophie insbesondere dadurch, dass die
praktische Ethik im Gesundheitswesen innerhalb einer politischen Ethik und
Rechtsethik vollzogen wird, deren Grundlage die Konzeption des politischen
Liberalismus ist.
I. Die Bandbreite von Ethik
Eine gängige Kurzdefinition von Ethik lautet, sie sei die kritische Reflexion der Moral. Ist diese Reflexion säkular fundiert, kann von philosophischer
Ethik gesprochen werden5, hat sie ein religiöses Fundament, von theologischer Ethik6. Gesundheitsethik wäre somit die kritische Reflexion von Moral
im Kontext der Gesundheitsversorgung. Im Folgenden soll gezeigt werden,
dass diese Kurzdefinition von Ethik im Allgemeinen und Gesundheits- bzw
Bio- oder Medizinethik im Besonderen zu kurz greift und wesentliche Aspekte
der Ethik außer Acht lässt.
1. Ethik als kritische Reflexion
Was unter einer kritischen Reflexion zu verstehen ist, darüber dürfte genügend
Einigkeit bestehen: Wer kritisch reflektiert, der analysiert die in einer Diskussion verwendete Terminologie in Hinblick auf ihre Klarheit, Konsistenz oder
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4
5
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J. Rawls, Political Liberalism, New York, NY 1996.
J. Rawls, The Law of Peoples: with „The Idea of Public Reason Revisited“, Cambridge, MA
1999.
M. Düwell, C. Hübenthal & M. H. Werner, Ethik: Begriff – Geschichte – Theorie – Applikation, in M. Düwell, C. Hübenthal & M. H. Werner (Hrsg), Handbuch Ethik, Stuttgart 32011,
1 (2).
M. Düwell & K. Steigleder, Bioethik – Zu Geschichte, Bedeutung und Aufgaben, in M.
Düwell & K. Steigleder (Hrsg), Bioethik: Eine Einführung, Frankfurt am Main 2003, 12
(14).
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Der Vorrang des Rechten vor dem Guten: Ja, aber Ethik ist mehr als Moralphilosophie
Aussagekraft; er dekonstruiert und entwickelt Argumente, die für oder gegen
eine Option sprechen; er entwirft möglichst konsistente und überzeugende
Konzepte usw. Kritische Reflexion wird von zahlreichen, inhaltlich unterschiedlichen Denkerinnen und Denkern im Laufe der Geschichte eingefordert
und vorgelebt; sie gehört seit der Antike, spätestens aber seit der Aufklärung,
zu den Kennzeichen der sogenannten westlichen Kultur. Ethik kann also als
kritische Reflexion begriffen werden.
Innerhalb dieser ethischen Reflexion sind drei Zielsetzungen zu differenzieren: eine deskriptive, eine analytische und eine normative. Die deskriptive
Zielsetzung versucht, die vorfindliche Moral zu erfassen und zu beschreiben.
In den letzten Jahren hat dieser deskriptive Zugang gerade im Bereich der
Bioethik durch die vermehrte Anwendung empirischer Methoden (zB der Sozialforschung oder der experimentellen Verhaltensforschung) an Bedeutung
gewonnen, sodass manche Beobachter von einem „empirical turn“7 sprechen.
Zahlreiche Beispiele betreffen dabei den klinischen Bereich, etwa Therapieentscheidungen am Lebensende8. Mitunter wird in Hinblick auf das Anwachsen der empirischen Untersuchungen kritisch hinterfragt, was dies denn noch
mit Ethik zu tun habe, doch hat sich mittlerweile ein Konsens herausgebildet,
dass empirisch arbeitende Ethik zu einer qualitativen Verbesserung der Ethik
insgesamt beiträgt9. Wie Musschenga herausarbeiten konnte, darf eine empirische Ethik nicht rein deskriptiv verstanden werden, sondern zielt auf eine
kontextsensitivere Begründung der Ethik ab10. Zudem hängen empirische Untersuchungen in ihrem Design und ihrer Interpretation von zahlreichen Vorannahmen ab, sodass eine deskriptive Zielsetzung in der Ethik nicht isoliert von
den beiden anderen Zielsetzungen gedacht werden kann. Wenn beispielsweise
eine quantitative Untersuchung zu der Frage durchgeführt werden soll, welche
Kriterien Ethikkomitee-Mitglieder für die Nutzen-Schaden-Bewertung einer
Behandlung heranziehen, so muss man sich für die Fragegestaltung zunächst
mit begrifflichen und normativen Konzepten zu Lebensdauer, Lebensqualität, Schmerzen, Risiken etc auseinandersetzen. Andernfalls scheitert schon
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8
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10
M. J. Goldenberg, Evidence-based ethics? On evidence-based practice and the “empirical turn” from normative bioethics, British Medical Council – Medical Ethics 2005, 11; P.
Borry, P. Schotsmans & K. Dierickx, Bioethics and Its Methodology: The Rise of Empirical
Contributions, in C. Gastmans, K. Dierickx, H. Nys & P. Schotsmans (Hrsg), New Pathways
for European Bioethics, Antwerpen 2007, 23; P. Borry, P. Schotsmans & K. Dierickx, The
origin and emergence of empirical ethics, in G. A. M. Widdershoven, J. McMillan, T. Hope
& L. Van der Scheer (Hrsg), Empirical Ethics in Psychiatry, Oxford 2008, 37.
W. G. Anderson, R. M. Arnold, D. C. Angus & C. L. Bryce, Passive decision-making preference is associated with anxiety and depression in relatives of patients in the intensive care
unit, Journal of Critical Care 2009, 249; E. Azoula, B. Metnitz, C. L. Sprung, J.-F. Timsit,
F. Lemaire, P. Bauer, B. Schlemmer, R. Moreno & P. Metnitz, End-of-life practices in 282
intensive care units: data from the SAPS 3 database, Intensive Care Medicine 2009, 623.
A. A. Kon, The Role of Empirical Research in Bioethics, American Journal of Bioethics
2009, 59; B. A. W. Musschenga, Was ist empirische Ethik?, Ethik in der Medizin 2009, 187.
B. A. W. Musschenga, Empirical Ethics, Context-Sensitivity, and Contextualism, Journal of
Medicine and Philosophy 2005, 467.
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die Frageerstellung oder fehlen die Interpretationsmaßstäbe für die Deutung
gewonnener Daten11.
Die analytische Zielsetzung der Ethik besteht darin, Begriffe und Argumentationsstrukturen in Hinblick auf ihren logischen, semantischen und pragmatischen Gehalt zu überprüfen12. Dies betrifft einerseits den Gegenstand von
Ethik (Moral), andererseits die Reflexion selbst (Ethik), wodurch der für die
analytische Zielsetzung häufig verwendete Begriff „Metaethik“ verständlich
wird. Diese dominierte vom Beginn bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die Ethik der philosophischen Institute, was aus der grundlegenden
Skepsis in Bezug auf die Begründbarkeit normativer Urteile resultierte13. Mit
konkreten moralischen Problemen, wie sie in der Gesundheitsversorgung vorkommen, beschäftigt sich Metaethik nicht unmittelbar, sondern liefert höchstens indirekt Einsichten in die voraus- und zugrundeliegenden Begriffe und
Argumentationsstrukturen. Trotz dieser für die Praxis begrenzt hilfreichen,
beständigen Dekonstruktion, hilft eine Analyse fundamentaler ethischer Begriffe bei der Suche nach einem „Ankerplatz“ für die Ethik und hat daher, etwa
bei der weiter unten durchgeführten Kritik am „moral point of view“, ihren
berechtigten Ort.
