Dietrich Böhler WS 2009/2010 Einführung in die Praktische Philosophie/Ethik: »Wo bist du? Was sollen wir tun? Was heißt Zukunftsverantwortung« 0 Viererlei Erstaunen und zwiefaches Erschrecken als Anfänge des Philosophierens. I Moral und Politik vor der Herausforderung der Zukunftsverantwortung. II Was heißt Zukunftsverantwortung? Und sind wir überhaupt einsehbar zu etwas verpflichtet? Die Aktualität von Hans Jonas und der Diskursethik. III Zukunftsverantwortung und Atomenergie. IV Idee des Diskurses und moralische Urteilsstufen. Systematische und historische Grundlagen der Ethik. V Neuzeitliche Stationen der (Praktischen) Philosophie ─ Descartes, Hobbes und Kant. Oder: Das sich selbst vergewissernde und sich selbstbehauptende Subjekt zwischen instrumenteller Rationalität und praktischer Vernunft. VI Gesinnungs- und Verantwortungsethik: Moral zwischen biblischem Brüderlichkeitsethos und säkularer Erfolgsverantwortung. Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung.........................................................................................................................5 0 Vielerlei Erstaunen und zwiefaches Erschrecken als Anfänge des Philosophierens…………………………………………………….......................6 I Moral und Politik vor der Herausforderung der Zukunftsverantwortung .......... 9 1 Politik in der Komplementarität von Positivismus/Expertokratie und Dezisionismus/Existentialismus .................................................................................. 11 2 Ausweitung des menschlichen Handlungsbereichs und neue, prinzipienbezogene Verantwortungsethik in der technologischen Zivilisation............................................ 15 3 ‚Pragmatische‘ (Atom)Energiepolititik nach Helmut Schmidt ................................... 17 4 Diskursethische, also prinzipienbezogene Vermittlung von Moral und Politik oder liberalistischer Rückgang auf faktische Übereinkünfte?.............................................. 21 II Was heißt Zukunftsverantwortung? Und sind wir überhaupt einsehbar zu etwas verpflichtet?..................................................................................................... 26 1 Zum Problem einer globalen Verantwortungsethik nach Max Weber......................... 32 2 Hans Jonas, Karl-Otto Apel und die Berliner Diskursethik – prinzipienethische Antworten auf die neuartigen Herausforderungen der praktischen Vernunft durch die technologische Zivilisation................................. 37 3 Metaphysische und spekulativ theologische versus reflexiv dialogische Begründung des Prinzips Mitverantwortung. Läßt sich das Zugleich von Freiheit und Verantwortung (Kants „Faktum der reinen Vernunft“) einholen?.............................. 49 4 Absolute Pflicht zum Dasein der Menschheit?............................................................ 64 4.1 Hans Jonas’ orientierende Gedankenexperimente……………………......…. 64 4.2 Unbezweifelbare Pflicht zur Daseinsbewahrung der Menschheit oder: Als Diskurspartner hast du dich zur Vereinbarkeit deiner Thesen / Entscheidungen mit einem unbegrenzten argumentativen Konsensus verpflichtet………...…. 74 5 Was heißt „moralische Verantwortung für die Zukunft“ und was „Diskursethik“?.... 80 6 Verbindlichkeitserweis der Achtung der Menschenwürde im Dialog mit einem Zweifler…………………………………………………………………………….... 99 7 Die Grundnorm Achtung der Menschenwürde im Streit um ‚verbrauchende Embryonenforschung’ und PID....................................................... 119 2 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 [ III Zukunftsverantwortung und Atomenergie ...………………..…………………... 124 1 Mit Jonas gegen Jonas: Gedankenexperiment der Wette versus „pragmatische“ Einstellung zur Atomenergie………………………………………………………… 2 Atomkraft als verantwortungsethische Notwendigkeitsstrategie?................................ 3 Spaemanns metaphysisch wertethisches Verdikt über die Atomenergie diskursiv eingeholt……………………………………………………………………………… 4 Dialogpragmatische Kohärenzprüfung als kurzer Verantwortungsdiskurs. Keine ] Zukunftsverantwortung mit Atomkraft……………………………………..……..... IV Idee des Diskurses und moralische Urteilsstufen. Systematische und historische Grundlagen ……………………………………… 125 1 „Wo bist du?“............................................................................................................. 125 1.1 Sokratische Dialogreflexion. Begründungsweg der Berliner Diskurspragmatik........................................................................................... 130 2 Praktische Vernunft oder: Was heißt und warum brauchen wir (argumentativen) Diskurs?..................................................................................................................... 139 2.1 Diskurs als Befreiung aus dem tragischen Neben- und Gegeneinander von Institutionen. Metakonventionelles Bewußtsein in der „Achsenzeit“ zwischen 800 und 200 v. Chr. .......................................................................................141 2.2 Die unbegrenzte Auswirkungsdimension menschlichen Verhaltens in der hochtechnologischen Zivilisation. Kein Begriff der MenschheitsVerantwortung ohne die Geltungsidee des Diskursuniversums..........................................................................................152 2.3 Diskurs und Vernunft: ideale versus reale Kommunikationsgemeinschaft und Normen der Diskurspartnerrolle...............................................................159 3 Woher wir kommen: Biblisches Dialog- und Moral-Erbe, Erblasten der theoriaTradition..................................................................................................................... 172 4 Diskurs- und Moralstufen........................................................................................... 180 4.1 Lawrence Kohlberg und die Entwicklungslogik der ethischen Urteile.......... 182 4.2 Eine verantwortungsethische Stufe 7 oder: Das Problem der moralischen Strategiebildung angesichts ‚schmutziger’ Handlungsbedingungen und fragwürdiger Zumutbarkeit............................................................................ 292 4.3 Erfüllte Autonomie: ‚Meine’ Verantwortung und Glaubwürdigkeit als Diskurspartner................................................................................................ 204 3 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 4 Vorbemerkung Diese Vorlesung fügt sich in den Rahmenlehrplan des Instituts für Philosophie der Freien Universität Berlin von 2008 ein. Sie dient als „Einführung in die Praktische Philosophie“ für den Studiengang des „neuen Bachelor“, als Kolleg „Politische und Sozialphilosophie“ für den Studiengang des „alten Bachelor“, nicht zuletzt als Basiselement des Studiengangs Vergleichende Ethik und schließlich als Vorlesung für das, noch den Geist der universitas atmende, nun aber – skandalöserweise – auslaufende Magisterstudium. Da die inhaltlichen Vorgaben des Rahmenlehrplans im Wintersemester eher auf eine Grundlegung der Praktischen Philosophie zielen, weil zudem der Dozent eine sogenannte Einführung hier eigentlich für sinnlos hält, alldieweil sich Praktische Philosophie, nicht als wären wir in der Schule, „unterrichten“ läßt, sondern darauf hinauswill, daß wir philosophieren und über die Grundlagen der Ethik nachdenken, wird hier eine diskursive Einleitung in die Praktische Philosophie vorgelegt. Sie lädt ein zum Diskurs mit uns selbst; so nämlich, daß insbesondere Grundlagen der Ethik ausgewiesen werden, indem wir uns darauf besinnen, was wir selber unweigerlich in Anspruch nehmen und implizit anerkennen. Wir selbst? – Ja, wir als Denkende, und das heißt als Partner in einem argumentativen Dialog. Eine zweistündige Vorlesung kann in einem Semester nur exemplarische Arbeit leisten. Zumal dann, wenn der Diskurs auch unmittelbar praktiziert wird. Dazu lade ich alle Interessierten freundlich ein. Ob freilich die Vorlesung und mein zugehöriges Grundlagenseminar mitsamt den notwendigen Texten und Veranschaulichungsmitteln (Arbeitsunterlagen, Schemata etc.) zu Ende geführt werden kann, ist ungewiß. Es hängt davon ab, ob der Geschäftsführende Direktor des Philosophischen Instituts und das Dekanat bzw. der Verwaltungsleiter dem Lehrstuhl Praktische Philosophie/Ethik ab November wenigstens Werkvertragsmittel für die Kompensation der fehlenden Sekretariatshilfe (40 Std. im Monat) einräumen. Dietrich Böhler Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Statt eines Mottos: Über das Erstaunen als viererlei Anfang des Philosophierens und über das Erschrecken als zwiefacher Anfang des Verantwortungsdenkens extemporiert. Was, sagt man, von alters, sei der Anfang der Liebe zur Weisheit oder des Philosophierens? – Das Erstaunen. Diese Antwort, die in der Philosophiegeschichte immer wieder zurückgekommen worden ist, finden wir in Platons Dialog theaitheos, 155 d. Platon läßt dort Sokrates sagen, der Zustand des Erstaunens sei der „eines gar sehr die Weisheit liebenden Mannes […]; ja es gibt keinen andern Anfang der Philosophie als diesen, und wer gesagt hat, Iris sei die Tochter des Thaumas, scheint die Abstammung nicht übel getroffen zu haben.“ Thaumas, eine archaische Urgottheit, deren Name an „wunderbar“ anklingt, hat mit Elektra die regenbogenfarbene Iris gezeugt. Sie bringt auf einem Regenbogen den Menschen göttliche Kunde, so daß man in jeder Hinsicht über sie ins Staunen gerät: Über ihre schimmernde Schönheit ebenso wie über ihre göttliche Botschaft. In der Odyssee wird sie durch den Götterboten Hermes verdrängt. Letztlich ist das Erstaunen bei Platon eingebettet in seine „periagogé“, seine Umdrehung des natürlichen Bewußtseins – weg von der sinnlichen Wahrnehmung und hin zur geistigen Schau der Ideen als Strukturen des Seins und des Seins als ganzem bzw. als göttlich wohlgeordnetem Kosmos. In diesem Rahmen lassen sich, scheint mir, drei Bedeutungsaspekte des Erstaunens unterscheiden, nämlich Erstaunen a) als verwunderte, befremdete Reaktion auf die insistierende Befragung bzw. den kritischen Diskurs (élenchos). Verfährt Sokrates doch schon fast nach dem diskursphilosophischen Motto: ‚Kannst Du Deinen Wissensanspruch, den Anspruch auf Wahrheit Deiner Meinung begrifflich präzisieren und einlösen?’ b) Das Erstaunen als Reaktion auf die Selbstwahrnehmung im Diskurs mit dem Hebammenkünstler Sokrates, dem Maieutiker und Dialektiker mit platonischem Ideenwissen, der einem ein implizites Wissen aus der Seele bzw. dem Geist heraufholt und es in begriffliches Ideenwissen transformiert. c) Erstaunen über das Ideenwissen gipfelt in der Schau der höchsten Idee, der Idee des Guten und Schönen und des Einen als Urgrund des Seins. Das kann schon ausgelöst werden durch Betrachtung des Firmaments als des wohlgeordneten Kosmos, welche Menschen zur Philosophie und durch Nachahmung (mimesis) zur Wohlordnung des eigenen Denkens bringe (Timaios 47 und 28-30). Es folgt eine mündliche Erläuterung des Schemas „Das Erstaunen“ (von II bis IV), sodann des Schemas „Das Erschrecken“. (Forts. S. 6a fehlt noch…) 6 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Das Erstaunen oder: Viererlei Anfang des Philosophierens – von der Betrachtung zur Reflexion. I. Platons periagogé Wendung von der sinnlichen Wahrnehmung zur geistigen Schau der Ideen/des Seins (oder der Dinge an sich) II. Kants ‚kopernikanische‘ Wende von der theoria/spekulativen Schau der Dinge an sich zur „transzendentalen“ Rekonstruktion der Erfahrungs- bzw. Erkenntnisbedingungen des Vernunftsubjekts (I.) Sein Arten und Drehungen der Betrachtung III. Sprachpragmatische Drehung der Betrachtung „um unser eigenes Bedürfnis [nach Intersubjektivität] als Angelpunkt“ (Wittgenstein) oder um unsere Sprachpraxis bzw. Dialogpraxis IV. Reflexiv-sprachpragmatisch/ diskursreflexive Wende: Von der Betrachtung/Analyse/ Rekonstruktion der Sprachpraxis zur aktuellen Reflexion auf mich/dich als demjenigen, der gerade etwas als etwas versteht/geltend macht/tut. (II.) Erkenntnissubjekt (III.) Sprache/Praxis/Diskurs Wende von der Betrachtung zur aktuellen Reflexion (IV.) Ich/Du/Es jetzt in sprachlicher Praxis als argumentativem Dialog 7 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Das Erschrecken: Zwiefacher Anfang des Verantwortungsdenkens I. Erschrecken vor dem technologischen Prometheismus. Die äußere Herausforderung der Vernunft/des Diskurses ergibt sich aus der Einsicht in die Gefährdung der Existenz der Menschheit auf Erden und damit in die Gefährdung der Existenzbedingungen von „Diskurs und Verantwortung“ (Apel, 1988) durch eine ökologische Dauerkrise und eine technologisch/ökonomische Dauergefährdung menschenwürdigen Lebens auf Erden (Jonas, 1979). II. Erschrecken vor der Entethisierung von Vernunft/Wissenschaft als moralfreier Ratio. In diesem Erschrecken spiegelt sich die innere Herausforderung der Vernunft (Apel 1973 u.ö.) durch einen Vernunftbegriff und die Praktizierung einer Rationalität ohne Prinzipienbegründung – mithin ohne einsehbare Verbindlichkeit als universale Verpflichtung zur Menschenwürde, zur Gerechtigkeit und zur Zukunftsverantwortung. 8 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 I Moral und Politik vor der Herausforderung der Zukunftsverantwortung „Moral und Politik“ bezeichnet die Themenstellung der politischen Ethik. Sie ergibt sich aus dem bleibenden Konflikt zwischen der Interessendurchsetzung und Selbstbehauptung eines Staatsvolkes oder einer Interessengruppe und der Anerkennung moralischer Grundsätze, die zu Partnerschaftlichkeit und Konsensbemühung oder zumindest zur Kompromißbereitschaft auffordern. Die beiden Elemente dieses Konflikts sind zwar Pole eines unauflösbaren Spannungsverhältnisses, stehen sich aber weder in der Geschichte noch in der Gegenwart (Zivilisationskrise als Menschheitskrise) wie völlig unvereinbare Extreme gegenüber. Denn die Interessendurchsetzung hängt zumindest langfristig von einer gewissen Verständigung zwischen den einander entgegenstehenden Interessengruppen bzw. Nationen ab – und sei es ein bloßer Interessenkompromiß. Bereits strategisch und zweckrational eingegangene Kompromisse setzen aber, wie alle Übereinkünfte und Verhandlungen, ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen voraus, das letztlich auf der gemeinsamen Anerkennung moralischer Grundsätze beruht.1 Als Grundeinsicht politischer Ethik kann daher gelten, daß Interessendurchsetzung und (einsehbar verbindliche) Moral ein Spannungsverhältnis mit Vermittlungstendenz darstellen. Als in der frühen Neuzeit, vor allem von Niccolò Machiavelli, und im Absolutismus etwa von Jean Bodin, die moralfreie Selbstbehauptung des Staates durch Machtpolitik zum Inbegriff der politischen Rationalität, nämlich der Raison des Staates und seiner Souveränität, wurde, traten zugleich der christliche Humanismus und das Naturrecht der Aufklärung auf den Plan. Durch Entwicklung eines Völkerrechts (Hugo Grotius) und durch den Versuch, den bürgerlichen Friedenszustand auf einen Staatsvertrag bzw. Sozialvertrag aus wohlverstandenem Eigeninteresse zu gründen (Thomas Hobbes), sollten einerseits Fürstenwillkür oder gar rücksichtslose Herrschergewalt, andererseits egoistische Selbstbehauptung der Bürger und Bewaffneten moralisch eingegrenzt werden. Folie zu Seite 9 Unabhängig davon, nämlich zunächst vor dem Hintergrund von Luthers Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben und vom christlichen Handeln im Blick auf die beiden Reiche Gottes, ist vom Luthertum eine Ethik des Kompromisses entwickelt worden. Aufgrund seiner Verantwortung für die reale Welt (z.B. als Politiker) solle der Christ zum Kompromiß zwischen dem absoluten Liebesgebot Jesu (Nächstenliebe, Bergpredigt) und den Möglichkeiten bzw. Bedürfnissen der geschichtlich-gesellschaftlichen Realität im Sinne einer 1 Insofern sind Kompromisse zu messen (und d.h. kritisch zu prüfen) an der Vernunftidee eines strikt argumentativ begründeten Konsensus. 9 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Realpolitik bereit sein. Freilich wurde Luthers ‚dialektische‘ Bestimmung der christlichen Existenz, die auch den weltlich (im „Reich zur Linken“) und gemäß seinem jeweiligen „Stand“ pflichtgemäß handelnden Christen immer in letzter Instanz „vor Gott“ (coram deo) gestellt sieht, mehr oder weniger ignoriert. An die Stelle von Luthers ‚dialektischer Sichtweise‘ trat im orthodoxen Luthertum und im deutsch-national gesonnenen Neuprotestantismus des 19./20. Jahrhunderts ein statisches „Denken in zwei Räumen“ (D. Bonhoeffer), die als getrennt und eigengesetzlich angesehen wurden. Das gibt unser Schema „Erläuterung zu S. 10“ wieder: M. Luther Zwei Reiche Gottes Reich zur Linken: Reich zur Rechten: Obrigkeit herrscht mit Recht und Gewalt, Christus herrscht in Gnade durch Wort und Ordnung nach Ständen in institutioneller Sakrament, Existenz in Gleichheit und Verantwortung. Liebe. Dialektische Existenz des Christen: Coram deo et coram mundo aber auch die weltliche Existenz stets coram deo. Protestantischer Hauptstrom nach Luther: - Undialektisches Denken in zwei getrennten Räumen mit einer - Ethik des Kompromisses zwischen absolutem Liebesgebot und geschichtlichgesellschaftlicher Tunlichkeit bzw. Realpolitik. 10 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 1 Politik in der Komplementarität Dezisionismus/Existentialismus 11.12.2009 von Positivismus/Expertokratie und Wenn im 20. Jahrhundert das Verhältnis von Moral und Politik bestimmt wurde, dann meist in einem eigentümlich verkürzten Sinn sowohl des Moral- wie auch des Politikbegriffs. Denn unter dem Einfluß des deutschen Liberalismus und vor allem Max Webers hat sich der Zeitgeist daran gewöhnt, Moral (Ethik) als in doppeltem Sinne subjektive bzw. private Gesinnungs- und Handlungsorientierung anzusehen, Politik hingegen als in doppeltem Sinne intersubjektive Ausübung von Herrschaft über und von Verantwortung für ein Gemeinwesen. Als intersubjektiv gilt die Politik, (1) insofern ihre mit Gewaltsamkeit verbundene Herrschaftsausübung rechtsstaatlich legal ist und vom jeweiligen Staatsvolk als legitim angesehen wird, und (2) insofern ihre Verantwortungsausübung verfahrensgemäß sowie zweckrational ist und auf „wertfreiem Expertenwissen“ beruht, zudem auch die anfallende, empirisch-theoretische Situationsanalyse geschlagen wird. Erläuterung 1 zu Seite 11 Der letzte Punkt ist für das Politikverständnis in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation charakteristisch: Es unterstellt, daß sich die Intersubjektivität der Politik insbesondere durch die vermeintliche Objektivität von Situationsanalyse und Expertenwissen ergibt, also aufgrund der monologischen Einstellung des Analytikers und objektivierenden Theoretikers. Diese Einstellung macht die Gesellschaft bzw. einen gesellschaftlichen Problem- und Planungsbereich zum Objekt und geht davon aus, daß hinreichendes Wissen über dieses Objekt und zulängliche Planung dieses Objekts möglich ist, ohne daß Analyse und Planung grundsätzlich auf Kommunikation und Verständigung mit diesem „Objekt“ angewiesen wären. Das ist das expertokratische oder technokratische Selbstverständnis der Politik (Expertokratie). In der westlichen Zivilisation ist es durch den Positivismus zur Herrschaft gekommen, wurde in den letzten Jahrzehnten aber scharfer Kritik unterzogen. Erläuterung 2 zu Seite 11 Die angedeutete Verkürzung des Politikverständnisses betrifft den Sinn der Politik als öffentlicher Sache (res publica) im demokratischen Rechtsstaat, und zwar sowohl hinsichtlich der Situationseinschätzung wie auch der Entscheidungsfindung, die beide nicht bloß Angelegenheit von Experten und Politikern sein können und sein dürfen. Vielmehr müssen beide, wenn sie rational und demokratisch-republikanisch sein sollen, Sache des öffentlichen Dialogs sein. Das vorherrschende Verständnis des politischen Entscheidungsprozesses im Sinne einer einsamen verantwortungsethischen Entscheidung (Max Weber) oder im Sinne der 11 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 verwandten Situationsethik Jean-Paul Sartres läßt ein solipsistisch bzw. individualistisch verkürztes Moralverständnis in die Politik einfließen. Dadurch wird in der Politik das wirksam, was Karl-Otto Apel als Arbeitsteilung und als Verhältnis wechselseitiger Ergänzung sowie Ausschließung oder „Komplementarität“ von Positivismus einerseits und Existentialismus bzw. Dezisionismus andererseits beschrieben hat: „Der Existentialismus ist die Philosophie der privaten, rein subjektiv verbindlichen und insofern irrationalen Wertentscheidungen. Der Positivismus (Szientismus) ist die Philosophie der wertfreien Rationalität, die im öffentlichen Lebensbereich durch Sachverständige (‚Experten‘) zur Geltung gebracht wird. Die ebenfalls wertneutrale ‚Verfahrens‘-Rationalität der öffentlichen Praxis ergibt sich dann daraus, daß die wissenschaftliche und technologische Ermittlung von Wenn/dann-Regeln, die Ursachen und Wirkungen bzw. Mittel und Zwecke verknüpfen, im politisch-wirtschaftlichen und politisch-juristischen Denken als Kalkulation der Folgen und Nebenfolgen von Handlungen zur Geltung gebracht wird. Die Philosophie dieser im wertneutralen Sinne ‚praktischen‘ Ergänzung der wissenschaftlichen ExpertenRationalität durch das Bedenken von Folgen und Nebenfolgen ist der amerikanische Pragmatismus.“ Erläuterung zu Seite 12 Bei Weber und in dem, von ihm beeinflußten, „Kritischen Rationalismus“ Karl R. Poppers und seiner Schule werden diese Elemente so zusammengebracht, daß man hier gewissermaßen vom offiziellen Selbstverständnis der liberal verfaßten, wissenschaftlichtechnischen Zivilisation sprechen kann. Der Kern dieses Selbstverständnisses ist die Komplementarität von wissenschaftlich-theoretischer Rationalität plus politischer Verfahrensund Zweck-Rationalität einerseits und privater, irrationaler Zwecksetzung und Wertentscheidung andererseits. Den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Komplementaritätsauffassung von Moral und Politik und ihrer (Weberschen) Zuspitzung zur Komplementarität zwischen persönlicher Gesinnungsethik und politischer Erfolgsverantwortungsethik bilden vor allem Machiavellis Politikbegriff und Luthers Rechtfertigungslehre bzw. Zwei-Reiche-Lehre. Am Vorabend und in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind Machiavelli und Luther, dieser freilich arg mißverstanden, vom deutschen Liberalismus aktualisiert worden – zumal von den Lutheranern Max Weber und Friedrich Naumann. Im Blick auf das Italien der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, zerfallen in rivalisierende Fürstentümer und Stadtstaaten, zu denen auch der rücksichtslos machtpolitische Vatikanstaat gehörte, und im Blick darauf, daß glaubwürdiges Christentum nur noch in individueller Frömmigkeit mit weltabgewandter Liebespraxis existierte, war Machiavelli zu dem Schluß 12 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 gekommen, daß Politik und (christliche Liebes-) Ethik zweierlei sind. Zwischen der strategisch geschickten Selbstbehauptung oder Machtbehauptung eines Gemeinwesens bzw.seines Machthabers und der Nächstenliebe im Umgang mit dem einzelnen Nächsten bestehe ein grundsätzlicher Konflikt. Daher beschreibt und entwirft Machiavelli Politik als wertneutrale Kunst, als Technik des strategischen Handelns der Menschenführung und Staatslenkung, der diplomatischen und militärischen Machtbehauptung. Politik könne sich gar nicht nach moralischen Normen richten, weil sie es vor allem mit politischen Gegnern bzw. egoistischen Menschen zu tun habe und vor allem auf „Notwendigkeiten“, Notlagen und Sachzwänge, reagieren müsse. Unter solchen Bedingungen müsse ein Herrscher alles daransetzen, Erfolg für sein und in seinem Gemeinwesen zu erzielen, zumal für den Machterhalt. Im Blick auf strategisch machtpolitische Handlungsbedingungen wird, seit Machiavelli, als „Staatsraison“, als Rationalität der Staatsführung und später auch als Ratio der Beamtenschaft und generell der Verwaltung das moralfreie erfolgsbezogene Zweck-Mittel-Kalkül angesehen: die „Zweckrationalität“. Das ist der Hintergrund, vor dem Max Weber die Idee einer politischen Verantwortungsethik entwickelt hat, die er der Liebesethik Jesu und die Wahrhaftigkeitsmoral Kants als personale „Gesinnungsethik“ gegenübergestellte. Denn eine solche müsse in der politischen Realität scheitern; gelebt werden könne sie eigentlich nur von Heiligen, die nicht für die Durchsetzung von Interessen anderer und nicht für die Bewahrung eines Gemeinwesens verantwortlich sind. Für das Politikverständnis und die politische Praxis in der Bundesrepublik, und zwar sowohl in der SPD wie auch in der FDP und CDU/CSU, aber ähnlich für die Politik der anderen westlichen Industriegesellschaften sollte es von entscheidender Bedeutung werden, daß nach dem Vorbild Webers und Naumanns die Moral zur Gesinnungs- und Privatsache subjektiviert und die Politik, unter dem Titel der Verantwortungsethik, zu einem eigengesetzlichen Bereich der Zweckrationalität und Sachzwänge erklärt wurde. Scheinbar legitimiert durch die „lutherische Scheidung“ von Politik und Heilsverkündigung, von „äußerer Macht oder Logik, die in den Dingen selber liegt“ und „unserem persönlichsten Ich“ (F. Naumann), konnte sich ein selbstgenügsames Politikverständnis durchsetzen. Die offizielle Politik verstand sich ohne weiteres, ohne selbstkritischen moralischen Diskurs, als verantwortungsethisch und entzog sich moralisch-politischer Kritik, indem sie diese als „gesinnungsethisch“ abqualifizierte. Eine solche Abqualifizierung bedeutet freilich den Ausschluß der Kritiker aus der seriösen politischen Diskussion und ihre Verbannung in ein Ghetto der Schwärmer und Idealisten. Ja, zur Zeit der deutschen Teilung, in der alten Bundesrepublik, hatte das fast automatisch eine 13 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Diffamierung der Kritiker zur Folge: Sie seien trojanische Pferde bzw. geistige Wegbereiter des Kommunismus oder des Terrorismus oder aber Angstneurotiker, deren Warnungen zur Massenpsychose bzw. zur Hysterie verleiten. Nach diesem Muster war schon Konrad Adenauers Verteidigungsminister, Franz Josef Strauß, mit den Gegnern der atomaren Rüstung (1957) und mit den Atomphysikern der Göttinger Achtzehn verfahren, als sie schließlich in die sozialdemokratische und protestantisch theologische Kritik an einer Atombewaffnung der Bundeswehr einstimmten. Nach diesem Muster verfuhren dann die Parteispitzen der CDU, aber alsbald auch Herbert Wehners SPD mit der Ostermarschbewegung der 60er Jahre; analog bekämpfte seit 1967 die CDU – gegen scharfen Widerspruch Gustav Heinemanns und Willy Brandts – die Studentenbewegung. Dementsprechend agierte schließlich die CDU aber auch Kanzler Helmut Schmidt gegen die grün-alternative Bewegung und gegen die Friedensbewegung der 80er Jahre. 14 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 2 11.12.2009 Ausweitung des menschlichen Handlungsbereichs und neue prinzipienbezogene Verantwortungsethik in der technologischen Zivilisation Heute werden von den Kritikern neuartige moralische Forderungen gegenüber dem Staat erhoben. Sie ergeben sich dann, wenn elementare Staatszielbestimmungen (wie Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, Art. 20a GG, und Wahrung des Friedens) wenn die Legitimationsgrundlage des Verfassungsstaates, nämlich die Achtung der Menschenwürde (Art. 1 GG), und die verfassungsrechtliche Verpflichtung auf Menschen- und Bürgerrechte aktuell ernst genommen werden, indem man sie einer Situationsanalyse der globalen technischen Zivilisation und einer Folgenanalyse der Politik gegenüberstellt; z.B. der Innen-, der Wirtschafts- und Energiepolitik, der Bildungs-, Wissenschafts- und Technologiepolitik und nicht zuletzt der Militärpolitik. Denn in der technischen Zivilisation hat sich das Verhältnis von Politik und Moral grundsätzlich gewandelt: Zahlreiche politische Maßnahmen und politisch zu verantwortende technisch-industrielle Projekte bzw. Praktiken, aber auch viele Konsumgewohnheiten haben schädliche Nebenfolgen, die weit über den Lebensbereich der einzelnen Nation und weit über den Zeitraum der Gegenwart hinaus wirken oder sogar eine planetarische Wirkungsdimension erreichen. Beispielsweise bedeutet die Inbetriebnahme eines einzigen Atomkraftwerks durch die sogenannte Entsorgungsnotwendigkeit das Risiko radioaktiver Verseuchung ca. über eine halbe Million Jahre und macht technische Schutzmaßnahmen sowie polizeiliche Sicherheitsvorkehrungen, die die Bürgerfreiheit in Frage stellen, für etwa 7000 Generationen erforderlich. Der Ausweitung des menschlichen Handlungsbereichs, 1973 von Karl-Otto Apel und 1979 von Hans Jonas grundsätzlich bedacht, entspricht eine Ausweitung und qualitative Veränderung des Problemhorizonts der Ethik und insbesondere der Verantwortungsethik. Während Max Webers Postulat einer Verantwortungsethik nur die Solidarität hinsichtlich der Interessen einer Gemeinschaft bzw. eines Staatsvolks unterstellte, so daß sie den Politiker allein für den Erfolg im Sinne dieser Binneninteressen verantwortlich machte, wird heute eine Solidarität der Menschheit und eine Mitverantwortung der Politik für die gesamte Menschheit gefordert. Solidarität hat dabei den im Godesberger Programm der SPD von 1959 entfalteten Doppelsinn (a) einer Verbundenheit der Menschen als Interessensubjekte in einer ökologischökonomisch verflochtenen Welt und (b) einer weltweiten gegenseitigen Verpflichtung, die legitimen Interessen der anderen und zumal der Schwachen beim eigenen politischen Handeln zu beachten. Auf diesen universalen Horizont sind heute signifikante politisch-ethische 15 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Argumente und Forderungen der kritischen Öffentlichkeit bezogen; sie verweisen auf eine globale und zukunftsbezogene Verantwortungsethik. Vor diesem Hintergrund ist die kritische praktische Philosophie ist zu dem Ergebnis gekommen, daß das Verhältnis von Politik und Moral kein unmittelbares sein kann und darf, sondern allein ein mehrstufiges, das über Diskurse, über öffentliche Sinn- bzw. Bedürfnisermittlung, demokratische Mehrheitsentscheidung und deren verfassungsrechtliche Normenkontrolle und schließlich über begleitende moralische Verantwortungsdiskurse vermittelt sein soll. Für die Ethik bedeutet dies, daß sie kommunikative Diskursethik wird. Für die Politik folgt daraus zweierlei: Grundsätzlich gelten politische Überzeugungen und Handlungen nur insoweit als moralisch legitim und wirklich rational, als diese (in praktischen Diskursen) einer Überprüfung im Hinblick auf das Moralprinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit∗ standhalten. Konkret können politische Beschlüsse und Maßnahmen nur dann als moralisch legitim und wirklich rational gelten, wenn sie auf einer bestmöglichen Situationsanalyse (im empirischtheoretischen Diskurs) einschließlich öffentlicher Verständigung mit den Betroffenen über ihre Werte und Interessen (kommunikative Sinnermittlung) beruhen. Daraus ergibt sich der Rahmen einer Vermittlung von Diskursethik und rechtsstaatlich demokratischer Politik: (1) Reflexiver Verbindlichkeitserweis des Moralprinzips durch Besinnung auf den normativen Gehalt des argumentativen Dialogs als desjenigen Anerkennungs- und Verpflichtungsverhältnisses, das logisch unhintergehbar ist, weil jeder, der etwas behauptet bzw. bestreitet oder bezweifelt, schon die Rolle eines Argumentationspartners übernommen hat; (2) Verhältnisbestimmung der Idealität/Kontrafaktizität des Moralprinzips zur teilweise nonmoralischen Realität (Faktizitiät) der natürlichen und gesellschaftlichen Lebenssowie Kommunikationsbedingungen, und zwar mit dem Ziel, in und gegenüber der Realität moralische Strategien auszubilden und dadurch die Entgegensetzung „Gesinnungsethik oder Verantwortungsethik“ aufzuheben; (3) Analyse der gesellschaftlichen und ökologischen Situation (im politisch zu fördernden empirisch-theoretischen Diskurs); (4) diese aber unter Einschluß einer öffentlichen Verständigung mit gegenwärtigen Betroffenen über ihre Bedürfnisse und mit Anwälten möglichen betroffenen Lebens ∗ Etwa in dieser Formel des Diskursgrundsatzes (D): >Handle so, daß die Maxime und die Wirkungen deines Handelns die Zustimmung aller als Argumentationspartner verdienen.