Für das Wiedererstarken der normativen Zielsetzung in der Ethik war nicht
zuletzt die Biomedizin mit verantwortlich14. Die sogenannte normative Ethik
versucht, Moral zu begründen, dh Argumente zu entwickeln bzw zu kritisieren, die für oder gegen eine bestimmte moralische Vorstellung vorgebracht
werden. Dies kann einerseits die fundamentale Frage betreffen, warum man
überhaupt moralisch sein bzw handeln solle und was dies grundsätzlich bedeute15, andererseits begrenztere moralische Problemstellungen, wie sie etwa
in der Medizin auftreten: Inwiefern ist die Einstellung einer enteralen Ernährung bei weit fortgeschrittener Demenz von Herrn X gerechtfertigt? Mit
welchen Argumenten lässt sich eine Zwangsbehandlung bei Essstörungen der
13-jährigen Patientin Y rechtfertigen? Welche Argumente sprechen für, welche gegen die Durchführung einer wunscherfüllenden Sectio caesarea bei Frau
Z? Dies sind nur drei Beispiele für die Fülle an normativen Fragen, die in
der klinischen Ethik auftreten können. Wie durch die Formulierung ersichtlich
wurde, betrifft das normative Problem im Krankenhaus immer einen (oder
mehrere) konkrete(n) Menschen, kann aber auch losgelöst vom individuellen
Fall diskutiert werden – was letztlich schon unterschiedliche normative Zugänge zum Problem darstellt (grob gesprochen: einen kasuistischen und einen
prinzipienorientierten). Wie anhand der Fragen deutlich wurde, handelt es sich
11
12
13
14
15
T. Rockwood & M. Constantine, Item and instrument development to assess sexual function
and satisfaction in outcomes research, International Urogynecology Journal 2009, S57.
A. J. Ayer, On the Analysis of Moral Judgments, in A. J. Ayer (Hrsg), Philosophical Essays,
London 1954, 231.
Düwell & Steigleder (FN 6) 14.
S. Toulmin, How Medicine Saved the Life of Ethics, Perspectives in Biology and Medicine
1982, 736.
K. Bayertz (Hrsg), Warum moralisch sein?, Paderborn 2002.
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Der Vorrang des Rechten vor dem Guten: Ja, aber Ethik ist mehr als Moralphilosophie
bei der normativen Zielsetzung in den Augen vieler Menschen um den Kern
von Ethik insgesamt.
2. Drei ethische Perspektiven
Ethik wurde bislang als kritische Reflexion mit deskriptiver, analytischer und
normativer Zielsetzung definiert. Was nun der Gegenstand dieser Reflexion
ist – oben wurde ja kurzerhand „Moral“ genannt –, ist diffiziler und umstrittener als die bisherigen Differenzierungsbegriffe. Zunächst ist in Anlehnung an
Aristoteles16 darauf hinzuweisen, dass die Ethik einen unterschiedlichen Gegenstandsbegriff verwendet als zB das Handwerk und dass dementsprechend
die Art und Genauigkeit der ethischen Untersuchung ihres „Gegenstands“ eine
andere ist als jene der physikalischen Untersuchung eines Festkörpers. Die
Warnung vor einer inadäquaten, szientistischen Genauigkeitsvorstellung in
der Ethik ist mit einer zweiten Warnung verbunden: jener vor einer selbstsicheren Ethik. Wie Düwell, Hübenthal & Werner formulieren, besteht nämlich zwischen „ethischen“ Fachdiskursen und „moralischen“ Alltagsdiskursen
kein struktureller, sondern nur ein gradueller Unterschied. Einerseits beziehen
sich nämlich moralische Alltagsdiskurse immer auch auf „mehr oder weniger
rationale Annahmen, Argumente und (Alltags-)Theorien“17, andererseits sind
ethische Fachdiskurse nicht zeit- und ortlos, sondern weisen eine geschichtliche Bedingtheit auf, die durch moralische Alltagsdiskurse mit beeinflusst
wird. Insofern geht es der Ethik anders als Baron Münchhausen: Sie kann sich
nicht am eigenen Schopf aus den moralischen Alltagsdiskursen herausziehen,
sondern muss froh sein, wenn es ihr gelingt, den Kopf über Wasser zu halten
(was jedenfalls schon eine beträchtliche Reflexionsleistung ermöglicht). Nun
ist also geklärt, dass Moral in analoger Weise Gegenstand der Ethik ist, aber
zwischen ethischen und moralischen Diskursen aufgrund der Selbstreflexivität kein kategorialer Unterschied besteht. Wie ist dieser Gegenstand „Moral“
aber genauer zu erfassen? Begrifflich herrscht hier seit der Antike eine gewisse Unschärfe, da die griechischen Worte ethos („Gewohnheit“) und êthos
(„Sitte“) im Lateinischen beide mit mos übersetzt wurden, woraus sich das
Deutsche „Moral“ ableitet. „Alle diese Wörter verweisen auf einen indogermanischen Reflexivstamm, der ‘sich zu Eigen machen’, ‘nach eigener Art leben’ bedeutet.“18
Der U.S. President’s Council on Bioethics19 geht beispielsweise davon aus,
dass die kritische Reflexion der Moral drei miteinander verbundene Aspekte
betrifft: die Zielsetzungen, die man für sich selbst und für andere verfolgt (der
Aspekt des Guten); die Art und Weise von Handlungen, die Menschen setzen
(der Aspekt des Rechten); und die Persönlichkeit, die man zu sein hofft (der
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19
Aristoteles, Nikomachische Ethik, Hamburg 1995, 1094b 25.
Düwell, Hübenthal & Werner (FN 5) 3.
A. Anzenbacher, Einführung in die Ethik, Düsseldorf 32003, 16.
President’s Council on Bioethics, Taking Care: Ethical Caregiving in Our Aging Society,
Washington, DC 2005, 100.
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Aspekt des Charakters). In diesem Sinn spricht auch Tödt20 davon, dass Ethik
die drei Fragen „Wie können wir leben?“, „Was sollen wir tun?“ und „Wer
sind wir, und was wollen wir werden?“ bearbeitet. Mit dieser breit angelegten
Vorstellung von Ethik knüpft der Bioethikrat an eine lange Tradition an, die
jedoch im Kontext der Moderne nicht unwidersprochen blieb. Die lange Tradition, die in die griechische Antike zurückreicht, versteht unter Ethik einerseits die Frage, wie ein Leben gelingen kann (auf diese Frage richtete sich die
sogenannte eudämonistische Ethik bzw Strebensethik), andererseits die Frage,
was eine richtige bzw falsche Handlung ausmacht (Gerechtigkeits- bzw Sollensethik).
II. Sollensethik
Während in der Antike und im Mittelalter das strebensethische Moralverständnis im Vordergrund stand, wurde Ethik im Laufe der Neuzeit zusehends auf
die Moralphilosophie eingeengt, während die Reflexion über das gute Leben
an die Pädagogik oder Psychologie ausgelagert wurde. Dieser Wandel kommt
besonders deutlich in der Vorstellung eines „Vorrangs des Rechten vor dem
Guten“ zum Ausdruck, für den etwa Ross21, Rawls22 oder Habermas23 argumentieren. Ein wesentlicher Grund für diese Priorisierung bzw Eingrenzung
der Ethik auf den Aspekt des (Ge-)Rechten wird in der pluralistischen Verfasstheit der modernen Gesellschaft gesehen, die zu einer Vielzahl von unterschiedlichen, teils widerstreitenden Vorstellungen vom guten Leben führt. So
sieht etwa Düwell den moralischen Pluralismus der modernen Gesellschaft als
„die zentrale Herausforderung für die Ethik“24, denn diese Lage verlangt nach
einer Begründung moralischer Urteile, die nicht mehr für alle selbsteinsichtig sind. Eine solche Begründung versucht die Sollensethik vom sogenannten
„moral point of view“.
1. Der „moral point of view“
Ein strikt sollensethischer Zugang beschränkt Ethik auf die normative Begründung von Moral und wird damit zur „Moralphilosophie“25. Um beantworten
zu können, was Moral ausmacht und wie sie zu begründen ist, muss eine Perspektive gefunden werden, die sich von anderen Analyseperspektiven unter20
21
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23
24
25
H. E. Tödt, Versuch zu einer Theorie ethischer Urteilsfindung, Zeitschrift für evangelische
Ethik 1977, 81 (86).
D. Ross, The Right and the Good, Oxford 2002.
J. Rawls, The Priority of Right and Ideas of the Good, Philosophy and Public Affairs 1988,
251.
J. Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main 1983.
M. Düwell, ‘Begründung’ in der (Bio-)Ethik und der moralische Pluralismus, in C. Brand,
E.-M. Engels, A. Ferrari & L. Kovács (Hrsg), Wie funktioniert Bioethik?, Paderborn 2008,
27 (46).