< 16 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 einschließlich nichtmenschlicher Lebewesen bzw. Ökosysteme (als politisch zu verwirklichende kommunikative Sinnermittlung); (5) konkrete praktische Diskurse zur Prüfung der moralischen Verantwortbarkeit der jeweils vorgeschlagenen politischen Maßnahme, nämlich im Blick auf das Moralprinzip (als öffentlich durchzuführende universale Beratung unter Beteiligung von Philosophen, Theologen und Anwälten von Lebensbedürfnissen wie Ökologen); (6) politische Entscheidung nach dem Verfahren des Mehrheitsbeschlusses, das jedoch, auch in der Sache, revidierbar bleiben, einer verfassungsrechtlichen Normenkontrolle unterworfen sein und von weitergehenden moralischen Diskursen begleitet werden soll. Aus den Verfahrensschritten (5), (2) und (1) dieses Orientierungsrahmens würde beispielsweise eine Kritik von Helmut Schmidts sorgfältigen und diskurswürdigen „Maximen politischen Handelns“2 und zumal ihrer Anwendung auf die Energiepolitik folgen. Denn sein Plädoyer für eine energiepolitische Risikostreuung durch Einsatz aller Energiearten, einschließlich der Atomenergie, unterstellt einfach eine gleiche moralische Verantwortbarkeit und gleiche moralische Legitimitätsfähigkeit aller Energieformen: „Jeder Energieträger bringt entweder ökologische Risiken oder politische oder wirtschaftliche oder soziale Risiken mit sich oder mehrere davon gleichzeitig. Und für diese Risiken lassen sich keine absolut sicheren Voraussagen machen. Und da das nicht möglich ist, ist es nötig, die Risiken, wenn das geht, zu streuen und das Gesamtrisiko zu minimieren. […] Deshalb einerseits ein starker Nachdruck auf Energieeinsparung; deshalb andererseits Vorrang für die vorhandene bisher genutzte und deshalb in ihrem Risiko bekannte (übrigens in ihrem Risiko häufig unterschätzte) Kohle. Deswegen aber zugleich die Befürwortung der Förderung und der Nutzung neuer Energiearten; auch Förderung eines begrenzten Ausbaus der Kernenergie. […] Risikostreuung! Solche Abwägungen, wie sie unsere Energiepolitik bestimmen, liegen mit Sicherheit im Rahmen, den der kategorische Imperativ zieht.“3 Schmidt schließt hier das Verfahren der (Risiko-)Folgenabwägung nach Wenn-dann-Regeln, dessen Hintergrundphilosophie teils der amerikanische Pragmatismus, teils der Kritische Rationalismus Poppers bildet, direkt an Kants moralische Geltungsprüfung i. S. des kategorischen Imperativs an. Zwar hat er diesen zuvor schon mit Hans Jonas mit Blick auf die Zukunft des Menschen und der Natur erweitert, ja ihn stillschweigend i. S. einer kommunikativen Kant-Transformation á la Apel hochinterpretiert – als die Grundnorm, „in 2 Rede des Bundeskanzlers auf dem Kant-Kongreß der Friedrich-Ebert-Stiftung am 12. März 1981. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Reihe Berichte und Dokumentationen, Band 23, ISSN 0172-7575. 3 A.a.O., S. 14 f. 17 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Übereinstimung zu handeln mit dem, was […] Verständigung ermöglicht“4 – aber wo bleibt diese zugleich kommunikativ diskursive und zukunftsverantwortliche Programmatik, wenn es um die Risikobeurteilung der Atomenergie geht? 4 A.a.O., S. 10 und 9. 18 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 3 11.12.2009 ‚Pragmatische‘ (Atom)Energiepolitik nach Helmut Schmidt In Kapitel III der Vorlesung werden wir zeigen, daß einer Atomenergiepolitik die kommunikative Perspektive der Zukunftsverantwortung fehlt, die sich aus dem Moralprinzip und der (von diesem mitgebotenen) Verantwortung für die natürlichen Lebensbedingungen ergibt: Atomenergie läßt sich daher in keinem praktischen Diskurs rechtfertigen, kann also nicht als „moralisch, d.i. als Grund einer Verbindlichkeit gelten“ (Kant). Helmut Schmidt unterstellt einfach, seine Entscheidung für ein Verfahren der „Risikostreuung“ unter Einbeziehung der Atomenergie liege mit Sicherheit in dem Rahmen, den der, zuvor noch zukunftsverantwortungs- und dialogbezogen vertiefte (!), kategorische Imperativ zieht. Diese Unterstellung und die einhergehende Auszeichnung der eigenen Folgen- und Risikoabwägung als „vernunftgemäß“ samt Verwertung anderer Standpunkte als „unvernünftig“5 erweisen sich als hinfällig, wenn sie anhand des diskursethischen Vernunftmaßstabs und dessen Anwendung auf praktische Fragen geprüft wird. Denn jener Maßstab lautet gemäß Diskursgrundsatz >D<, daß nur solche Argumente als vernünftig gelten, die die Zustimmung aller verdienen und daher auch in einer idealen Argumentationsgemeinschaft konsensfähig wären. Und jene Anwendung besteht in der selbstkritischen Frage eines ernsthaften Diskursteilnehmers: „Würden die gegenwärtigen oder künftig lebenden Betroffenen, wenn ihnen die beschlossene Handlung H und deren Folgen bekannt würden, mit konsensfähigen Gründen dagegen argumentieren können?“ An den Verfahrenschritten (3) und (4) des diskursethischen Orientierungs- und Urteilsrahmens müßte Helmut Schmidts politische Ethik scheitern, insofern ihrer Situationsanalyse die methodisch-solipsistische und theoretisch objektivierende Einstellung des Experten zugrunde liegt, der eine Situation ohne Verständigung mit den zur Situation gehörenden Menschen richtig zu erkennen glaubt, indem er diese einfach als Objekte seiner Analyse traktiert. Die Experteneinstellung verzichtet nicht nur auf Kommunikation, sondern hat eine dialogzerstörerische Tendenz. Macht sie doch diejenigen, mit denen sie kommunizieren sollte, bloß zum Objekt ihrer Kausalerklärungen und unterstellt daher vorweg, über die Motive und Interessen der verobjektivierten Menschen besser Bescheid zu wissen als diese selbst. So nahm Schmidt etwa die Gegner der Kernenergie nicht als 5 A.a.O., S. 15 und 16. 19 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 gleichberechtigte Dialogpartner ernst, sondern disqualifizierte sie als Träger von „Urängsten“ bzw. von „Aggressionen“ gegen den Staat.6 * Ob sich die expertokratische Einstellung und die Energiepolitik des beliebten Altbundeskanzlers – nach zwanzig Jahren fortgesetzten Diskurses – verändert haben, mögen die Leser seiner Bilanz „Ausser Dienst“, München 2008, prüfen. In diesem Buch heißt es auf S. 88 f.: „Noch in den fünfziger Jahren war den meisten Deutschen die Kernkraft als wünschenswert erschienen; einige Jahrzehnte später hat Deutschland als eines von wenigen Ländern aus Angst vor der Kernkraft den >Einstieg in den Ausstieg< beschlossen und hält bis heute daran fest, obgleich die Kernkraftwerke inzwischen aus Gründen der Vernunft, nämlich aus ökologischen und ökonomischen Gründen, in aller Welt gebaut werden. Als in den späten sechziger Jahren in den USA viele Studenten wegen des Vietnam-Kriegs protestierten, setzten deutsche Jugendliche die Protestbewegung fort, weil sie eine >Rückkehr des Faschismus< befürchteten. Als in den siebziger Jahren der >Club of Rome< mit zwei Berichten ziemlich irrational das >Ende des Wachstums< verkündete, fand er nirgendwo mehr geängstigte Anhänger als bei uns Deutschen. In den achtziger Jahren protestierten Hunderttausende Deutsche zweimal gegen den NATO-Doppelbeschluß. Für die Zukunft ist nicht auszuschließen, daß eine andauernde hohe Massenarbeitslosigkeit, welcher der Gesetzgeber mit vernünftigen, jedoch unpopulären Arbeitsmarkt- oder sozialpolitischen Schritten zu begegnen sucht, abermals einen Nährboden für psychotische Reaktionen bieten kann, wie bereits 2003 die Ablehnung von Kanzler Schröders durchaus vernünftiger und notwendiger >Agenda 2010< gezeigt hat.“ 6 A.a.O., S. 39. 20 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 4 11.12.2009 Diskursethische, also prinzipienbezogene Vermittlung von Moral und Politik oder liberalistischer Rückgang auf faktische Übereinkünfte? Der diskurs- bzw. dialogethische Rahmen der Vermittlung von Politik und Moral verwirft die methodisch-solipsistische Tendenz und das theoretisch objektivierende Selbstverständnis des Expertenpolitikers und hebt sie in ein kommunikatives, öffentlichkeitsbezogenes Verständnis der Situationsanalyse und Politik auf. Zudem ersetzt es das monologisch verantwortungsethische Selbstverständnisses des Staatsmannes, der seine Entscheidungen letztlich als die eines ‚Einsamen vor Gott’ versteht und seine Grundwerte wählt, als träfe er eine Glaubensentscheidung durch ein dialogisches Verständnis der politischen Urteilsbildung und Entscheidungsfindung. In welchem Sinne? In jenem dialogbezogenen Rahmen wird die konkrete politische Verantwortung als kommunikativ diskursiver Prozeß verstanden und praktiziert, nämlich anhand des intersubjektiv gültigen Diskursgrundsatzes (D), der zugleich Moralprinzip ist. Bezogen auf politische Realität ist dieses Moralprinzip freilich kontrafaktisch. Daher behält es den Status eines regulativen idealen Prinzips: Es gibt eine permanente Aufgabenstellung an – eine stets in Geltung bleibende Aufgabe, die seitens der Angesprochenen, der Wahlbürger und der gewählten Bürger zumal, eine ebenso permanente Bemühung verlangt. In diesem Sinne läßt es sich als politisch-ethischer Imperativ formulieren: >Bemüht euch um Argumente und solche Entscheidungen, deren Wirkungen zumal in einer idealen Kommunikations- und Argumentationsgemeinschaft konsensfähig wären; und bemüht euch darum, zur Realisierung solcher Verhältnisse beizutragen, die den Anerkennungs- und Dialogstrukturen einer reinen Kommunikationsgemeinschaft, in der unter Gleichberechtigten nichts als das beste Argument gesucht würde, so nahe wie möglich kommen!< In der politischen Praxis muß aber immer mit einer erheblichen Spannung zwischen der kontrafaktischen Vorwegnahme einer rein argumentativen und unbegrenzten, insofern idealen Kommunikationsgemeinschaft und den realen gesellschaftlichen Verhältnissen samt allfälligen amoralischen Verhaltensweisen, nondialogischen Durchsetzungsstrategien und Systemmechanismen gerechnet werden. Alles andere wäre nicht nur „Blauäugigkeit“ sondern Verantwortungslosigkeit. Der zweite Verfahrensschritt des diskursethischen Schemas ist deshalb eine Konkretion des Moralprinzips durch eine moralische Strategie, die den Gesichtspunkt der Verantwortung für den Erfolg unter den ja gegebenen realen Handlungsbedingungen zur Geltung bringt. In nüchterner Einschätzung einerseits der 21 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 teilweise undialogischen oder sogar dialoggefährdenden Handlungsbedingungen der anthropologischen und soziologischen Gegebenheiten, andererseits der lebensweltlichen und kulturgeschichtlichen Entwicklung eines dialogethischen „objektiven Geistes“ (Hegel), in Rechtsstaat und Demokratie wird das regulative Idealprinzip der Diskurs- bzw. Dialogethik hier ergänzt durch das regulative Realprinzip einer diskursbezogenen Moralstrategie: >Tragt Sorge dafür, daß die schon existierenden Bedingungen der Annäherung an Verhältnisse einer idealen Kommunikationsgemeinschaft (so die biologische Existenz der realen menschlichen Kommunikationsgesellschaften und die rechtstaatlichen Institutionen, die grundrechtlichen Normen sowie die ethisch universalistischen Traditionen) bewahrt werden!< Die Aufgabe einer Vermittlung der (nunmehr unverkürzt, nämlich dialogisch und strikt universalistisch begriffenen) Moral mit der (nunmehr unverkürzt als „öffentliche Sache“ verstandenen) Politik läßt sich dann mit Apel als Erarbeitung politisch ethischer Strategien verstehen: Es geht darum, das regulative Idealprinzip mit dem regulativen Realprinzip jeweils so in Vereinbarkeit zu bringen, daß die Bewahrung von (politisch-moralisch unverzichtbaren) realen Lebensbedingungen eine realistisch einschränkende Funktion bei der Befolgung des gewissermaßen idealistischen Moralprinzips übernimmt. Das bedeutet eine Ernüchterung allen utopisch idealistischen Überschwangs. Demzufolge sind nämlich alle Handlungsorientierungen zu revidieren, die sich ihren angestrebten – mehr oder weniger als ideal angesehenen – Gesellschaftszuständen durch Mittel annähern, die unverzichtbare biologische Lebensgrundlagen, soziale und politische Gleichberechtigungsbedingungen oder last but not least dialogförderliche geistige und religiöse Traditionen gefährden. Wenn durch Situationsanalysen in öffentlichen empirischtheoretischen Diskursen sorgfältig gezeigt worden ist, daß eine derartige Gefährdung der Fall oder sie nicht auszuschließen ist, müssen solche Mittel als politisch unmoralisch, weil unverantwortlich, verworfen werden. Dies dürfte heute z.B. zutreffen für politische Handlungsorientierungen wie: - wirtschaftliches Wachstum mit Energieverbrauchssteigerung, - Energiepolitik mit der Option auf Kernkraft u.a.m., welche auf Kosten des Klimas, der Umwelt und zumindest der künftigen Generationen geht; - Sicherheitspolitik mit konventioneller und atomarer Hochrüstung, die auch und gerade zu Lasten der Dritten Welt (Rüstung tötet täglich) sowie auf Kosten aller 22 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Volkswirtschaften geht (Rüstung ist kontraproduktiv) und überdies die Lebensgefahr für die Menschheit permanent steigert. Wenn Gesellschaften bzw. Regierungen von solchen Handlungsorientierungen oder von solchen Mitteln nicht ablassen, stellt sich z.B. die Frage des zivilen Ungehorsams und politischen Streiks als eines möglichen legitimen oder sogar politisch-moralisch gebotenen Schutzes von moralisch hochrelevanten Lebensbedingungen der Menschheit oder Verfassungsgütern eines demokratischen Rechtsstaats. Treten wir nun von unserer Argumentation zurück und konfrontieren sie mit einer Grundüberzeugung des westlichen Komplementaritätssystems. Denn bislang haben wir, zumal in diesem Abschnitt und in Kapitel I.2 eine Voraussetzung gemacht, die sich mit dem liberalistischen Hauptstrom des westlichen Politikverständnisses nicht verträgt. Haben wir doch vorausgesetzt, Politik müsse so auf Moral bezogen werden, daß sie – erstens – mit dem Moralprinzip vereinbar ist und daß sie – zweitens – auf eine solche Vereinbarkeit geradezu angewiesen sei, weil Moral keine bloße Privatsache, sondern eine intersubjektiv einsehbare und politisch tragende Angelegenheit sei. Just diese Voraussetzungen stehen quer zur Mehrheitsmeinung, ja zur tiefen Überzeugung der modernen politischen Denker, die mehr oder weniger zum philosophischen Liberalismus nach Kant zu rechnen sind – von John Stuart Mill über Max Weber und Friedrich Naumann bis zu Karl R. Popper und in gewisser Weise auch John Rawls, um nur einige Klassiker zu nennen. Der philosophische Liberalismus hält nämlich eine allgemeingültige Begründung des Moralprinzips nicht nur für logisch unmöglich, sondern auch für gänzlich unnötig und dogmatismusträchtig. Unnötig, weil sich die Bürger in einem demokratischen Rechtsstaat frei einigen, also Übereinkünfte schließen können, an welche sich die Politik dann als ihren Orientierungsrahmen zu halten habe. Einerseits setzt sich der philosophische Liberalismus für (Meinungs-) Freiheit, Pluralismus und Toleranz als Grundwerte mit einem normativen Gehalt ein, dessen Verbindlichkeit zu unterstellen sei und die von ihm faktisch auch unterstellt wird. Andererseits ist er im Einklang mit dem Historismus bzw. Relativismus und mit dem kritischen Rationalismus der Popperschen Schule davon überzeugt, daß ein Verbindlichkeitserweis von Grundnormen ebensowohl unmöglich wie unnötig sei. Vielmehr stelle das anfangs skizzierte westliche Komplementaritätssystem von subjektiver Moral und intersubjektiver, aber moralfreier Rationalität die Basis einer freiheitlich demokratischen Gesellschaftsordnung dar. Eben die Komplementarität sei die notwendige und hinreichende Bedingung einer freiheitlichen Politik und eines demokratischen Rechtstaats. Zumindest glauben die liberalen Klassiker, wie Apel zusammenfaßt, daß „kein anderes Orientierungssystem ohne Dogmenzwang begründet und 23 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 öffentlich vertreten werden könne. Oft behaupten sie auch, daß die selbst moralisch wertneutralen Methoden der wissenschaftlichen Rationalität – mit deren Hilfe man ja Normensysteme auf ihre Widerspruchsfreiheit und ihre gesellschaftlichen Konsequenzen hin vergleichen kann – hinreichen, um die Gesellschaft wie den Einzelnen zu verantwortlichem Handeln anzuleiten. Diese weit verbreiteten Ansichten lassen sich jedoch m.E. alle als unbegründet und im Gesamteffekt als illusionär erweisen.“ Folie zu Seite 24 Ein schlagendes Gegenargument – schlagend im Sinne einer immanenten Kritik – ist der Einwand gegen die weit verbreitete ‚konventionalistische‘ Annahme ins Feld, „daß alle Normen, die in einem öffentlich gültigen System positiven Rechts vorausgesetzt werden, auf Übereinkünfte zurückgeführt werden können.“ Denn zumindest für die tragende Norm, daß Übereinkünfte einzuhalten seien – „pacta sunt servanda“ lautet dieses römische Rechtsprinzip – treffe das von vornherein nicht zu. Denn diese tragende Norm ist, fährt Apel fort, „eine ethische Norm, die – als normative Bedingung von Übereinkünften – zugleich Rechtsnorm sein muß und gleichwohl in ihrer Gültigkeit nicht auf dem ‚Verfahren‘ der Inkraftsetzung durch Übereinkunft beruht. Dadurch allein ist schon bewiesen, daß auch in einer liberaldemokratischen Gesellschaftsordnung Moral nicht privat sein kann.“ Dem fügt Apel ein zweites Gegenargument hinzu, welches die Binnenmoral von Vertragspartnern bzw. von Beteiligten einer Übereinkunft von der eigentlichen, und zwar universalen Moral unterscheidet, welche alle möglichen Betroffenen in gleicher Weise als Anspruchssubjekte ernstnehmen und berücksichtigen muß. Der liberalistische Rückgang auf faktische Übereinkünfte sei schon deshalb unzureichend, weil er das Legitimationsproblem gegenüber den möglichen Betroffenen, welche nicht am Zustandekommen einer jeweiligen Übereinkunft beteiligt sind, von vornherein außer Acht lasse. So verwies Apel 1981 im „Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik“ auf das moralische Legitimationsproblem „im Hinblick auf die Interessen Dritter, die (wie beispielsweise Gastarbeiter oder Menschen außerhalb des eigenen Staats- und Rechtssystems überhaupt) nicht zu den – direkt oder indirekt – Beteiligten der institutionell geregelten Übereinkünfte, wohl aber zu den Betroffenen gehören. Mit anderen Worten: der Mechanismus der Normenbegründung durch verfahrensmäßige Übereinkunft (z.B. durch Mehrheitsbeschlüsse) ist in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung der Gültigkeit rechtlicher Normen. Er setzt keineswegs nur den tatsächlichen Interessenkompromiß der subjektiven Wertentscheidungen der einzelnen Bürger voraus, der verfahrensmäßig geregelt 24 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 ist, sondern auch eine intersubjektiv gültige Ethik der Konsensbildung aller denkbaren betroffenen Kommunikationspartner.7 Diese Argumentation bündeln und ergänzen wir (um einen 3. Punkt) durch folgende skizzenhafte Erläuterung: Position und Kritik des philosophischen Liberalismus (nach Kant) Grundwerte: (Meinungs-) Freiheit, Pluralismus, Toleranz a) als Prinzipien/Grundnormen postuliert, b) Prinzipien-Begründung (P-B) bzw. Verbindlichkeitserweis als logisch unmöglich disqualifiziert und c) pragmatisch durch Übereinkünfte – Verträge/Konventionen (V/K) substituiert → Kontraktualismus. Prämissen: 1. PB unmöglich und unnötig, 2. alle Normen ableitbar aus V/K. Kritik: 1. P-B logisch möglich durch Reflexion auf mich/dich im argumentativen Diskurs. 2. Normen wie: „pacta sunt servanda!“ und „Menschenwürde unantastbar!“ nicht ableitbar aus V/K. 3. Rückgang auf V/K ist moralisch defizitär: schließt Dritte (an den jeweiligen V/K nicht Beteiligte, aber davon Betroffene) aus → Menschenwürde und Menschenrechte, Völker- und Umweltrecht nicht begründbar → moralische Ohnmacht gegen das Böse als fanatisch Partikulares („unsere K. läßt Menschenrechte nicht zu“). 7 Karl-Otto Apel: „Das westliche Komplementaritätssystem als Herausforderung für die ethische Vernunft“, in: Apel/Böhler/Rebel, Funkkolleg Praktische Philosphie/Ethik: Studientexte, Bd.1, Weinheim/Basel 1984, S. 135 f. 25 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 II 11.12.2009 Was heißt Zukunftsverantwortung? Und sind wir überhaupt einsehbar zu etwas verpflichtet? Als im Jahre 1972 die Industriegesellschaften vom Club of Rome die erste drastische Warnung vor den ökologischen Langzeitgefahren des quantitativen ökonomischen Wachstums und den kumulativen Folgeschäden der (damals teils kapitalistischen, teils staatssozialistischen) technologischen Zivilisation erhielten, fanden sich die Philosophen auf die neuen Verantwortungsprobleme sehr schlecht vorbereitet. An der New School for Social Research in New York und an der Universität des Saarlandes, ab 1972 dann an der Universität Frankfurt, waren jedoch zwei, durchaus komplementäre, Denker bereits dabei, eine Ethik der solidarischen Menschheits- und Zukunftsverantwortung zu entwerfen: Hans Jonas, ein metaphysischer Postaristoteliker, aber mit biblisch jüdischer, z. T. auch kantischer Moralmotivation, und Karl-Otto Apel, ein sprachpragmatischer Postkantianer. Vor dem Hintergrund einer, von Jonas und Apel inspirierten, Skizze der hochtechnologischen Problemsituation stellen sich uns vor allem diese Fragen: - Wie läßt sich moralische Verantwortung in der technologischen Gefahrenzivilisation begreifen – als neuartige Für-Sorge für echtes menschliches Leben oder als SichVerantworten vor der regulativen Instanz einer idealen Kommunikationsgemeinschaft? - Wie ist die Wahrnehmung einer moralischen Verpflichtung unter nonmoralischen Handlungsbedingungen zu denken? Oder: Was sind moralische Strategien? - Läßt sich überhaupt eine moralische Verpflichtung als einsehbar verbindlich erweisen? - Ist Jonas’ erster Imperativ, „daß eine Menschheit sei“, einsehbar verbindlich; oder wäre ein konsensueller Suizid der Menschheit moralisch legitim? - Ist das Urrecht der Menschenwürde, das Recht auf Rechte, verbindlich? Läßt es sich aus dem Diskurs erweisen? - Sind wir verpflichtet, es auch für Embryonen anzuerkennen? Die Beobachtung, daß „die ganz unbeabsichtigten, aber unausweichlichen Nebenwirkungen“ der technologischen industriellen Zivilisation, etwa „die Verschmutzung der Atmosphäre, der Gewässer, des Bodens, die Ausraubung der Biosphäre, der ganzen Lebenswelt durch 26 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Überbeanspruchung, durch Ausrottung von Arten“8 unermeßlich sind, führte Jonas zu der Erkenntnis, daß die Wirkungsmacht des Menschen „nach Maßstäben unserer irdischen Umwelt ... enorm gestiegen ... und ein Zustand erreicht worden ist, in dem beinahe alles möglich scheint“9. Daraus erwachse die Einsicht, daß proportional zu dieser Wirkungsmacht auch die Verantwortung des Menschen größer werde, daß es nunmehr eine Verantwortung für die Umwelt, für die Zukunft und für die Menschenwürde gebe. Aus dieser Einsicht entstand Jonas’ „Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“, das 1979 erschienene „Prinzip Verantwortung“.10 Das Werk soll die allgemeine Ethik dadurch ergänzen und erweitern, daß ihr eine Moral der Zukunftsverantwortung hinzugefügt wird. Diese faßt er in den neuen kategorischen Imperativ: „Handle so, daß die Wirkungen deines Handelns verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“11 Im Kontrast zu Jonas wendet sich Apel dem Problem der Zukunftsethik indirekt, aber insofern radikal zu, als er die Verpflichtung zur Zukunftsverantwortung rational erweisen will. Diese sei nämlich ein integrales Bestandsstück der normativen Präsuppositionen des Diskurses bzw. des Argumentierens überhaupt. Denn die Zukunftsverantwortung betreffe auch die Existenzbedingung des Erkennens und Prüfens universaler Geltungsansprüche. Inwiefern? Vorgreifend läßt sich antworten: Die Permanenz der Menschengattung ist die Bedingung für das Streben nach einem rein argumentativen Konsens, also nach einer zureichenden Einlösung jener logisch universalen Geltungsansprüche, die man für Diskursbeiträge erhebt.12 Aus diesem Grunde stimmen Apel und die Berliner Diskursethiker mit Jonas’ „erstem Imperativ, daß eine Menschheit sei“ nicht allein überein, vielmehr können sie mit diesem reflexiven Argument – das wird Thema des Abschnitts 5 sein – den Grund für die Verbindlichkeit jenes Imperativs geben. Was aber den argumentativen Diskurs, das Prüfen von Geltungsansprüchen, anbelangt, so geht es hier um eine kommunikative Tätigkeit, welche auf wechselseitiger Anerkennung leibhafter Kosubjekte beruht. Daher schließt der Diskurs von vornherein eine moralische Orientierung ein. Kurzum: Vernunft realisiert sich als Diskurs, so nämlich, daß bei allem Etwas-Erkennen-Wollen und Argumentieren moralische Erwartungen und 8 So Jonas in dem Gespräch „Erkenntnis und Verantwortung“, in: Böhler u. Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung. Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans Jonas, Würzburg 2004 (zit.: Böhler/Brune, 2004), S. 451: „Diese Zeitbombe tickt, während wir einfach so leben, wie wir es tun als Mitglieder der westlichen technischen Zivilisation, und woran jeder von uns mitwirkt.“ (S. 450) 9 Ebd., S. 452 f. 10 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt am Main 1979., zit. als PV. 11 Ebd., S.36. 12 Vgl. K.-O. Apel, Die ökologische Krise als Herausforderung für die Diskursethik, in: Ethik für die Zukunft, hg. von D. Böhler, München 1994, bes. S.388f. 27 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Erwartungserwartungen vorausgesetzt sind, und zwar als Verbindlichkeiten. Das gilt für alle Erkenntnisbemühungen bzw. Diskurse – auch dann, wenn es nicht um praktische bzw. ethische Themen, sondern z.B. allein um theoretische bzw. empirische Fragen geht. Aus diesem Grunde kann Apels Transzendentalpragmatik die Einheit der theoretischen mit der praktischen Vernunft, die Verwobenheit von Logik und Kalkül mit Dialog und Ethik rekonstruieren.13 Kommunikationsreflexiv läßt sich Kants (antiaristotelische) Idee einer Einheit der Vernunft einholen, also demonstrieren, daß reine Vernunft „für sich selbst praktisch sein kann und es wirklich ist“14: moralisch motivierend und normierend, und das auf verbindliche Weise. Hans Jonas’ Denkweg und Karl-Otto Apels kommunikationsbezogene „Transformation der Philosophie“, 1973 in zwei Bänden vorgelegt, zumal seine transzendentalpragmatische Rekonstruktion von moralisch gehaltvollen Sinnvoraussetzungen des Denkens als Diskurs und ihr Resultat, die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft in der Metapraxis des Argumentierens, sind in je eigener Weise von einer faszinierenden Geistesgegenwart. So hat die Arbeit an meinem Lehrstuhl und am Berliner Hans Jonas-Zentrum vielfach der Auseinandersetzung mit dem intuitionsbezogenen, metaphysischen Denken von Jonas einerseits und der kommunikationsbezogenen Transzendentalphilosophie Apels andererseits gegolten. Die in Berlin entwickelte sokratische Diskurspragmatik und dialogbezogene Verantwortungsethik transformiert bzw. präzisiert Grundgedanken jener beiden komplementären Ansätze oder führt sie weiter. Für die Situationsanalyse der technologischen Zivilisation ist es an der Zeit, sich klarzumachen, daß charakteristische Begriffe, mit denen Öffentlichkeit, Wissenschaft und Philosophie auf die planetare Selbstgefährdung der Menschheit reagieren, beschönigend und verfälschend sind. So suggeriert die deutsche Diskussion oftmals, daß wir in einer bloßen „ökologischen Krise“ und eben in einer „Risiko“-Gesellschaft leben. Freilich kann die hochtechnologische Zivilisation gerade durch ihre Innovationen mehr zerstören, als sich im Einzelnen prognostizieren und gegenüber künftigen Generationen verantworten läßt. In diesem Betracht ist sie eher eine Gefahrenzivilisation und Zukunftsgefährdungsgesellschaft. Scheint es doch ihr Gesetz zu sein, daß sie permanent kumulative Langzeitwirkungen hervorbringt, welche die Anerkennung des Prinzips Menschenwürde und die Fortdauer 13 Ders., Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in: Ders., Transformationen der Philosophie. Band II. Frankfurt am Main 1973, S.358-436. 14 Kant, KpV, 1787, S.139. 28 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 „echten menschlichen Lebens auf Erden“ in Frage stellen. Denn sie bringt nicht allein kumulative Langzeitwirkungen hervor, die zusammen mit ökologischen und soziokulturellen Lebensgrundlagen auch Freiheits- und Verantwortungsbedingungen künftiger Generationen fortwährend verschlechtern oder gar zerstören; sie trägt darüber hinaus zur Aushöhlung der moralischen Prinzipienorientierung bei. Macht sie doch Forschungs- und MedizinVersprechungen, die individuellen Interessen dienen, während hinderliche moralische Orientierungen als fortschrittsfeindlich, illiberal, ja als inhuman hingestellt werden. Was die Analysebegriffe angeht, so ist etwa der Begriff ›ökologische Krise‹ sinnlos, weil euphemistisch. Daher wurde er in dem von der Forschungsgruppe „Ethik und Wirtschaft im Dialog“ des Hans Jonas-Zentrums edierten Buch Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft einer entsprechenden Sinnkritik unterzogen.15 Schon 1978 hatte Hans Jonas seine Leser für „das metaphysische Ausmaß“ und für die Permanenz der technologischkapitalistischen Gefahrensituation sensibilisiert: sie werde der Menschheit nunmehr wie ein Schatten anhaften – wie der „Schatten drohender Kalamität“.16 In den politisch-ethischen Überlegungen und Diskussionen müssen wir m.E. in der Tat davon ausgehen, daß wir weder in einer „ökologischen Krise“ leben, die wie es eine jede Krise ist, zeitlich begrenzt wäre, noch in einer bloßen „Risikogesellschaft“17, sondern in der kapitalistisch- und technologischdynamischen Gefahrenzivilisation. Deren weitreichende Zerstörungen und Zerstörungspotentiale lassen sich nicht, wie das von dem Begriff ‚Krise‘ nahegelegt wird, von vornherein auf den zeitlichen Nahbereich einschränken. Weshalb? Allein deshalb nicht, weil uns das hochtechnologische Know how, etwa das der Kernspaltung, in aller Zukunft begleiten dürfte; weil nicht allein unsere hochentwickelte Zivilisation, sondern die gleichsam bevölkerungsexplodierte Menschheit zu ihrer Erhaltung 15 Thomas Bausch, Dietrich Böhler, Michael Stitzel u.a. (Hg.), Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft. In memoriam Hans Jonas. EWD-Bd. 3, Münster 2000, bes. S. 58f, 37ff, 168f, 199f (zit.: EWD-3). 16 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a.M. 1979, bes. 1. und 2. Kap. (zit.: PV); Ders., „Technik, Freiheit und Pflicht“, in: Wissenschaft als persönliches Erlebnis, Göttingen (Vandenhoeck und Ruprecht) 1987, S. 45f: „Über eines müssen wir uns [...] im klaren sein: eine Patentlösung für unser Problem, ein Allheilmittel für unsere Krankheit gibt es nicht. Dafür ist das technologische System viel zu komplex, und von einem Aussteigen daraus kann nicht die Rede sein. Selbst mit der einen großen ‚Umkehr‘ und Reform unserer Sitten würde das Grundproblem nicht verschwinden. Denn das technologische Abenteuer selber muß weitergehen; schon die rettenden Berichtigungen erfordern immer neuen Einsatz des technischen und wissenschaftlichen Ingeniums, das seine eigenen neuen Risiken erzeugt. So ist die Aufgabe der Abwendung permanent, und ihre Erfüllung muß immer Stückwerk bleiben und oft nur Flickwerk. Das bedeutet, daß wir wohl in alle Zukunft im Schatten drohender Kalamität leben müssen. Sich des Schattens bewußt sein aber, wie wir es jetzt eben werden, wird zum paradoxen Lichtblick der Hoffnung: er läßt die Stimme der Verantwortung nicht verstummen. Dieses Licht leuchtet nicht wie das der Utopie, aber seine Warnung erhellt unseren Weg – zusammen mit dem Glauben an Freiheit und Vernunft.“ 17 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986. 29 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 auf massenhafte, permanente Anwendung von Hochtechnologien mit erheblichem Potential für Umweltschädigungen geradezu angewiesen ist; weil schließlich die Marktwirtschaft primär an kurzfristigem Gewinn statt an Umweltverantwortung und Zukunftsverantwortung orientiert ist, und weder die Umwelt einen Marktpreis hat noch die Verantwortungsfähigkeit bzw. Moralität der künftigen Menschheit einfach in Marktpreise übersetzt werden oder gleichsam auf den Warenpreis aufgeschlagen werden kann. Die Menschheit wird permanent ihre Umwelt schädigen, überdies dürfte sie – schon dadurch – auch die Verantwortungsmöglichkeiten der künftigen Generationen beeinträchtigen. Deswegen ist es sinnlos und eine falsche Beschwichtigung, die auf den Versuch hinausläuft, unsere langfristigen moralischen Probleme auf die Ebene technischer Problemlösungen oder eines politischen ad hoc-Managements herunterzureden, wenn man von „ökologischer Krise“ spricht oder auch analog von einer bloßen „Verantwortungskrise“. Vielmehr besteht die politisch-moralische Herausforderung darin, daß die Bürger, die Zivilgesellschaften und die Staaten sich auf die neuartige, stets zu erneuernde Verantwortungs-Engagements und Verantwortungs-Institutionen einlassen. Fassen wir unsere Problemskizze und Begriffskritik zusammen: Befinden wir uns – nur – in einer sozio-ökologischen „Krise“? Wie ist die Lage – oder die Verfassung? – der technologischen Zivilisation (t.Z.)? »Krise« (von κρίσις - Entscheidung, Scheidung, Zwiespalt) bezieht sich auf einen entscheidenden Wendepunkt, insbes. auf die (über Leben und Tod entscheidende) kurzfristige Zuspitzung eines Krankheitsverlaufs. Hingegen handelt es sich bei den (im weitesten Sinne) ökologischen Makrogefährdungen, denen hochentwickeltes Leben heute ausgesetzt ist, um Nebenfolgen der technologischen Zivilisation, welche allererst die Existenzgrundlagen einer Weltbevölkerung in Höhe von ca. 6.821.000.000 ermöglicht. Zudem ist die Menschheit selbst zur Eindämmung jener Gefahren wiederum auf Hochtechnologien mit dem Risiko anderer Makro- und Mesogefahren oder Moral- und Freiheitsgefährdungen angewiesen. Kurzum: Die Menschheit sieht sich einer strukturellen Selbstgefährdung gegenüber. 30 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Diese Selbstgefährdung der hochtechnisierten Menschheit hat in der Theorie-Praxis-Gruppe EWD zu den Begriffen „Gefahrenzivilisation“ und „Zukunftsgefährdungsgesellschft“ geführt.18 18 S.o. Anm. 15 und: D. Böhler, „Verstehen und Verantworten“, in: H. Jonas, Fatalismus wäre Todsünde, München 2005, S. 8 f. 31 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 1 11.12.2009 Zum Problem einer globalen Verantwortungsethik nach Max Weber Hans Jonas’ metaphysisch wertethisches Verantwortungsdenken und die transzendentalpragmatisch oder diskurspragmatisch begründete Verantwortungsethik teilen die Auffassung, daß infolge der (hoch-)technologischen Lebensbedingungen, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts herrschen, der Ethik eine ganz neue Stunde geschlagen hat: Alle Menschen seien selbst irgendwie verantwortlich dafür, daß auch künftig menschenwürdiges Dasein möglich ist. Die Diskurs-Verantwortungsethiker schlagen hier die Präzisierung „Mitverantwortlichkeit“ vor. Sie begründen diese Begriffsveränderung negativ und positiv: Negativ damit, daß eine direkte Verantwortungszuschreibung für die einzelnen oft weder angemessen noch konkret durchführbar sei. Die positiven Gründe sind: Erstens zehren heute alle denk- und handlungsfähigen Lebewesen von der technischen Zivilisation; sie ist ihre Lebensbasis geworden. Allein deshalb haben sie (i.S. einer Kausalhandlungsverantwortung) Anteil an der technisch zivilisatorischen Gefahrenverursachung. Zweitens kommt der modernen Kommunikationswelt und zumal im Falle rechtsstaatlicher Bedingungen allen diskursfähigen Menschen – unabhängig von ihren institutionalisierten Verantwortlichkeiten – eine Mitverantwortung als Diskurspartner für die Bewußtmachung und mögliche Bewältigung der Zukunftsprobleme zu. Warum? Wer überhaupt von moralischen Problemen wissen kann und irgendwie zu ihrer Verringerung beitragen kann, der weiß als Diskurspartner, daß er eine Mitverantwortung für das Problembewußtsein ebensowenig zurückweisen kann wie für die Verringerung und letztlich für die Bewältigung der Probleme.19 Diese neuartige kognitive und moralische Situation läßt sich in folgender Überschau zusammenfassen: Wer ist und wenn, inwiefern, für den globalen sozio-ökologischen Gefahrenzustand oder für das Faktum der Gefahrenzivilisation »verantwortlich«? »Mitverantwortung« statt »Verantwortung«!20 1. Vielfach sind schon für lokale ökologische Katastrophen, erst recht für die Globalgefährdung(en), nicht einzelne i.S. einer direkten Verursachung verantwortlich zu machen. 19 Vgl. K.-O. Apel u. H. Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik, Würzburg 2001 (zit.: Prinzip M.V.). 20 Vgl. Beiträge von Apel und Böhler in: K.-O. Apel u. H. Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung, Würzburg 2001. 32 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 2. 11.12.2009 Hingegen kann in zweifacher Hinsicht sinnvoll von Mitverantwortlichkeit gesprochen werden: a) kausale kollektive Mitverantwortung - besteht (in mehr oder minder relevantem Ausmaß) für alle denk- und handlungsfähigen Lebewesen, die von der technologischen Zivilisation als der kollektiven Lebensbasis (seit der Moderne) zehren; b) diskursive individuelle Mitverantwortung - besteht für alle diese als mögliche Diskursteilnehmer, weil sie – erstens – im Begleitdiskurs zu ihrem Verhalten dieses kritisch orientieren und – zweitens – an der öffentlichen Meinungsbildung und moralischen Orientierung sich beteiligen können. Jonas und die Diskursethiker sehen die Philosophie vor der Aufgabe, diese – verglichen mit aller traditionellen Ethik – ungeheure Mitverantwortung zu denken, also das neue Problem aus dem ihm anhaftenden Ungefähr, jenem „Irgendwie“, zu befreien, indem wir es begreifen. Zunächst ist nämlich die Philosophie zu der Begründungsaufgabe herausgefordert, die Verbindlichkeit einer noch nie dagewesenen kollektiven Verantwortung zu erweisen; zum anderen steht sie vor zweierlei Anwendungsaufgaben, nämlich sowohl die Konkretion des Moralprinzips zu moralischen Situationsmaximen bzw. Normen, die eigentlich gelten sollten, neu zu denken als auch erfolgsfähige Strategien bzw. Konterstrategien für deren Realisierung und Durchsetzung in einer Gesellschaft, etwa gegen amoralische Interessen, gegen eigensinnige Funktionssysteme oder auch gegen widerständige Traditionen und Orientierungssysteme zu entwickeln. Um sie dann auf ihre Moralverträglichkeit hin zu prüfen. Kant hatte jene Konkretionsaufgabe nochmals vorkommunikativ, nämlich in Beschränkung auf eine vom einsamen Subjekt zu leistende gedankenexperimentelle Anwendung des kategorischen Imperativs zu lösen versucht. Ohne an dessen methodologischem, nämlich transzendentalen Solipsismus Anstoß zu nehmen, hat Max Weber Kants idealisierende, gleichsam innermoralische Orientierung als unzureichend kritisiert: als Leistung einer Gesinnungsethik, die blind sei für die unverantwortlichen Folgen, die ein unmittelbar moralgetreues Verhalten inmitten der „ethischen Irrationalität der Welt“ haben könne.21 In der Tat sieht sich der realistische Ethiker und der ernsthaft Verantwortliche Gesinnungskonflikten ausgesetzt, da die reale Welt Dilemmata bereithält, die in der Perspektive einer reinen 21 Max Weber, „Politik als Beruf“, in: Gesammelte Politische Schriften, hg. v. J. Winckelmann, Tübingen 31971, S. 553, vgl. 550ff. 33 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 Gesinnung unlösbar 11.12.2009 erscheinen mögen. Sind „schmutzige Hände“ (Sartre) und „Schuldübernahme“ (Bonhoeffer), zumindest aber die Bereitschaft dazu, unausweichlich? Karl-Otto Apel hat Webers Anstoß als eigenständiges, konkret geschichtsbezogenes Begründungsproblem ‚B‘ der Ethik pointiert. Im Jonas-Zentrum wird es sowohl kontrovers diskutiert22 als auch wirtschaftsethisch präzisiert.23 Meines Erachtens geht es um zwei Arten von geschichts- und situationsbezogenen Realisierungsfragen. Einmal um die moralstrategische Durchsetzungsfrage, welche Widerständigkeiten gegen eine moralische (das Moralprinzip konkretisierende) Situationsnorm durch welche Strategien überwunden werden sollten, und andererseits um die moralkonservative, gleichsam wertkonservative Frage, welche ethischen Traditionen und Institutionen dem Moralprinzip entsprechen, so daß sie bewahrt bzw. entwickelt werden sollten. Die idealisierend prinzipienbezogene, gleichsam intrinsisch moralische Konkretionsaufgabe besteht darin, vom abstrakt Prinzipiellen zu situationsbezogenen Maximen, gewissermaßen zu regulativen Sollensperspektiven für das Handeln in einer gegebenen Situation zu kommen. Dabei geht es zuallererst um einen begrifflichen und methodischen Rahmen für die moralische Konkretion der neuen Zukunfts-Verantwortlichkeit, welcher alsdann interdisziplinär auszufüllen wäre. Noch auf der Begründungsebene A können wir die reflexive Letztbegründung des Moralprinzips als ersten Zug der Diskursethik (A 1) von einem zweiten Zug (A 2), nämlich der diskursvermittelten Anwendung des Moralprinzip zur Normenrechtfertigung unterscheiden.24 Und wenn Habermas von ‚praktischen Diskursen‘ sprach, hatte er, bei kritischem bzw. realistischem Lichte besehen, an nichts anderes gedacht; denn er hat dabei stets die kontrafaktische Unterstellung gemacht, alle würden sich als Teilnehmer eines moralischen Diskurses verhalten – auf argumentativen Konsens gerichtet und mit dem guten Willen, die diskursiv gerechtfertigten Situationsnormen stets zu beachten. Daher konnte er durchgängig auf „allgemeine (sic!) Normenbefolgung“25 und reine 22 Vgl. einerseits Böhler, „Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung“ in: EWD-3, bes. S. 63ff, 199ff und K.-O. Apel, „Diskursethik als Ethik der Mitverantwortung vor den Sachzwängen“ in: Prinzip M.V., bes. S. 74ff. Andererseits M. Werner, Diskursethik als Maximenethik, Würzburg 2003, bes. S. 199ff, 237ff. 23 So von Th. Bausch: „Unternehmerische Verantwortung im Lichte universalistischer Prinzipienethik“, in: Steinmann u. Scherer (Hg.), Zwischen Universalismus und Relativismus. Philosophische Grundlagenprobleme des interkulturellen Managements, Frankfurt am Main 1998, S. 322-347. Ferner Th. Rusche, Aspekte einer dialogbezogenen Unternehmensethik. EWD-Bd. 4, Münster 2002 (zit.: EWD-4), S. 58ff und Teil III. 24 Vgl. D. Böhler, „Diskursethik und Menschenwürdegrundsatz zwischen Idealisierung und Erfolgsverantwortung“, in: K.-O. Apel, M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, Frankfurt am Main, 21993, S. 201-231; ders., „Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung. Teil I“, in: Böhler/Brune, 2004, S. 135 ff. 25 J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main 1983, S. 53-126, bes. S. 103. 34 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Verständigungsorientierung abstellen, ohne daß er diese normativen Gehalte des Diskursgrundsatzes ‚D’ für die reale Handlungsorientierung verantwortungsethisch, nämlich moralstrategisch differenziert hätte. Hingegen hat Apel eine solche situationsrealistische Differenzierung mit seinem, allerdings unglücklich so genannten, „Ergänzungsprinzip“ der moralischen Grundnorm gemäß eines moralstrategischen „Teils B der Diskursethik“ von vornherein ins Auge gefaßt.26 Ist das erforderlich und angemessen? Ja. Denn als universalistisches Moralprinzip verlangt ‚D‘, daß man auch diejenigen Situationen berücksichtigt und jene Sachzwänge prüft, die einer ausnahmslosen, allgemeinen Befolgung moralischer Normen entgegenstehen. Diesen Übergang vom idealisierten praktischen Diskurs zur erfolgsverantwortungsethischen Fragestellung hat Horst Gronke diskursarchitektonisch geklärt.27 Im Sinne einer „Verantwortung für den Erfolg des Moralischen“ (Böhler), d.h. für den Gehalt des Moralprinzips, geht es um die konterstrategische Durchsetzung der moralischen Gehalte gegen die Widerstände einer teilweise amoralischen Systemwelt und einer teilweise „ethisch irrationalen“ Handlungswelt. Denn in der realen Lebenswelt müssen wir damit rechnen, daß moralische und bereits rechtliche Normen nicht allgemein befolgt, sondern z.T. egoistisch bzw. partikular interessiert unterlaufen oder auch aus Verantwortungs- bzw. Fürsorgegründen (z.B. angesichts einer Notlage) dispensiert bzw. uminterpretiert werden. In der gesellschaftlichen Systemwelt kommt hinzu, daß sie neutralisiert oder gar konterkariert werden können durch die Eigensinnigkeit, den Selbstbehauptungscharakter und die ‚Sachzwang-Macht‘ der gesellschaftlichen Systeme (wie Recht, Politik, Wirtschaft). Zudem kanalisieren und modifizieren Institutionen die normativen Gehalte vielfach durch ihre Routinen und Mechanismen. Daraus ergeben sich zumindest zwei moralphilosophische Realisierungsaufgaben, die bei Jonas zwar anklingen, aber von ihm weder eingeführt und differenziert noch aus dem Moralprinzip abgeleitet werden. Es ist dies einmal die Prüfung, welche ethischen Institutionen und Traditionen dem Moralprinzip gerecht werden, so daß sie bewahrt und entfaltet werden sollten. Das wäre ein Diskursschritt B 1. Außerdem stellt sich nun die heikle Aufgabe, in theoretischen Diskursen, und zwar mit zweckrational strategischer Einstellung – die Tradition spricht hier verunklarend von „Klugheit“ –, Durchsetzungsstrategien zu suchen, die zunächst 26 K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung, Frankfurt am Main 1988, S. 256 ff, 270 ff. u.ö.; ders., Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt am Main 1998 (zit.: Auseinandersetzungen), Sachregister: „Diskursethik – Begründungsteil A und B“; ders., „Diskursethik und die systemischen Sachzwänge der Politik, des Rechts und der Marktwirtschaft“, in: M. Niquet, F. J. Herrero, M. Hanke (Hg.), Diskursethik. Grundlegungen und Anwendungen. Würzburg 2001, S. 181-204. 27 H. Gronke, Apel versus Habermas: Zur Architektonik des Diskursethik, in: A. Dorschel, M. Kettner u.a. (Hg.), Transzendentalpragmatik, Frankfurt am Main 1999, S. 273ff, bes. S. 232ff. 35 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 einmal erfolgsfähig sein müssen. Das wäre eine zweckrational strategische Diskursstufe B 2. Dann steht die moralische Legitimationsaufgabe an, in praktischen Diskursen zu prüfen, welche der entwickelten Strategien, die wir als erfolgsfähig einschätzen, derart mit dem Moralprinzip vereinbar sind, daß sie als (für die Beteiligten) zumutbar gelten können und gegenüber den Betroffenen verantwortbar sind. Das wäre die eigentliche moralstrategische Diskursstufe B 3, die spezifisch verantwortungsethische Erörterung. Erforderlich ist dazu ein Moralprinzip mit Kriterien für die rationale Abwägung jener Folgelasten, welche eine moralische Konterstrategie für die durchaus verschiedenartigen „Betroffenheitslagen“, die „komplexen Entwicklungspfade“ der Gesellschaften (M. Werner)28 und für die schutzwürdigen Moral-, Freiheits- und Kulturgüter einer Gesellschaft nach sich ziehen kann. Daher wäre eine bloß vermeidungsethische Fassung des Moralprinzips, welche geböte, die Vernichtung der Menschheit zu vermeiden, unzureichend. Es bedarf, wie Apel und Werner gegen Jonas ins Feld geführt haben, mehr als eines puren Bewahrungsprinzips und mehr als einer Ergänzungsethik. Doch bietet Jonas dazu nicht Ansätze? Leistet er nicht für die Herausarbeitung der normativen Gehalte des Moralprinzips einen wichtigen Beitrag durch seinen phänomenologischen Umgang mit ethischen Intuitionen? Können und müßten hier nicht beide ‚Seiten‘ voneinander lernen? Freilich betrifft Jonas’ Beitrag eher die Konkretionsaufgabe (in transzendentalpragmatischer Architektonik die Ebene A 2) als die Entwicklung und Prüfung moralischer Strategien (also die Ebene B). 28 M. Werner, Erfaßt das ‚Prinzip Verantwortung‘ die Probleme moderner Technologie?, in: W. E. Müller (Hg.), Hans Jonas. Von der Gnosisforschung zur Verantwortungsethik, Stuttgart 2003, S. 227ff, hier S. 233f (zit.: Werner 2003b). Ders., Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung, in: M. Düwell/K. Steigleder (Hg.), Bioethik. Eine Einführung, Frankfurt am Main 2004, S. 41ff, hier S. 43f (zit.: Werner 2003a). 36 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 2 11.12.2009 Hans Jonas, Karl-Otto Apel und die Berliner Diskursethik – prinzipienethische Antworten auf die neuartigen Herausforderungen der praktischen Vernunft durch die technologische Zivilisation. Das, worauf Jonas’ „Prinzip Verantwortung“ reagiert, ist neben der Erosion der Idee der Menschenwürde bzw. der Gottesebenbildlichkeit des Menschen zumal die äußere Herausforderung der praktischen Vernunft, die mit den, von der technologischkapitalistischen Zivilisation verursachten, Gefährdungen von Menschheit und Natur gegeben sind. Die transzendentalpragmatischen bzw. dialogpragmatischen Diskursethiker teilen seine Gefahrenanalyse im wesentlichen, wenngleich sie das Erfordernis einer – möglichst durch öffentliche Verständigung mit den Beteiligten und je unterschiedlich Betroffenen zu ermittelnden und daher wahrheitsfähigen – Interpretation der Bedürfnisse und Betroffenheitslagen betonen, während Jonas allgemein von der neuen Bedrohung der Menschheit ausgeht und diese generelle Bedrohungslage eher in theoretischer Einstellung analysiert. Außerdem heben sie hervor, daß mit den äußeren Herausforderungen eine innere verbunden sei, welche auch zur Relativierung der Menschenwürde führt: eine „Selbstparalyse der Vernunft“ (Apel) infolge der vorherrschenden Gleichsetzung von Vernunft mit theoretisch analytischer und zweckrational kalkulierender Rationalität. Daraus ergeben sich bei Jonas und den Transzendentalpragmatikern unterschiedliche Ansätze. Jonas’ Analyse der äußeren Herausforderung der praktischen Vernunft führt ihn zunächst zu drei Erweiterungen des Problemhorizonts der Ethik, die sich gut mit den Begriffen der drei Auswirkungsdimensionen menschlichen Verhaltens in der technologischen Zivilisation erläutern lassen, die Karl-Otto Apel 1973 eingeführt hatte.29 Die Dimension der ethischen Probleme sei in der Tradition räumlich und zeitlich eingeschränkt gewesen, auf das Verhalten zwischen Personen, also auf eine soziale MikroDimension, und dann, politisch-ethisch, auf das Verhältnis zwischen Staaten und Völkern, in der politischen Meso-Dimension. Nun führe aber, so Jonas, die technische Praxis neuartige Faktoren in die „moralische Gleichung“ ein, nämlich einmal die hochtechnologische „Unumkehrbarkeit im Verein mit ihrer zusammengefaßten Größenordnung“. Die ganz neue, zumal ökologische Makro-Dimension ergibt sich daraus, daß die Wirkungen des 29 Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie II, Frankfurt a.M. 1973 (zit.: Transformation II), S. 359-361. Ders., „Die Situation des Menschen als Herausforderung an die praktische Vernunft“, in: ders., Böhler, Kadelbach (Hg.), Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge, Bd. 1, Frankfurt/M. 1984, hier: S. 49 ff. 37 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 hochtechnologisch vermittelten Kollektiv- und Systemverhaltens zunehmend weder räumlich noch zeitlich eingrenzbar sind. Im Rückgriff auf das „Funkkolleg Praktische Philosophie / Ethik“ (Erstausgabe 1980/81) lassen sich diese drei Dimensionen folgendermaßen erläutern: Mikro-, Meso-, Makro- und Tiefendimension des zu Verantwortenden Ethische Probleme treten gegenwärtig in drei verschiedenen Auswirkungsbereichen menschlicher Handlungen auf: in einem Nah- oder Mikrobereich der unmittelbaren Interaktion zwischen Menschen im sog. Privatleben, in einem Mittel- oder Mesobereich der Interaktion politischer Handlungssubjekte, welche Gruppen- oder Nationalinteressen vertreten, und schließlich in einem Groß- oder Makrobereich solidarischer Verantwortung der Menschheit für das Lebensinteresse der menschlichen Gattung, bezogen auf die Gegenwart und auf die kommenden Generationen. Darüber hinaus zeigt sich weltgeschichtlich erstmals, daß ethisch bedeutsame Entscheidungsund Regelungsprobleme des Mikro- und Mesobereichs heutzutage die Tendenz haben, zu solchen des Makrobereichs zu werden: Z.B. wird das scheinbar private Intimsphären-Problem der Geburtenregelung zu einer Streitfrage internationaler Konferenzen über die Gefahren einer Überbevölkerung der Erde. Und die klassischen Probleme der politischen Staatsräson – so etwa die der Diplomatie und ihrer militärischen Fortsetzung nehmen im Atomzeitalter auf den Abrüstungskonferenzen der Weltmächte eine neue Dimension an, die schon deshalb nicht nur machtstrategisch, sondern auch moralisch relevant ist, weil das Überleben der Menschheit davon abhängen kann. Was Jonas nun besonders betont, ist die losgelassene Dynamik der Auswirkungen technologischer Projekte und technologisch vermittelter Alltagshandlungen Beiden spricht er einen „kumulativen Charakter“ zu: „Gewisse Wirkungen addieren sich, so daß die Lage für späteres Handeln und Sein nicht mehr dieselbe ist wie für den anfänglich Handelnden, sondern zunehmend davon verschieden und immer mehr ein Ergebnis dessen, was schon 38 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 getan ward.“ Demgegenüber habe „alle herkömmliche Ethik [...] nur mit nicht-kumulativem Verhalten“ gerechnet.30 Naiv erscheint Jonas auch der Erkenntnisbezug des traditionellen ethischen Urteils. Sowohl die aristotelisch-thomasische Tradition einer Ethik des guten Lebens, gewissermaßen einer Wert- oder Glücksethik, als auch die normative Ethik bzw. Ethik des Sollens und der moralischen Pflicht seit Kant gingen ganz selbstverständlich von derselben ErkenntnisVoraussetzung aus: Da die sittlichen Probleme aus dem ‚mir‘ jeweils vertrauten „Nahkreis des Handelns“ entspringen, kann ‚ich’ auch jeweils aufgrund ‚meines‘ alltagsweltlichen Erfahrungswissens und kraft ‚unseres‘ common sense erkennen, was moralisch richtig oder praktisch gut ist.31 Demgegenüber pointiert Jonas, daß die kumulative technologische Veränderung der Welt „lauter präzedenzlose Situationen“ schaffe, für die „die Lehren der Erfahrung ohnmächtig“ seien, woraus er die Konsequenz zieht: „Unter solchen Umständen wird Wissen zu einer vordringlichen Pflicht [...], und das Wissen muß dem kausalen Ausmaß unseres Handelns größengleich sein.“32 Wir sehen uns also dem neuen moralischen Erfordernis gegenüber, uns bestmögliches Folgenwissen zu beschaffen. Nicht zuletzt diese Einsicht ist es auch, welche einen grundlegenden Aspekt der Diskursethik hervorgebracht hat, nämlich das Postulat, eine Ethik müsse heute mit empirisch-theoretischen Diskursen über die jeweilige Situation verbunden werden, um das zur moralischen Urteilsbildung erforderliche weitreichende, beispielsweise ökologische, Situations- sowie Folgenwissen zu gewinnen. Freilich blieben die konkreten praktischen situationsbezogenen Diskurse über die Frage, was wir in einer bestimmten Situation tun sollen, gerade wegen ihrer Abhängigkeit von der empirisch theoretischen Wissensbildung grundsätzlich fallibel, so daß ihre Irrtumsfähigkeit zu berücksichtigen, mithin die Revisionsfähigkeit der praktischen Urteile und Maßnahmen, die daraufhin getroffen werden, zu gewährleisten sei. Eine ähnliche Statusüberlegung findet sich bei Jonas. Stellt er doch eine höchst ernüchternde Reflexion jener Einsicht an, deren wissenschaftstheoretischer Gehalt – von beiden Seiten unbemerkt – mit einer Grenzerkenntnis Karl R. Poppers übereinkommt33: das Folgenwissen in nicht-geschlossenen Systemen, also etwa für die geschichtliche Welt und die Biosphäre der 30 Jonas, PV., S. 27. Jonas, PV., S. 23 ff. 32 Jonas, PV., S. 28. 33 Vgl. Karl R. Popper, „Naturgesetz und theoretische Systeme“, in: H. Albert (Hg.), Theorie und Realität, Tübingen 1964. Auch in Topitsch (Hg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln 41967. 31 39 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Erde, könne nie das der (exakten) bedingten Prognose sein. Folglich bleibe es stets unzulänglich. Jonas pointiert nun, daß sich aus der Nichtprognostizierbarkeit der ökosozialen Technologiefolgen ein scheinbar paradoxes Ausgangsproblem der Verantwortungsethik als einer Wissens-Ethik ergibt: „Daß das vorhersagende Wissen hinter dem technischen Wissen, das unserem Handeln die Macht gibt, zurückbleibt, nimmt selbst ethische Bedeutung an. Die Kluft zwischen Kraft des Vorherwissens und Macht des Tuns erzeugt ein neues ethisches Problem. Anerkennung der Unwissenheit wird dann die Kehrseite der Pflicht des Wissens und damit ein Teil der Ethik“34. Wenn wir diese Überlegungen im Vorfeld einer Zukunftsethik – allerdings auf spätere Begründungsargumente im Kap. II.3, III.4 und IV.5 vorgreifend – zuschärfen und pointieren, gelangen wir zu folgendem Ergebnis: Unsere paradoxe (Selbst-)Verpflichtung im Vorfeld der Zukunftsverantwortung: A: Bemühung um Vernetzungs- und Global-Erkenntnis als Pflicht – B: Fallibilitätsbewußtsein und globales Vorsichts- sowie Rücksichtsverhalten als Pflicht. A Einerseits ergibt sich daraus, daß wir (logisch unhintergehbar) mit Anspruch auf Wahrheitsfähigkeit handeln und über Handlungsweisen urteilen, und daraus, daß die Wirkungen unseres Verhaltens uns nicht mehr unmittelbar (durch Sehen und Hören) oder aufgrund des Erfahrungsschatzes des überlieferten common sense zugänglich sind, die Verpflichtung, sich um eine Erkenntnis unserer Handlungsnebenfolgen eigens zu bemühen. → »Beteiligt euch an den empirisch-theoretischen Diskursen! Beschafft euch so viel Folgenwissen wie möglich!« B Andererseits reicht das Folgenwissen in der offenen geschichtlichen Welt und in der selbstlebendigen Bio- und Ökosphäre nie zu. Zudem bleibt es sehr fehleranfällig; geschweige, daß sich aus ihm exakte bedingte Prognosen ableiten ließen, die wir in verläßliche Wenn-dann-Handlungsregeln gießen könnten. Ergo: »Laßt euch nur auf revisionsfähige Maßnahmen, Techniken etc. ein, die mit der Vorsorge, Vorsicht und Rücksicht gegenüber den möglichen Betroffenen – auch und gerade den zukünftigen Betroffenen – vereinbar sind, welche ihr nicht allein durch euren 34 Jonas, PV., S. 28. 40 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Richtigkeitsanspruch impliziert, sondern schon mit eurer Grundrolle als glaubwürdige Diskurspartner in Anspruch genommen habt!« Das, was die Transzendentalpragmatiker darüber hinaus ins Spiel bringen, ist eine diskursund wissenschaftspragmatische Einsicht von dialogethischer Tragweite: Bereits das Kernstück der naturwissenschaftlich-technologischen Rationalität, das empirisch-theoretische Wissen, lasse sich, weil es wahrheitsfähiges Wissen sein will, das als solches von anderen muß anerkannt werden können, allein in der dialogischen und daher moralisch geladenen Form eines Diskurses unter gleichberechtigten Argumentationspartnern geltend machen. Insofern setze auch der Naturwissenschaftler beispielsweise voraus, daß er andere Wissenschaftler – logisch gesehen aber alle möglichen kompetenten Diskursteilnehmer – als gleichberechtigte Diskurspartner achten soll und eigentlich auch will. Denn er erhebt ihm gegenüber Ansprüche auf Geltung seiner Thesen, Theorien und Experimentresultate. Schon die Aufdeckung dieser unausweichlichen Anerkennung der anderen Diskursteilnehmer als solcher zeigt, daß die Herausarbeitung der dialogischen Form des Wissens moralisch von Belang ist.35 Hier kommt die Diskursethik, als genitivus subiectivus verstanden, ins Spiel: Diskursethik als Ethik der Geltungsdiskurse – eine normative Ethik für das Verhalten von Diskursteilnehmern. Ihre Grundfrage lautet: ‚Wozu sind wir im Diskurs (als mögliche Diskurspartner) eigentlich verpflichtet?‘ Und die erste Antwort ist: ‚Wenn wir auf uns als Subjekte von Wahrheitsansprüchen reflektieren, erkennen wir, daß wir diese Ansprüche allein dann glaubwürdig und ohne Selbstwiderspruch anderen gegenüber erheben können, sofern wir uns um eine argumentative Konsensbildung bemühen.‘ Aus der diskurspragmatischen Dimension der wissenschaftlichen Forschung – das Forschen ist ja zugleich ein Geltendmachen von Hypothesen und Theorien bzw. ein Kritisieren solcher, mithin ein argumentativer Diskurs – läßt sich eine implizite Wissenschaftsethik als Ethik der Diskurspartner erschließen. Den weitreichenden Anstoß dieser diskursethischen Einsicht verdanken wir Charles Sanders Peirce.36 35 K.-O. Apel, Transformation II, S. 324ff, 395ff. D. Böhler, In dubio contra projectum, in: ders. (Hg.), Ethik für die Zukunft, München 1994 (zit.: E.Z.), bes. S. 255 ff, 268 ff. Ders., „Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik versus kulturalistische (Unternehmens-)Strategik“, in: H. Steinmann u. H. Scherer (Hg.), Zwischen Universalismus und Relativismus, Frankfurt a.M. 1998, S. 126-178, bes. S. 143-163. 36 Dazu: K.-O. Apel, „Von Kant zu Peirce: Die semiotische Transformation der Transzendentalen Logik“, in: ders., Transformation II, S. 157-177, bes. S. 173 ff. Ders., The Response of Discourse Ethics, Leuven 2001, S. 58 f. Ders., Der Denkweg von Charles S. Peirce, Frankfurt a.M. 1975. 41 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Apels Programm einer transzendentalpragmatischen Aufdeckung des Kommunikationsaprioris37 und das einer Rekonstruktiven Pragmatik38 enthalten den Grundriß für eine Ethik für Diskurse und schließen dabei sokratisch-kantisch auch an Popper an. Dessen kritisches Wissenschaftsethos, von ihm selbst als eine bloße Entscheidungsangelegenheit des Vernunftgläubigen angesehen, wurde (hinsichtlich dieser Deutung) als ein dezisionistisches Mißverständnis zurückgewiesen; doch konnte sein normativer Gehalt, das Ethos des selbstkritischen Forschers in einer offenen Gemeinschaft, als angemessene Entsprechung zur intersubjektiv-dialogischen Form des Beanspruchens und Geltendmachens einer Erkenntnis aufgewiesen werden. Denn das Erheben von Geltungsansprüchen schließt eben Moralität ein – zunächst in Form der Anerkennung substantieller moralischer Verpflichtungen gegenüber allen möglichen Diskurspartnern. Wenn aber in den impliziten Voraussetzungen der wissenschaftlichen Rationalität und generell in denen des Argumentierens moralische Verbindlichkeiten aufweisbar sind, dann ist Vernunft als dialogische Praxis des Argumentierens nicht bloß formeller und theoretischer, technischer oder ökonomischer Natur, nicht ein bloßes Vermögen des Analysierens und Rechnens, als das sie seit Hobbes vom Mainstream angesehen wird, sondern zugleich moralisch orientierend und verpflichtend. Dann ist eine moralisch bedeutsame Selbsterkenntnis der Vernunft möglich, welche die moderne Selbstinfragestellung der praktischen Vernunft als gegenstandslos erweist – als Selbstverfehlung der Praxis des Geltung-Beanspruchens und Etwas-Geltendmachens. Eine Selbsterkenntnis der Vernunft im Sinne Kants: Vernunft, die aus sich selbst heraus praktisch ist. – Das ist jedenfalls eine grundlegende These dieser Vorlesung. Sie wird im einzelnen zu erörtern sein: Es gilt ihre Gültigkeit zu erweisen, ihren Orientierungssinn – was heißt und wozu orientiert Diskursethik? – zu bestimmen, sodann ihre Anwendbarkeit auf die Handlungswelt (im Sinne einer Verantwortungsethik) zu prüfen und zu konkretisieren. Zunächst fassen wir zusammen: Vernunft ist aus sich selbst heraus praktisch, und zwar moralisch verpflichtend. Oder: Transzendental- und Diskurspragmatik gegen den Strom. 37 K.