H. Krämer, Integrative Ethik, Frankfurt am Main 1992, 94.
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Der Vorrang des Rechten vor dem Guten: Ja, aber Ethik ist mehr als Moralphilosophie
scheidet: Wenn ich in diesem Sinn beispielsweise begründen möchte, warum
es ethisch gerechtfertigt sein soll, das Hirntodkriterium als maßgeblich für die
Todesfeststellung heranzuziehen, darf ich nicht ausschließlich neurologisch,
psychologisch, rechtlich oder ökonomisch argumentieren, sondern muss einen
Standpunkt ausmachen, von dem ich eine ethische Beurteilung abgeben kann.
Dieser Standpunkt wird mit Baier „moral point of view“26 (MPV) genannt.
Allgemein bedeutet die Einnahme des MPV-Standpunkts: „To consider or
judge behavior from the perspective of moral rules or principles, rather than
the viewpoint of one’s self-interest.“27
Ethik zu betreiben bedeutet demnach, auf einem gewissen Abstraktionsniveau nach allgemein gültigen Prinzipien oder Regeln zu suchen, die mit guten
Gründen für die Beurteilung und Rechtfertigung von Handlungen herangezogen werden können28. Die Suche nach einem formalen MPV wird bisweilen
inhaltlich gelenkt. Eine häufige derartige Lenkung besteht darin, die „Unbedingtheit“ moralischer Urteile mit „Unparteilichkeit“ zu verknüpfen. In diesem Sinn sieht etwa Singer den MPV als Aufforderung, „[…] to go beyond a
personal point of view to the standpoint of an impartial spectator. Thus looking
at things ethically is a way of transcending our inward-looking concerns and
identifying ourselves with the most objective point of view possible – with, as
Sidgwick put it, ‘the point of view of the universe’.“29
Singer selbst bestimmt diesen MPV bekanntlich in der Rationalität und
hat mit seinem Präferenzutilitarismus eine breite bioethische Debatte losgetreten30. Doch das ist hier nicht der Punkt. Ich habe Singer angeführt, da
er in gewisser Weise einen Antipode zu einer kantisch ausgerichteten Ethik
darstellt. Hinsichtlich des metaethischen Verständnisses des MPV gleicht Singer allerdings manchen deontologischen Zugängen, denn beide vertreten hier
erstens eine typisch neuzeitliche Vorstellung von Ethik als Moralphilosophie
und verbinden zweitens Moralität mit Unparteilichkeit. So ist Baiers Bestimmung des MPV insofern kantisch, als er ihn durch die Zurückweisung von
Eigeninteresse31, kategorische Verpflichtung32, Gleichheit33 und Universalität34
charakterisiert:
“We are adopting it [i.e., the MPV] if we regard the rules belonging to morality of
the group as designed to regulate the behaviour of people all of whom are regarded
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31
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33
34
K. Baier, The Point of View of Morality, Australasian Journal of Philosophy 1954, 104.
N. Bunnin & J. Yu, The Blackwell Dictionary of Western Philosophy, Malden, MA 2004,
448.
W. K. Frankena, Moral-point-of-view theories, in N. E. Bowie (Hrsg), Ethical Theory in the
Last Quarter of the Twentieth Century, Indianapolis, IN 1983, 39.
P. Singer, Practical Ethics, Cambridge 21993, 334.
P. Singer, On Being Silenced in Germany, New York Review of Books, 15. 8. 1991, 36;
B. Schöne-Seifert & K.-P. Rippe, Silencing the Singer: Antibioethics in Germany, Hastings
Center Report, 1991, 20.
K. Baier, The Moral Point of View: A Rational Basis of Ethics, Ithaca, NY 1958, 188.
Baier (FN 31) 191.
Baier (FN 31) 195.
K. Baier, The Moral Point of View: A Rational Basis of Ethics, New York, NY 1965, 100 f.
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Jürgen Wallner
to be treated as equally important ‘centres’ of carvings, impulses, desires, needs,
aims, and aspirations; as people with ends of their own […].”35
Neben dieser an Kants Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs36 angelehnten Bestimmung des MPV geht Baier weiter und argumentiert dafür,
Fragen „[…] from the moral point of view, that is, that of an independent,
unbiased, impartial, objective, dispassionate, disinterested observer […]“37 zu
betrachten, also die Perspektive Gottes („God’s-eye point of view“38) oder die
eines objektiven Standpunkts („view from nowhere“39) einzunehmen. Das ist
aber etwas anderes als Kants Verallgemeinerungsformel des Kategorischen
Imperativs40. Wie deutlich wird, gibt Baier dem Kategorischen Imperativ den
Akzent der Unparteilichkeit und ähnelt damit in diesem Punkt den Anforderungen Singers an den MPV (in anderen ist seine inhaltliche Bestimmung natürlich grundverschieden).
2. Kritik am gängigen „moral point of view“
Gegen die Bestimmung des MPV als (pseudo-)säkulare41 oder (pseudo-)religiöse42 Perspektive „von außen“, dh als unbeteiligter, neutraler, allwissender etc
Betrachter, hat sich Kritik erhoben43. So sieht etwa Habermas Unparteilichkeit zwar als Kennzeichen des MPV, verankert sie aber im ethischen Diskurs
(dh im Prozess) und nicht im Akteur: „Dieser Standpunkt der Unparteilichkeit sprengt die Subjektivität der je eigenen Teilnehmerperspektive, ohne den
Anschluss an die performative Einstellung der Teilnehmer zu verlieren. Die
Objektivität eines sogenannten idealen Beobachters würde den Zugang zum
intuitiven Wissen der Lebenswelt versperren.“44
An das intuitive moralische Wissen der Lebenswelt knüpfen auch Gert,
Culver & Clouser mit ihrem Ansatz der „common morality“ an. Für sie ist der
MPV nicht formell, sondern substantiell bestimmt: „[…] the point of morality
is the lessening of the amount of evil or harm suffered by those protected by
morality.“45
Jeder rationale Mensch würde Schädigungen wie zB Tod, Schmerz oder
Verlust der (Lebens-)Freude vermeiden. Darin drückt sich die gemeinsam
geteilte Moralität aus, aus der sich substantielle Regeln der Vermeidung von
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39
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43
44
45
K. Baier, The Point of View of Morality, Australasian Journal of Philosophy 1954, 123.
I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt am Main 2002, 61.
Baier (FN 31) 201.
Baier (FN 31) 201 f.
T. Nagel, The View from Nowhere, Oxford 1986.
Kant (FN 36) 51.
H. Sidgwick, The Methods of Ethics, Indianapolis, IN 1981, 382.
R. M. Hare, Moral Thinking: Its Levels, Methods and Point, Oxford 1981, 111.
K. Nielsen, Moral Point of View Theories, Critica 1999, 105 (108).
J. Habermas, Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen
Vernunft, in J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt am Main 1991, 100
(113).
B. Gert, C. M. Culver & K. D. Clouser, Bioethics: A Systematic Approach, Oxford 22006, 11.
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Der Vorrang des Rechten vor dem Guten: Ja, aber Ethik ist mehr als Moralphilosophie
Übeln ergeben (zB niemanden zu töten, niemanden zu betrügen)46. Auch „Rationalität“ ist hier nicht bloß formell definiert, sondern hängt vom Kontext
ab47, dh es macht zB keinen Sinn, die Übel abstrakt zu reihen48, denn für die
Anwendung moralischer Regeln in konkreten Fälle müssen die Umstände
berücksichtigt werden49. Schließlich kritisieren Gert, Culver & Clouser noch
das oben angeführte gängige Verständnis von „Unparteilichkeit“: Zum einen
garantiere Unparteilichkeit nicht per se moralisches Verhalten, und zum anderen erfordere Moralität nicht immer Unparteilichkeit, sondern nur dort, wo
es um die Verletzung einer Übelsvermeidungs-Regel geht50. Diese Argumentation ist einleuchtend: Erstens würde etwa die „unparteiliche“ Sterilisierung
von Menschen mit einer geistigen Behinderung dieses Verhalten nicht rechtfertigen. Zweitens wäre „Unparteilichkeit“ fehl am Platz, wenn es zB darum
geht, eine Triage durchzuführen, da hier die Fairness genau darin liegt, auf
bestimmte Merkmale (Verletzungsgrad etc) Rücksicht zu nehmen. Wenn das
unter „Unparteilichkeit“ eingeordnet wird, so liegt hier ein Missverständnis
vor, welches nicht zuletzt bewusst aufrechterhalten werden kann, um einer
eigentlich parteilichen Handlung Legitimität zu verschaffen (die sie aber so
nicht erhalten kann). Unparteilichkeit im strengen Sinn wäre hingegen dort
geboten, wo es um die Frage geht, wen eine moralische Regel wie „Du sollst
keinen Schmerz verursachen“ schützen soll. Hier lautet die Antwort grundsätzlich: jeden Menschen (ob es zu einem Regelverstoß kommt, hängt von
den Umständen des konkreten Falls ab, zB von der Frage, ob ein Patient in
eine schmerzhafte Behandlung aufgeklärt eingewilligt hat). Zusammengefasst
zeigt der „common morality“-Ansatz von Gert, Culver & Clouser, dass der
MPV nicht notwendigerweise formell bestimmt werden muss und dass die
gemeinsam geteilte Moralität sich auf spezielle Pflichten, nämlich solche der
Übelsvermeidung, beschränkt.