-O. Apel, Sprache als Thema und Medium der transzendentalen Reflexion, in: ders., Transformation II, S. 311ff, bes. 327ff. Ders., Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, ebd., S. 358ff. 38 Böhler, Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion: Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie, Frankfurt am Main 1985 (zit. Rekonstruktive Pragmatik), Kap. II und VI. 42 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Weil auch die (angeblich moralfreie) wissenschaftliche Forschung in ihrer „pragmatischen Dimension“ des Erhebens von Geltungsansprüchen gegenüber Anderen und des Diskutierens mit Anderen als gleichberechtigten Diskurspartnern stillschweigend moralische Rechte und Verpflichtungen voraussetzen und als verbindlich anerkennen muß, deshalb gilt: >Vernunft< ist eine moralisch geladene, dialogische Praxis des Miteinander-Argumentierens. Also ist sie nicht bloß formell, theoretisch und technisch, kein bloßes Kalkül-Vermögen des Analysierens und Rechnens. Nun steht dieser transzendentalpragmatische Vernunftbegriff gegen den Zeitstrom. Er antwortet eben auf die Herausforderung des modernen westlichen „Komplementaritätssystems“ (Apel). Erinnern wir uns: Vom Hauptstrom des modernen westlichen Geistes wird einerseits die wissenschaftlich-theoretische Ratio und das formale Kalkül der Zweckrationalität als die Vernunft schlechthin monopolisiert; andererseits würden Wert- und Normfragen zu einem ‚act of faith‘ (Popper), einem existenziellen und irrationalen Entscheidungsakt subjektiviert. Diese auch von Jonas berührte Komplementarität39 führt dazu, daß die Idee einer praktischen Vernunft als obsolet und illusorisch gilt40. Dann aber erscheint es als sinnlos, moralische Ansprüche auf der objektiven oder intersubjektiven Ebene der Vernunft, also des Erweisbaren, prüfen und rein argumentativ darüber befinden zu wollen. Praktische Fragen, wie die Frage nach dem „Vorrang eines Ziels gegenüber anderen unter dem Aspekt der Vernunft zu diskutieren“ gilt dann als unmöglich.41 Vernunft wird auf formale Logik plus theoretisch-empirische Rationalität plus Zweck-Mittel-Kalkül verkürzt; sie schrumpft zur „subjektiven“ und „instrumentellen Vernunft“ (Max Horkheimer). In lockerer Anknüpfung an Apel läßt sich diese Komplementarität der technologischen und liberalen Zivilisation folgendermaßen rekonstruieren und erläutern: 39 Jonas, PV, S. 57. „Die Komplementarität zwischen wertfreiem Objektivismus der Wissenschaft einerseits, existentiellem Subjektivismus der religiösen Glaubensakte und ethischen Entscheidungen andererseits erweist sich als der moderne philosophisch-ideologische Ausdruck der liberalen Trennung zwischen öffentlichem und privatem Lebensbereich, der sich im Zusammenhang mit der Trennung von Staat und Kirche herausgebildet hat.“ In: Apel, Transformation II, S. 370, vgl. 361-378. Weiterentwickelt in: ders., „Die Selbstinfragestellung der praktischen Vernunft in der Gegenwart“, in: Apel, Böhler, Rebel (Hg.), Funkkolleg/Studientexte, Bd. 1, S. 130-137. Vgl. ders. Diskurs und Verantwortung, S. 26-36, 58ff. 41 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, hg. von A. Schmidt, Frankfurt am Main 1967, S. 17. 40 43 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Auf der einen Seite ... steht die (von Max Weber an Hand des großen neuzeitlichen Säkularisierungs- / Rationalisierungsprozesses beschriebene) Entwicklung von zweckrationalen Standards im weitesten Sinne mit ihren (z.B. von Jürgen Habermas untersuchten) Sub- und Nebenformen – – – – der wissenschaftlich-technischen Rationalität einer am Erfolg kontrollierten Naturbeherrschung, der ökonomischen Rationalität des effizienten Mitteleinsatzes bei vorgegebenen Zwecken, der strategischen Rationalität wechselseitiger Instrumentalisierung zu je eigenen Zwecken, der pragmatischen Verfahrensrationalität der öffentlichen Willensfeststellung per Mehrheitsbeschluß usw. Auf der anderen Seite ... steht eine Verdrängung aller moralischen Wert- und Normgesichtspunkte in den Bereich des rational nicht Fassbaren, des Irrationalen, eine Entwicklung, die sich gesellschaftspolitisch in der Privatisierung der moralischen Urteilsbildung durch den Liberalismus und philosophisch in der Strömung des Existentialismus als Subjektivierung aller moralischen Normen und Werte niedergeschlagen hat. Komplementär sind diese Seiten insofern, als a) alles, was in den Bereich des Irrationalen fällt, im Bereich des Rationalen nicht vorkommt und umgekehrt, andererseits aber b) die Annahme eines Bereichs des Irrationalen Voraussetzung für den Bereich des Rationalen ist und umgekehrt: der Wissenschaftler, der im Labor seine erfolgskontrollierten Experimente durchführt, muß, indem er experimentiert, moralische Wertund Normfragen aus dem Blickfeld nehmen (methodologische Werturteilsenthaltung); der Existentialist, der sich in der außergewöhnlichen Situation einer „Ur-Entscheidung für/gegen Vernunft“ wähnt, setzt selbstverständlich voraus, daß die Welt um ihn herum weiterhin „funktioniert“ und dieses „Funktionieren“ anhand von Rationalitätsstandards zu erklären ist. Unter diesen Voraussetzungen verfällt freilich das Sich-Verantworten gegenüber den (moralischen) Ansprüchen Anderer einem Wertsubjektivismus, einem Rückzug auf ‚meine’ Wertwahl, die allenfalls noch plausibel gemacht werden kann. Von jener Subjektivierungsgefahr, letztlich Beliebigkeitsgefahr der Ethik ist Jonas durchdrungen. Das motiviert ihn dazu, die traditionelle substanzielle, nämlich objektive Vernunft, die den Wert des Seins aus diesem selbst vernehmen will, zu erneuern. Es ist dies eine Theorie des Seins, und zwar (erstens) eine spekulative, d.h. weder empirisch falsifizierbare noch argumentativ irgend beweisbare Theorie, welche (zweitens) einen normativen Orientierungsanspruch erhebt, also auch praktisch relevant sein will. Genauer betrachtet, vertritt Jonas einen teleologischen Ansatz, der in der lebendigen Natur objektive Zwecke (griech.: telos, Plural: teloi) rekonstruiert, die einen Wertcharakter haben, so daß sie den Menschen ansprechen und zu einer bestimmten Handlungsrichtung auffordern. Diese Richtung gibt Jonas mit der weitgefaßten Formel „Solidarität des [menschlichen] 44 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Interesses mit der organischen Welt“42 an und erläutert sie im Rückgang auf uns, die Angehörigen der Menschengattung und Teilhaber der technischen Zivilisation, folgendermaßen: „Die Zukunft der Menschheit ist die erste Pflicht menschlichen Kollektivverhaltens im Zeitalter der modo negativo ‚allmächtig‘ gewordenen technischen Zivilisation. Hierin ist die Zukunft der Natur als sine-qua-non offenkundig mitenthalten, ist aber auch unabhängig davon eine metaphysische Verantwortung an und für sich, nachdem der Mensch nicht nur sich selbst, sondern der ganzen Biosphäre gefährlich geworden ist. […] Im wahrhaft menschlichen Blickpunkt bleibt der Natur ihre Eigenwürde, die der Willkür unserer Macht entgegensteht. Als von ihr hervorgebracht schulden wir dem verwandten Ganzen ihrer Hervorbringungen eine Treue, wovon die zu unserem eigenen Sein nur die höchste Spitze ist. Diese aber, recht verstanden, befaßt alles andere unter sich.“43 Damit setzt Jonas die teleologische Metaphysik der aristotelisch-thomasischen Tradition fort und stützt sich auf seine evolutionäre Ontologie des Lebens. Es geht ihm darum, das „Prinzip der Ethik“ aus der „Natur des Ganzen“, nämlich aus dem im Menschen gipfelnden Leben zu begründen und insofern aus dem, „was die Theologie als ordo creationis zu bezeichnen pflegte.“ So formulierte er programmatisch im Epilog zu „Organismus und Freiheit“.44 Die Frage ist jedoch, ob es, geltungslogisch gesehen, überhaupt möglich ist, aus einer bloßen Theorie, hier einer Deutung der Natur bzw. des lebendigen Seins, verbindliche Sollensnormen abzuleiten. M. E. läßt sich mit Jonas eine Selbstbejahung des Lebens, das sich lebend behaupten will, rekonstruieren.45 Dann können wir jene ontologische Wertintuition rational einholen, die bereits Albert Schweitzer 1923 der subjektphilosophischen Ich-Evidenz Descartes’ entgegengesetzt hatte. Wegen ihrer Einleuchtungskraft möchte ich sie hier ins Spiel bringen, wenngleich Jonas selbst sich nie mit Schweitzer beschäftigt zu haben scheint. Statt mit Descartes die Evidenz des „Ich denke, also bin ich“ zum Ansatzpunkt zu machen, wählte Schweitzer die Evidenz: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“46 In unmittelbarem intuitionistischem Zugriff fährt Schweitzer sprunghaft fort: „Ethik besteht also darin, daß ich die Nötigung erlebe, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor 42 Jonas, PV, S. 245. A.a.O., S. 245 und 245 f. 44 Göttingen 1973, S. 341. In: H. Jonas, Organismus und Freiheit. Philosophie des Lebens und Ethik der Lebenswissenschaften, hg. von H. Gronke, Freiburg 2009, S. 358 (= Kritische Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas; hg. von D. Böhler et al. (zit.: KGA), Bd. I/1). 45 Im Kontext: H. Jonas, a.a.O. Ders., PV, S. 153-183, vgl. 136-150. 46 A. Schweitzer, Kultur und Ethik, Nachdruck München 1972, S. 330 f. 43 45 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. Damit ist das denknotwendige Grundprinzip des Sittlichen gegeben.“47 So ‚schließt‘ der intuitive Seins- bzw. Naturdenker von dem Ergebnis einer Betrachtung bzw. Theorie des Seins auf eine Norm des Handelns, eine Sollensvorschrift. Der behutsam Denkende oder der Skeptiker in uns wird nach dem Rechtsgrund eines solchen Schlusses von – sagen wir großzügig: einer einsichtig gemachten – Werthaftigkeit allen organischen Lebens zu der Norm bzw. dem kategorischen Imperativ, der Mensch solle „allem Leben, dem er beistehen kann, […] helfen“ und stets praktisch berücksichtigen: „Gut ist, Leben erhalten und Leben fördern; böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen.“48 Auch wenn eine intrinsische Werthaftigkeit des organischen Lebens erwiesen ist, wozu Jonas nicht allein viel mehr als Schweitzer geleistet hat, sondern weitaus mehr als alle Naturphilosophie bislang, kommen wir als Denkende bzw. Diskurspartner, die nur sinnvolle Argumente gelten lassen dürfen, um die Frage nach dem Rechtsgrund des Schlusses von einer Seinsinterpretation auf eine moralische Verpflichtung gegenüber dem organischen Leben nicht herum: ‚Warum sollten wir unbedingt dazu verpflichtet sein, auf diese Werthaftigkeit mit helfendem, förderndem Handeln zu antworten, und zwar ausnahmslos? Wo liegt hier der Grund der Verbindlichkeit?‘ Und dann läßt sich – auf der Anwendungsebene – verantwortungsethisch weiterfragen: ‚Wie sollen wir denn eine absolute Förderung alles organischen Lebens rechtfertigen können – in Anbetracht der Folgen, die ein solches Verhalten für das menschliche Leben in vieler Hinsicht haben müßte?‘ Doch wollen (und sollten) wir als strikt argumentative Diskurspartner die Ebenen nicht ineinanderschieben. Halten wir die Geltungsebene der Prinzipienbegründung und die realisierungsbezogene Ebene der Anwendung bzw. der Folgenverantwortung auseinander! Bleiben wir zunächst strikt auf der ersten, der eigentlichen Prinzipien-Ebene und fragen (wie ein nachkantischer Moralphilosoph in transzendentalpragmatischer Einstellung) zunächst allein danach, ob es für uns als Argumentationspartner einen unabweisbaren Grund gibt, der uns in Schweitzers oder Jonas’ Sinne zum solidarischen Engagement zugunsten des übrigen organischen Lebens verpflichten kann. – Pointieren wir die Frage und die Ebenenunterscheidung nochmals: Die prinzipienbezogene Geltungsfrage als Frage nach dem Rechtsgrund einer Verpflichtung – diskursreflexiv gestellt: 47 48 Ebd. A.a.O., S. 331. 46 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Gibt es für uns als Argumentationspartner, die allein sinnvolle Diskursbeiträge gelten lassen wollen und dürfen, einen unabweisbaren (d.h. nur durch performativen/pragmatischen Selbstwiderspruch bezweifelbaren) Grund für die Verpflichtung/Norm: ‚Du sollst dich i.S. einer Solidarität mit der organischen Welt engagieren‘? Davon zu unterscheiden sind die Fragen der Anwendbarkeit und der Folgenverantwortung: ‚(Wie) läßt sich die Verpflichtung X realisieren?‘ Und: ‚Lassen sich die Folgen der Verpflichtung X rechtfertigen?‘ Besagte quaestio juris, die Frage nach dem Rechts- bzw. Geltungsgrund, hatte Karl-Otto Apel 1981 vorbereitet, als er argumentierte: Wollte man allein aus dem Seinsfaktum der „Selbstbejahung des Seins“ die Pflicht zur Zukunft als „Bewahrung des Daseins und des Soseins des Menschen“ (Jonas) ableiten, dann machte man sich einer petitio principii, des logischen Zirkels durch Unterstellung des eigentlich zu Beweisenden, auf ähnliche Weise schuldig, wie wir das in der teleologischen Seinslehre der Aristoteles-Tradition und der Stoa beobachten können: „Es ist gewiß einleuchtend, daß dem Menschen heute angesichts seiner gesteigerten technischen Macht (des Bewirken-Könnens) eine entsprechend erweiterte moralische Verantwortung für seinesgleichen – insbesondere für die nächsten Generationen – und sogar für die Natur (als natürliche Umwelt) zufällt. Aber es ist ebenso klar, daß diese neue Sollenspflicht nicht ohne logischen Zirkel allein aus den Tatsachen des Seins herzuleiten ist. Wollte man sie – mit Aristoteles und der Stoa – auf die teleologische Bestimmung des Seins der Natur zurückführen, dann setzte man sie im metaphysischen Verständnis des Seins der Natur schon voraus. Denn aus der unterstellten Tatsache: daß etwa alles Lebendige nach Selbsterhaltung, alle Tiere nach Lust und alle Menschen nach Glück streben, folgt keineswegs, daß ich für die Erfüllung dieses Strebens irgendwie verantwortlich bin. Man könnte insofern angesichts der ökologischen Krise genausogut die Konsequenz ziehen: ‚Nach mir die Sintflut!‘ oder ‚Rette sich, wer kann!‘. Erst wenn ich, neben den Tatsachen der Natur, noch ein deontologisches Prinzip, eine Grundnorm im Sinne der verallgemeinerten Gegenseitigkeit der Ansprüche aller Menschen 47 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 als Vernunftwesen, voraussetzen kann, ergibt sich die Verantwortungspflicht im Sinne von Jonas.“49 Mit dem letzten Satz gibt Apel die Richtung an, in der offenbar die Antwort auf unsere dialogpragmatisch, und zwar diskursreflexiv gestellte Frage nach dem Rechtsgrund einer Pflicht zur Lebens- und Zukunftsverantwortung zu suchen ist. Doch ist damit diese Frage noch nicht direkt beantwortet. Wir bleiben weiter auf der Suche – zumindest bis Kapitel II 4.2. 49 K.-O. Apel, „Ist die philosophische Letztbegründung moralischer Normen auf die reale Praxis anwendbar?“, in: Apel, Böhler, Rebel (Hg.), Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: Studientexte, Bd. 2, Weinheim u. Basel 1984, S. 606-634, hier S. 628. 48 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 3 Metaphysische und 11.12.2009 spekulativ theologische versus reflexiv dialogische Begründung des Prinzips Mitverantwortung. Läßt sich das Zugleich von Freiheit und Verantwortung (Kants „Faktum der reinen Vernunft“) einholen? Was Hans Jonas anbelangt, so bietet er zwei metaphysische Begründungsansätze, zunächst eine, durchaus methodisch atheistisch angesetzte, philosophische Biologie als Teleologie des Lebens, sodann eine spekulative Theologie, die hinter und in der Evolution des Lebens (von der Amoebe bis zum homo sapiens sapiens) einen Schöpfergeist annimmt, jedenfalls als plausible, wenn nicht gar erklärungskräftige Möglichkeit. Auf Jonas’ Lehre von einem möglichen Gott, der die Evolution der Materie zum Organismus und dessen Fortschritt zur Freiheit gewollt habe, können wir hier nur einen Blick werfen. Dabei sollten wir zunächst Jonas’ Selbstverständnis berücksichtigen. Macht er doch unmißverständlich klar, daß er nach Kants Metaphysikkritik, nach Nietzsches Proklamation des Todes Gottes und nach Heideggers radikaler Endlichkeitsphänomenologie von „Sein und Zeit“ über Gott und die Welt nachdenkt. Denn er vertritt nicht etwa (objektivistisch) eine Ontotheologie, derzufolge (erstens) Gott das Sein selbst bzw. der Grund des wertvollen und ein Sollen einschließenden Seins sei, und derzufolge (zweitens) diese, in Gottes Vernunft verankerte, Einheit von Sein und Sollen objektiv erkennbar sei. Vielmehr nimmt Jonas die Immanenz der Welt, die Endlichkeit des Lebens ebenso ernst wie die Zeitlichkeit des menschlichen Daseins, welches sich anschickt, das Sein zu erkennen. Darin ist er so konsequent, daß er in seinem Evolutionsmythos die Idee eines möglichen Schöpfergottes selbst jenen Bestimmungen und damit das Transzendente der Immanenz unterwirft.50 Insofern entsubstantialisiert er seine metaphysisch-theologische „Vermutung“ im vorhinein und unterstellt sie dem methodischen Atheismus, der den modernen Wissenschaften zugrundeliegt und der vom nachkierkegaardschen Existentialismus ausdrücklich aufgenommen wird.51 Im Lichte von Kants Kritik der dogmatischen bzw. vorkritischen Metaphysik denkend, entwirft Jonas einen „hypothetischen Mythos“, der die Weltentstehung, zumal die Genese von Geist, durch die Annahme eines Schöpfergeistes erklärt. Dieser habe dadurch, dass er in der „Materie“ Geist zugelassen habe, die Verfügungsmacht über die Fortsetzung der Evolution in die Hände des Menschen gegeben. Eine Allmacht Gottes und dessen Schöpfung menschlicher 50 Jonas, „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ und „Materie, Geist und Schöpfung“, in: ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a.M. 1992 (zit. Philosophische Untersuchungen), bes. S. 190-197, 243-247. 51 Jonas, Erinnerungen, Frankfurt a.M. 2003, S. 93. Ders., Gespräch mit H. Koelbl, in: H. Koelbl (Hg.), Jüdische Portraits, Frankfurt am Main 1998, S. 170, Sp. 2. 49 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Freiheit seien zusammen nicht denkbar. Da die Macht auf Erden beim Menschen liege, habe er auch die Verantwortung für das „Weltabenteuer“, damit aber zugleich die Verantwortung für das Schicksal des gütigen göttlichen Geistes.52 Über diesen philosophischen Gottesbegriff, das Sein Gottes als bedingungsloses In-der-Welt-Sein charakterisierend, kann Jonas den Begriff des menschlichen Geistes erläutern: Zum menschlichen Geist gehöre das Bewußtsein der Weltverantwortung oder das negativ theologische Wissen, daß dem Menschen „kein rettender Gott“ die Pflicht [abnimmt], die seine Stellung in der Ordnung der Dinge ihm auferlegt.53 So bringt der jüdisch-deutsche Denker den religiös offenen Zeitgenossen eine, in sich zwiefältige, Motivation zur Zukunftsverantwortung nahe: In Übereinstimmung mit seinem Begriff sei der Mensch (als leibhafter Geist in der Schöpfung) einzig dann, wenn er weder die real moralische Verantwortung für das Weltabenteuer abwälzt, noch sich der geistig moralischen Verantwortung für das Schicksal des göttlichen Geistes entzieht. – Derart ertastet Jonas eine hypothetische Verantwortungstheologie des ohnmächtigen Gottes. Mir scheint, daß sich nach Auschwitz, wo die Hoffnung auf einen Gott als allmächtigen Herrn der Geschichte mitvergast worden ist, einzig eine solche Theologie noch glaubwürdig vertreten läßt. Diese kosmische Verantwortungstheologie bildet auch den Motivationshintergrund für Jonas’ scharfe Kritik am späten Heidegger. 1964 verwarf er Martin Heideggers mystischseinsgeschickliche „Kehre“ als Flucht vor der Rechtfertigungsaufgabe des Denkens. Er unterzog sie einer schneidenden Sinnkritik: Heideggers neuer Ansatz bei dem Seinsgeschick, auf dessen Anrufung (in der Geschichte – z.B. durch ‚den Führer‘) es zu hören gelte, verbinde den demütigen, vermeintlich subjektfreien Gestus eines Vernehmens des Seins mit dem hybriden Anspruch, daß durch den Seinsdenker, also durch Heidegger, „das Wesen der Dinge selbst spricht“, und mit der zugleich seins- und erkenntnismystischen Verheißung, ein erkenntnisphilosophisches aber auch ontologisches Grundschema, die Differenz und Relation von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt wie auch von Mensch und Welt, ad acta zu legen. Denn durch ein gehorsames, frommes Vernehmen des sich uns zuschickenden Seins könne die – in Wahrheit doch von jeder Theorie erneut zu überbrückende – „Subjekt-ObjektSpaltung erlassen, vermieden, überwunden werden“. Wer freilich so spekuliere, der erschleiche nicht allein, was er zu erkennen vorgibt, die Wahrheit über das Sein, sondern mache sich durch diesen Objektivismus auch unangreifbar. Ziehe er doch das Erkenntnissubjekt, das sich für sein Vorgehen und seine Aussagen gegenüber anderen müsse 52 Jonas, „Materie, Geist und Schöpfung“, in: ders.: Philosophische Untersuchungen, S. 244, vgl. S. 230–251. Ders., „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“, ebd., S. 190–208. 53 Jonas: Philosophie. Rückschau und Vorschau am Ende des Jahrhundert,. Frankfurt a.M. 1993, S. 41 f. 50 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 rechtfertigen können, zurück auf ein vermeintliches Ohr sowie den Mund des sich jeweils zuschickenden Seins. Das bedeute zunächst eine Art totalen Objektivismus. Hinzukomme, daß eine solche selbstimmunisierte Ontotheologie „die enormste Hybris in aller Geschichte des Denkens“ darstelle.54 – So Jonas’ These in Kürze. Schauen wir genauer hin. Der späte Heidegger vollzieht eine „Kehre“ des Denkens als Abwendung vom Vernunftsubjekt, worin ihm Nietzsche vorausgegangen war und Foucault, der methodologische Proklamateur des „Todes des Subjekts“, mit Pathos nachgefolgt ist – Wolfgang Kuhlmann, Axel Honneth und Jürgen Habermas haben diese Problematik sinnkritisch beleuchtet.55 Die „Kehre“ Heideggers ist so radikal, daß er für sich selbst überhaupt nicht mehr von Philosophie spricht, sondern sich ein ursprüngliches bzw. „anfängliches Denken“ zuschreibt, das der Dichtung und dem Mythos verwandt ist. Dieses soll nicht von dem Subjekt des Denkers ausgehen, wie er es z.T. in „Sein und Zeit“, dessen Ausgangspunkt und Zentralbegriff das „Dasein“ (Nachfolgebegriff von „Subjekt“) ist und das vom Vernunftanspruch auf „Durchsichtigkeit“ der Geschichte der Ontologie geleitet wird,56 auch selbst getan hat. Warum das? Seit Platons Ideenlehre erblickt er in der Geschichte der Metaphysik die Tendenz einer Unterwerfung bzw. Zurichtung des Seins unter eine Methodenherrschaft des denkenden Subjekts,57 den Versuch eines „Herrwerdens der ἰδέα über die ἀλήϑεια“, welcher dazu geführt habe, daß „fortan sich das Wesen der Wahrheit nicht als das Wesen der Unverborgenheit [des Seins] aus eigener Wesensfülle entfaltet“, sondern verlagert werde auf den Verstand und dessen selbstgesetzte Richtigkeitsmaßstäbe, welche dann „das angeblich Wirkliche“ festsetzten.58 Gegen diese vermeintlich von vornherein seinsvergessene und verfälschende Herrschaft der Subjektivität setzt Heidegger einen radikalen Neubeginn – das Denken soll demutsvoll auf das Sein selbst lauschen, es soll sich in doppeltem Sinne als „das Denken des Seins“ wissen. Dieser Genitiv besagt nach Heidegger nämlich zweierlei: Erstens sei das Denken des Seins, „insofern das Denken, vom Sein ereignet, dem Sein gehört“. Zudem sei das Denken auch „Denken des Seins, insofern das Denken […] auf das Sein 54 Jonas, „Heidegger und die Theologie“, Vortrag von 1964, deutsch in: G. Noller (Hg.), Heidegger und die Theologie, Beginn und Fortgang der Diskussion, München 1967, S. 316-340, hier S. 335f. Nachdruck in: D. Böhler, P. Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung. Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans Jonas. Würzburg 2004, S.39-58, hier S.54. 55 W. Kuhlmann, „Tod des Subjekts? Eine transzendentalpragmatische Verteidigung des Vernunftsubjekts“, in: ders., Kant und die Transzendentalpragmatik, Würzburg 1992, S. 155-167; A. Honneth, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M. 1985, S. 149 ff.; J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1985, S. 340. 56 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1963, §§ 5 f., 9 ff. u.ö. Zit.: S. 22. 57 M. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 1947. 58 A.a.O., S. 41, 44 u. 45. 51 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 hört“59 – und den Menschen „in die Lichtung des Seins“ gestellt sein läßt,60 damit er „der Hirt des Seins“ werde bzw. als Hirte des Seins existiere.61 Heidegger geht damit hinter die gesamte Philosophie seit Platon zurück und verwirft sie als eine subjektgeleitete technische Metaphysik, ein „seinsvergessenes Denken“, durch das sich der methodisch zugreifende Philosoph und Techniker zum Beherrscher einer Welt der Dinge aufgeworfen habe, zum Techniker einer Welt des je vereinzelten, nämlich zum Objekt von Theorie und Methode gemachten „Seienden“. Die gesamte Philosophie stelle eine Geschichte des Abfalls vom umgreifenden Sein dar, weil sie immer erneut Seiendes zum Objekt mache und es so dem methodisch technisch verfahrenden Vernunftsubjekt bzw. 62 Wissenschaftssubjekt unterwerfe. Jonas läßt sich auf die damit verbundene Totalkritik der gesamten Denk- und Wissenschaftsentwicklung nicht weiter ein; vielmehr deckt er Heideggers spekulativen und therapeutischen Ansatzpunkt auf, um diesen ad absurdum zu führen. Zunächst kritisiert er die spekulative These, die Unterscheidung von Subjekt und Objekt, ja das darauf beruhende Subjekt-Objekt-Verhältnis des Menschen in Theorie und Praxis, sei nichts als ein griechisch abendländischer Fehltritt – seit Platon und Aristoteles. Denn darauf baut Heidegger seine Therapie auf: Ersetzung der Philosophie durch ein ursprüngliches „Andenken an das Sein“ und durch seinsfromme Dichtung, worin sich die Haltung einer Demut vor dem Sein verkörpern würde. Dagegen argumentiert Jonas 1964 auf einem Heidegger gewidmeten Kongreß amerikanischer Theologen wie folgt: „Die Initiative dem Sein überlassen, horchen auf das, was es spricht, ansprechen auf seinen Ruf, sich ergreifen lassen von seiner Macht, ja, mehr als alles: die ganze Haltung der Subjektivität und der Bemeisterung des Objektes durch meine gemachte Begrifflichkeit aufgeben – ist das nicht Andacht, ist das nicht Demut? Hier müssen wir etwas sagen über die scheinbare, falsche Demut von Heideggers Zuschiebung der Initiative an das Sein – so verführerisch für den christlichen Theologen, aber in Wahrheit die enormste Hybris in aller Geschichte des Denkens. Denn sie besagt nicht weniger als des Denkers Anspruch, daß durch ihn das Wesen der Dinge selbst spricht, und damit den Anspruch auf eine Autorität, die kein Denker jemals beanspruchen soll. Und es bedeutet ferner den prinzipiellen Anspruch, daß die menschliche Grundbedingung, nämlich im Abstand zu den Dingen zu sein, den wir durch das Hinausreichen unseres Geistes überbrücken müssen – kurz, daß die sogenannte Subjekt-Objekt-Spaltung erlassen, vermieden, überwunden werden könnte: den Anspruch also 59 M. Heidegger, Über den Humanismus, Frankfurt a.M. o.J., S. 7. A.a.O., S. 15 f. und 19 f. 61 A.a.O., S. 19. 62 A.a.O. Ders., Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 1947. Ders., Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962. 60 52 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 auf eine mögliche Unmittelbarkeit, die vielleicht im Verhältnis von Person zu Person, nicht aber im Verhältnis zum unpersönlichen Sein und zu den Dingen und zur Welt stattfinden kann. Es ist wirklich ohne Vorgang in der ganzen Geschichte abendländischer Philosophie. […] Das Subjekt-Objekt-Verhältnis […] ist nicht ein Fehltritt, sondern das Privileg, die Bürde und die Pflicht des Menschen. Nicht Platon ist verantwortlich dafür, sondern die menschliche Situation und Verfassung, ihre Grenzen und ihr Adel nach der Ordnung der Schöpfung. Denn weit entfernt davon, eine Abweichung von biblischer Wahrheit zu sein, ist diese Setzung des Menschen gegenüber der Gesamtheit der Dinge, sein Subjekt-Status, und der Objekt-Status und das gegenseitige Außereinander der Dinge selbst, in der Idee der Schöpfung als solcher und der von ihr bestimmten Stellung des Menschen zur Natur gesetzt. Es ist der Zustand des Menschen, wie er nach der Bibel gemeint war, ihm auferlegt durch seine Geschöpflichkeit und von ihm zu übernehmen, durchzuvollziehen – und zu transzendieren nur in gewissen Begegnungen mit Seinesgleichen und Gott, d.h. in existentiellen Beziehungen sehr besonderer Art. Niemand und kein waltendes Sein nimmt uns die Verantwortung ab für das, was wir denken und sprechen.“63 Gegen den seinsfrommen, den „anfänglichen“ und „wesentlichen“ Denker Heidegger, den er geradezu als „Bauchredner des Seins“ apostrophieren kann64, macht Jonas geltend, daß das Denken verantwortlich sei und daß es „entscheidend von der Auffassung seiner Verantwortlichkeit“ abhänge65. Das ist seine kritisch philosophische Richtschnur. Was sein eigenes Denken anbelangt, so legt er in diesem Sinne großen Wert darauf, den geltungsmäßigen Stellenwert sowohl seiner metaphysischen Ontologie als auch seiner spekulativen Theologie distanziert und kritisch zu erörtern. Mit selbstkritischer Redlichkeit wahrt er die ontologischen Differenzen zwischen Denker und Gedachtem, zwischen Endlichkeit und möglicher Nicht-Endlichkeit. So spricht er von Gott nur in doppelter Einklammerung bzw. mit doppeltem Vorbehalt gegenüber dem Wahrheitsanspruch seiner eigenen Aussagen (über Gott). Einmal bezieht er sich nur auf den möglichen Gott (‚es ist möglich, daß Gott existiert‘); zudem schreibt er seinen Aussagen über Gott nur den schwachen Stellenwert von „Vermutungen“ ohne einlösbaren Wahrheitsanspruch zu.66 Die Subjekt-Objekt-Differenzen ernstnehmend und in Einklammerung des Wahrheitsanspruchs über das Sein-Können eines möglichen Schöpfergeistes nachdenkend, 63 Jonas, „Heidegger und die Theologie“, Vortrag von 1964, deutsch in: G. Noller (Hg.), Heidegger und die Theologie, Beginn und Fortgang der Diskussion, München 1967. Nachdruck in: D. Böhler, P. Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung. Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans Jonas. Würzburg 2004 (zit.: Böhler/Brunde, 2004), S.39-58, hier S.54 f. 64 A.a.O., S.54. 65 A.a.O., S. 336. 66 Jonas, Philosophische Untersuchungen, 3. Teil, S. 171-255. 53 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 zeigt sich Jonas als ein nachkantischer und nachhusserlscher Metaphysiker. Das trennt ihn sowohl von der antiken und thomistischen Ontotheologie als auch von der des späten Heidegger. Diesem kritischen Zug werden weder Vittorio Hösle, der Jonas schlicht eine „ontotheologische Begründung der Ethik“ zuspricht67, gerecht noch Micha Werner, der ihm eine „objektivistische Moralbegründung“ unterstellt68. Ohne objektivistische seinstheologische Prämissen will Jonas den naturalistisch monistischen Zug und die Teleologie der klassischen bzw. thomistischen Ontologie neu denken. Ohne Rückgriff auf göttliche Autorität oder auf Allmachtsannahmen will er das schöpfungstheologische Erbe der jüdisch christlichen Tradition, so die „Heiligkeit des Lebens“ und die „Hütung des Ebenbildes“, in Besitz nehmen:69 „Philosophierend habe ich von Möglichkeiten gesprochen, nicht von Wirklichkeiten.“70 In der Tat ist ein (hypothetisches) Denken der Möglichkeit eines Schöpfergottes, der sich gänzlich dem Weltabenteuer der Immanenz überantwortet habe, etwas grundsätzlich anderes als das (gegenstandsbezogene, Wahrheit beanspruchende) Schauen bzw. Vernehmen von Gott als tatsächlichem Grund bzw. Prinzip des Seins. Jonas’ ontologisch-teleologischer Ansatz – er nennt ihn mit Vorliebe „metaphysisch“ und „ontologisch“ –, bringt ihn von Anbeginn in die Prinzipiendimension und läßt ihn auch das Ethische aus dieser denken. Außerdem gewinnt er durch den Rückgriff auf die biblisch priesterschriftliche Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen (1. Buch Mose, 1,26f) den normativen Gehalt des Grundsatzes der (zu achtenden) Menschenwürde. Dadurch erweitert er die Perspektive einer bloßen Bewahrung der Gattung, in deren Sinne sich die erste Formel seines kategorischen Imperativs der Zukunftsverantwortung unter Umständen verstehen läßt: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“71 Karl-Otto Apels Kritik hat Jonas darauf festlegen wollen.72 Unangemessenerweise; denn sie überspringt den Kontext und den Rekurs auf Menschenwürde, mit dem das Werk auch schließt: „Um die Hütung des ‚Ebenbildes’.“73 Allerdings ist zu fragen: Was trägt Jonas zum Begründungsproblem, d.h. zu einem Verbindlichkeitserweis des Prinzips der Ethik bei? Und wo wäre ein Verantwortungsprinzip 67 V. Hösle, „Ontologie und Ethik bei Hans Jonas“, in: E.Z., S. 120f. Zur Sache: W. Ch. Zimmerli, „Philosophie in einer Gott-verlassenen Welt“, in: E.Z., S. 151ff, bes. S. 159ff. 68 Werner 2003a, S. 48. 69 Jonas, P.V., S. 57f, 63, 392f. 70 Jonas, „Im Kampf um die Möglichkeit des Glaubens. Erinnerungen an Rudolf Bultmann und Betrachtungen zum philosophischen Aspekt seines Werkes“, in: ders., Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 75. 71 Jonas, P.V., S. 36. 72 Apel, „Verantwortung heute...