Düwell51 wiederum unterscheidet eine relativistische Fundamentalkritik an
der Pflichtorientierung moderner Moralphilosophie52 von einer relativierenden
Ergänzungskritik. Letztere liegt beispielsweise dort vor, wo ein Ansatz der
Sorge („Care“) nicht als alternative Ethiktheorie verstanden wird, sondern als
Perspektive, die den Aspekt der Gerechtigkeit (der mit dem MPV identifiziert
wird) ergänzt. Aus einer Care-Perspektive wird deutlich, dass an der auf Unparteilichkeit bedachten MPV-Konzeption insbesondere das epistemologische
und anthropologische Vorverständnis kritisiert werden müsste. Demzufolge
kann es den unbeteiligten Beobachter des MPV nicht geben, sondern beurteilen Menschen moralische Fragen immer schon von einem persönlichen,
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Gert, Culver & Clouser (FN 45) 36.
B. Gert, Morality: Its Nature and Justification, Oxford 2005, 57.
Gert, Culver & Clouser (FN 45) 13.
Gert, Culver & Clouser (FN 45) 41 f.
Gert, Culver & Clouser (FN 45) 32 f.
M. Düwell, Bioethik: Methoden, Theorien und Bereiche, Stuttgart 2008, 37 ff.
G. E. M. Anscombe, Modern Moral Philosophy, Philosophy 1958, 1; A. MacIntyre, After
Virtue: A Study in Moral Theory, Notre Dame, IN 21984.
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Jürgen Wallner
Beziehungs-bezogenen Standpunkt aus53. Diese Kritik kann entschärft werden, wenn gezeigt wird, dass „Unparteilichkeit“ nicht notwendigerweise mit
„Unbedingtheit“ verknüpft ist und damit kein konstitutives Element des Moralischen sein muss, sondern höchstens ein besonderer inhaltlicher Akzent in so
unterschiedlichen Konzepten wie jenen von Singer, Baier oder Habermas. Der
kategorisch verpflichtende Charakter des Moralischen ist nicht notwendigerweise mit dem Attribut der Unparteilichkeit verbunden, denn auch eine Parteinahme kann eine kategorische Verpflichtung darstellen, was etwa für den klinischen Bereich im Arzt-Patientin-Verhältnis schlagend wird. Insofern muss
die Gerechtigkeitsperspektive auch nicht der Care-Perspektive widersprechen.
Die Kritik an einer Gleichsetzung von Unbedingtheit und Unparteilichkeit hat nicht zuletzt dort ihre Berechtigung, wo es um Probleme konkreter
Handlungsorientierung geht, wie sie im klinischen Kontext häufig auftreten.
Eine prospektive ethische Fallbesprechung unter Beteiligung des Behandlungsteams, der Patientin, ihrer Angehörigen und hinzugezogener Konsulenten kann nicht nur vom MPV des unbeteiligten Beobachters geführt werden,
und dort, wo er durch den ethischen Diskurs ins Spiel kommt, bleibt offen,
inwieweit man ihm gerecht wird. Selbst eine Moderatorin, die unter Umständen für diese Fallbesprechung angefordert wird, wird mit der Annahme ihres
Mandats zu einer Beteiligten54. Wo es um schwierige Behandlungsfälle mit
mehreren Konsultationen geht, kann sich somit schnell ein Beziehungsnetz
spannen. Insofern scheint die Kritik der Care-Perspektive gerechtfertigt, wenn
es um die Ethikpraxis geht.
Doch das ist ja nicht der Punkt der neuzeitlichen Moralphilosophie. Ihr
geht es in erster Linie um die Begründung von Normen in einer pluralistischen
Gesellschaft, und hierfür hat sie eine methodische Reduktion vorgenommen,
die zum MPV führt. Er ist der metaethische Standpunkt, von dem aus Ethiktheorien bzw ethische Prinzipien und Regeln begründet werden sollen (eine
Zielsetzung, welche die Care-Perspektive nicht leisten kann). Wenn es um eine
Sollensanforderung geht – wenn eine Handlungsweise also nicht bloß ökonomisch vorteilhaft, rechtlich vorgeschrieben oder technisch optimierend ist –,
dann benötigt man den MPV, um die Sollensanforderung für den Ernstfall
begründen zu können: Was, wenn es nicht ökonomisch vorteilhaft, rechtlich
vorgeschrieben oder technisch optimierend ist, eine multimorbide, alte Langzeitpatientin im Krankenhaus aufzunehmen und sie medizinisch-pflegerisch
gut zu behandeln? Aus welchem Grund sollte ich das tun? – Den Grund, den
ich auf diese Frage nenne, gebe ich vom MPV aus.
53
54
A. L. Carse, The ‘voice of care’: implications for bioethical education, Journal of Medicine
and Philosophy 1991, 5; A. L. Carse, Impartial Principle and Moral Context: Securing a
Place for the Particular in Ethical Theory, Journal of Medicine and Philosophy 1998, 15; R.
Groenhout, Care Theory and the Ideal of Neutrality in Public Moral Discourse, Journal of
Medicine and Philosophy 1998, 17; P. Nortvedt, Care, Sensitivity and ‘The Moral Point of
View’, in Gastmans, Dierickx, Nys & Schotsmans (FN 7) 8; S. Benhabib, The Generalized
and the Concrete Other: The Kohlberg-Gilligan Controvers and Feminist Theory, PRAXIS
International 1985, 402.
R. M. Zaner, Afterword, Human Studies 1999, 99 (104).
912
Der Vorrang des Rechten vor dem Guten: Ja, aber Ethik ist mehr als Moralphilosophie
Nun ist bekannt, dass es in der Moralphilosophie unterschiedliche Antworten
auf diese Frage gibt und dass in der Neuzeit vor allem utilitaristische und
deontologische Konzepte hierfür entwickelt wurden. Es ist hier nicht der Ort,
diese fortdauerende fundamentalethische Debatte durchzufechten, aber ich erachte es für notwendig, meinen MPV für den Ernstfall zumindest in aller Kürze offen zu legen55. Wenn ich den Ernstfall auf den Extremfall herunterbreche
und frage, warum eine Ärztin einen Vergewaltiger, der von der Polizei angeschossen wurde, medizinisch gut versorgen soll, auch wenn es nicht (standes-)
rechtlich vorgeschrieben wäre, wenn sie oder das Krankenhaus dafür kein Entgelt bekommen würden, wenn nicht davon ausgegangen werden kann, dass
ihm seine Tat nachgewiesen werden kann oder er angemessen dafür bestraft
wird, wenn vielmehr damit zu rechnen ist, dass im Team oder in der Öffentlichkeit durch die Behandlung Irritationen entstehen könnten, dann bleibt als
MPV nur die kategorische Pflicht, den Vergewaltiger als Person zu achten, was
letztlich auch mit Selbstachtung zu tun hat. Dass die medizinische Versorgung
auch eines (potentiellen) Verbrechers aber (standes-)rechtlich vorgeschrieben
ist, ist eine Konsequenz aus der kategorischen Pflicht, die in den Grund- und
Menschenrechten ihre historisch bedingte Konkretisierung erfahren hat. Wer
auf diesem rechtsethischen Boden handeln möchte – und alles andere wäre
im Kontext des Krankenhauses höchst theoretisch –, der kann nicht mit rein
utilitaristischen oder kommunitaristischen Ethiktheorien argumentieren (denn
ihnen ist ein Grundrechtsbewusstsein gerade im Ernstfall fremd), sondern benötigt ein deontologisches Verständnis des MPV56.
III. Strebensethik
Nun ist aber der Ernstfall moralphilosophischer Normenbegründung (glücklicherweise) nicht gleichzusetzen mit dem gesamten Spektrum der Ethik. Eine
solche Engführung ist zwar charakteristisch für die neuzeitliche Ethik57, aber
sie verdeckt einen Zugang, der über lange Zeit vorherrschend war: Krämer
bezeichnete ihn als „Strebensethik“58, Höffe als Philosophie der „Lebenskunst“59.
1. Verhältnis zur Sollensethik
Für die Strebensethik gilt Ähnliches wie für die Care-Perspektive (die manchmal als Teil der strebensethischen Tugendlehre gesehen wird): Die Strebens55
56
57
58
59
J. Wallner, Health Care zwischen Ethik und Recht, Wien 2007, 22 ff.
O. Höffe, Lebenskunst und Moral oder macht Tugend glücklich? München 22009, 266 f.
Höffe (FN 56) 95.
Krämer (FN 25) 10.
O. Höffe, Lebenskunst und Maximenethik: Zwei Modelle philosophischer Orientierung, in
M. Zichy & H. Grimm (Hrsg), Praxis in der Ethik: Zur Methodenreflexion in der anwendungsorientierten Moralphilosophie, Berlin 2008, 7.
913
Jürgen Wallner
ethik zielt nicht darauf ab, moralische Normen, Prinzipien oder Theorien zu
begründen, sondern auf eine gelungene Lebensführung. Zu einer solchen
gehört auch der Umgang mit dem MPV, sodass sich Sollens- und Strebensethik nicht gegenseitig ausschließen müssen60. In diesem Sinn kommt Höffe
in seinem ethischen Grundwerk zu dem Schluss, dass ein moralisch gutes (dh
sollensethisch geformtes) Leben „für das insgesamt gute Leben nur eine notwendige, keine zureichende Bedingung darstellt“61 und sich die Ethik infolgedessen nicht mit einer moralphilosophischen Betrachtung zufrieden geben
dürfe. Während Höffe eine generalisierende Aussage über die Vorrangigkeit
von Sollens- oder Strebensethik vermeidet, argumentiert Krämer62 für einen
Vorrang der Strebensethik. Ein solcher ergäbe sich erstens dadurch, dass die
Strebensethik im Alltag weiterhelfen könne, die Sollensethik hingegen höchstens in den selteneren Konfliktsituationen. Das mag zwar die quantitative
Relevanz der Strebensethik unterstreichen, jedoch genügt auch ein ernster
Konfliktfall, der nur mit sollensethischen Rahmenbedingungen vermieden
oder gelöst werden kann, um eine postulierte Vorrangstellung der Strebensethik brüchig werden zu lassen. Für Krämer ergibt sich ein solcher Vorrang
zweitens dadurch, dass die Rede vom „guten Leben“ in der Strebensethik ja
nicht einen hedonistischen Ansatz verfolge, sondern ebenso wie die Sollensethik auch die „Daseinsbewältigung in Not- und Krisenzeiten bis hin zum
richtigen Sterben“63 vor Augen hat. Insofern stehe ihre existenzielle Relevanz
jener der Sollensethik um nichts zurück. Die höhere Bedeutung der Strebensethik ergäbe sich im Ernstfall dadurch, „dass ihr Begriff des Guten ein affirmativer ist, im Unterschied zum negativistischen Begriff des Guten in der
Moralphilosophie“64. In diesem Punkt trifft Krämer einerseits eine wichtige
Beobachtung: Nur weil ich aufgrund der sollensethischen Normen weiß, wo
die legitimen Grenzen für mein Handeln sind, weiß ich noch nicht, wie ich
gut handeln soll. Hierfür bedarf es einer strebensethischen Vorbildwirkung,
die im Krankenhaus insbesondere älteren, erfahreneren Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern zukommt. Andererseits übertreibt Krämer mE damit, dass er die
Moralphilosophie (man könnte hier auch die Jurisprudenz nennen) einseitig
„hemmend“ charakterisiert. Sollensethische Normen, zumal rechtliche, haben
in der Geschichte vielfach befreiend und emanzipierend gewirkt, wie die Entwicklung der Grund- und Menschenrechte zeigt. Freilich haben die Normen
alleine nichts bewirkt, sondern bedurften stets des strebenden Engagements
der Bürgerinnen und Bürger. Aber Normen, die Realbedingungen der Freiheit
absichern, stimulieren und lenken auch das Streben der Menschen. Angesichts
dieser dialektischen Wechselwirkung von Sollens- und Strebensethik halte ich
daher Krämers Priorisierungsversuch für wenig zielführend. Erhellender er60
61
62
63
64
Krämer (FN 25) 92.
Höffe (FN 56) 342.
H. Krämer, Integrative Ethik, in J. Schummer (Hrsg), Glück und Ethik, Würzburg 1998, 93
(96).
Krämer (FN 62) 96.
Krämer (FN 62) 96.
914
Der Vorrang des Rechten vor dem Guten: Ja, aber Ethik ist mehr als Moralphilosophie
scheint mir da die Erkenntnis, dass sowohl Sollens- als auch Strebensethik
praxisregulierend und klärend wirken wollen, dies aber in unterschiedlichen
Perspektiven und mit unterschiedlichen Ansätzen tun:
„Die […] Strebensethik teilt mit der Moralphilosophie die Funktion, praxisregulierend und klärend zu wirken. Während jedoch die Moralphilosophie an das
Verantwortungs- und Pflichtgefühl appelliert und vielfach Weisungen vermittelt,
sucht die Strebensethik nicht verbindlich, sondern anratend über Handlungsziele
aufzuklären und das entsprechende richtig regulierte Verhalten in Gang zu setzen,
zu verbessern und zu optimieren.“65
Die Strebensethik arbeitet also in erster Linie mit Ratschlägen (nicht Normen
oder Weisungen wie die Sollensethik) und insofern aufklärend-pädagogisch.
Der strebensethische Zugang, der sich mit den weiter oben skizzierten Fragen des Guten und des Charakters beschäftigt, scheint mir für die Praxis der
klinischen Ethik von großer Relevanz zu sein. Denn Ethik im Krankenhaus
zu praktizieren heißt nicht – oder zumindest nicht vornehmlich – Moralphilosophie in dem Sinn zu betreiben, dass Ethiktheorien vom MPV aus begründet werden sollen. Hierfür wäre der primäre Ort die akademisch ausgerichtete
Ethik. Ethik im Krankenhaus muss vielmehr daran mitarbeiten, dass Gesundheitsversorgung gut praktiziert werden kann, wofür nicht nur Normen, sondern auch ein entsprechend guter Umgang mit ihnen notwendig ist. Krämer66
sieht in der Strebensethik geradezu das maßgebliche Modell der Medizin, da
diese „primär am Wohl des Einzelnen orientiert“ ist und „typologische Regelmäßigkeiten statistischer Art und von verschiedener Reichweite“ bietet, „die
sich auf dem Weg induktiver Erfahrung ergeben und so auch kontrolliert und
berichtigt werden können.“ Um die Relevanz der Strebensethik für die klinische Ethik deutlich zu machen, ist eine Auseinandersetzung mit ihr notwendig. Dabei konzentriere ich mich auf einen besonderen Aspekt: die ethische
Bedeutung der Klugheit.
2. Klugheit als Schlüsselbegriff der klinischen und jeder
praktischen Ethik
Klugheit hat in Philosophie bzw Ethik eine wechselvolle Geschichte hinter sich, der in jüngster Zeit Luckner umfassend nachgegangen ist. Klugheit
kann allgemein als „erworbene Kompetenz einer Person“ verstanden werden,
„durch die sie sich selbst und damit ihr Handeln und Leben vernünftigerweise zu orientieren vermag“67; mit anderen Worten: Eine kluge Person versteht
es, in gegebenen Situationen angemessen zu handeln. Mit dieser allgemeinen
Definition ist noch ein „garstig breiter Graben“ (Lessing) verdeckt, der sich
zwischen Moralphilosophie und Klugheitsethik im Laufe der Neuzeit aufgetan
hat. Der Graben ist aufgrund einer archetektonischen Verschiebung im Begriffsverständnis von Klugheit entstanden: Klug zu sein wird von der Neu65
66
67
Krämer (FN 25) 77.