“ in: ders., Diskurs und Verantwortung, S. 179ff, vgl. auch das Gespräch mit Apel in: Apel und Burckhart (Hg.), Prinzip M.V., S. 97ff. 73 Jonas, PV, S. 392f. 54 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 gleichsam festzumachen – primär im Sein oder primär im Dialog, in welchem auch ein Seinsdenker, dadurch, daß er denkend etwas geltend macht, sich je schon befindet? Damit stehen wir wieder vor der mit Apel aufgeworfenen, aber noch offenen Frage nach dem Geltungs- bzw. Rechtsgrund einer Pflicht zur Verantwortung für das Ganze. Schließlich stellt sich die Frage, welche differenzierenden Kriterien bzw. normativen Bedeutungsgehalte (etwa Gerechtigkeit, Öffentlichkeit und Kommunikationsfreiheit) intern mit dem Verantwortungsprinzip verbunden werden müßten – besser: als mit ihm verwoben aufzuweisen sind. Müßte Jonas, wenn er diese Frage ernstnimmt, nicht die „doppelte Vereinfachung“ zurücknehmen, die in den Kollektivierungen der vielerlei Beteiligten zu der jetzt lebenden Menschheit und den sehr unterschiedlichen Betroffenen zu der künftigen Menschheit steckt? Darauf insistiert Micha Werner zu Recht.74 Die hier nötigen Differenzierungen sind Diskursdifferenzierungen. Sie ergeben sich mit innerer Logik, wenn man das Verantwortungsprinzip aus dem Dialogprinzip entwickelt, nämlich durch Rückgang auf das Sich-im-Diskurs-Verantworten. Das ist der zu Jonas komplementäre, nicht-metaphysische Prinzipienansatz der Berliner Diskurspragmatik und Dialogpragmatik: eine sokratische Ethikbegründung durch rationale Beweisführung und sinnkritische Prüfung im Dialog mit dem Skeptiker, deren Wahrheit jeder aus stichhaltigen Gründen zustimmen würde – auch der ex professo Ungläubige, der skeptische Diskursteilnehmer, dem wir mit keiner bloßen Glaubensannahme kommen können.– Führt von diesem Ansatz eine Brücke zu Jonas? Folie zu S. 54 Seinen metaphysisch ontologischen Begründungsweg fortsetzend, hat Jonas hingegen den „Versuch einer ‚metaphysischen Deduktion’ der Verantwortungsethik“ vorgelegt.75 Bemerkenswerterweise geht er dabei in einer sokratisch kantischen Manier zurück auf das, was Menschen als ethische Fähigkeit mitbringen und was sie als normative Verpflichtung sinnvoll nicht bezweifeln können: „Der Mensch ist das einzige uns bekannte Wesen, das Verantwortung haben kann. Indem er sie haben kann, hat er sie. Die Fähigkeit zur Verantwortung bedeutet schon das Unterstelltsein unter ihr Gebot: das Können selbst führt mit sich das Sollen. Die Fähigkeit aber zur Verantwortung – eine ethische Fähigkeit – beruht in der ontologischen Befähigung des Menschen, zwischen Alternativen des Handelns mit Wissen und Wollen zu wählen. Verantwortung ist also komplementär zu Freiheit.“76 74 Werner 2003b, S. 227ff, hier S. 234 und 240. Jonas, Brief an H.-G. Gadamer, 9. Nov. 1985, in: Böhler/Brune, 2004, S. 480. 76 Jonas, Philosophische Untersuchungen, S. 130f. 75 55 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Das Manuskript hatte Jonas seinem Studienfreund aus Marburger Tagen, Hans-Georg Gadamer, mit der Bitte um dessen Urteil zugesandt. Dieser hebt in seiner Antwort hervor77, daß Jonas seine Deduktion einer Pflicht zur (Mit-)Verantwortung für „die Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“ eigentlich durch Rückgang auf ein moralisches Grundfaktum der Vernunft gewinne. „Im Grunde folgen ja auch Sie Kant, wenn Sie von der Gegebenheit der Verantwortung reden: das ist das Vernunftfaktum der Freiheit.“78 Gadamer verweist damit auf die Rückzugsposition zu der Frage, ob sich das Moralprinzip als allgemeinverbindlich erweisen, d.h. als eine Erkenntnis a priori deduzieren lasse, die Kant in der „Kritik der praktischen Vernunft“ bezieht: Ein solcher Nachweis der Rechtmäßigkeit des Begriffs eines obersten allgemeinverbindlichen Moralprinzips in „seiner absoluten Notwendigkeit“79 sei nicht möglich, aber auch gar nicht nötig. Es reiche nämlich hin, zu zeigen, daß das Zugleich der „Idee der Freiheit“ als „Autonomie des reinen Willens“80 und der Einsicht in die Unumgänglichkeit samt Anerkennungswürdigkeit des kategorischen Imperativs „sich selbst nur aufdringt“, nämlich als „synthetischer Satz a priori“. So heißt es in § 7 des Ersten Teils der praktischen Vernunftkritik: „Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes [des kategorischen Imperativs] ein Factum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z.B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben), herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori […]. Doch muß man, um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als gegeben anzusehen, wohl bemerken: daß es kein empirisches, sondern das einzige Factum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic jubeo) ankündigt. Folgerung: Reine Vernunft ist für sich allein praktisch und giebt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen.“81 Kehren wir zu Jonas und Gadamer zurück: In seiner Antwort an Jonas geht Gadamer nicht, wie das zuvor K.-H. Ilting getan hatte, darauf ein, daß der Rückgang auf die moralische Verantwortungsfähigkeit als „ursprüngliches Erfahrungsdatum“ in einen naturalistischen Fehlschluß82 führt oder gar in einen „logischen Zirkeltrug“ nach Art des ontologischen 77 H.-G. Gadamer, Brief an H. Jonas, 21. April 1986 in Antwort auf das Schreiben von Jonas vom 9. November 1985, in: Böhler/Brune, 2004, S. 471-482, hier: 481f. 78 H.-G. Gadamer, Brief an H. Jonas, vom 21. April 1986, a.a.O., S. 481. Gadamer pointiert also die Analogie zu Kants These einer Verwobenheit der moralischen Autonomie mit der Einsicht in das Sittengesetz als dem „Faktum der reinen Vernunft“, nach: Kritik der praktischen Vernunft, 1787, S. 55ff und S. 72 ff bzw. Akademie-Ausgabe S.30ff und 41 ff. 79 Kant, GMS, Ak.-Ausg. S. 463. 80 Ders., GMS, S. 454 und 453. 81 Kant, KpV, 1. Aufl. 1788, S. 55f; bei Vorländer/Meiner, S. 36f. 82 So Karl-Heinz Ilting, „Der naturalistische Fehlschluß bei Kant“, in: M. Riedel (Hg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Freiburg i.Br. 1972, Bd.1, S. 113-130. Wiederum in: K.-H. Ilting, Grundfragen der praktischen Philosophie, Frankfurt a. M. 1994, S. 277-295. 56 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Gottesbeweises. Letzterem will Jonas dadurch entgehen, daß er aus der begrifflichen ‚Essenz‘ eines ursprünglichen Erfahrungsdatums (nämlich aus dem Begriff der Menschheit) allein die Pflicht zur Fortsetzung von deren Existenz ableitet. Das ist, so erläutert er, dann „zwar ein Schluß von Essenz zu geforderter Existenz, doch kein Zirkelschluß von Essenz zu gegebener Existenz. Also ist unser Argument kein leeres. Aber es ist auch kein Beweis. Es ist an gewisse unbewiesene, axiomatische Voraussetzungen gebunden: nämlich, daß Verantwortungsfähigkeit an sich ein Gut ist, also etwas, dessen Anwesenheit seiner Abwesenheit überlegen ist; und daß es überhaupt ‚Werte an sich‘ gibt, die im Sein verankert sind – daß letzteres also objektiv werthaltig ist.“83 Als Philosoph, dem die, von Kant als Selbstverpflichtung der Vernunft geltend gemachte, Tugend der Wahrhaftigkeit eingeschrieben ist, zieht Jonas daraus die Konsequenz: „Letztlich kann mein Argument nicht mehr tun, als vernünftig eine Option begründen [...]. Besseres habe ich leider nicht zu bieten.“84 In seinem Brief an Gadamer schließt er damit, daß er glaube, über dieses „Wagestück“ nicht mehr „hinauszukommen (was zwar nötig wäre).“85 Einerseits räumt Jonas damit ein, die Komplementarität des modernen weltlichen Geistes nicht überwunden zu haben – eine bloße Option gehört auf die subjektiv existenzielle Seite der Komplementarität. Sein Begründungsziel, die Subjektivität in Wert- und Normenfragen aufzuheben, hat er demnach verfehlt. Andererseits transzendiert – darauf weist Gadamer hin – seine sokratisch kantische Denkweise hier sein metaphysisches Selbstverständnis. Was bedeutet das für uns als Skeptiker? Ohne Gefahr der petitio, also der Erschleichung des zu Erweisenden durch Zirkelschluß, und ohne naturalistischen Fehlschluß können wir Jonas’ Intuition aufnehmen und – in zwei Schritten – zwingend neu denken: zuerst durch eine Rekonstruktion von Voraussetzungen des argumentativen Dialogs, sodann durch eine sokratische Dialogreflexion; nämlich durch einen dialogreflexiven, aktuell im Diskurs mit Skeptikern geführten Erweis einer ursprünglichen, unhintergehbaren Anerkennung von Verantwortung. Ursprünglich ist diese Anerkennung, weil sie zugleich mit dem Ins-Spiel-Bringen der eigenen Freiheit entspringt; argumentativ unhintergehbar ist sie, weil sie bereits dem Etwas-Denken und Etwas-Geltendmachen zugrunde liegt – eine Sinnbedingung des Denkens als Selbstgespräch und als Gespräch aufgrund von Argumenten. Die beiden Begründungsschritte (I) und (II) sind diese: 83 Jonas, Philosophische Untersuchungen, S. 139. A.a.O., S. 140. 85 Jonas in: Böhler/Brune, 2004, S. 480. 84 57 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 I Diskurspragmatische Rekonstruktion des Dialogs: Im Dialog machen wir von unserer Freiheit Gebrauch, indem wir Ansprüche auf Geltung für das, was wir vorbringen, erheben. Diese kommunikative Freiheit können wir jedoch nur in dem Maße verwirklichen, als wir auch zur Verantwortung bereit sind gegenüber den Anderen, die am Dialog teilnehmen, und gegenüber denen, über die wir reden bzw. um deren Ansprüche es geht. Gleichursprünglich mit ‚meiner‘ Freiheit ist im Dialog ‚meine‘ Anerkennung dessen, daß ‚ich‘ anderen Rede und Antwort stehen können muß. II Reflexiver Dialog mit dem Skeptiker, der die argumentative Unhintergehbarkeit dieses Zugleichs bezweifelt: Eine Bezweiflung der These, daß Freiheit und Verantwortung gleichursprünglich sind, so daß ‚ich‘ prinzipiell zur Verantwortungsbereitschaft im Dialog und für den Dialog verpflichtet bin, wäre sinnlos, wäre ein performativer Widerspruch. Einen solchen Zweifel kann ‚ich‘ nämlich meinen Dialogpartnern gegenüber nicht ernsthaft vertreten. Weil ‚meine‘ Diskurspartner nur einen solchen Zweifler hinsichtlich seiner Dialogbeiträge verstehen und ernstnehmen können, der zugleich seine Freiheit (z.B. jetzt eine Zweifelsthese zu vertreten) und seine Bereitschaft zur Verantwortung in das dialogische Verhältnis einbringt und darin auch aufrechterhält. Im Dialog muß man verantwortlich dafür sein, daß man den Anderen sinnvolle, diskutierbare Diskursbeiträge vorlegt: Beiträge, für die man glaubwürdig, ohne Selbstwiderspruch, Rede und Antwort stehen kann. Eben das tut ein Zweifler nicht, wenn er dasjenige in Zweifel zieht, was er (im Verhältnis zu Anderen und zu sich selbst) notwendigerweise als gemeinsame Sinnbasis und als Anerkennungsverhältnis beansprucht bzw. vorausgesetzt hat. Werfen wir zunächst einen Blick auf die diskurspragmatische Rekonstruktion (I): Kommunikative Freiheit, die wir in Anspruch nehmen, indem wir etwas, das wir geltend machen wollen, vorbringen (etwa ‚meinen‘ Gedanken über Freiheit jetzt), und Verantwortung im Dialog, die wir unausdrücklich (zunächst für die Verständlichkeit und Begründbarkeit ‚meines‘ Diskursbeitrags) dadurch übernommen haben, daß wir Anderen gegenüber den eigenen Beitrag zur Geltung bringen, setzen einander wechselseitig voraus. Sie sind nämlich von vornherein an dem ebensowohl logischen wie ontologischen Ort verwoben, an dem wir, die wir etwas denken und wollen, sie notwendigerweise in Anspruch nehmen und ins Spiel bringen. Dieser Ort ist der Dialog. 58 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Warum? Im Dialog machen wir von unserer Freiheit Gebrauch, indem wir Ansprüche auf Geltung für das, was wir behaupten, voraussetzen bzw. erheben. Diese kommunikative Freiheit können wir jedoch nur in dem Maße verwirklichen, als wir auch zur Verantwortung bereit sind gegenüber den Anderen, die am Dialog teilnehmen, und gegenüber denen, über die wir reden bzw. um deren Ansprüche es geht. Gleichursprünglich mit ‚meiner‘ Freiheit ist im Dialog ‚meine‘ Anerkennung dessen, daß ‚ich‘ anderen Rede und Antwort stehen können muß. In der Dialogsituation ist meine Freiheit gleichursprünglich mit meiner Bereitschaft, mich zu verantworten für das, was ‚ich‘ frei äußere. Der erste Begründungsschritt, die rekonstruktive Pragmatik des Diskurses, bestünde also darin, die Verantwortungsfähigkeit in ihrem Zugleich mit der kommunikativen Freiheit als diejenige Seinseigenschaft und moralische Erwartung aufzudecken, die jeder implizit schon anerkannt hat, wenn er überhaupt – sich bzw. anderen – etwas zu verstehen gibt und etwas geltend macht. In dem folgenden Begründungsschritt (II) würde dann die rekonstruierte Argumentations- und Kommunikationsvoraussetzung hinsichtlich ihrer Allgemeingültigkeit und ihrer moralischen Verbindlichkeit bezweifelt, damit nun – im reflexiven Dialog mit dem Zweifler – die Möglichkeit dieses Bezweifelns sokratisch sinnkritisch getestet werden kann. Wenn sich in dieser Prüfung herausstellt, daß der angemeldete Geltungszweifel für die konkreten Dialogpartner des Skeptikers gar nicht als prüfbarer Dialogbeitrag verstehbar ist, dann kann er nicht triftig sein, dann trifft der Zweifel nicht das Sein des Zweifelgegenstandes. D.h.: Dann gehört dieses Sein zum Sein des Dialogs, es ist also ein Stück des Geltungsbodens und des Seinsbodens, auf dem der Zweifelnde als Etwas-Denkender und Kommunizierender selber steht. So zeigt sich in einem reflexiv sokratischen Dialog mit dem Skeptiker: Eine Bezweiflung der These, daß Freiheit und Verantwortung gleichursprünglich sind, so daß ‚ich‘ prinzipiell zur Verantwortungsbereitschaft für den Dialog verpflichtet bin, wäre sinnlos, wäre ein performativer Widerspruch. Einen solchen Zweifel kann ‚ich‘ meinen Dialogpartnern gegenüber nicht ernsthaft vertreten. Warum kann ich das nicht? Weil ‚meine‘ Diskurspartner nur einen solchen Zweifler verstehen und hinsichtlich seiner Dialogbeiträge ernstnehmen können, der zugleich seine kommunikative Freiheit (z.B. die Freiheit, jetzt eine Zweifelsthese zu vertreten) und seine Bereitschaft zur Verantwortung in das dialogische Verhältnis einbringt und der beide darin auch aufrechterhält. Im Dialog muß er verantwortlich dafür sein, daß er den Anderen sinnvolle, diskutierbare Diskursbeiträge vorlegt: Beiträge, für die er glaubwürdig, ohne Selbstwiderspruch, Rede und Antwort stehen kann. Eben das tut er nicht, wenn er dasjenige in 59 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Zweifel zieht, was er (im Verhältnis zu anderen und zu sich selbst) notwendigerweise schon als gemeinsame Sinnbasis beansprucht und vorausgesetzt hat – im Sinne des apriorischen Perfekts, welches mit der Diskurspartnerrolle gegeben ist. Ich kann nur hoffen, daß Hans Jonas diese zugleich dialogische (mithin geltungslogische) und ontologische (auf das Sein des Zweiflers und seiner Gemeinschaft zurückgehende) Argumentation überzeugt hätte. Leider war ich zu seinen Lebzeiten im sokratisch reflexiven Denken noch nicht so weit gekommen, daß ich sie ihm klar genug hätte vortragen können. Jedenfalls läßt sich die Kantische, Hans Jonas durch Gadamer offerierte, Lehre vom Faktum der Vernunft dialogpragmatisch überführen in die Erkenntnis eines apriorischen Perfekts: des untrennbaren Anerkannthabens von Verantwortlichkeit und Gewährthabens von Freiheit auf dem gemeinschaftlichen Seinsboden und Geltungsboden des Dialogs. Problemgeschichtlich gesehen, wäre das eine dialogreflexive Aufhebung Kants, nämlich seines mißlungenen Versuchs die metaphysische Vernunftlehre durch das Postulat eines moralisch gehaltvollen „Faktums“ der reinen praktischen Vernunft aufzuheben. Den Anstoß zur dialogreflexiven Aufhebung von Kants Postulat hat Karl-Otto Apel schon 1967 bzw. 1973 gegeben, als er Kants Lehre vom Faktum der Vernunft als „Ergebnis transzendentaler Selbstbesinnung“ interpretierte und vorschlug, sie transzendentalpragmatisch zu „dechiffrieren“.86 1990 präzisierte er gegenüber Karl-Heinz Ilting und dem Dezisionismus, daß der Rückgang auf die diskurs- und damit vernunfttragenden Verpflichtungen nicht etwa ein kontingentes Faktum zutage fördere (mithin auf einen naturalistischen Fehlschluß hinauslaufe), sondern „ein einsehbares in Freiheit Anerkannthaben“ erschließe, das für „die Selbstreflexion der Vernunft immer schon ein ‚Faktum der Vernunft‘ (apriorisches Perfekt!) ist“.87 Der reflexive Rückgang darauf sei weder ein naturalistischer Fehlschluß noch eine petitio principii, denn er besage: „Wer mit dem Willen zur Selbstkonsistenz argumentiert – und dies kann man als nichthintergehbar unterstellen –, der hat insofern nicht mehr die Wahlfreiheit, sich auch gegen das Sittengesetz zu entscheiden; denn dieses hat er ineins mit dem Willen zur selbstkonsistenten Argumentation – d.h. ineins mit dem Adressieren einer idealen Argumentationsgemeinschaft – schon notwendigerweise anerkannt“.88 Die Unhintergehbarkeit von Freiheit und Verantwortlichkeit, von Jonas metaphysisch und von Apel transzendentalpragmatisch angenommen, läßt sich demonstrieren: In einem realen 86 Apel, Transformation II, S. 418. Ders., Auseinandersetzungen, S. 231. 88 Ebd. 87 60 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Dialog mit einem Zweifler als leibhaftem Dialogpartner, kann ‚ich‘ diesem ‚meinem‘ Partner demonstrieren, daß er aus dem Dialogverhältnis ausbrechen müßte und von ‚mir‘ (und anderen möglichen Partnern) nicht mehr als glaubwürdiger Diskurspartner anerkannt werden kann, wenn er das Verwobensein seiner Freiheit mit seinem Verantwortlichseinwollen und damit die Verbindlichkeit des Moralprinzips bzw. des Sittengesetzes in Zweifel zu ziehen versucht. Geht nämlich ein solcher Dialogtest für den Zweifler negativ aus, dann ist dialogevident, daß die bezweifelte Annahme eines Prinzips in der Tat eine Sinnbedingung argumentativer Diskurse ist – also ein wahrhaft verbindliches Prinzip. Die reflexiv sokratische Dialog- bzw. Diskurspragmatik kann also auf der Ebene allgemeingültiger Kriterien zweierlei nachkantische Errungenschaften in das Gespräch mit Jonas einbringen. Erstens bietet sie einen Gültigkeitstest der ethischen Intuitionen, die wir aus der Lebenswelt mitbringen. Mit Recht legt Jonas auf die Erschließung lebensweltlicher Intuitionen großen Wert. Und es ist der bedeutsame Rückgang auf allgemein einsichtsfähige Moralintuitionen, der seinem normen- und wertphänomenologischen Ansatz – im Unterschied etwa zu dem transzendentalphilosophischen Diskursansatz Apels und zu Habermas’ verfahrensförmigem Diskursansatz – eine starke Motivationskraft uns insofern attraktive Konkretheit verleiht. Beides kann eine Vernunftethik wie die Diskursethik m. E. nur gewinnen, wenn sie im Anschluß an Jonas zu einer sokratischen Ethik des Sich-im-DialogVerantwortens transformiert wird. Sie würde dann einen sinnkritischen Verbindlichkeitsdiskurs auf der Prinzipienebene etablieren: >Welche lebensweltlichen moralischen Intuitionen mußt du – der du ein glaubwürdiger Diskurspartner sein willst – als ein solcher anerkennen, um dich nicht in einen performativen Selbstwiderspruch zu verwickeln und dadurch die von dir a priori beanspruchte Glaubwürdigkeit des Diskurspartners zu verlieren?< Denn die sokratisch reflektierende Diskurspragmatik kann Jonas’ Begründungsdefizit beheben. Sie kann nämlich erweisen, daß Jonas’ kategorischer Imperativ argumentativ unhintergehbar ist und infolgedessen als verbindliches Prinzip zu gelten hat89 – unbeschadet erforderlicher kommunikationsethischer Kriterien wie dem der Verständigungsgegenseitigkeit und der Ebene idealer praktischer Diskurse (für die Jonas Gedankenexperimente einsetzt) und unbeschadet nötiger erfolgsverantwortungsethischer Strategien zur Durchsetzung in der realen Welt. Erst ein solcher Erweis kann die innere Herausforderung der praktischen Vernunft 89 Böhler, „Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung“, in: EWD-3, S. 34ff. Ders., „Warum moralisch sein?“ in: Prinzip M.V., S. 15ff. Ders., „Glaubwürdigkeit des Diskurspartners“, Abschn. 1.4.1 – 1.4.2, in: Wirtschaft und Ethik. Strategien contra Moral?. EWD-Bd. 12, Münster 2004. 61 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 durch die wissenschaftlich-technische Zivilisation annehmen und die Komplementaritätsstruktur des modernen westlichen Geistes dialektisch aufheben. Wie? Durch einen reflexiven philosophischen Begründungsdiskurs, der einem Skeptiker andemonstriert, daß Jonas’ Imperativ eine Existenzbedingung (Permanenz der Menschengattung) nennt und eine Moralbedingung (Achtung der Menschenwürde) einschließt, deren normative Verbindlichkeit ein Diskurspartner nicht sinnvoll bezweifeln kann. Das Schema dieses Erweises nimmt sich so aus: Schema des Verbindlichkeitserweises von Jonas’ Imperativ der Verantwortung (I.V.) aus dem argumentativen Dialog/Diskurs P1: Was unvereinbar ist mit deiner Glaubwürdigkeit als Diskurspartner, ist als Diskursbeitrag sinnlos und als Handlungsweise verwerflich.* P2: Eine Bezweiflung und Nichtbefolgung des I.V. ist damit unvereinbar.* C: Also ist die Anerkennung und Befolgung von I.V. moralisch richtig/verbindlich. * Warum? ad P1: Was du nicht als glaubwürdiger Diskurspartner, also nicht mit einem ernsthaften Diskursbeitrag bezweifeln kannst, das gilt in seinem normativen Gehalt prinzipiell, mithin moralisch verbindlich. ad P2: Die Bezweiflung des I.V. zerstört deine Diskursglaubwürdigkeit, weil du einerseits als unser Diskurspartner jetzt Glaubwürdigkeit hinsichtlich deines Zweifelsakts beanspruchst und damit sowohl das Recht auf Dialogteilnahme und freie Meinungsäußerung sowie das zugrundeliegende Menschenrecht auf unbedrohte Existenz in Anspruch nimmst, andererseits aber eine (auch deine) Mitverantwortungspflicht für die Entwicklung der Bedingungen „echten“, d.h. menschenwürdigen Lebens auf Erden, mithin für die Entwicklung der Existenz- und Dialogbedingungen, in Zweifel ziehst. Eine solche Rückbesinnung auf den argumentativen Dialog und damit auf das SichVerantworten-im-Dialog, kann die Begründungsschwäche von Jonas’ gegenstandszentriertem Verantwortungsdenken ausgleichen. Mit dem reflexiven Begründungsdiskurs haben wir übrigens den zweiten Namensgeber der strikten Diskursethik im Sinne des genitivus 62 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 obiectivus vor uns. Die dialogpragmatische Form der Diskursethik – nicht zu verwechseln mit Habermas’ „formalpragmatischer“ bzw. „diskurstheoretischer“ Schwundstufe von Diskursethik – ist eine allgemeine Prinzipienethik. Ihre nicht metaphysische, sondern dialogreflexive Begründung des Moralprinzips und der moralischen Grundnormen vollzieht sich in einem Diskurs durch Besinnung auf uns selbst als Diskursteilnehmer. An einem solchen Begründungsdiskurs kann jeder teilhaben; seine Resultate sind allgemeingültig, insofern sie jederzeit intersubjektiv nachprüfbar sind. Gemäß des Berliner Dialogdenkens bedeutet „Diskursethik“ in diesem zweiten Sinn so viel wie: Prinzipienethik aufgrund von reflexiven Dialogen mit dem Skeptiker, insofern er einen Zweifel an der Gültigkeit und Verbindlichkeit eines Prinzips vorbringt. Allerdings ist das, was nach der Prinzipienbegründung – also nach geleistetem Verbindlichkeitserweis des Prinzips der Mitverantwortung für den Fortbestand der Menschengattung und für Fortschritte in Sachen Menschenwürde und Gerechtigkeit – noch zu denken und immer wieder zu tun bleibt, mehr als genug: die Bewältigung der äußeren bzw. materialen Herausforderungen der praktischen Vernunft durch die technologische Zivilisation, also die Eindämmung der Menschheits- und Naturgefährdungen – zugunsten nicht allein einer „Weiterwohnlichkeit der Welt“, sondern auch zugunsten der „künftigen Integrität des ‚Ebenbildes‘“90, wie wir in biblischer Sprache mit Jonas sagen können. 90 Jonas, „Technik, Freiheit und Pflicht“, in ders.: Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 46 und PV, S. 393. 63 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 4 Absolute Pflicht zum Dasein der Menschheit? 4.1 Hans Jonas’ orientierende Gedankenexperimente. In seinem ethischen Hauptwerk „Das Prinzip Verantwortung“ schlägt Jonas, um angesichts der Menschheits- und Naturgefährdungen zu moralischen Handlungsorientierungen zu gelangen, zwei Wege ein: die phänomenologische Herausarbeitung ethischer Intuitionen und die Durchführung von Gedankenexperimenten zu deren Prüfung. Diese „Denkexperimente“ sollen die praktische Diskurs-Frage >Was sollen wir tun?< beantworten, und zwar vor dem Hintergrund der unvermeidlichen Risikobeladenheit menschlichen Handelns im allgemeinen und des technologiebasierten bzw. technologischen Handelns im besonderen. Es wird also – moralintrinsisch – nach richtigen, moralisch legitimierbaren Maximen gesucht. Folie zu S. 63 In dem ersten Gedankenexperiment, dem der „Heuristik der Furcht“, geht Jonas von der Wertbzw. Orientierungsfrage aus, worin eigentlich das lohnende, allseitiger Mühe werte Endziel resp. Telos der Menschheit bestehe. In der Sache antwortet er: Die Bewahrung des Menschen, so wie er ist, sei das lohnende Ziel.91 Diese zukunftsethische Grundintuition scheint er in einem aristotelischen Rahmen geltend zu machen, im Sinne einer Ethik des Wünschenswerten, des wohlverstandenen Wollens, des eigentlich Guten. Die Grundintuition macht die Zukunftsethik zunächst zu einer Ethik der Menschheitsbewahrung. Und sie verlangt aus zwei Gründen einen nacharistotelischen Bezugsrahmen: Im Unterschied zu Aristoteles bezieht sie sich auf die Menschengattung als ganze; zudem orientiert sie sich nicht an einem (utopieträchtigen, spekulativen) größten oder höchsten Gut, dem summum bonum, sondern an dem zu fürchtenden moralischen summum malum.92 Insofern vertritt Jonas eine Vermeidungsethik. Aus dieser bewahrungs- resp. vermeidungsethischen Zielsetzung ergibt sich der besondere Bezugspunkt des genannten Gedankenexperiments, nämlich die Frage, welche möglichen bösen Handlungsfolgen wir, insofern wir das Gute wollen, unbedingt fürchten müßten und als moralische Subjekte auch fürchten sollten. Das gelte es zu finden (griechisch: ε ρίσκειν, 91 Jonas grenzt sich damit von dem metaphysischen bzw. anthropologischen Utopismus ab, wie er radikal von Ernst Bloch, die Hoffnung auf ein „Sein wie Utopie“ zum Prinzip des Daseins erklärend, vertreten worden ist. Vgl. Jonas: PV, S. 340f,371-373,380-387. Ders., Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt a.M. 1985, S. 298ff (zit.: TME). Ders., Fatalismus wäre Todsünde. Gespräche über Ethik und Mitverantwortung im dritten Jahrtausend, Münster 2005 (zit.: Fatalismus), S. 110f, 76-80 und 95. Dazu: D. Böhler, „Verstehen und Verantworten“, Einleitung zu: Fatalismus, S. 15-18. 92 Jonas, PV., S. 63ff. 64 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 heuriskein); wofür er eine Findekunst, eine Heuristik vorschlägt, und zwar ein Gedankenexperiment. Dieses soll eine Furcht „geistiger Art“, die „altruistische“ Besorgnis bzw. „Furcht um den Menschen“ in der hochtechnologischen Zivilisation93 allererst konkret erarbeiten. Denn wir bringen eine konkrete moralische Folgenfurcht in Sachen Technologie nicht schon mit; auf geschichtliches Erfahrungswissen können wir hierzu kaum zurückgreifen. Vielmehr müßten wir uns realistischerweise fragen: Wachsen die kumulativen Folgen der industriegesellschaftlich normalen Konsumpraxis und ihres Fortschritts- und „Wachstums“Gangs den sittlichen Fähigkeiten des Menschen über den Kopf? Zu dieser, vor allem ökologisch ethischen und bioethischen Furcht tritt eine intern moralische Sorge. Denn nicht allein die ökologische Ausdehnungsdimension der hochtechnologisch vermittelten Lebenspraxis ist so gut wie grenzenlos geworden, auch die Tiefendimension der hochtechnologischen Forschung überschreitet längst jedes gewohnte ethische Maß: Die molekularbiologischen Manipulationsmöglichkeiten und Konstruktionsmöglichkeiten menschlichen Lebens überrennen alle Grenzen, welche unsere ethischen Intuitionen und judäo-christlichen Traditionen vom Menschen als dem unantastbaren Ebenbild Gottes einst festgeschrieben hatten. Für die konkrete Risikobeurteilung bringt die „Heuristik der Furcht“ zunächst eine Art dialogethischen Rollentausch ins Spiel. Jonas nimmt den Standpunkt der Betroffenen ein, indem er den Lesern einen negativen Wert-Test vor Augen führt, der Gefühl und Dialog verbindet, derart, daß er einen impliziten Dialog mit möglichen Betroffenen eröffnet; etwa so: ‚Überlege zunächst, welche Folgen deiner Handlung dir, dessen Wollen in die Richtung des Guten geht, aus dem Blickwinkel der Betroffenen Furcht einflößen würden.’ Insofern werden hier bereits das normative Kriterium „Einbeziehung der Anderen“ und die Verfahrensweise einer Antizipation der Lebens- und der Rechtsansprüche künftiger Generationen angebahnt, welche in dem zweiten Gedankenexperiment, dem von der Wette im Handeln, explizit werden. Die Heuristik soll nicht mehr oder weniger als die „moralische Phantasie“ (Günther Anders94) evozieren, indem sie uns auf die Suche nach dem moralisch (nicht etwa privat und lebensplanerisch) zu Fürchtenden schickt. Zur Begründung führt Jonas eine bekannte logische Asymmetrie in der ethischen Urteilsbildung an: Dasjenige, „was wir nicht wollen, wissen wir viel eher als was wir wollen. Darum muß die Moralphilosophie unser Fürchten vor unserm 93 94 Jonas, PV, S. 65, vgl. 63 f. Ders., Fatalismus, S. 137. G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956, bes. S. 15ff. und 267 ff.; dazu M. Werner, Kann Phantasie moralisch werden?, in: J.P. Wils (Hg.), Anthropologie und Ethik, Tübingen 1997, S. 41-63. 65 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Wünschen konsultieren, um zu ermitteln, was wir wirklich schätzen“.95 Vorsichtig hebt Jonas hervor, das wertethische Gedankenexperiment der vorgestellten schlechten Fernwirkungen, gleichsam das worst-case-Szenario, sei kein hinlänglicher Kompaß, sondern bloß eine erste Klärung. Ihm komme nur der Stellenwert einer Findekunst bzw. eines brain storming zu, eben einer „Heuristik der Furcht“96. Das zweite Gedankenexperiment geht von einer sozial realistischen Einsicht aus, die Hannah Arendt im Sinne einer lebensweltlichen Anthropologie geltend gemacht hat, die Einsicht, daß alles Handeln in der vielfach verwobenen und zerbrechlichen Welt des Menschen riskant und nach seinem Risiko schwer einschätzbar ist.97 Jonas pointiert dieses intuitive Lebenswissen durch den Vergleich des Handelns mit einem Glücksspiel bzw. einer Wette: „Das Prinzip“ auch der neuartigen, der technologischen Handlungs- bzw. Auswirkungsdimensionen könnten wir erfahren, „wenn wir auf das Element des Glücksspiels oder der Wette reflektieren, das in allem menschlichen Handeln hinsichtlich des Ausgangs wie der Nebenwirkungen enthalten ist, und uns fragen, um welchen Einsatz man, ethisch gesprochen, wetten darf.“98 Das Gedankenexperiment der Wette ist ein zur Abhandlung stilisiertes moralisches Selbstgespräch: Es ähnelt einem praktischen Diskurs, den ein moralisch orientierter und hinsichtlich der technologischen Folgendimension aufgeklärter Projektbefürworter – ein Vernunft- und Moralfreund, der seinen Kant gelesen haben mag – mit sich selbst führt. Er führt seinen Diskurs faktisch zwar allein mit sich – aber logisch geurteilt, vor der Geltungsinstanz einer unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft. Auf diese Instanz beruft sich Jonas, indem er stillschweigend das Universalisierungsprinzip Kants zum Leitfaden nimmt und seinen Vernunftfreund vermittels Selbsteinwänden nach dem besten Argument suchen läßt. Komplementär zum vorausgegangenen Denkexperiment nimmt das zweite die Perspektive eines Handelnden in der technologischen Zivilisation ein, welcher bereits weiß, daß seine Handlungen eine kaum begrenzbare Auswirkungsdimension haben können, und auch, daß eine Prognose ihrer Auswirkungen prinzipiell unsicher bleibt.99 In die, von Jonas nur angespielte, Form des moralischen Selbstgesprächs gebracht, können wir sein DiskursGedankenexperiment folgendermaßen beginnen lassen: 95 Jonas, PV, S. 64. A.a.O., S. 63 ff. 97 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 71994, §§ 26-34. 98 Jonas, PV, S. 77. 99 Ebd., S. 76. 96 66 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 ‚Du, der du Interesse an einer technischen Innovation hast, überlege dir, welchen Einsatz deine technologische Wette haben darf und stelle dir die Frage: Darf ich die Interessen Anderer in meiner Wette einsetzen?’ Die erste Antwort ergibt sich aus der moralischen Intuition, daß „man, streng genommen, um nichts wetten darf, was einem nicht gehört“100. Kann es aber damit sein Bewenden haben? Nein. Denn wenn ‚du’ weiter argumentierst, erkennst ‚du‘ alsbald, daß sich jene Antwort nicht absolut nehmen läßt, weil all dein Handeln „das Schicksal Anderer in Mitleidenschaft zieht“, so daß ‚du‘, wenn du daraus ein direktes Handlungsprinzip machtest, gar nicht mehr handeln dürftest. Ein gewisses Risiko gehört zu den Anfangsbedingungen menschlichen Handelns in der vielfach verflochtenen und nicht (mit Sicherheit) prognostizierbaren Welt. – Hierin trifft sich Jonas ebenso mit Hannah Arendt wie mit Popper, Skirbekk101 und der Diskurspragmatik. Daß die erste Antwort gleichwohl eine gewisse Berechtigung hat, stellt sich dann heraus, wenn eine Qualifizierung des Wettverbots vorgenommen wird. „Der Einsatz darf nie das Ganze der Interessen der betroffenen Anderen sein, vor allem nicht ihr Leben“102. Nun kann man hiergegen wiederum einwenden, es gebe doch Krisen- oder Kriegssituationen, in denen sich das drohende größte Übel nur durch den höchsten Einsatz, hier des Lebens Vieler, abwenden lasse. Demnach ist also auch das neue Prinzip, das die Unverfügbarkeit des Gesamtinteresses der Betroffenen geltend macht, nicht unbedingt gültig, nämlich nicht in der Alternative Sein oder Nichtsein, welche zur Notwehr und zum höchsten Noteinsatz berechtigt, sondern gleichsam nur in mittleren Problemlagen. Nun fragt es sich ohnehin, ob das eingewandte Extrembeispiel, welches der Opponent geltend macht, überhaupt auf denjenigen zutrifft, der das Interesse eines technologischen Fortschritts geltendmacht. Die heutigen „großen Wagnisse der Technologie“ werden doch nicht, so setzt Jonas das diskursive Gedankenexperiment fort, „zur Rettung des Bestehenden oder Behebung des Unerträglichen unternommen, sondern zur stetigen Verbesserung des je Erreichten, das heißt für den Fortschritt. [...] Also gewinnt hier, wohin der Schutz des Proviso nicht reicht, der Satz, daß mein Handeln nicht ›das ganze‹ Interesse der mitbetroffenen Anderen (die hier die Zukünftigen sind) aufs Spiel setzten darf, wieder Kraft.“103 Das damit zu Ende gekommene moralische Selbstgespräch läßt sich als Dialog zusammenfassen: 100 Ebd., S. 77. G. Skirbekk, Une Praxéologie de la Modernité, Paris 1999, chap. III, V, VIII. Ders., Praxeologie der Moderne, Weilerswist 2002. 102 Jonas, PV, S. 78. 103 A.a.O., S. 79. 101 67 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Proponent: Man darf „strenggenommen um nichts wetten, was einem nicht gehört“ (1). Opponent: Da all dein Handeln „das Schicksal Anderer in Mitleidenschaft zieht“, dürfte man dann überhaupt nicht handeln (2). Proponent: Aber „der Einsatz darf nie das Ganze der Interessen der betroffenen Anderen sein, vor allem nicht ihr Leben“ (3). Opponent: ‚Auch das kann nötig und legitim sein: wenn selbstlose Ziele z.B. in Verteidigungssituationen, im Krieg, zu verfolgen sind‘ (4). Proponent: Ja. Doch beim Einsatz von Hochtechnologien geht es nicht um Sein oder Nichtsein, sondern nur um einen Fortschritt zur „Verbesserung des je Erreichten.“ „Also gewinnt hier der Satz [… 3] wieder Kraft“ (5). Dieser Conclusio des Proponenten fügt Jonas in den Abschnitten „Kein Recht der Menschheit zum Selbstmord“ und „Die Existenz ‚des Menschen‘ darf nicht zum Einsatz gemacht werden“, eine weiterführende Überlegung hinzu, die allerdings entscheidend ist. Denn erst sie gibt das moralische Prinzip an, „das gewisse ‚Experimente‘, deren die Technologie fähig ist, verbietet, und dessen pragmatischer Ausdruck eben die vorher diskutierte Vorschrift ist, für die Entscheidung Unheilsprognosen vor Heilsprognosen den Ausschlag geben zu lassen.“104 In dem moralischen Selbstgespräch über die Wette im Handeln kommt also der Proponent nochmals zu Wort: Jetzt grenzt er den zweiten Einwand des Opponenten (Satz 4) ein, indem er eine moralische Bedingung – Bewahrung der Menschheit – hinzufügt und diese im Sinne des diskursethischen Legitimationskriteriums der universalen Zustimmungswürdigkeit geltend macht. Dadurch holt er die Intention von Satz 3 ein. Zusatz des Proponenten: Auch zur Rettung einer Nation darf man (im Verteidigungsfall) „kein Mittel verwenden, das die Menschheit vernichten kann.“ Während der Staatsmann bei einem Schicksalsentscheid über Krieg oder Frieden „idealiter das Einverständnis derer, für die er entscheidet, als deren Sachwalter annehmen [darf, ist hingegen] kein Einverständnis zu ihrem Nichtsein oder Entmenschtsein von der Menschheit der Zukunft erhältlich noch auch supponierbar“ (6).105 104 105 A.a.O., S. 81. A.a.O., S. 80. 68 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Also lautet das gesuchte Prinzip der Folgen- bzw. Zukunftsverantwortung: „Niemals darf Existenz oder Wesen des Menschen im Ganzen zum Einsatz in den Wetten des Handelns gemacht werden.“106 Bemerkenswerterweise geht Jonas mit diesem Gedankenexperiment über seine kontemplative Einstellung in phänomenologischer und ontologischer Perspektive hinaus, indem er in der Dialogform eines argumentativen Selbstgesprächs denkt. Wenngleich er nicht aus dem Dialog denkt und sich selbst keineswegs diskursethisch versteht, arbeitet er hier (wie auch anderwärts) im Sinne einer Grundforderung des diskursethischen Prinzips ‚D‘. Denn sein Moralfreund ist de facto sorgsam darauf bedacht, die Diskursnorm der gleichberechtigten Berücksichtigung der Interessen aller Anderen zu befolgen, insoweit gute Gründe für sie geltend gemacht werden können. Damit entspricht er ‚D’. Diesem regulativen Geltungs- und Orientierungsprinzip zufolge soll man sich eben um eine Handlungsweise und Entscheidung bemühen, die universal zustimmungswürdig ist, so daß sie unter reinen Argumentationsbedingungen und unter freien Dialogverhältnissen den Konsens aller Argumentationspartner erzielen würde. Solch einen idealen Konsens kann aber keine Handlungsweise oder Entscheidung für sich beanspruchen, welche die Existenz der Menschengattung und die moralische Idee der Menschheit, insonderheit das Prinzip der Menschenwürde, in Zukunft gefährden kann. Denn durch dieses totale Risiko würde just das aufs Spiel gesetzt, was man selbst als Sinnvoraussetzung für Moral in Anspruch genommen bzw. als normativen Rahmen implizit anerkannt hat, wenn man eine moralische Entscheidung sucht: - ontologisch die zeitlich unbegrenzte Möglichkeit, Ansprüche zu haben und sich zu verantworten, die auch für zukünftige Generationen gegeben sein muß, also die Permanenz der Menschengattung als Existenzbedingung für Moral, - normativ-ethisch die Verbindlichkeit des Menschenwürdegebots als moralischer Grundnorm. Wer sich für dermaßen gefährliche Technologien entscheidet, gefährdet nämlich ebenso die Menschheit wie den moralischen Rahmen seiner eigenen und jeder ernstzunehmenden Entscheidung. Kaum vorstellbar, aber wahr: Wir Heutigen sind es, die in die Entscheidung für solche verwerflichen Technologien alltäglich mitverstrickt sind – als Konsumenten, Autofahrer, Strombezieher, Patienten, Ärzte usw. Dieser Seitenblick auf uns in unserer hochtechnologisch 106 A.a.O.., S. 81. 69 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 basierten und energieverschwenderischen Lebenswelt macht das schlagartig deutlich, was Jonas, wie er immer wieder sagte, in „Furcht und Zittern“ versetzt hat: Eine „Zeitbombe tickt, während wir einfach so leben, wie wir es tun als Mitglieder der westlichen Zivilisation, und woran jeder von uns mitwirkt.“107 Richten wir den Blick wieder auf Jonas’ Gedankenexperiment der Wette und befragen es kritisch: Wo sind seine Grenzen? Dreierlei leistet es nicht, was eine Ethik der Zukunftsverantwortung erfordert. Erstens gibt es nichts für die Begründung her, daß jeder und jede überhaupt unabweisbare moralische Verpflichtungen habe und verfolgen solle. Denn es hebt die Komplementaritätsstruktur der verwissenschaftlichen westlichen Zivilisation nicht auf, welche einerseits die formelle Rationalität des Kalküls und der wissenschaftlichen Kausalerklärung zum Paradigma der Vernunft erhebt und andererseits moralische Verpflichtungen als nicht erweisbar ansieht, als außervernünftig bzw. arational. Demgegenüber bedarf es eines Erweises, daß jeder, auch der strikte Wissenschaftler oder der Vertreter einer strikt formellen Rationalität, zu erkennen vermag, daß er prinzipiell moralisch verpflichtet ist und daß er sich überdies dem Prinzip der Zukunftsverantwortung nicht entziehen kann, ohne mit seiner Rolle als Wissenschaftler in Widerspruch zu geraten. Genau das demonstriert die Diskurspragmatik, indem sie einen Skeptiker, etwa einen formellen Rationalisten oder Existenzialisten bzw. Dezisionisten, bei seiner Rolle als Diskursteilnehmer packt und ihm im Dialog sokratisch vor Augen führt: ‚Indem du deinen Zweifel uns Argumentationspartnern gegenüber geltend machst, hast du die Rolle des Diskurspartners übernommen. Diese deine Dialogrolle, deine Rolle als Argumentationspartner, der sein Argument (hier: seine Zweifelsthese) universal geltend macht und dadurch implizit alle möglichen Argumentationssubjekte sowohl als Gleichberechtigte anerkannt wie auch als Diskursverantwortliche in Anspruch genommen hat, ist unvereinbar mit dem Zweifel an der Gültigkeit und einsehbaren Verbindlichkeit des Prinzips Verantwortung. Deine Diskursrolle ist nämlich unvereinbar mit einem Zweifel daran, daß du zur Moralität und zur Zukunftsverantwortung einsehbar verpflichtet bist, wie wir alle es sind, weil du diese Rolle durch solchen Verantwortungszweifel zerstörtest.‘ Damit haben wir das Begründungsschema der Diskurspragmatik vor uns, den Aufweis eines performativen Selbstwiderspruchs des Zweiflers an der Allgemeinverbindlichkeit des Moralprinzips als Verpflichtung zur universalen Mitverantwortlichkeit. Das Schema sieht so aus: 107 So Jonas in dem Fernsehgespräch Erkenntnis und Verantwortung, in: D. Böhler, P. Brune: Orientierung und Verantwortung, Würzburg 2004, S.450. 70 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Hat jede/jeder überhaupt einsehbare, ja argumentativ unabweisbare, moralische Verpflichtungen? Die Frage eines Verbindlichkeitserweises bzw. einer Letztbegründung des Moralprinzips als Pflicht zur Mitverantwortung für Menschengattung und Menschenwürde oder: »Warum moralisch sein?« „Ich behaupte, daß das Moralprinzip (vielleicht) nicht verbindlich, sondern bezweifelbar ist.“ - Indem du uns/allen Argumentationspartnern gegenüber etwas – hier deinen Zweifel an der Allgemeingültigkeit und das heißt Verbindlichkeit des Moralprinzips – als Argument geltend machst, also die Diskurspartnerrolle übernimmst, hast du bereits implizit, nämlich performativ, alle möglichen Argumentationssubjekte anerkannt und als Mitverantwortliche (zumindest) für diesen Diskurs in Anspruch genommen. ________________________________________________________________________ - Also ist deine Handlung als Diskurspartner unvereinbar mit deiner Aussage, daß das Moralprinzip vielleicht nicht verbindlich/bezweifelbar sei. - Was man aber nicht als Diskurspartner sinnvoll bezweifeln kann, das ist allgemeingültig und in seinem normativen Gehalt verbindlich. - Folglich ist das Moralprinzip allgemeinverbindlich. In dieser Vorlesung haben wir den diskurspragmatischen Verbindlichkeitserweis, traditionell gesagt: die Letztbegründung des Moralprinzips und des Prinzips der Zukunftsverantwortung, nicht in extenso durchgeführt, weil ich aus Zeitgründen den ursprünglichen Teil „Warum moralisch sein?“ streichen mußte. Doch haben die Transzendentalpragmatik und Diskurspragmatik ihre diesbezügliche Schuldigkeit, wie ich hoffe, im wesentlichen getan. Hier, in Abschnitt II.4.2 und in den Kapiteln zum Menschwürdegebot (II.6 und 7), werden wir noch Beispiele für die Anwendung dieses Verbindlichkeitserweises finden.∗ Jonas’ Gedankenexperiment der Wette läßt, wie gesagt, keinen Raum für einen Verbindlichkeitserweis des Verantwortungsprinzips gegen den Skeptiker. Denn es setzt den Willen zur Moral bereits voraus. Auf dieser Basis folgert es dann nurmehr differenzierend: ∗ Dieser Absatz ist in der Buchversion zu streichen! 71 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 ‚Wenn du moralisch sein willst, dann mußt du heute, in der technologischen Zivilisation, zukunftsverantwortlich sein.‘ Zu dem Begründungsdefizit kommt – zweitens – ein moralstrategisches Orientierungsdefizit. Was dem Denkexperiment der Wette fehlt, ist eine moralstrategische Fortsetzung zur Lösung von Max Webers Problem einer Verantwortung für den Erfolg des Moralischen in der realen, nicht moralischen Welt. Ähnlich wie Kants Gedankenexperiment des Kategorischen Imperativs oder Habermas’ Verfahren des praktischen Diskurses bleibt auch Jonas’ Diskursexperiment der Wette gleichsam auf einer idealisierenden Begründungsstufe A 2 stehen. Drittens gibt es kein Kriterium für die Zuerkennung moralischer Ansprüche her. Es bleibt stumm, wenn es um die „Inklusionsfrage“ geht, welche Wesen wir als moralisch Anspruchsberechtigte anerkennen sollen. Eben das ist etwa bei der Diskussion über die Invitro-Fertilisation und die Forschung an embryonalen menschlichen Stammzellen umstritten. Denn auch ein Rückgriff auf das Menschenwürdeprinzip fruchtet hier nicht, weil ja gerade strittig ist, von welchem Entwicklungsstadium an Embryonen der Menschenwürdestatus und der volle Menschenwürdeschutz zukomme. Angesichts der weltgeschichtlich neuen Situation nicht begrenzbarer, teilweise sogar die Gattungsexistenz gefährdender, Handlungsfolgen klärt und rekonstruiert das Gedankenexperiment jedoch den Gehalt einer schon mitgebrachten Verpflichtungsintuition. Indem Jonas lebensweltliche Moralintuitionen rekonstruiert und sie direkt auf die neuartige technologische Problem- bzw. Handlungssituation bezieht, gewinnt seine Verantwortungsethik eine motivierende Kraft. Daran hat es der Diskursethik bislang gefehlt.108 Kommt es aber nicht darauf an, bereits in der Logik der verantwortungsethischen Beratungen und Erörterungen die sozialanthropologisch tiefliegenden Fürsorgeintuitionen zu berücksichtigen, die an den lebensweltlichen Verantwortungsinstitutionen der Elternschaft und der Regierung haften? Sollte hier die Diskursethik der verantwortungsethischen Bewahrungsaufgabe nicht besonderen Nachdruck verleihen? In diesem Sinne läßt sich das erste unserer erfolgsverantwortlichen Kriterien (B 1) folgendermaßen präzisieren: ›Prüft, 108 Vgl. W. Kuhlmann, „‘Prinzip Verantwortung‘ versus Diskursethik“ in: E.Z., S. 277-302. Erstaunlicherweise hat K.-O. Apel, wiewohl er stets den teleologischen Verpflichtungssinn des Moralprinzips auf der moralstrategischen Ebene B betont und dabei nicht nur die Herstellung fehlender Bedingungen für moralisches Handeln, sondern auch die Bewahrung der bereits geschichtlich gegebenen ins Auge fassen konnte, an dieser Stelle kein Kooperationsverhältnis zu Jonas erkannt. Das mag auch daher rühren, daß Apel auf der Ebene B keine eigenständige Fragestellung, was denn das zu Bewahrende sei, und also keinen eigenen Diskursschritt B 1 vorgesehen hat. 72 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 welche Institutionen, Traditionen und ethischen Intuitionen dem Moralprinzip (D) gerecht werden, schützt und entfaltet sie sorgsam!‹109 109 Dazu die Entfaltung der verantwortungsethischen Diskurse auf der moralstrategischen „Ebene B“ in: D. Böhler, „Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung. Erster Teil“, in: Böhler/Brune, 2004, hier S. 137 ff, 147 f. 73 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 4.2 11.12.2009 Unbezweifelbare Pflicht zur Daseinsbewahrung der Menschheit oder: Als Diskurspartner hast du dich zur Vereinbarkeit deiner Thesen / Entscheidungen mit einem unbegrenzten argumentativen Konsensus verpflichtet Unbeantwortet ist freilich noch die neuartige normative Hauptfrage eines Skeptikers, worin der durchschlagende, nicht mehr sinnvoll zurückweisbare Grund der Verbindlichkeit für eine permanente Bewahrung der Menschengattung bestehe; wobei er konzediert, daß sie erstmals in der Gattungsgeschichte gefährdet ist und auch einräumen dürfte, daß es schade um die Menschheit wäre, wenn sie zugrundeginge. Doch fragt er unerbittlich: ‚Gibt es für mich/uns als Argumentationspartner einen unabweisbaren (d.h. allenfalls durch performativen Selbstwiderspruch zu der eingenommenen Diskurspartnerrolle bezweifelbaren) Grund für die Norm: Deine Handlungen und deren Folgen sollen mit der Permanenz der Menschengattung verträglich sein? Ist das die erste, elementare und unwidersprechliche Pflicht, wie Jonas meint?‘ Zur Begründung führt unser Skeptiker ein Diskursexperiment an. Er sagt etwa: ‚ Nehmen wir einmal an, daß die jetzt lebende Menschheit – gesetzt den (im Gedankenexperiment vorstellbaren) Fall, sie fände sich als Diskursgemeinschaft zusammen, – nach sorgsamer Analyse der sogenannten ökologischen Krise als unaufhaltsamer Naturzerstörung und Menschheitsgefährdung und nach sorgsamer Erwägung aller vorgebrachten Argumente zu dem Konsens käme: Wir wollen Schluß machen, wir wollen die Fortpflanzung einstellen und das zerstörerische Experiment einer Menschheit in der Natur abschließen. – In diesem Konsensfall gäbe es m. E. keinen Grund, der mich/uns zum Widerstand verpflichtete, also keinen Grund mehr, der die Forderung, sich für die Fortexistenz der Menschheit einzusetzen, allgemeinverbindlich machen würde. Und daß es sich so verhält, müßten zuallererst die Diskursethiker einsehen, weil sie ja die Einbeziehung der Anderen und den allgemeinen Konsens zum Kriterium dafür machen, ob eine Maxime bzw. Handlungsweise als moralisch legitim gelten kann.‘ Nicht in dieser Schärfe und in dialogischer Form aber als begründungstheoretische Erwägung ist dieses Problem zwischen Vittorio Hösle110, jungen „Diskurstheoretikern“ (im Unterschied zu reflexiv aus dem Dialog denkenden Diskursethikern), Karl-Otto Apel und mir111 bereits 110 V. Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie, München 1990 (2. Aufl. 1994), S. 257 f., vgl. 249 (auch 192 ff.). 111 K.-O. Apel, „Die ökologische Krise als Herausforderung für die Diskursethik“, in: E.Z., S. 369-404, bes. S. 388 f., 402 f. D. Böhler, „Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung“, in: Böhler/Brune, 2004, S. 97-159, bes. S. 107, 116 f. 74 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 angesprochen worden, ohne allerdings strikt dialogreflexiv durchdacht und insofern definitiv gelöst worden zu sein. Auf dem nordnorwegischen Kongreß „Ecology and Ethics“ (1990)112 hatte Apel für die Gültigkeit und Verbindlichkeit von Jonas’ erstem neuen Imperativ, „daß eine Menschheit sei“, argumentiert. Und zwar so, daß er – im Unterschied zu einem jungen Diskurstheoretiker und in stillschweigender Abgrenzung von Hösles Kritik des diskursphilosophischen Konsensmaßstabs – die Ableitbarkeit jener gattungsethischen Bewahrungspflicht aus dem diskursphilosophischen Konsensprinzip behauptet: Jonas’ „erster Imperativ, daß eine Menschheit sei“, der keine individuelle, sondern eine kollektive Pflicht zur Fortpflanzung geltend mache, stelle „die kühnste und die in höchstem Maße paradigmatische Forderung einer neuartigen Ethik der Zukunftsverantwortung [… dar], die bislang als Antwort auf die ökologische Krise formuliert worden ist. Indem ich das besonders betone, wende ich mich zugleich gegen die Annahme, die Diskursethik müsse Jonas’ Imperativ zurückweisen, einfach weil die jetzt lebende menschliche Kommunikationsgemeinschaft in ihrer Gesamtheit konsensuell den Beschluß fassen könnte, die Vermehrung menschlichen Lebens einzustellen. Ein solcher Beschluß würde scheinbar – nämlich im Sinne eines empiristischen Mißverständnisses der Konsenstheorie der möglichen Einlösung von Geltungsansprüchen – die entscheidende prozedurale Bedingung der Diskursethik erfüllen: die Bedingung, für alle Betroffenen akzeptierbar zu sein. Doch in Wahrheit würde er nur die Bedingung erfüllen, von allen jetzt Betroffenen faktisch akzeptiert worden zu sein. Faktische Konsense aber genügen in der Diskurs-Ethik dem regulativen Prinzip der Konsens-Forderung genausowenig wie in der Diskurstheorie der Wahrheit. Denn sie unterliegen dem Fallibilismus-Prinzip und insofern dem Vorbehalt der Revidierbarkeit. Nur der letzte, unrevidierbare – daher faktisch nie erreichbare – Konsens einer idealen Kommunikationsgemeinschaft könnte im Sinne des regulativen Prinzips der Konsensbildung als definitive Einlösung von Geltungsansprüchen angesehen werden. Der Weg hin zu diesem idealen Konsens – praktisch der Weg der möglichen Revision jedes bloß faktischen Konsenses – würde durch den unterstellten Beschluß gerade abgeschnitten. Daher wäre ein solcher Beschluß – ähnlich einem Beschluß zum kollektiven Selbstmord – zunächst als Verstoß gegen die moralische Pflicht zur fortschreitenden Annäherung an Verhältnisse einer idealen Kommunikationsgemeinschaft und damit der Möglichkeit eines idealen Konsenses zu 112 Vgl. den gleichnamigen Kongreßband, herausgegeben von A. Øfsti, Trondheim 1992, S. 219-257, bes. 240 f. 75 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 bewerten. […] Insofern 11.12.2009 schließt die Diskursethik mit der Autorität eines transzendentalpragmatischen Arguments kollektiven Selbstmord als ethisch falsch aus.“113 Nun ist das eine Begründung aus der transzendentalpragmatischen Theorie, gegeben in theoretischer Einstellung. Als solche ist sie nicht evident und zwingend für einen Skeptiker. Man müßte ihm andemonstrieren, daß er sich als unser Diskurspartner widerspricht und dadurch unglaubwürdig macht, weil seine Bezweiflung von Jonas’ erster Pflicht unvereinbar mit einem normativen Kernbestand seiner Diskurspartnerrolle ist – jenem Kernstück nämlich, das Apel als regulatives Prinzip eines idealen Konsenses bestimmt hat. Versuchen wir eine solche Demonstration, indem wir den Skeptiker in den Dialog ziehen und ihn dabei mit der von ihm übernommenen Rolle eines Argumentationspartners konfrontieren. Skeptiker (S): Habe ich dadurch, daß ich einen Gedanken, etwa einen Zweifel, anderen gegenüber geltend mache, d.h. als wahr bzw. wahrheitsfähig denke bzw. vorbringe, mich auf den Geltungsmaßstab Vereinbarkeit mit der Bemühung um argumentativen Konsensus in einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft verpflichtet? Und folgt daraus die moralische Verpflichtung, die Menschheit zu erhalten? Diskurspartner (D): Überleg bitte: Wärest du dir selbst und anderen als Diskurspartner verständlich, wenn du einen Gedanken so geltend machtest, daß er als Argument „universal kohärent“114 und universal konsenswürdig sein kann, zugleich aber in Zweifel zögest, daß Diskurspartner einsehbar verpflichtet sind, die Möglichkeit eines unbegrenzten argumentativen Konsensus und damit die einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft zu erhalten? 113 114 K.-O. Apel, a.a.O., in: E.Z., S. 388 f. Vgl. L.B. Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, Darmstadt 1978, S. 162, vgl. S. 205-216, auch § 5. Puntel vertritt allerdings – er setzt sich ausschließlich mit Habermas’ Konsenstheorie der Wahrheit, nicht mit der integrativen Konsenstheorie Apels auseinander – die Auffassung, das Kohärenzkriterium könne das Konsenskriterium ersetzen. Das aber ist nicht möglich. Denn Kohärenzstandards sind selbst geronnene argumentative Konsensbildungen über das, was als Kohärenz zu gelten hat; sie verkörpern gewissermaßen einen Konsens apriori. Und dieser läßt sich bei der Anwendung eines Kohärenzstandards aktualisieren. Insofern nehmen wir das Kriterium eines idealen Konsensus als Metakriterium in Anspruch, wenn wir eine Kohärenz feststellen: Keine Kohärenz ohne möglichen Konsens darüber, daß eine solche besteht. Puntels Reduktionsanspruch läuft ähnlich wie Karl R. Poppers Geltungsprimat für eine dritte Welt „der logischen Gehalte“ auf eine vorkommunikative, zugleich methodisch solipsistische und objektivistische Perspektive hinaus, welche die Intersubjektivität und den kommunikativen Handlungscharakter der Geltungsansprüche ignoriert. Ansprüche auf Geltung, etwa der auf Kohärenz, müssen anderen gegenüber erhoben werden können; und dadurch drängen sie auf Übereinstimmung. Vgl. D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, S. 91 ff. 76 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 S: 11.12.2009 Ja, ich nehme meinen Zweifel ernst und erwarte das auch von dir und anderen, die ihn bedenken können. Ich melde ihn als Kandidaten für das Diskursuniversum an. D: Also insoweit einverstanden? S: Ja, das ist geschenkt. Aber dein Widerspruchsvorwurf hängt in der Luft. D: Das tät mich verwundern. S: Ganz einfach: Mein Zweifel ist doch ein Argument. Und als solches stellt es die Möglichkeit eines idealen Konsensus nicht in Frage. D: Du flüchtest dich in einen Formalismus. Berücksichtige den Gehalt deines Arguments und seine Adressaten. S: Nun, der Adressat bist du und diejenigen, die mein Argument heute und morgen bedenken können. D: Und übermorgen, überübermorgen, überüberübermorgen usw. bis ins Unendliche; d. h. aber bis in die unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft. Eine solche ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß du jetzt einen ernsthaften Zweifel vorbringst, deinen Zweifel also für das Diskursuniversum anmeldest. Kein Diskursuniversum ohne Kommunikationsgemeinschaft; offene, daher ist auch unbegrenzte keine universale Kohärenz von Argumenten möglich ohne einen unbegrenzten, insofern ‚idealen‘ Konsens aller Argumentationssubjekte. S: Genaugenommen, hast du recht. Bis dahin muß ich zustimmen. Aber du wolltest mir doch demonstrieren, daß ich Jonas’ materialen ersten Imperativ ‚Sei mitverantwortlich für die Permanenz der Gattung!‘ als verbindlich anerkennen müsse, oder daß ich ihn gar schon implizit 77 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 anerkannt hätte. Hast du das vergessen, da du mich in eine bloß geltungslogische, ganz formale Überlegung hineinziehst? D: Keineswegs ganz formal. Und keine Sorge: Es ist nichts vergessen. S: Da bin ich gespannt. D: Wenn du nicht umhinkommst, die regulativen Gültigkeitsinstanzen ‚unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft‘ und ‚idealer Konsens aller Argumentationssubjekte‘ als normative Voraussetzung deiner Diskurspartnerrolle anzuerkennen, dann mußt du auch praktisch dazu bereit sein, die Möglichkeit beider in der Zeit zu bewahren. S: Was soll das heißen? D: Du darfst keine Position vertreten und erst recht keine Handlung vollziehen, die die Permanenz der Menschengattung in Frage stellt. Denn es ist die reale, permanente Existenzmöglichkeit der Menschheit, welche deiner Anerkennung des Diskursuniversums erst Sinn verleiht. Kein ‚Diskursuniversum‘ ohne Kommunikationsgemeinschaft. Besser: pragmatisch verstehen, können reale, Wir dich nicht fortdauernde können als dich nicht glaubwürdigen Diskurspartner ernstnehmen, wenn du weiterhin tust, was du vorhin getan hast. S: Was hätte ich denn so Unwürdiges getan? D: Mach jetzt kein Geplänkel. Du hast dich mit einem Diskursbeitrag unglaubwürdig gemacht. Denn einerseits hast du – erklärtermaßen – eine These, deine Zweifelsthese gegenüber Jonas’ erstem Imperativ, als Kandidaten für Konsens in der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft angemeldet. Andererseits hast du ein Gedankenexperiment verteidigt, das einen Suizid der Menschheit legitimieren soll. 78 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Weißt du nicht, daß die Fortdauer der Gattung die Existenzbedingung der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft ist? Weißt du jetzt immer noch nicht, daß ein, hier dein Anspruch auf Gültigkeit nur einlösbar ist, wenn auch alle vielleicht entgegenstehenden Ansprüche auf Leben von Menschen und auf Geltung ihrer vielleicht entgegenstehenden Thesen, vorgebracht und geprüft werden können? S: So scheint es wohl zu sein. D: So ist es. Dein Legitimationsversuch eines kollektiven Suizids durch das Gedankenexperiment eines faktischen Konsenses der gegenwärtigen Menschheit würde nicht allein, wie Apel hervorgehoben hat, „den Weg der möglichen Revision jedes bloß faktischen Konsenses“ abschneiden. Er bringt dich selbst in Widerspruch zu deiner Diskurspartnerrolle. So machst du dich diskursunglaubwürdig und vertrittst eine moralisch verwerfliche Position. Bist du nun dazu bereit, Jonas’ erstem Imperativ Verbindlichkeit zuzuerkennen? S: Das muß ich wohl. D: Wenn du ein glaubwürdiger Diskurspartner sein willst und wir dich als unseren Partner im strikt argumentativen Dialog verstehen sollen, und das heißt, wenn wir dich als Mitglied der moralischen Gemeinschaft sollen achten können. S: Das sollt ihr, in der Tat. Als ernsthaft Denkender, mithin als Diskurspartner, erwarte ich das von vornherein. D: Ja. Und wir erwarten diese Anerkennung notwendigerweise auch von dir. 79 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 5 Was heißt 11.12.2009 „moralische Verantwortung für die Zukunft“ und was „Diskursethik“? Im Dialog mit unserem Skeptiker haben wir die Einsicht gewonnen, daß die Bemühung um den Erhalt der Menschengattung eine Existenzbedingung des Argumentierens ist: der möglichen Geltung, kurz des Diskurses, in dem wir uns bereits befinden, wenn wir etwas bedenken und geltend machen. Daher würden wir uns in pragmatischen bzw. performativen Widerspruch zu uns als Diskursteilnehmer setzen, wenn wir die Verbindlichkeit dieser Bemühungspflicht in Zweifel zögen. Diese Einsicht erschließt uns einen materialen Gehalt des Moralprinzips und damit der Prinzipienebene A der Ethik. Praktisch kommt es nun darauf an, das Moralprinzip in der realen Welt, welche durchaus amoralische, ja unmoralische Verhältnisse und Handlungsbedingungen bereithält, auch umzusetzen. Hier stehen wir vor den Problemen der Anwendungs- und Folgenverantwortungsebene B der Ethik, die sich in die Oberfrage gießen läßt: »Wie können/sollen wir Verantwortung für den ›Erfolg des Moralischen‹ unter nicht moralischen Verhältnissen wahrnehmen?«115 Hans Jonas bietet zwar, wie in Kapitel I 2 bemerkt,116 keine solche Ebenendifferenzierung oder Begründungs-„Architektonik“, um mit Kant und Apel zu sprechen. Doch wenngleich ihm eine Begründungsarchitektonik fehlt, die für die realistisch verantwortungsethische, die moralstrategische Urteilsbildung eine differenzierte Orientierung angesichts moralrestriktiver Verhältnisse begründet, so behandelt er doch ein Dilemma, das uns zur Bildung politischmoralischer Strategien herausfordert. Vereinfacht lautet es: ökologische Verantwortung versus demokratische Interessenwahrnehmung. Im Hintergrund steht sein Gedanke: Verantwortungsfreiheit setze ein Sein voraus, das der Verantwortung Sinn gibt. Insofern bestehe die unbedingte Pflicht, dieses Sein, nämlich die Existenz der Gattung zu bewahren. Da Jonas nun eine ontologische Begründung der Ethik sucht, schlägt er dem Sein auch das ethische Selbstverständnis des Menschen zu, genauer gesagt: Er bezieht in das menschliche Sein gleich den moralischen Wert- und Normbegriff der Menschenwürde ein. Dementsprechend erweitert er die Existenzpflicht, die Menschheit zu bewahren, um die spezifisch moralische Pflicht, die Idee der Menschenwürde zu wahren. Um diesen Bewahrungspflichten gerecht zu werden, hat Hans Jonas unter bestimmten Umständen 115 116 einen zeitweiligen Dispens der Demokratie zugunsten eines Vgl. oben, S. 31 f. Siehe oben, S. 32 f. 80 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 zukunftsverantwortlichen Notstandsregimes für sinnvoll gehalten. Wenn sich nämlich das Dilemma zwischen Zukunftsverantwortung und demokratischer Politik, die zum Interessenopportunismus neige, dramatisch zuspitze, müsse der Philosoph „durchaus den Mut haben, zu sagen, Demokratie ist höchst wünschbar, aber kann nicht selber die unabdingbare Bedingung dafür sein, daß ein menschliches Leben auf Erden sich lohnt.