Krämer (FN 25) 86.
A. Luckner, Klugheit, Berlin 2005, 3.
915
Jürgen Wallner
zeit bis heute meist mit Rationalität, dh einem schlauen Ziel-Mittel-Abgleich,
gleichgesetzt68. Dies kann aber mit der Moral gehörig in Spannung stehen,
insofern die Rationalität das Eigeninteresse und nicht eine verallgemeinerungsfähige Vernunft im Blick hat. Im Laufe dieses Abschnitts wird noch klar
werden, wie es zu diesem pejorativen Begriffsverständnis von Klugheit kam
und warum es nicht das einzig legitime ist. Zunächst möchte ich aber an den
unverfänglicheren Aspekt der Orientierungskompetenz aus der Definition anknüpfen.
Woran orientiert sich die kluge Person, wenn sie ihre Orientierungskompetenz aktualisiert? Luckner beantwortet diese Frage zunächst qua via negationis, indem er nach Formen der Desorientierung fragt und dreierlei identifiziert69: Zum einen können Menschen sich zwar über ihre Zielsetzungen im
Klaren sein, aber unsicher über den richtigen Mitteleinsatz, der sie an ihre
Ziele bringt. Klugheit würde in diesem Fall darin bestehen, die besten Mittel
für die Zielerreichung zu finden und anzuwenden. Im Fall der medizinischen
Behandlung stellt sich diese Aufgabe regelmäßig bei Indikationsstellungen.
Hierbei geht es darum, jene Behandlungsoption zu wählen und anzuwenden,
die ein verfolgtes Ziel (zB die Behebung einer Schwerhörigkeit) erreichen
kann und in einer Nutzen-Schadens-Bewertung am besten abschneidet. Es
wäre unklug, eine Option zu wählen, die mehr Risiken oder Nebenwirkungen
mit sich bringt, wenn bessere Alternativen zur Verfügung stehen. Zum sollensethischen Problem würde die Mittelbestimmung erst dann, wenn eine Behandlungsoption gewählt würde, die gegen jene (Mindest-)Normen verstieße, die
zur Absicherung des Ernstfalls begründet wurden. Jenseits dieser Grenze gibt
es ein mehr oder weniger breites Feld, innerhalb dessen unter Bezugnahme auf
den konkreten Patienten, die fachliche Kompetenz der Behandelnden und die
organisatorischen Rahmenbedingungen die in dieser Situation bestmögliche
Option ermittelt werden soll. Ist sich eine Ärztin im Unklaren, ob es noch
bessere Behandlungsoptionen gibt, so zieht sie eine Kollegin hinzu, die sich
auf den vorliegenden medizinischen Problemkreis (Schwerhörigkeit) spezialisiert hat, und erfragt ihre Einschätzung und ihren Rat. Das Verhalten der Rat
suchenden Ärztin ist klug, denn über Dinge, die man so oder auch anderes
angehen kann, sollte man sich beraten lassen, wenn man sich über die Mittelwahl im Unklaren ist. Die Orientierungssuche beschränkt sich hierbei auf die
Mittelwahl (zB Cochleaimplantat), während die Zielsetzung (Behebung der
Schwerhörigkeit) klar ist.
Eine zweite Form der Desorientierung tritt hingegen dort auf, wo das Ziel
selbst unklar ist. So wird in der medizinischen Ethik beispielsweise heftig darüber debattiert, ob die Behebung von angeborener Taubheit überhaupt ein
verfolgenswertes Ziel sei, oder ob damit nicht eine eigene Lebensweise verunmöglicht wird, die nur aus Sicht der Nicht-Tauben reparaturbedürftig er68
69
A. Simon & G. Neitzke, Medizinethische Aspekte der Klinischen Ethikberatung, in A. Dörries, G. Neitzke, A. Simon & J. Vollmann (Hrsg), Klinische Ethikberatung: Ein Praxisbuch,
Stuttgart 2008, 24 (28).
Luckner (FN 67) 11 ff.
916
Der Vorrang des Rechten vor dem Guten: Ja, aber Ethik ist mehr als Moralphilosophie
scheint70. Bei dieser Form der Desorientierung besteht eine Unklarheit über
die Orientierungsinstanzen: Woran soll ich beurteilen, ob es für mein taub
geborenes Kind gut ist, einen medizinischen Eingriff zu versuchen, oder eine
Lebensweise, die nicht am herkömmlichen Hören orientiert ist? Eine Beratung in solchen Orientierungskrisen kann nicht nach demselben Muster verlaufen wie eine Expertenberatung bei der ersten Form der Desorientierung.
Hier geht es nicht um eine kluge Mittelwahl, sondern um ein „intentional
clearing“71, dh die Klärung der Frage, welche Zielsetzungen man eigentlich
verfolgen möchte. Eine Unterstützung hinsichtlich dieser Aufgabe ist möglich, und sie ist in gewisser Weise das Herzstück ethischer Beratung, wie sie
schon Sokrates mit seiner mäeutischen Methode praktizierte. Wenn Cooper72
argumentiert, dass es für manche Gehörlose erstrebenswert sein mag, in einer
Kultur der Hörlosigkeit zu leben, für andere hingegen nicht, so kommt darin der klugheitsethische Ansatz heraus, wonach eine kluge Entscheidung in
Orientierungskrisen situationsspezifisch (dh personenzentriert) und dialogisch
(zB mit hörbehinderten Familien) zu erfolgen hat und allgemeingültige Aussagen nach dem Muster „das Zulassen der Taubstummheit ist grundsätzlich
vertretbar bzw nicht vertretbar“ keine Orientierungshilfe bieten, auch wenn sie
moralphilosophisch noch so solide argumentiert werden.
Eine dritte Form der Desorientierung tritt dort auf, wo sich Menschen „in
den schematisierten Zweck-Mittel-Verhältnissen ‘verlieren’“73, dh eine existenzielle Krise haben. Ein Beispiel, wo dies im klinischen Kontext sichtbar
wird, ist das Burnout von klinisch Tätigen. Solange Ärzte, Pflegekräfte oder
Therapeutinnen noch „funktionieren“, handelt es sich noch nicht zwangsläufig
um eine Desorientierung. „Erst wenn eine Person inmitten ihrer Handlungsvollzüge gleichsam aufwacht und bemerkt, dass sie ihr Leben nur mitmacht,
statt es selbstständig zu führen“74, kann es zu einer existenziellen Krise kommen.
Orientierungswissen ist für alle drei Formen nötig: die Ziel-Mittel-Relation, die Zielfindung und die Sinngebung. Von der Ethik (wie auch von der
Jurisprudenz) wird häufig erwartet, dass sie mit ihren Theorien, Prinzipien,
Regeln und Normen ein solches Orientierungswissen zur Verfügung stellt.
Wenn man Ethik allerdings auf Moralphilosophie einengt, entstehen früher
oder später Probleme bei der Orientierungssuche. In der Tat können moralphilosophisch gut begründete Normen in Überlegungen, welche die Desorientierung überwinden sollen, einfließen. Es ist leichter, sich über die adäquate
Mittelwahl, Zielbestimmung oder Sinnhaftigkeit der eigenen Lebensweise
klar zu werden, wenn man dafür gut begründete Argumente hat. So hat etwa
eine deontologisch solide Konzeption der Achtung vor der Selbstbestimmung
70
71
72
73
74
C. Padden & T. Humphries, Inside Deaf Culture, Cambridge, MA 2005.
Luckner (FN 67) 16.
R. Cooper, Can It Be a Good Thing to Be Deaf?, Journal of Medicine and Philosophy 2007,
563.
Luckner (FN 67) 20.
Luckner (FN 67) 21.
917
Jürgen Wallner
eines Menschen durchaus Überzeugungskraft. Dennoch liefert sie kaum Orientierungshilfen im Umgang mit praktischen Problemen wie zB im Kontext
der interkulturellen Kommunikation mit einem „nicht-westlichen“ Patienten
und seiner Großfamilie. Moralphilosophische Argumente besitzen die Stärke,
Leuchttürme zu errichten. Jedoch wird kein kluger Kapitän versuchen, einem
Leuchtturm möglichst nahe zu kommen, sondern er wird vielmehr einen sicheren Weg zwischen den Leuchttürmen wählen. In diesem Bild kommt eine
wichtige Einsicht zum Vorschein: Moralphilosophen (ebenso wie Rechtswissenschaftlerinnen) versuchen in einem Gutteil ihrer Arbeit, die Extreme sicher
abzustecken, und sie werden gute Argumente liefern können, warum es nicht
gerechtfertigt ist, jenseits dieses Rahmens zu handeln. In der Praxis werden
kluge Mediziner aber versuchen, die abgesteckten normativen Rahmenbedingungen gar nicht auszureizen, um sich beispielsweise gar nicht in die Nähe
einer Einlassungsfahrlässigkeit zu begeben. Wie sie dies anstellen, kann nicht
wiederum vollständig durch Normen determiniert werden, sondern erfordert
gerade in komplexen Kontexten einen Beurteilungs- und Ermessensspielraum,
der verschiedene Zielsetzungen und Mittel zulässt. Die Orientierung auf diesem Handlungsfeld kann einerseits kognitiv vermittelt werden. So ist es beispielsweise möglich, klinisch Tätige über das Wesen von und den Umgang mit
Patientenverfügungen zu informieren, etwa in einer Fortbildungsveranstaltung. Dabei können neben den allgemeinen normativen Rahmenbedingungen
auch administrative Abläufe geklärt werden und Interpretationsmöglichkeiten
von verfassten Patientenverfügungen vermittelt werden. Mit dem so erzeugten Wissen, das Dewey75 und Ryle76 „knowing that“ nannten, ist allerdings
noch nicht gesagt, wie ich nun tatsächlich meinen Umgang mit einer Patientenverfügung, die mir eine Patientin in der Ambulanz zeigt, bestimmen soll
(„knowing how“). Für die Aneignung dieses Knowhows ist „Erstpersonalität“77
notwendig, dh das je eigene Engagement in der Praxis, welches nicht durch
kognitive Lehrsaalmethoden ersetzt werden kann.
Zusammengefasst ergibt sich, dass die Moralphilosophie nur einen Teilbereich der Ethik abdecken kann, ihre Erkenntnisse dort aber eine starke Normativität aufweisen. Ein anderer Teilbereich der Ethik, der die Orientierungsunterstützung im Lebensvollzug betrifft, wird hingegen von Tugendlehren im
Allgemeinen und der Klugheit im Besonderen angesprochen, wobei es sich
hierbei im Vergleich zur Moralphilosophie um eine „schwache Normativität“
handelt, die sich darin äußert, dass etwas ratsam, aber nicht geboten erscheint78.
In welchem Verhältnis stehen nun aber Klugheit (Ratsames) und Moral (Gebotenes)? Luckner gelingt es, in seiner historischen Analyse zu zeigen, dass
der Klugheitsbegriff in der neuzeitlichen Ethik einen Statusverlust und eine
Technisierung erfahren hat, welche mit einer bestimmten Interpretation des für
75
76
77
78
J. Dewey, Human Nature and Conduct: An Introduction to Social Psychology, New York,
NY 1930, 177 f.
G. Ryle, Knowing How and Knowing That, Proceedings of the Aristotelian Society 1946, 1.
Luckner (FN 67) 2; Habermas (FN 44) 111.
A. Luckner, Klugheitsethik, in Düwell, Hübenthal & Werner (FN 5) 206 (206).
918
Der Vorrang des Rechten vor dem Guten: Ja, aber Ethik ist mehr als Moralphilosophie
die klassische Philosophie zentralen Glücksbegriffs zu tun hat. Offenkundig
wird dies, wenn man sich Kants Verhältnis zur Klugheit ansieht. Bekanntlich
unterscheidet Kant hinsichtlich der Bestimmung des praktischen Vernunftgebrauchs zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen79. Während
Erstere bedingte (dh situationsbezogene) Sollensanforderungen formulieren,
handelt es sich bei Letzteren um unbedingte (dh losgelöst von Zielsetzungen
und Kontexten80). Dazwischen gibt es für Kant aber auch „Imperative der
Geschicklichkeit“81, die er den hypothetischen Imperativen zuordnet, obwohl
sie auch gewisse Ähnlichkeiten mit kategorischen Imperativen haben. Hypothetische Imperative gelten, sofern die in ihnen inkludierte Bedingung erfüllt
ist. Bei hypothetisch-technischen Imperativen muss die Bedingung stets dazugesagt werden (wie in einer Gebrauchsanweisung, „wenn … dann“), bei den
Imperativen der Geschicklichkeit („pragmatischen Imperativen“82) wird die
Bedingung stets vorausgesetzt: „Es ist gleichwohl ein Zweck, den man bei
allen vernünftigen Wesen […] als wirklich voraussetzen kann, und also eine
Absicht, die sie nicht bloß haben können, sondern von der man sicher voraussetzen kann, dass sie solche insgesamt nach einer Naturnotwendigkeit haben,
und das ist die Absicht auf Glückseligkeit.“83
Pragmatische und kategorische Imperative haben im Unterschied zu hypothetisch-technischen Imperativen eine Orientierungsfunktion, allerdings in je
eigener Weise: Die kategorischen Imperative stiften indirekt Orientierung, indem sie die normativen Rahmenbedingungen kontextlos begründen und damit
eher eingrenzend wirken. Die pragmatischen Imperative haben eine direkte
Orientierungsfunktion, allerdings nur bedingt für die Situation, für die sie formuliert werden. Hypothetisch-technische Imperative haben keinen handlungsorientierenden Charakter, sondern beschränken sich auf die beste Mittelwahl,
um ein konkretes Ziel zu erreichen. Der Einsatz des jeweiligen Imperativs will
daher wohl überlegt sein: „Wer angesichts der besonderen Situation Orientierungsangebote im Sinne moralischer Regeln eröffnen will, ‘moralisiert’ […];
wer dasselbe mit technischen Regeln versucht, reduziert Orientierungs- auf
Verfügungswissen.“84
Umgelegt auf den Kontext der klinischen Ethik: Angenommen, es handelt
sich um eine ethische Fallbesprechung, die unter dem Titel angekündigt wird,
ob bei Frau X eine Sondenernährung durchgeführt werden soll. Würde jemand
in der Besprechung versuchen, ethische Prinzipien wie zB das Menschenwürdeprinzip oder das Präferenzprinzip direkt einzubringen, so wäre damit keine Orientierungshilfe geboten, sondern moralisiert worden. Natürlich spielen
ethische Prinzipien auch eine Rolle bei der Entscheidungsfindung, aber nicht
direkt und unvermittelt. Daher sieht Höffe „Moralismus“ dort gegeben, „[w]o
79
80
81
82
83
84
Kant (FN 36) 43.
Höffe (FN 56) 264 f.
Kant (FN 36) 44.
Luckner (FN 67) 41.
Kant (FN 36) 44 f.
Luckner (FN 67) 44.
919
Jürgen Wallner
jeder Bezug auf die Wirklichkeit und die Erfahrung fehlt“85. Umgekehrt wäre
es auch unzureichend, für solche Fallbesprechungen ein Protokoll zu erstellen,
welches eine inhaltliche Handlungsanleitung abgeben könnte. Protokolle bzw
ethische Leitlinien sind in erster Linie dazu da, um die handelnden Personen
daran zu erinnern, was sie klugerweise im konkreten Fall bedenken und diskutieren sollten, bevor sie eine Entscheidung treffen. Wer hingegen glaubt, mit
dem Protokoll würde dieser Weg erspart bleiben, der geht irrtümlich davon
aus, dass alles, was für die Entscheidung über die Sondenernährung bei Frau X
notwendig ist, in einer Art Gebrauchsanweisung vorab definiert werden kann
und danach nur noch „abgespult“ werden muss. Nichts ist ferner von der klinischen Realität, sofern es sich nicht um eben rein technische Standard Operating Procedures handelt.