“117 Läßt sich dieser Not-Vorbehalt als erfolgsverantwortungsethische Konter-Strategie rechtfertigen? Jonas hat dafür heftige Kritik hinnehmen müssen, besonders massiv von Karl R. Popper118. Unberechtigt ist die Kritik jedenfalls dann, wenn sie nicht genügend zwischen faktischer öffentlicher Meinung und Mehrheitsentscheidung versus normativer Rechtfertigung aus guten Gründen differenziert. Denn eine Ethik, der es um normative Legitimität und eine unbedingte Verpflichtung geht, steht und fällt damit, daß sie keinerlei faktische Übereinkunft, weder einen empirischen Konsens von Beteiligten noch gar einen Mehrheitsentscheid, als Geltungsgrund für die gesuchte Verantwortlichkeit oder Richtigkeit akzeptieren darf. Warum nicht? Wer sich allein auf das Faktum eines Konsenses hier und heute, erzielt von einer eingeschränkten Gruppe (z.B. der Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland, die 2013 wahlberechtigt sind) und unter den Zufälligkeiten einer Meinungsbildung (z.B. im Deutschland der Jahre vor 2013) beriefe und daraus dann ein Sollen ableitete, der vollzöge einen naturalistischen bzw. faktizistischen Fehlschluß: Er schlösse eben aus dem bloßen Faktum einer Übereinkunft auf deren Sollensgeltung. Erforderlich ist hingegen ein nichtrelativierbarer Maßstab, damit sich ein irgendwie zustandegekommener Konsens und erst recht eine Mehrheitsentscheidung jeweils auf die moralische Zustimmungswürdigkeit hin überprüfen läßt. Gerade die Suche nach einem Verbindlichkeitskriterium jenseits von Subjektivismus und Relativismus ist es, die Jonas’ ontologische und intuitionistische Wertethik mit der dialogreflexiv begründeten, normativen Diskursethik vereint. Beide Ansätze kommen darin überein, daß der gesuchte Maßstab in dem Umkreis zu finden sein müßte, der sich mit den normativen Begriffen „Idee der Menschenwürde und des moralfähigen Menschen“ und „Verantwortung dafür, daß künftige Generationen diesen Ideen noch gerecht werden können, indem sie sich ihrerseits verantwortlich und moralisch verhalten“ beschreiben läßt. Diese Konzepte enthalten nämlich eine in ihrer Verbindlichkeit unbedingte, doch gleichsam regulative Pflicht, die die Richtung des Verhaltens angibt, der immer nachzustreben sei. Wenn aber die Durchsetzung kurzfristiger Nahinteressen mittels Demokratie jener Richtungspflicht gefährlich zuwiderläuft, dann gehört – genau insoweit – auch eine 117 118 Gespräch mit E. Gebhardt, in: E.Z., S. 210, 211. Vgl. Jonas, P.V., S. 254 f., 259-270, 302-305. Vgl. das Interview mit K. R. Popper in: DIE WELT, 8. Juli 1987. 81 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Demokratie auf den Prüfstand; entweder müßte sie verändert werden, oder es stünde, falls die Veränderung scheitert, als ultima ratio ein zeitweiliger Dispens der Demokratie an. „Was ich [aber] mit der potentiellen Möglichkeit einer Tyrannei als äußerste Rettungsmaßnahme gemeint habe, ist einzig dem vergleichbar, was sein wird, wenn ein Haus brennt oder ein Schiff untergeht. Dann nämlich kann man keine Abstimmung mehr machen, und dann kann man nicht die normalen Gesetzesverfahren laufen lassen, sondern es müssen gewisse Notmaßnahmen ergriffen werden ...“ Freilich würde Jonas die Demokratie „mit großem Kummer verschwinden sehen und würde ausschließlich akzeptieren, daß sie zeitweilig, sagen wir mal, suspendiert würde.“119 Um für dieses Problem klare Kriterien zu erarbeiten, ergänzen die Diskursethiker Jonas’ Ansatz durch die moralstrategische Perspektive der Ebene B und fragen nach einer moralischen Erfolgsverantwortung in der Gefahrenzivilisation.120 Die Kritik an Jonas’ Relativierung der demokratischen Staats- und Regierungsform ist aus mehreren Gründen nicht abwegig. Ein Grund liegt darin, daß Jonas die begründungslogisch zuerst anstehende verantwortungsethische Frage dessen, der eine moralische Maxime gegen Widerständigkeiten durchsetzen will, hier überhaupt nicht stellt: die Frage, welche Institutionen und Traditionen einer Demokratie dem Moralprinzip gerecht werden, also bewahrt und möglichst weiterentwickelt werden sollten. Dieser erste Prüfauftrag der verantwortungsethischen Diskurse, gleichsam Stufe B 1, fehlt bei Jonas. Er bezieht sein Verantwortungsprinzip unmittelbar auf mögliche Widerstände, die aus der Demokratie als Mehrheitsherrschaft entstehen können. Hier fehlt eine Diskursdifferenzierung, die nötig ist, damit die Anwendung des Verantwortungsprinzips nicht rigoristisch wird, sondern damit sie sich ihrerseits verantworten läßt; so nämlich, daß nach Maßgabe verantwortungsethischer Kriterien Rechenschaft über die möglichen Folgen abgelegt wird. Ein zweiter Grund ergibt sich direkt daraus: Weil die Frage nach der moralischen Bewahrungswürdigkeit geschichtlicher Institutionen von ihm nicht als eigenständige verantwortungsethische Stufe berücksichtigt wird, nimmt Jonas unmittelbar die Demokratie als Mehrheitsherrschaft ins Visier, ohne den (moralisch hoch relevanten) rechtsstaatlichen Rahmen der Demokratie, den modernen Verfassungsstaat mit den menschenrechtlichen Ideen der französischen und der amerikanischen Revolution, eigens zu berücksichtigen. Beziehen wir die moralische Bewahrungsfrage hingegen auf den modernen Verfassungsstaat, so leuchtet ein, daß eine Demokratiekritik weithin als immanente Kritik zu üben ist: geleitet von verfassungsrechtlichen Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaats selbst. Dazu gehören 119 120 E.Z., S. 210, 211. Dazu D. Böhler, „Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung“, in: EWD-3, hier bes. S. 63 ff. 82 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 solche, deren normativer Kerngehalt reflexiv letztbegründbar ist, so daß sie als Momente bzw. Konkretionen des Diskurs-Moralprinzips erwiesen werden können. Läßt sich dieser Erweis erbringen, dann ist hier bei der Entwicklung einer moralischen Konter-Strategie äußerste Vorsicht geboten. Deren Grenze zeichnet sich dann klar ab: Die Strategie darf nicht pauschal ‚Dispens der Demokratie‘ heißen, sofern wir unter „Demokratie“ den modernen westlichen Verfassungsstaat mit demokratischer Herrschaftsform verstehen. Läßt sich aber ein Moralitätserweis tragender normativer und prozeduraler Elemente der rechtsstaatlichen Demokratie antreten? Ja, durch den sokratischen Rückgang der Diskurspragmatik auf die dialogförmige Argumentationssituation121, in der man sich auch dann befindet, wenn man die begründete Verbindlichkeit eines Prinzips bezweifelt. Dieser Rückgang führt über eine dialogische Sinnprüfung des Zweifels als eines Beitrags im argumentativen Dialog, um die Verbindlichkeit des bezweifelten normativen Gehalts zu testen. Denn dasjenige, was sich in einer aktuellen Argumentation unter Diskurspartnern nicht sinnvoll bezweifeln läßt, das ist prinzipiell gültig, so daß sein normativer Gehalt als verbindlich, als einsichtige Pflicht, zu gelten hat und daher befolgungswürdig ist. Auf diese Weise kann die Dialog- bzw. Diskurspragmatik zeigen, daß alle, welche überhaupt die Rolle eines Denkenden und damit eines Argumentationspartner einnehmen können – einzig auf die Potentialität kommt es in Geltungsfragen an –, daß also wir alle bereits gewisse demokratisch-rechtsstaatliche Grundnormen von vornherein dadurch als befolgungswürdig vorausgesetzt haben, daß wir ernsthafte Diskurspartner sein wollen. Denn als solche haben wir gewisse rechtsstaatliche Prinzipien (notwendigerweise) für uns selbst in Anspruch genommen – also impliziert. Welche Prinzipien sind das? Einmal ist es das rechtsethische Prinzip, die Würde, nämlich die Unverletzlichkeit und Freiheit allen menschlichen Lebens zu achten.122 Sodann ist es das Prinzip, keine Beschlüsse und Maßnahmen in Kraft zu setzen oder anzuerkennen, die im Geheimen zustande kommen, sondern allein solche, die der öffentlichen Kritik ausgesetzt und der öffentlichen Zustimmungsfähigkeit unterworfen worden sind; also das Prinzip der 121 Der aktuelle Forschungsstand der Diskurspragmatik spiegelt sich in den Büchern Prinzip Mitverantwortung, 2001 (s.o. Anm. 6); sowie Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik, hrsg. v. H. Burckhart u. H. Gronke, Würzburg 2002; in den Studien Böhlers, Brunes, Gronkes, Rähmes und Werners in: Böhler, Kettner, Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel. Frankfurt a. M. 2003; in: Böhler u. Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung, 2004; in: Böhler, Bausch, Rusche (Hg.), Wirtschaft und Ethik, EWD-Bd. 12, 2004; in: Böhler u. H. Gronke, „Hic Rhodus, hic salta: SichVerantworten im Diskurs. Grundriß der Diskursethik“, in: U. Borelli/M Kettner (Hg.), Filosofia transcendentalpragmatica. Transzendentalpragmatische Philosophie. Cosenza 2007, S. 499-589. 122 Vgl. D. Böhler: „Diskursethik und Menschenwürdegrundsatz zwischen Idealisierung und Erfolgsverantwortung“, in: K.-O. Apel und M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht, Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1992, S. 201-231. Ders., „Menschenwürde und Diskursethik“, Nachwort zu: Thomas Rusche, Aspekte einer dialogbezogenen Unternehmensethik, EWD-4, hier S. 247 ff. 83 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Öffentlichkeit.123 Verbunden mit dem Grundrecht der Kommunikationsfreiheit, impliziert dieses Prinzip den dritten Grund einer unabweisbaren Kritik an Jonas’ Geltungseinklammerung der Demokratie. Warum? Dieses Prinzip bezeichnet eine Bedingung der Möglichkeit moralischer Rechtfertigung, weil eine zureichende Beurteilung der Handlungen Anderer ebenso wie eine wahrheitsfähige Einschätzung der Bedürfnisse bzw. Interessen Anderer nur in dem Maße möglich ist, als man sich dabei auf die freie Artikulation ihrer Interessen stützen kann. Wahrheitsfähig, nämlich situationserkennend, und (darauf aufbauend) legitim, also durch gute Gründe gerechtfertigt und in diesem Sinne ›gerecht‹, können moralische Urteile, Maximen oder Normen einzig dann sein, wenn sie nicht bloß auf der subjektiven Vermutung eines einsamen Gedankenexperimentators oder einer Experten-Elite beruhen, sondern wenn sie die wirkliche Situation der Betroffenen berücksichtigen, indem sie an deren Selbstverständnis anknüpfen. Aus dieser (hermeneutischen) Überlegung hatte ich in der Entstehungszeit der Diskursethik, und zwar während einer kontroversen Diskussion des „Funkkollegs Praktische Philosophie/Ethik“ im Jahre 1980, die geltungslogische Folgerung abgeleitet:124 Keine Gültigkeit ohne argumentative Geltungsgegenseitigkeit unter möglichen Dialogpartnern, keine Geltungsgegenseitigkeit ohne Verständigungsgegenseitigkeit zwischen den möglichen Dialogpartnern. Der zweite Teil dieser Folgerung bezieht sich auf die konkreten Diskurse, die sich auf eine bestimmte Situation beziehen, indem sie diese einschätzen und interpretieren. Für solche situationsbezogenen Diskurse gelte: Ohne „Verständigungs-Gegenseitigkeit“ (über die Bedeutung der Situation und der situationskonstitutiven Interessen) keine Wahrheit und Gerechtigkeit, also keine „Geltungs-Gegenseitigkeit“ für moralische Urteile und für moralische Normen bzw. Handlungsorientierungen. Zusammenfassend halten wir fest: 123 Vgl. D. Böhler, „Kritische Moral oder pragmatische Sittlichkeit“, in: ders. u. K.-O. Apel, Funkkolleg: Studientexte, Bd. 3, Weinheim und Basel 1984, S. 845-886. 124 Ich beziehe mich auf die aufschlußreiche Kontroverse zwischen dem Personalismus Manfred Riedels mitsamt dem Quasi-Kantianismus Otfried Höffes auf der einen Seite und dem transzendentalpragmatischen Ansatz bei der realen Kommunikationsgemeinschaft und deren kontrafaktischen Normen auf der anderen Seite: Apel, Böhler, Rebel (Hg.), Funkkolleg: Studientexte, Bd. 1, S. 269-277. Hier konnte das Hintergrundsproblem der traditionellen Philosophie, der methodische Solipsismus, kontrovers herausgearbeitet werden. Vor diesem Hintergrund ließ sich dann eine kommunikativ hermeneutische Vorstufe für praktische Diskurse als unabweisbar begründen: D. Böhler, „Transzendentalpragmatik und kritische Moral“, in W. Kuhlmann und D. Böhler (Hg.), Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik, Frankfurt am Main 1982, hier S. 108ff, S. 206 und 243f. Dazu: Jon Hellesnes, „Ethischer Konkretismus und Kommunikationsethik“, in: D. Böhler, T. Nordenstam und G. Skirbekk (Hg.), Die pragmatische Wende, Frankfurt am Main 1986, bes. S. 183f. 84 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Erweisbare Verbindlichkeit oder legitime Dispensierbarkeit von verfassungsrechtlichen Grundlagen der modernen Demokratie? Ein solcher Dispens wäre moralisch illegitim. Warum? Zumindest zwei verfassungsrechtliche Grundlagen entsprechen den moralisch gehaltvollen Sinnbedingungen eines argumentativen Diskurses: (a) Achtung der Würde, d.i. Unverletzlichkeit und Freiheit des menschlichen Lebens und (b) Prinzip der Öffentlichkeit, im demokratischen Rechtsstaat für politische Entscheidungsbildung verbindlich, sind für Diskurspartner (einsehbar) verbindlich, weil nicht sinnvoll (d.h. ohne pragmatischen Selbstwiderspruch = Widerspruch zur Diskurspartner-Rolle) bezweifelbar. Die diskurspragmatische Begründung der Gültigkeit und Verbindlichkeit des Öffentlichkeitsprinzips führt, wie wir gesehen haben, zur Verpflichtung, sich als Diskurspartner um Verständigungsgegenseitigkeit mit den möglichen Entscheidungsbetroffenen zu bemühen. Diese Bemühungspflicht – um nicht mehr aber auch nicht weniger geht es – ist es, die Jonas selbstwidersprüchlich, nämlich in Widerspruch zu seiner moralischen Absicht einer Einbeziehung der Interessen der mitbetroffenen Anderen125, überspringt, weil er als traditioneller Phänomenologe und als methodisch einsamer Gedankenexperimentator ansetzt. Hingegen hat diese Begründungsreflexion in der Weiterentwicklung der Transzendentalpragmatik zur Begründung und diskursethischen Anwendung einer „phänomenologisch-hermeneutischen Maxime“ (Böhler) geführt.126 Ist aber eine Verständigungsgegenseitigkeit unabdingbar, so folgt eine tiefgreifende Kritik des, von Jonas noch ein gutes Stück geteilten, Selbstverständnisses der traditionellen Philosophie als theoria.127 Die theoria-Tradition dachte zugleich objektivistisch und methodisch solipsistisch; und sie konnte das Eine tun, weil sie das Andere tat. Sie setzte 125 Jonas, PV, S. 78f. Dazu hier: Kap. 4. D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, S. 123ff. 127 Jonas überschreitet dieses klassisch theoretische Selbstverständnis der Philosophie jedoch mit Argumenten, die auf ein „Leib-Apriori“ (M. Merleau-Ponty) der Erkenntnis und auf eine Sinnkritik hinzielen, indem sie – gegenüber Descartes und Husserl – das Sinnkriterium einer, wie Gronke formuliert, leibpragmatischen Widerspruchsfreiheit geltend machen. Vgl. Jonas, Organismus und Freiheit, Göttingen 1973, S. 32ff – Das Prinzip Leben, Frankfurt a.M. 1994, S. 38f. Dazu Gronke, Das Denken des Anderen, Würzburg 1999, S. 161f. Vgl. in diesem Zusammenhang die differenzierte diskursethische Kritik an Jonas von M. Werner: „Dimensionen der Verantwortung“, in: E.Z., S. 303-340, bes. S. 324ff. 126 85 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 nämlich voraus, daß die Seinsstrukturen (Platons Ideen) und die Kriterien richtigen Handelns (Platons Paradigmen) eigentlich durch eine geistige Schau (theoria) erkennbar seien, zu der es einer Kommunikation mit Anderen nicht bedürfe – Erkenntnis des Seins unabhängig von Verständigung und Sprache, jenseits einer Kommunikationsgemeinschaft. Eine grundsätzliche Kritik an dem seither wirksamen methodischen bzw. transzendentalen Solipsismus der Philosophie, ja des abendländischen Geistes, hat als erster Apel sprachphilosophisch und problemgeschichtlich vorgetragen128. Habermas hat sie in seinem Ansatz einer „Theorie des kommunikativen Handelns“ fruchtbar gemacht.129 Ich selbst hatte bereits in den 68er Jahren aus der theoria-Kritik die Konsequenz einer radikalen Metakritik des Historischen Materialismus gezogen. Dieser stellt nämlich eine theoria der Gesellschaftsgeschichte dar, welche von vornherein inkommunikativ verfährt, so daß sie eine dogmatische, ja selbstimmunisierte Ideologiekritik an den Akteuren und Institutionen der kapitalistischen Gesellschaftsform übt.130 Infolge ihrer gänzlich zeitgeistverqueren Radikalität – damals herrschte links der Mitte die Parole „Anschlußfähigkeit an den Historischen Materialismus“ vor – ist diese Grundlagenkritik am Marxismus auch von Habermas nicht aufgenommenen worden. Jene transzendental-hermeneutisch begründete kommunikative Einsicht und die daraus folgende Traditionskritik der theoria-Tradition (von Platon über Marx bis zum modernen Szientismus, zur analytischen Philosophie und zur Phänomenologie) gab einen weitreichenden Anstoß für die Entwicklung einer neuen, einer kommunikativen Ethikform – nämlich der Diskursethik als Ethik, welche zur Führung konkreter, situationsbezogener Diskurse verpflichtet und verbindliche Maßstäbe, wie diese zu führen seien, an die Hand gibt. Diese erkennt erstmals an, daß die Gültigkeit moralischer Sätze von der Kommunikation mit den betroffenen Interessensubjekten abhängt; infolgedessen verpflichtet sie die moralisch Urteilenden dazu, sich um eine solche Kommunikation zu bemühen. In diesem Sinne haben Habermas und Apel, Kuhlmann und ich seinerzeit die Diskursethik pointiert als Ethik der Kommunikation eingeführt – etwa gegenüber Kants und Rawls Moralfindung durch pure Gedankenexperimente, die vermeintlich ein einsames Subjekt anstellen könne; demgemäß auch in Opposition zu Kohlbergs universalistischer Moralstufe 128 Apel, Transformation II, daraus die Studien „Sprache als Thema und Medium der transzendentalen Reflexion“, a.a.O., S. 311-329; sowie „Der transzendentalhermeneutische Begriff der Sprache“, a.a.O., S. 330357. 129 Habermas, Theorie des Kommunikativen Handelns. 2 Bde, Frankfurt a. M. 1981; ders., Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1973, bes. S. 96 ff. 130 Böhler, Metakritik der Marxschen Ideologiekritik. Prolegomenon zu einer reflektierten Ideologiekritik und ‚Theorie-Praxis-Vermittlung‘, Frankfurt a. M. 1971, ders., „Kritische Theorie – kritisch reflektiert“, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol. LVI/4, 1970, S. 511-525. 86 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 6,131 in Opposition zum ethischen Kantianismus und Personalismus, schließlich in Opposition zum Naturrecht und zur objektiven Wertethik. Praktisch politisch führt dieser kommunikative Ansatz – das haben wir in Teil I schon dargelegt132 – zur Opposition gegen jede Expertokratie: von Platons Philosophenherrschaft bis zur modernen Technokratie. Glücklicherweise hat sich die zugrundeliegende kommunikativ hermeneutische Einsicht in Politik und Recht der Bundesrepublik Deutschland soweit durchgesetzt, daß – bis hin zur Ermöglichung von Verbandsklagen der Umweltverbände – Anhörungsprozeduren und andere Verfahren der Verständigung mit Betroffenen institutionalisiert worden sind. Leider Gottes hat es nach der deutschen Vereinigung zum Zwecke einer beschleunigten Modernisierung von Ökonomie und Infrastruktur im Rahmen des „Aufbaus Ost“ zahlreiche Rücknahmen und Einschränkungen dieser Partizipationsrechte gegeben, die sogenannten „Beschleunigungsgesetze“.133 Was die Ethikbegründung anbelangt, haben wir hier einen dritten Bedeutungsaspekt von ‚Diskursethik‘: Ethik, die zur Kommunikation mit den (an einer Situation) Beteiligten und den Handlungsbetroffenen verpflichtet – und das bereits, um die Erkenntnis der Situation zu gewährleisten. Keine Situationserkenntnis ohne Sinnverständigung mit den Menschen. Für den diskursethischen Begründungsweg habe ich daraus eine architektonische Konsequenz gezogen, die auch die Differenz zu Jonas augenfällig macht: Direkt nach der dialogreflexiven Letztbegründung des Moralprinzips, der transzendentalpragmatischen Begründungsstufe (A 1), müsse als erster Konkretionsschritt die öffentliche Verständigung (oder ersatzweise ein hermeneutisches Verfahren zum Zweck einer möglichen Verständigung) über den konkreten Sinn der Interessen und Bedürfnisse möglichst aller Betroffenen vorgesehen werden: Sinnverständigung mit den möglichen Betroffenen als Diskursstufe eigenen Rechts (A 2).134 Erst nach einer solchen Verständigungsbemühung fänden konkrete situationsbezogene Diskurse ihren logischen Ort. Zunächst wären in theoretischen Diskursen die Fragen ‚Wie ist die Situation beschaffen?‘ und: ‚Ist die vorgeschlagene Situationsinterpretation zutreffend?‘ zu beantworten (A 3). Darauf baut dann der praktische oder moralische Diskurs auf, der die gewissermaßen idealisierende Frage stellt, was wir in der so beschaffenen bzw. so 131 Vgl. J. Habermas, Moralentwicklung und Ich-Identität, in: ders., Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt a. M. 1976, S. 63-91, bes. S. 84 f. 132 Siehe oben, Kapitel I.1, S. 11 f. 133 Dazu: W. Erbguth u. B. Wiegand-Hoffmeister, „Umweltrecht im Gegenwind? Ein ethisch orientiertes Umweltrecht ist nötig“, in: EWD-3, S. 411 ff, bes. 422 ff. 134 D. Böhler, „Kritische Moral oder pragmatische Sittlichkeit?“, in: Funkkolleg Studientexte, Bd. 3, bes. S. 855870. 87 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 interpretierten Situation eigentlich tun sollen, oder ob die vorgeschlagene Situationsnorm legitim ist, ob ihr argumentative „Geltungs-Gegenseitigkeit“ zukommt (A 4). Freilich steht in Frage, ob konkrete situationsbezogene Diskurse nicht zugleich die realen Widerständigkeiten gegen moralische Handlungsweisen berücksichtigen müßten, so daß bereits hier die harten Erfolgsverantwortungsprobleme der Ebene B in den Blick kommen sollten. Dann sind die hier vorgeschlagenen Diskursstufen A 3 und A 4 nurmehr von analytischem und regulativem Wert; sie können der begrifflichen Präzision dienen und die ideale Prinzipienorientierung aufrechthalten. Zumal darauf kommt es an, um dem Sog entgegenzuwirken, strategische Kompromisse einzugehen, anstatt strikt moralische Strategien zu suchen: moralisch legitime ‚Notwehrstrategien‘ und langfristige Moralstrategien zur strukturellen Veränderung moralwidriger Verhältnisse. Damit haben wir die vierte Funktion der Diskursethik vor Augen, nämlich eine Ethik der Verantwortungsdiskurse für die nur teilweise moralgemäße, teilweise aber moralwidrige Sozialwelt. Diese Verantwortungsdiskurse verknüpfen beide Perspektiven miteinander: den moralisch idealen Blickwinkel, der auf das eigentlich Gesollte und letztlich Anzustrebende gerichtet ist, und den moralisch strategischen, der das Verantwortungsmögliche sucht. Erst beides zusammen gibt dem Begriff ‚Verantwortungs-Ethik‘ Sinn: die reale Erfolgsfähigkeit und die Moralität. Als Verantwortungsethik fragt die Diskursethik nach moralgemäßen Erfolgsstrategien. Daher verwirft sie die Lehre, daß der gute Zweck die Mittel heilige, als widermoralisch: eine Rezeptur aus Teufels Küche. Die bisher eingeführten Bedeutungsaspekte von ‚Diskursethik’ können wir folgendermaßen zusammenfassen: 88 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Was heißt Diskursethik? Die vier tragenden Aspekte und Aufgaben. α) Diskursethik als Ethik für Geltungsdiskurse: Wozu sind wir, mögliche Diskurspartner, eigentlich verpflichtet? Ethik der konkreten, moralisch-praktischen Geltungsdiskurse, die nach Genitivus subiectivus (1) Maßgabe des Diskursprinzips der argumentativen Konsensbildung angesichts einer Situation mit dem Ziel der (idealiter) richtigen Handlungsweise zu führen sind. β) Diskursethik als reflexiv philosophische Begründung der Ethik – letztlich in dem je anhängigen Diskurs: Welche Prinzipien (Geltungskriterien und Bemühungspflichten) lassen sich wie als unhintergehbar erweisen? Genitivus obiectivus (1) γ) Prinzipienethik auf der Basis von reflexiven Dialogen mit einem argumentierenden Prinzipienskeptiker. Diskursethik als Ethik der Kommunikation angesichts einer Situation: Was sollen wir vor dem konkreten moralisch-praktischen Diskurs (α) tun? Wie erkennen wir die Situation? Ethik, die zur Kommunikation mit den Beteiligten und möglichen Genitivus obiectivus (2) Betroffenen (resp. zu deren hermeneutischer Simulation) ebenso verpflichtet wie zur Bemühung um freie globale Öffentlichkeit. δ) Diskursethik als Ethik für Diskurse der moralischen Erfolgsverantwortung: Welche situationsbezogene Strategie, die der Durchsetzung eines moralischen Prinzips (β) dienen soll, können wir im argumentativen Diskurs als erfolgsfähig und für die gegebene (moralrestriktive) Handlungslage als moralisch verantwortbar begründen? Genitivus subiectivus (2) Ethik, die zu verantwortungsethischen Diskursen (unter Diskurswilligen, also Moralfreunden) verpflichtet, welche jeweils nach Strategien fragen: nach einer kurzfristigen Situationsstrategie und einer langfristigen Strategie zur Veränderung moralwidriger Verhältnisse. 89 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Gut und schön? Mag sein. Aber den Skeptikern unter Ihnen, meine Leser, bzw. dem Kritiker in uns stellt sich angesichts der Aspekte γ und δ die Vereinbarkeitsfrage: Wie sollen wir die Verpflichtung auf das universale Prinzip der Öffentlichkeit und globalen Partizipation (γ) beachten, zugleich aber moralstrategische Diskurse (δ) führen? Denn diese setzen sich mit den realen Moralwiderständen und also auch mit Gegnern der moralischen Diskurse bzw. ihrer Ergebnisse auseinander. Können diese Gegner, welche nicht selten gewalthabende und gewalttätige Feinde des moralischen Diskurses sind oder diskurszerstörerische Gewaltstrukturen repräsentieren, in den Diskurs einbezogen werden? Verlangt aber das aktive Öffentlichkeitsprinzip, so wie wir es eben anerkannt haben, nicht eine solche Einbeziehung? Wenn ja, dann wäre doch eine Platonische oder, recht verwandt, eine Jonassche Position viel plausibler: Platon und Jonas setzen sich gar nicht erst dem Risiko resp. dem Verdacht einer solchen Widersprüchlichkeit aus. Denn ihr Ansatz ist nicht kommunikationsbezogen und daher öffentlichkeitsbemüht. Stattdessen geht es hier klassisch um eine Betrachtung des Seins, von der unterstellt wird, sie ließe sich, bei aller methodologisch begründeten Subtilität, in der kontemplativ einsamen Einstellung des Experten zum Ziel führen, zur Wahrheit und Richtigkeit. Nun haben wir aber eingesehen, daß diese Unterstellung irrig ist; und zwar deshalb, weil eine Erkenntnis von sozialen Situationen allein dann wahrheitsfähig ist, wenn sie den Sinn der Wertvorstellungen, Interessen etc. der beteiligten Menschen samt ihrer Institutionen und Traditionen verstehend erschließt; d.h. wenn sie sich methodisch in Kommunikation mit den Beteiligten begibt, also Gebrauch vom Öffentlichkeitsprinzip macht. Folglich führt an der Kohärenzklippe oder der möglichen Widersprüchlichkeit, die unser Kritiker der DiskursVerantwortungsethik vorhält, kein Weg vorbei. Läßt sie sich umschiffen, wenn wir sowohl dem genuin diskursethischen, also direkt kommunikativen, Prinzip der Einbeziehung der Anderen, welches das Öffentlichkeitsprinzip impliziert und somit eigentlich begründet, gerecht werden wollen, als auch der spezifisch verantwortungsethischen Vorsichts- oder gar Notwehrpflicht zum strategischen Umgang mit diskursgefährdenden und moralwidrigen Anderen Genüge tun wollen? – Ja. Hier liegt nur auf den ersten Blick ein unlösbares Dilemma vor. Inwiefern? Erstens tragen wir den gesamten Begründungsdiskurs mit den direkt kommunikativen, also spezifisch diskursethischen Elementen (der Ebene A) und den moralstrategisch verantwortungsethischen Stücken (der Ebene B) in aller Öffentlichkeit vor: Wir laden alle und jeden ein, sich an diesen Überlegungen zu beteiligen. Zweitens zeigen wir ihnen, daß es sich dabei um nichts anderes als um Erläuterungen ihrer eigenen Ansprüche und 90 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Verpflichtungen handelt, welche sie selbst, sie als Denkende, bereits ins Spiel gebracht und unausdrücklich anerkannt haben; als gültig vorausgesetzt haben, weil es normative Voraussetzungen der Diskursrolle sind, die alle Fragenden, Denkenden, Behauptenden, indem sie etwas fragen, bedenken, behaupten übernommen haben. Mithin kommt – so lautet die erste Richtigstellung des, von unserem Kritiker vorgebrachten, Widerspruchsverdachts – ein grundsätzlicher Ausschluß von Gegnern gar nicht in Betracht. Auch sie sind Denkende und als solche einbezogen in den Begründungsdiskurs, den sie im Prinzip ebenso führen oder mitvollziehen können wie wir. Das nämliche trifft für solche Gegner zu, die nicht bereit sind, sich an konkreten Diskursen über den Erfolg des Moralischen, insonderheit den der Zukunftsethik, zu beteiligen und dann auch an der Umsetzung der Diskursergebnisse mitzuwirken: Die Überlegungen, wie wir als Diskurspartner mit den Diskurs- und Moralwiderständen und den Diskurs- bzw. Moralverweigerern verantwortlich umgehen sollten, finden vor aller Augen statt und sind für alle vorgebrachten Argumente offen. Mithin – und das ist der dritte Grund dafür, daß sich das Dilemma auflöst – werden auch sie als (mögliche) Argumentationspartner anerkannt und einbezogen. Sofern sie jedoch zu Diskursfeinden und Zerstörern von Moralbedingungen werden, verwirken sie ihre Diskursrechte und zerstören das moralische Anerkennungsverhältnis. Was daraus folgt, erkennen wir wohl am besten mit Blick auf Jonas’ Verantwortungsimperativ, wenn wir diesen diskursethisch präzisieren. So nämlich, daß wir den normativen Gehalt des Öffentlichkeitsprinzips so stark wie möglich machen, indem wir es zu einem Prinzip der universalen Zustimmungswürdigkeit unter globalen öffentlichen Diskursbedingungen substantiieren: ‚Verhaltet euch so, daß eure Verhaltensweisen die begründete Zustimmung aller verdienen und – mithin – der Permanenz menschenwürdigen Lebens auf Erden dienlich sind.‘ (D-Z) Anhand der Richtschnur dieses Prinzips D-Z eröffnet sich folgender Lösungsweg für unser Problem: Wenn massive soziale Widerstände bestehen – von Personen bzw. Gruppen, die eigensinnig ihre Nahinteressen durchsetzen wollen, oder von Systemen, die machtvoll ihre funktionale Systemrationalität behaupten –, dann ist folgendes zu tun. Zuallererst muß eine Vorbedingung für sinnvolle moralische Diskurse erfüllt bzw. gewährleistet werden: der Moraldiskurs benötigt nicht nur einen diskursförderlichen gesellschaftlichen Ort sondern zumal diskurs- und moralwillige Teilnehmer. Eine moralstrategische Beschränkung der Diskursteilnehmer auf solche, die das diskursbezogene Zukunftsverantwortungsprinzip als unbedingt verpflichtend anerkennen, ist unvermeidlich. Der so beschränkte Teilnehmerkreis, 91 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 gewissermaßen ein Kreis 11.12.2009 zukunftsverantwortlicher Moralfreunde, hätte dann verschiedenartige Diskurse zu führen, um das Problem zu lösen: ‚Wie läßt sich der Erfolg der Zukunftsethik ermöglichen, und wie lassen sich die dazu nötigen Strategien rechtfertigen?‘ Zunächst stehen jedoch die genannten moralstrategischen Vorfragen an: (B 0) Welche Personen bzw. gesellschaftlichen Orte und Systemfunktionen kommen für diesen Diskurs infrage? Offenbar nur mit D-Z einverstandene Personen und damit kompatible gesellschaftliche Organisationen und Systeme. Doch ist ein solcher Ausschluß berechtigt? Die Antwort liegt auf der Hand, wenn wir aus dem Dialog denken. Sie lautet: im Prinzip ja; und zwar auf sokratisch dialogreflexive Weise. Denn jener Ausschluß ist nur die Konsequenz aus dem Grundversprechen jedes Diskursteilnehmers, das dem Grundanspruch eines argumentativen Diskurses an dessen Teilnehmer entspricht. Dieser folgt aus der Idee des Diskurses als kommunikativer Vernunft und als Möglichkeit des Sich-Verantwortens. Denn er fordert von allen und jedem, alle möglichen guten Gründe aufzusuchen und zu berücksichtigen, indem man sorgsam forscht, ernsthaft diskutiert und schließlich einzig diejenigen Verhaltensweisen gelten läßt, welche die begründete Zustimmung aller Teilnehmer eines rein argumentativ geführten Diskurses verdienen. Aus diesem moralischen Grundanspruch des argumentativen Diskurses ergibt sich das Prinzip ‚D-Z‘, auf das alle Diskursteilnehmer als solche von vornherein verpflichtet sind. Infolgedessen geht es hier nicht um einen gesondert begründungsbedürftigen Ausschluß, sondern um den Nachvollzug der vorausgegangenen Selbstexklusion eines Diskursunwilligen oder einer diskursunfähigen Gewaltinstanz. Freilich kommen hier Situationseinschätzungen und Personeneinschätzungen ins Spiel. Diese aber entbehren letzter Sicherheit und müssen als fallibel angesehen werden. Es kommt daher darauf an, sie revisionsfähig zu halten und selbst zur Revision bereit zu sein. (B 1) Sodann ist zu bedenken, daß eine Durchsetzungsstrategie Bestehendes verändern soll. Von einer solchen Strategie können ebenso Menschen betroffen sein wie bestimmte Realisierungsbedingungen argumentativer Diskurse und im Extremfall auch die Idee des argumentativen Diskurses selbst. Man denke nur an revolutionäre Durchsetzungsstrategien jakobinischer oder leninistischer Art. Demgegenüber kommt es auf eine Sensibilität für die zu bewahrenden bzw. zu erschließenden lebensweltlichen Rahmenbedingungen von Diskursen an. Dazu gehören ethische Intuitionen, moralisch motivationsfähige (z.B. tendenziell universalistische religiöse) 92 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Traditionen, schließlich moralförderliche bzw. diskursförmige Institutionen in Recht und Politik. Nach Maßgabe von D-Z hat die Schonung und Entwicklung solcher Diskurs- und Moralbedingungen den Primat vor einer verändernden und riskanten Durchsetzungsstrategie, auch wenn diese unter dem legitimationsheischenden Namen „Reform“ eingeführt bzw. „verkauft“ wird. Aus dem Zukunftsverantwortungsprinzip D-Z folgt eine besondere Umsichts- und Vorsichtsverpflichtung für die Entwicklung von Durchsetzungsstrategien, wozu in einer Demokratie auch die meisten „Reformprojekte“ gehören. Die Verpflichtung lautet: ‚Prüft, welche Institutionen, Traditionen und ethischen Intuitionen, die von einer (gesuchten) Durchsetzungsstrategie tangiert werden können, dem Moralprinzip gerecht werden. Hütet bzw. entfaltet sie sorgsam. Verschüttet die kulturellen Motivationsquellen nicht, sondern erschließt sie. Wählt daher nur eine Strategie, die mit der Bewahrung und Entfaltung der gegebenen moralförderlichen Randbedingungen für argumentative Diskurse vereinbar ist.