Nun hat Kant ja die pragmatischen Imperative mit der ihnen allgemein
zugrunde liegenden Annahme der „Glückseligkeit“ verknüpft und lehnt sich
damit an die klassische eudämonistische Ethik an. Worin besteht aber die
Glückseligkeit, die allem menschlichen Handeln zugrunde liegt? Diese Frage
ist nicht nur für das Verständnis der Klugheit relevant, sondern wirft insgesamt
ein klareres Licht auf die für die klinische Ethik maßgebliche abendländische
Philosophie. In dieser Frage gelingt es Luckner86 zu zeigen, dass Kant und viele
neuzeitliche Moralphilosophen mit ihm ein ganz bestimmtes Glücksverständnis voraussetzen, welches dazu führt, dass Klugheit zur technischen Raffinesse bzw Rationalität des Eigeninteresses marginalisiert wird und damit ihren
ethischen Stellenwert verliert. Die Glückseligkeit kann zum einen als zu erreichender Zustand verstanden werden (Höffe nennt dies „Sehnsuchtsglück“87).
Das Hauptproblem, das sich dann stellt, ist die kluge, dh geschickte Handlungsweise bzw Mittelwahl, um dieses Ziel – worin auch immer es bestehen
mag – zu erreichen. Klugheit wird damit aber zur „Glückstechnik“88 degradiert: Sie ist letztlich Ausdruck eines hypothetisch-technischen Imperativs
wie eine Gebrauchsanweisung zur Vermittlung von Verfügungswissen. Die
Glückseligkeit kann aber zum anderen als Lebensweise selbst verstanden
werden, sodass alle Handlungen schon immer Teil der besser oder schlechter
vollzogenen Glückseligkeit sind. Glück ist damit nicht direkt durch Klugheit
anzusteuern oder zu erreichen, sondern: „Klug ist der, welcher sich nicht ans
versprochene Glück, sondern ans Tunliche hält.“89 Oder, mit Aristoteles: „Ein
kluger Mann scheint sich also darin zu zeigen, dass er wohl zu überlegen weiß,
was ihm gut und nützlich ist, nicht in einer einzelnen Hinsicht, z.B. in Bezug
auf Gesundheit und Kraft, sondern in Bezug auf das, was das menschliche
Leben gut und glücklich macht.“90
85
86
87
88
89
90
Höffe (FN 56) 37.
Luckner (FN 67) 50 ff.
Höffe (FN 59) 7; Höffe (FN 56) 82.
Luckner (FN 67) 46.
Luckner (FN 67) 56.
Aristoteles (FN 16) 1140a 25.
920
Der Vorrang des Rechten vor dem Guten: Ja, aber Ethik ist mehr als Moralphilosophie
Diese abstrakte Überlegung illustriert Luckner anschaulich mit dem Märchen
von der „Frau Holle“, wo ja Goldmarie deshalb so reich beschenkt wird, „weil
sie sich, ohne Zwang und Absicht auf ihr Glück, an das Tunliche hält“ – indem
sie das sonst verbrennende Brot aus dem Ofen zieht, den reifen Apfelbaum
schüttelt etc – „anders als Pechmarie, die das Glück bzw Gold direkt intendiert
und damit verfehlt.“91 Wenn davon die Rede ist, dass Glückseligkeit durch
tunliches Leben verwirklicht wird, dann hat es vielleicht den Anschein, dass
damit ein unreflektiertes Aufgehen in den Handlungszusammenhängen gemeint ist und man das Bild des glücklich-zufriedenen Naiven vor Augen hat.
Dass dies nicht mit Glückseligkeit gemeint sein kann, hat schon weiter oben
der Fall der existenziellen Desorientierung gezeigt: Das glücklich-zufriedene,
naiv-unreflektierte Aufgehen im eigenen Tun ist letztlich nichts anderes als
das unglückselige Sich-verlieren, wenn es im Moment des reflektierenden Erwachens zur Krise wird. Wer vollkommen im eigenen Tun aufgeht, der verfehlt seine Glückseligkeit, „weil er überhaupt kein Verhältnis zu seinem Leben mehr einnimmt bzw einnehmen kann. […] Ein glücklicher Mensch muss
daher, um einer zu sein, sich selbst als jemand erfahren können, der in seiner
Tätigkeit aufgeht.“92
Ein angemessenes ethisches Verständnis von Glückseligkeit ist somit mit
Reflexivität verbunden93. Durch eine solche Sichtweise lässt sich Glück (im
Sinn des Lebensglücks), Klugheit und praktische Vernunft verbinden. Denn
mit Letzterer ist „ein Verhältnis des Menschen zu sich und seiner natürlichen
sowie sozialen Welt [gemeint], das zugleich ein Selbstverhältnis ist und wegen
seiner Beziehung auf das Handeln praktische Vernunft heißt.“94 Der scheinbar „wie ein großer Riegel vor der tugendethischen Tradition liegende Block
der kantischen Ethik“95 ist also keine zwingende Wegsperre. Klugheit ist ein
ethischer Begriff, wenn sie in ein strebensethisches Konzept eingebettet wird,
welches Glückseligkeit nicht als substantiiertes Ziel, sondern als Lebensvollzug versteht. Damit begleitet die Klugheit auch die Praxis von Gesundheitsversorgung und klinischer Ethik. Medizinethische und medizinrechtliche
Normen können nur indirekt-begrenzend darüber Aufschluss geben, wie diese
klinische Versorgung zu erfolgen hat. Ethik im Krankenhaus zu betreiben geht
bekanntlich einen Schritt weiter, indem sie sich auf den praktischen Kontext
einlässt, und benötigt hierfür als Rüstzeug die Strebens- bzw Klugheitsethik.
Zu diesem Schluss kommt auch Wear96 in seiner Analyse des klinischen Geschehens und des damit verbundenen Ethik-Lernens: Demnach stehe nicht so
sehr die Frage „Was sollen wir tun?“ im Vordergrund der klinischen Beratungen (da es hierzu meist sollensethische Vorgaben gibt), sondern die Frage
91
92
93
94
95
96
Luckner (FN 67) 61.
Luckner (FN 67) 71 f.
Habermas (FN 44) 111.
Höffe (FN 56) 64.
Luckner (FN 67) 36.
S. Wear, Teaching Bioethics at (or Near) the Bedside, Journal of Medicine and Philosophy
2002, 433.
921
Jürgen Wallner
„Wie können wir es am besten bewerkstelligen?“, also eine klugheitsethische
Problemstellung. Die Ethik ist dann nicht mehr bloße Moralphilosophie, aber
wie deutlich wurde, muss (oder vielleicht sogar: darf) sie das auch nicht bleiben. Es spricht also nichts dagegen, die lange Tradition der Klugheitsethik
wieder aufzunehmen, denn sie muss nicht in Opposition zur Moralphilosophie
(Sollensethik) stehen und ist für die ethische Praxis unabdingbar: „Klugheit
ohne Moral ist blind, Moral ohne Klugheit aber ist leer.“97
Die Moralphilosophie errichtet die bildlichen Leuchttürme und Normen
für die Schifffahrt. Wer auf der See aber navigieren möchte, sei es um an ein
bestimmtes Ziel zu gelangen (hypothetisch-technischer Imperativ), sei es um
einfach Freude am Segeln zu haben (pragmatischer Imperativ), der wird klug
seine Maximen auswählen und sie im Navigieren des Bootes umsetzen müssen. Analoges gilt für die Gesundheitsversorgung, die ebenfalls normativen
Rahmenbedingungen unterliegt, welche im Ernstfall nicht auf Klugheitsüberlegungen reduziert werden können. Wohl aber ist Klugheit notwendig, um
Medizin, Pflege und Therapie situations- und personenbezogen zu verwirklichen. Das inkludiert einen klugen Umgang mit Normen, nicht ein Gegeneinander von Sollens- und Strebensethik. Diese beiden ethischen Traditionen
sind daher für die klinische Ethik, etwa bei der Entwicklung von Policies oder
in der ethischen Fallberatung, grundsätzlich gleichermaßen wichtig.
97
Luckner (FN 67) 208.
922
Brigitte Schinkele, René Kuppe, Stefan Schima,
Eva M. Synek, Jürgen Wallner, Wolfgang Wieshaider (Hg.)
Recht
Religion
Kultur
Festschrift für Richard Potz
zum 70. Geburtstag
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ISBN 978-3-7089-1112-0
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