‘ (B 2) Nunmehr ist in konkreten strategisch-zweckrationalen Diskursen, geführt in möglichst vielfältigem und kompetentem Kreis von Diskurs- und Moralwilligen, die das Prinzip ‚D-Z‘ praktisch umsetzen wollen, zu prüfen, mit welchen Situationsstrategien gesellschaftliche und personale Widerstände gegen Zukunftsverantwortlichkeit und Menschenwürde überwunden werden können. Gesucht werden hier also spezifische Maßnahmen, die wie eine Notwehraktion eine bestimmte moraldefizitäre Situation verändern sollen. Der Blick der Diskursteilnehmer wird hier zwiefach eingeschränkt. Er konzentriert sich nicht nur auf eine vorliegende Problemsituation, sondern er wird auch von einer lediglich instrumentellen Sichtweise geleitet. Denn zunächst geht es bloß darum, für die moraldefizitäre Situation X eine erfolgsfähige Veränderungsstrategie zu finden. (B 3) Der moralentlastete Blick muß dann wieder von einem moralischen Blick abgelöst werden. Letztlich kommt es darauf an, in – möglichst ebenso besetzten – situationsbezogenen moralischen Diskursen zu prüfen, welche der nach bestem Wissen erfolgsfähigen Strategien sich in folgenden Hinsichten rechtfertigen läßt. Welche Strategie kann ausgezeichnet werden (B 3.1) als zumutbar für die jetzt im Handlungszusammenhang Beteiligten, (B 3.2) aber auch als verantwortbar gegenüber den (jetzt und künftig) Betroffenen und 93 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 (B 3.3) als moralverträglich, nämlich sowohl vereinbar mit den normativen Gehalten von ‚DZ‘, dem argumentativen Konsenskriterium und der ebenso moralischen wie ontologischen Idee des Menschen? (B 4) Die in B 3 diskutierten Fragen weisen über die Kurzzeitperspektive einer einfachen Situationsveränderung hinaus. Sie verlangen bereits eine große Zukunftsperspektive. Diese gilt es nunmehr eigens zu entfalten. Gesucht wird jetzt, indem eine moralische Langzeitstrategie entworfen wird. Der gesuchte Entwurf muß die Frage beantworten, auf welche Weise die moraldefizitären, bislang eine zukunftsverantwortliche Praxis verhindernden, Handlungsbedingungen à la longue durch moralförderliche ersetzt werden können. In diesem Sinne gilt es, in wiederum möglichst vielfältig und kompetent besetzten, teils zweckrational-strategisch, teils moralisch fragenden Diskursen zu erarbeiten, welche Langzeitstrategie erfolgsfähig und moralisch legitim, nämlich mit ‚D-Z‘ vereinbar ist. Diese Vereinbarkeit liegt vor, wenn die moralische Forschrittstrategie dem Fernziel dient, sowohl die persönliche Akzeptanz für ‚D-Z‘ zu erhöhen, als auch die institutionellen und systemischen Bedingungen für die Befolgung von ‚D-Z‘ in der Wirtschaft, der Politik und dem Recht zu optimieren. (B 5) Ist die Diskursarbeit soweit geleistet, dann haben wir einerseits eine moralisch gerechtfertigte Kurzzeitstrategie, vergleichbar einer legitimen Notwehraktion oder Polizeiaktion, und andererseits eine langfristig angelegte moralische Verbesserungsstrategie. Nun können und müßten wir den konkreten moralischen Diskurs (B 3) evaluieren, indem wir fragen: ‚Ist die Kurzzeitstrategie wirklich mit dem Prinzip ‚D-Z‘ vereinbar?‘ Die gesuchte Moralverträglichkeit muß sich nun daran messen, ob sich die kurzzeitige Situationsstrategie zwanglos und stimmig einbetten läßt in die gewonnene Langzeitstrategie zur Verbesserung der Handlungsbedingungen und Akzeptanzbedingungen, die die Moralfreunde, welche ‚D-Z‘ in der sozialen Welt umsetzen wollen, tatsächlich vorfinden. Je nachdem wie diese moralische Verträglichkeitsprüfung ausfällt, müßte die jeweils entworfene Kurzzeitstrategie überprüft und gegebenenfalls verändert werden; so wie es von (B 3.3) bereits vorausgesetzt oder vorweggenommen worden ist. Diese verantwortungsethische Orientierung und Differenzierung wird in allen Stücken dem Diskursgrundsatz der universalen Konsenswürdigkeit gerecht, aus welchem das Öffentlichkeitsprinzip abgeleitet, ja aufgrund dessen es als allgemeingültig erwiesen werden 94 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 kann. Und damit sind wir wieder bei Jonas’ Dilemma: Zukunftsverantwortung versus Demokratie. Dessen Lösung liegt jetzt auf der Hand: Insofern eine Demokratie dem Prinzip der Öffentlichkeit Rechtsgeltung verschafft und es durch politische Partizipationsrechte aktiviert, ist sie eine Realisierungsbedingung für Diskurse überhaupt und für praktische Diskurse insbesondere. Stellt sie damit doch den institutionellen Rahmen für eine freie Sinnverständigung mit den Adressaten moralischer Normen und den ‚Gegenständen‘ moralischer Urteile bereit. Aus diesem Grunde und in dieser Hinsicht läßt sich ein pauschaler Dispens der Demokratie nicht rechtfertigen. Wohl aber kann – auf der verantwortungsethischen Ebene B – in Form einer moralischen Konter-Strategie Widerstand gegen einzelne Mehrheitsbeschlüsse und Regierungsmaßnahmen in einem bestimmten demokratischen Staat legitimiert werden. Jonas’ kontemplative Einstellung, angelehnt an die antike theoria und Edmund Husserls Phänomenologie, kann dem Prinzip der Öffentlichkeit eine solche grundlegende Rolle nicht einräumen. Sein Selbstverständnis und seine Methoden, zumal die ontologische wie die intuitionistische, stehen dem entgegen. Er denkt nicht in erster Linie kommunikativ sondern betrachtend und intuitiv. So kommt es dazu, daß er „die universale Verantwortung gegenüber allem lebendigen Sein ‚monologisch‘ aus dessen werthafter Struktur selbst“ gleichsam abliest bzw. intuitiv abschaut.135 „Sieh hin und Du weißt“136, wofür Du verantwortlich bist, nämlich für das schutzbedürftige, werthafte, organische Leben um Dich herum – sagt Jonas intuitionistisch: Du weißt es, so wie Eltern von ihren schutzbedürftigen Kindern ‚normalerweise‘ (!) wissen, daß sie ihnen Fürsorge und Vorsorge zu gewähren haben. Handlungs- und gefühlsphänomenologisch ansetzend, nimmt Jonas allein das asymmetrische Verhältnis der Ausgangs- und Handlungsbedingungen eines Verantwortlichen in den Blick. Einzig diese praktische und intuitive Asymmetrie sei es, die den Verantwortungsbegriff konstituiere. Trifft das zu? Recht hat Jonas als Phänomenologe, insoweit er zeigt, worin die Ausgangslage und die direkte praktische Aufgabe der Verantwortung besteht – nämlich stellvertretend, mithin fürsorgend für ein wertvolles, um seiner selbst willen schutzbedürftiges Wesen zu handeln. Diesen Fürsorgeaspekt der Verantwortung stellt das folgende Schema der Verantwortungsaspekte auf der rechten Seite dar, während dessen linke Hälfte den dialogförmigen, mithin symmetrischen Rechtfertigungsaspekt veranschaulicht: 135 136 Vgl. Micha Werner: „Dimensionen der Verantwortung“, in: E.Z., S. 332, vgl. 314-318. Jonas, PV, S. 235. 95 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Verantwortungsaspekte Rechtfertigungsbezug Fürsorgebezug symmetrisch: Sich-Verantworten im argumentativen Dialog asymmetrisch: Handlungsbedingungen und fürsorgendes Handeln S1 mit GeltungsAnspruch S2 mit EinlösungsErwartung macht-volles Subjekt S1 ohn-mächtiges, wertvolles Gegenüber Diskurspragmatisch beurteilt, greift Jonas’ Bestimmung der Verantwortung als eines asymmetrischen Verhältnisses zu kurz. Denn logisch hat sowohl die Diskurssituation der Prinzipienbegründung, in der einer dem anderen im argumentativen Dialog demonstriert, daß man prinzipiell zur Mitverantwortung für schutzbedürftige Wesen verpflichtet sei, eine symmetrische Form, als auch die konkrete Rechtfertigungssituation einer oder eines Verantwortlichen, die bzw. der über seine Praxis befragt wird oder sich selbst Fragen stellt. So befragt oder fragend, muß sie bzw. er in einem symmetrischen Dialog mit Argumenten begründen können, daß die fürsorglichen Handlungsweisen den legitimen Ansprüchen gerecht werden bzw. gerecht geworden sind, die man im Namen seines Betreuten geltend machen kann oder die jener – später einmal – selbst gegenüber den Verantwortlichen vorbringen kann, etwa das herangewachsene Kind gegenüber den Eltern. Dann sind die Verantwortlichen gefordert, die Asymmetrie des fürsorgenden Handelns zu verlassen und sich auf die Symmetrie des argumentativen Dialogs einzulassen, auf das Rede- und Antwort-Stehen. Es ergeben sich dann zweierlei Diskurs-Symmetrien: sowohl die im engen Sinne logische oder semantisch-syntaktische Symmetrie zwischen Rede und Gegenrede (als Aussagen betrachtet) wie auch die dialogpragmatische bzw. kommunikationsethische zwischen Frage und Antwort, Gründefordern und Gründegeben, Anerkennungserwartung und Anerkenntnis, 96 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 wie sie sich in der Interaktion gleichberechtigter Diskurspartner einstellen. Das ist die Form der Verantwortung als Rechtfertigung: das Sich-im-Dialog-Verantworten. Keine Verantwortung ohne mögliche Rechenschaft. Das veranschaulicht unser nächstes Schema: Verantwortung: Verwobenheit von Fürsorge und Rechtfertigung rechtfertigt sich dialogische Symmetrie Subjekt 2 im Dialog anerkennt GeltungsanSubjekt 1 sprüche von bzw. für Fürsorgegegenstand als mögl. Subjekt praktische Asymmetrie behandelt Fürsorgegegenstand Beide Aspekte, das Rede-und-Antwort-Stehen und das stellvertretende Handeln des Fürsorglichen sind miteinander verwoben. Das eine verlöre ohne Bezug auf das andere seinen Sinn. Das Verwobensein der Fürsorgebeziehung mit der Rechtfertigungsbeziehung zeigt sich schon daran, daß ‚ich’, der Fürsorgende, bei Fragen nach dem Warum meiner Handlungsweise sowohl zum ‚Gegenstand’ meiner Fürsorge als auch zu dem Fragenden die symmetrische Stellung eines Diskurspartners werde einnehmen müssen. ‚Ich’ komme dabei nämlich nicht umhin, sowohl dem Frager Geltungsansprüche für seine Frage (als ernstgemeint, verständlich und wahrheitsdienlich) zuzubilligen und ernsthaft, verständlich, wahrheitsbemüht darauf einzugehen, als auch analog meinen Fürsorgegegenstand anzuerkennen und mich seinen möglichen Geltungsansprüchen zu stellen. ‚Ich’ muß zur Rechtfertigung, zum Geltungsdiskurs über meine Fürsorge bereit sein. Warum? Ich bin einerseits Handelnder, ein faktisches Subjekt (Ich I), aber ‚ich’ bin zugleich virtueller Diskurspartner, der zu seinen Handlungen Stellung nehmen kann (Ich II). Daher kann ‚ich’ als Diskurspartner meinem Fürsorgegegenstand nicht einerseits (in der Fürsorgerelation) Seins- und Zuwendungswert beimessen resp. unterstellt haben und 97 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 andererseits (in der Rechtfertigungsbeziehung) bezweifeln oder gar bestreiten, daß man ihn als mögliches Subjekt von Geltungsansprüchen anerkennen soll. Wer einen solchen Zweifel geltend machte, also diese Zweifelsthese behauptete, verstrickte sich in einen performativen Widerspruch. Hinsichtlich dieser These verlöre er seine Glaubwürdigkeit als Diskurspartner. ‚Ich’ müßte über meinen Schützling vielmehr sagen können, daß man für ihn mit Recht Wert und Schutzwürdigkeit beanspruchen könne und daß ihm dieser moralische Anspruch zukomme, so daß ‚ich’ ihn aus guten Gründen ernstnehmen solle. Der von Jonas verabsolutierte Fürsorgeaspekt bezieht sich auf die appellative wertethische Ausgangssituation eines Handlungsmächtigen im Verhältnis zu einem wertvollen, vergleichsweise ohnmächtigen Gegenüber, während sich der Geltungsaspekt aus der, damit von vornherein verbundenen, dialogischen und allein deshalb schon moralisch geladenen Rechtfertigungssituation ergibt. Erst beide Aspekte, miteinander und ineinander, machen den vollen Sinn von ‚Verantwortung’ aus. Zur Verantwortung gehört von vornherein das SichVerantworten, die Rechtfertigung ggf. des Warum und des Wie, der Mittel und Wege: der Fürsorgende muß sich mit Argumenten, also im Diskurs, konkret verantworten können gegenüber den Ansprüchen des Adressaten seiner Fürsorge. Das gilt auch dann, wenn der ‚Fürsorgegegenstand’ faktisch selbst keine Ansprüche erheben aber ein „moralisches Mandat“ beanspruchen kann.137 – Wie weit dieses moralische Mandat trägt, ob es z.B. auch den Menschenwürdeanspruch bzw. den (vollen) Menschenwürdeschutz kleinster Menschlein einschließt, jedenfalls auch den von Embryonen, ist aber in der Öffentlichkeit umstritten und bedarf dringend der Klärung. Was hat eine Ethik aus dem Dialog hierzu beizutragen? 137 Jens Peter Brune, „Menschenwürde und Potentialität: Eine diskursethische Skizze“, in: Burckhart u. Gronke (Hg.), Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik, Würzburg 2002, S. 425-446, hier S. 443. 98 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 6 11.12.2009 Verbindlichkeitserweis der Achtung der Menschenwürde im Dialog mit einem Zweifler. Doch langsam! Ein skeptischer Diskurspartner kann hier mit Recht einwenden, daß es fast auf eine Erschleichung hinausliefe, wenn wir gleich den Anwendungsbereich der Menschenwürdenorm absteckten, ohne überhaupt demonstriert zu haben, daß dem Gebot >Achte die Würde jedes menschlichen Wesens!< prinzipiell Verbindlichkeit zukommt. Zuerst einmal, so der Kritiker, wäre zu erweisen, daß diese Norm als moralische Grundnorm zu gelten verdient. Diesem Einwand sollten wir um so mehr Folge leisten, als die Achtung der Menschenwürde einen Kerngehalt des Moralprinzips und insonderheit des Diskursprinzips bildet. Daher hängt dessen ethische Bedeutung und Orientierungskraft von einem Verbindlichkeitserweis der Menschenwürdenorm ab. Gelingt dieser freilich nicht, dann schiene das Moralprinzip ziemlich leer und formal zu sein, ein bloßes Verfahrensprinzip für Teilnehmer an moralischen Diskussionen... Die Menschenwürdenorm ist der Grundsatz, daß dem menschlichen Leben eine nicht anzutastende Würde zukomme, die in zwei ursprünglichen moralischen Rechten, dem Recht auf (mögliche) Selbstbestimmung und dem auf Unverletzlichkeit des eigenen Lebens Ausdruck findet. Ihr zufolge darf die mögliche Selbstbestimmung und die im weitesten Sinne leibliche Integrität eines Menschenwesens, unabhängig von seinem Entwicklungsstadium und seinen konkreten Fähigkeiten, weder seitens eines Staates noch anderer Institutionen oder anderer Menschen angetastet werden.138 Nicht erst angesichts der postmodernen Relativierung und der liberalistischen sowie existentialistischen Subjektivierung von ethischen Normen bis hin zu dem Prinzip der Ethik selbst, sondern bereits angesichts des Kantischen „Gerichtshofs der Vernunft“, vor dem lediglich sinnvolle Argumente zählen, ist es uns auferlegt, die einsehbare Verbindlichkeit des Menschenwürdegebots zu erweisen, – auch wenn wir es aus uralter Glaubenstradition irgendwie ‚haben‘. Können wir das, was uns glaubenstraditionell oder verfassungspatriotisch motivieren mag, auch rational einholen? Entstanden ist das Grundgebot der Menschenwürde aus der biblischen Überzeugung, daß Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe (1. Mose 1, 26f), woraus sich das sechste bzw. nach katholischer und lutherischer Zählung das fünfte der Zehn Gebote „Du sollst nicht morden“ (2. Mose 20, 13 und 5. Mose 5, 17; präzisiert im Noah-Bund: 1. Mose 9, 6) ableiten läßt. Noch jener säkulare Geist, der sich heute in Menschenrechtsdeklarationen und etwa in 138 Dazu J.P. Brune, ebd., ders., Moral und Recht. Zur Diskurstheorie des Rechts und der Demokratie von Jürgen Habermas; Diss. Phil. FU Berlin, 2008, Teil B: Menschenwürde und Potentialität. 99 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 dem deutschen Grundgesetz objektiviert hat, steht in der Wirkungsgeschichte dieses Bekenntnisses zu Gott, dem Schöpfer, und zu seiner Schöpfungsordnung. So haben sich die Mütter und Väter des „Grundgesetzes“ bei der Formulierung des Ersten Artikels, der Menschenwürdenorm, teils direkt von deren schöpfungstheologischem und bundestheologischem Hintergrund leiten lassen, teils von Kants säkularer ‚Übersetzung‘ der Lehre von der Gottesebenbildlichkeit. Kant hatte versucht, deren normativ-ethischen Gehalt einzuholen,139 indem er eine Menschenwürde- bzw. Selbstzweckformel, eine „praktische“ Formel des kategorischen Imperativs aufstellte: Es bestehe die unbedingte Verpflichtung, ein menschliches Wesen niemals ausschließlich als Mittel sondern stets zugleich als Zweck zu brauchen, damit der absolute Wert der Menschheit als vernunftfähiger, mithin moralfähiger Natur geachtet werde: „Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“140 Von der biblischen und kantischen Tradition motiviert, haben die deutschen Verfassungsmütter und -väter seinerzeit einen Beschluß gefaßt, der das Gebot der Menschenwürde zur obersten Richtschnur staatlichen Handelns erhebt. Infolgedessen gilt es im deutschen Rechtsraum faktisch: kraft förmlicher, verfassungsgebender Entscheidung und deren staatlich-rechtlicher Anerkennung. Den Standpunkt des Geltens von Normen allein kraft Entscheidung, einer Art Glaubensentscheidung, vertritt auch die große politisch-ethische Koalition des modernen Pluralismus – von den Popperianern über die Existentialisten bis zu (liberalen) Theologen. Der Standpunkt, daß sich moralische Normen letztlich nicht rational begründen lassen, ihre Geltung also nicht aus allgemein einsehbaren Gründen ziehen können, sondern bloß aus der Tatsache, daß sich eine Gemeinschaft für sie entschieden hat, ist ja der eine Pol des westlichen „Komplementaritätssystems“. Den anderen Pol bildet, wie wir gesehen haben, die „wertfreie“, nicht moralisch orientierende bzw. orientierungsfähige, formale Rationalität der Wissenschaft und der ökonomischen bzw. effizienten Mittelsuche. Tertium non datur? Jedenfalls können die allermeisten Vertreter der Menschenwürdenorm für deren Geltung nicht mehr als eine Glaubensentscheidung – logisch also eine Arationalität – ins Feld führen. Es herrscht eine Dürftigkeit des Denkens vor. Sie bedeutet einen Skandal von universell politischer und rechtsethischer Tragweite: Einerseits gründen die Menschenrechte einschließlich der Kinderrechte und die Menschenrechtsdeklarationen, die Charta der 139 Es handelt sich bei diesem Versuch allerdings eher um eine Setzung als um eine argumentative Einholung, weil sich diese materiale und soziale Norm in Kants Denkrahmen – Ansatz bei dem am a-sozialen Singular gedachten Vernunftsubjekt und Lokalisierung der Moralität samt ihrer Sinnbedingung, der sittlichen Selbstbestimmung (Autonomie) – überhaupt nicht begründen läßt. 140 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg. S. 429. 100 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Vereinten Nationen und rechtsethisch so differenzierte Verfassungen wie eben das deutsche Grundgesetz auf der Verbindlichkeit der ‚Menschenwürde‘ und setzen deren universale Einsehbarkeit voraus. Andererseits nimmt der Zeitgeist unter Einschluß der allermeisten Wissenschaftstheoretiker und Philosophen entweder direkt an, daß sich deren Verbindlichkeit strenggenommen nicht einsehen, d.h. erweisen lasse, oder man stellt diese Letztbegründbarkeit zumindest in Frage… Dieser Skandal wäre in der Tat ein Skandal der Vernunft, wenn selbst die Diskursethik, genauer gesagt deren Begründungsreflexion, nicht zu einem Verbindlichkeitserweis des Menschenwürdegebots in der Lage wäre. Diesen Eindruck muß man freilich haben, wenn man sich allein an Jürgen Habermas orientiert: sei es an seinen anfänglichen Arbeiten zur „Diskursethik“,141 worin er noch anspruchsvoll diesen Titel verwendete, sei es an seiner späteren Rückzugsposition einer bloßen „Diskurstheorie“.142 Schon die Lektüre seiner noch diskursethischen Schriften kann in der Tat – und Matthias Lutz-Bachmann, inzwischen der Frankfurter philosophische Nachfolger von Habermas, ist gewiß ein unverdächtiger Zeuge – zu folgendem Schluß führen: Die Diskursethik, wie sie Habermas, nicht Apel, vertreten hat, ist nur eine Verfahrensethik der rationalen Diskussion konfligierender Interessen. Und ihr normatives Kriterium besteht bloß in einem formalen Konsensprinzip, nämlich in dem Verfahrensprinzip einer, wie Lutz-Bachmann formulierte, „interessensgeleiteten Zustimmung“.143 Ohne hier die Auseinandersetzung zwischen Habermas’ formalpragmatischer Diskursethik und der, von Apel eingeführten, transzendentalpragmatischen Begründung eines verbindlichen Moralprinzips samt seiner ethischen Gehalte eigens zu führen,144 müssen wir doch den Hauptaspekt klären. Prüfen wir, ob ein solcher Formalismus, eine bloße Verfahrensförmlichkeit, sprich eine moralische Orientierungsunfähigkeit das letzte Wort einer Diskursethik sein muß, oder ob sie sich auf ein materialethisches Fundament stützen kann – 141 J. Habermas, „Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm“, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main 1983, S. 53-126. Ders., „Was macht eine Lebensform ‚rational‘?“, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1992, S 31-48. Vgl. auch: A.a.O., S. 119-226. 142 J. Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt a.M. 1992. Vgl. kritisch dazu: J.P. Brune, Moral und Recht. Zur Diskurstheorie des Rechts und der Demokratie von Jürgen Habermas; Diss. Phil. FU Berlin, 2008. 143 M. Lutz-Bachmann, „Praktischer Diskurs und sittliche Vernunft“, in: B. Irrgang u. M. Lutz-Bachmann (Hg.), Begründung von Ethik, Würzburg 1990, S. 109. 144 Dazu K.-O. Apel, „Grenzen der Diskursethik? Versuch einer Zwischenbilanz“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd.. 40, 1986, S. 3-31. Ders., „Auflösung der Diskursethik? Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung in Habermas’ Faktizität und Geltung. Dritter, transzendentalpragmatisch orientierter Versuch, mit Habermas gegen Habermas zu denken“, in: ders., Auseinandersetzungen, S. 727-839. J. Habermas, „Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung. Kleine Replik auf eine große Auseinandersetzung“, in: D. Böhler, M. Kettner u. G. Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung, Frankfurt a.M. 2003, S. 44-64. 101 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 z. B. auf den reflexiven Erweis des Menschenwürdegebots aus dem Argumentieren, das virtuell immer ein Miteinander-Argumentieren, ein Diskurs ist. Begeben wir uns dazu in die Diskurssituation zwischen einem Opponenten und einem Proponenten, der die Diskursethik durch „aktuelle Dialogreflexion“ begründet.145 O: Ich behaupte erstens, daß die Diskursethik, weil sie zur Begründung moralischer Normen und Werturteile nichts als den Rückgang auf den Diskurs zu bieten hat, keine prinzipielle moralische Orientierung ermöglicht, wie sie der Grundsatz, die Würde jedes Menschen sei unbedingt zu achten, enthält. Der Ansatz bei dem Diskurs kann – zweitens – bloß zu einem Konsensbildungsverfahren gelangen, dem das Kriterium einer interessegeleiteten Zustimmung zugrundeliegt. Das ermöglicht selbstredend keine unbedingte Verpflichtung und Verbindlichkeit. P: Mit Blick auf eine strikte, transzendentalpragmatische Begründungsreflexion – nicht im Blick auf Habermas, der ja bereits die Situation des praktischen Diskurses voraussetzt, auf die aber ein Skeptiker sich nicht einlassen muß, weil er deren Zumutung mit der Frage kontern kann „Warum soll es vernünftig sein, sich als praktischer Diskurs-Teilnehmer (statt z. B. rein zweckrational bzw. strategisch als homo oeconomicus) zu verhalten?“ – werde ich dir durch Reflexion auf den Diskurs im Dialog zu zeigen versuchen, daß deine Ausgangsthese (1) nicht zutrifft und daß deine Kriterienannahme (2) nicht folgt. O: Wie das? P: Bedenke, was du als gültig und für dich als meinem Partner im Diskurs, jetzt zunächst in dieser realen Kommunikationsgemeinschaft, voraussetzen und als verbindlich anerkennen mußt, - damit deine Rede von mir (und anderen) als Argument mit kritisierbarem Geltungsanspruch aufgenommen und diskutiert werden kann, mußt du voraussetzen, daß sie als argumentativer Beitrag im Dialog mit anderen verständlich ist (spezifische, nämlich kognitive Sinnbedingung); 145 D. Böhler, „Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik…“, 1998, S. 126-178, bes. S. 143-163; ders. u. M.H. Werner, „Alltagsweltliche Praxis und Rationalitätsansprüche der Kulturwissenschaften“, in: F. Jäger und J. Straub (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 2, Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart 2004, S. 6683, bes. S. 72 ff. 102 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 - 11.12.2009 damit du von mir (und ggf. anderen) jetzt als Argumentationspartner im Dialog über Wahrheit und Richtigkeit ernst genommen werden kannst, mußt du den Anspruch auf Wahrhaftigkeit, d.h. die eigene Bereitschaft, mit den Anderen dialogpartnerschaftlich zusammenzuarbeiten, mitbringen und als verbindlich anerkennen (praktische Glaubwürdigkeitsbedingung); - damit wir schließlich deine und meine Beiträge hinsichtlich ihrer Ansprüche, allein kraft ihrer Begründbarkeit und freien Einsehbarkeit zu gelten, hier in einem Diskurs prüfen, ggf. verbessern und zur Geltung bringen können, müssen wir uns bemühen, alle sinnvollen Argumente in unseren Dialog einzubringen (Gültigkeitsbedingung). Denn du wirst doch zugeben: wir können wissen, daß der argumentative Dialog eine verbindliche (Meta-)Institution für dich, mich und für alle möglichen Anspruchssubjekte ist, so daß er als Diskursuniversum etwas Ideales an sich hat, da er alle performativ und propositional widerspruchsfreien Argumente und deren mögliche Vertreter, und zwar als Gleichberechtigte, einschließt. O: Das ist geschenkt. Aber daraus folgt doch nicht, daß die Diskursethik die Verbindlichkeit der Menschenwürde (1) und damit auch – im Unterschied zur interessierten Zustimmung – ein absolutes Kriterium für Gültigkeit (2) begründen kann. P: Nicht eigentlich die Diskursethik, wohl aber die argumentative Dialogreflexion, auf die sie aufbaut und deren Resultate sie als normative Gehalte der Ethik präsentiert bzw. auf moralische Konflikte anwendet. O: Und wie soll die Begründung vor sich gehen? P: In zwei Schritten. Im ersten Schritt rekonstruiert man, an sein intuitives und wissenschaftsvermitteltes Vorverständnis von Dialog anknüpfend, notwendige interne Bedingungen, die bei der Durchführung eines Dialogs, in dem allein nach Wahrheit und Richtigkeit gesucht wird, erfüllt werden müssen. Man deckt Sinnbedingungen eines argumentativen Diskurses auf. Dann setzt der zweite Schritt ein: die reflexive Prüfung, ob die aufgesuchten Sinnbedingungen sich wirklich als solche erweisen lassen. Zu diesem Zweck bezweifelt man den Status einer dieser rekonstruierten 103 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Bedingungen: Ist die vermeintliche Sinnbedingung in der Tat eine solche? Ist sie wirklich schlechthin konstitutiv für das Argumentieren, mithin allgemeingültig und allgemeinverbindlich? O: Ein solcher Zweifel ist allerdings angebracht. Denn dein Ausgang von einem Vorverständnis und dein „Rekonstruieren“ bzw. „Aufdecken“ von Sinnbedingungen hängt ab vom Horizont und Standpunkt desjenigen, der die Rekonstruktion durchführt. Daher kann das Verfahren sehr fehlerhaft sein. P: Jedenfalls muß man mit solchen Fehlerquellen rechnen. Aus diesem Grunde zeichnet die Diskurspragmatik die Prüfung des Zweifels als den entscheidenden Begründungsschritt aus. Im Sinne einer sokratischen Prüfung, eines reflexiven Elenchos wird geklärt, ob sich dieser skeptische Einwand überhaupt als sinnvolle Argumentation in einem Dialog vertreten läßt. Für einen solchen Elenchos ist vor allem zweierlei erforderlich146: Erstens dürfen die Dialog-Teilnehmer nicht nur ihre Aussagen, sondern müssen ihre ganze performativ-propositionale Rede betrachten; und sie müssen diese wiederum (hinsichtlich ihrer Geltungsansprüche) als Beiträge zu einem jetzt stattfindenden Dialog in Augenschein nehmen. Zweitens ist zu klären, ob sich diese Dialogbeiträge von den anderen Diskurspartnern als argumentative Dialogbeiträge verstehen und prüfen lassen oder aber nicht. O: Aber was hast du als Kriterium für Unverständlichkeit im Diskurs zu bieten? Wann tritt der dialogische Unverständlichkeitsfall ein? P: Er tritt genau dann ein, wenn jemand eine skeptische Behauptung vorbringt, die etwas bezweifelt, was sie selbst in Anspruch nehmen muß, um als Diskursbeitrag für Partner in der Diskussion jetzt verständlich und prüfbar zu sein. Wollen wir so verfahren? Läßt du dich auf eine solche dialog-praktische Prüfung ein? O: Ja. Probieren wir einmal, was dabei herauskommt. 146 Das Verhältnis von 'Vorverständnis', 'Rekonstruktion' und 'Dialogreflexion' wird näher bestimmt in: Böhler, Strategik, „Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik…“, 1998 S. 143 ff. 104 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 P: Gut. Das 11.12.2009 Verfahren ist der dialogische Test, ob ein Gültigkeits- und Verbindlichkeitserweis des Menschenwürdegrundsatzes, genauer: seines normativen Gehalts, überhaupt möglich ist. O: Woran würden wir erkennen, ob ein solcher möglich ist, ja, ob er gelungen ist? P: Daran, daß es Sinnbedingungen des Diskurses gibt, die mit dem Menschenwürdegrundsatz normativ deckungsgleich sind, und daran, daß diese sich – jetzt von dir – nicht durch einen sinnvollen, weil prüfbaren, Diskursbeitrag in Zweifel ziehen lassen. O: Und woran soll ich bemessen, ob der Zweifel ein sinnvoller Diskursbeitrag ist oder nicht? P: Du ermißt es daran, ob ein Zweifel pragmatisch widerspruchsfrei ist. Das diskurspragmatische Sinnkriterium besteht in der Reflexionsfrage: >Ist ein Zweifel vereinbar mit den Sinnvoraussetzungen unserer Rolle als Partner im argumentativen Dialog?< Sokratisch elenktisch gesagt: Wenn sich die Unvereinbarkeit des Zweifels mit Rollenvoraussetzungen des Diskurspartners herausstellt, dann ist der Zweifel als sinnlos erwiesen. Positiv gewendet, heißt das: Wenn eine Skeptikerwiderlegung durch Reflexion auf Sinn- und Geltungsbedingungen des Diskurses in dem gerade geführten Dialog gelingt, dann ist das Bezweifelte als letztgültig bzw. als uneingeschränkt verbindlich erwiesen. O: Einverstanden. Prüfen wir zunächst meine These (2), die Kriterienannahme. Ich präzisiere sie jetzt, indem ich behaupte: (3) Durch argumentationsreflexiven Rückgang auf den Diskurs kommt man nicht zu einer verbindlichen Orientierung, sondern nur zum Kriterium einer interessegeleiteten Zustimmung. P: Laß uns untersuchen, ob dies ein sinnvoller argumentativer Dialogbeitrag ist. Schließlich bringst du diese These in einem Diskurs (nämlich gerade jetzt im Dialog mit mir) und mit Anspruch auf Geltungsfähigkeit vor. Im zweiten Teil deiner These 105 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 sprichst du von dem Kriterium einer interessegeleiteten Zustimmung, auf welches allein die Diskursreflexion führen könne. Ich konzentriere mich zunächst auf diesen Punkt: Bist du der Ansicht, daß in einem Diskurs nicht nur Argumente, sondern auch schon Interessen als Gültigkeitsinstanzen zählen? O: Laß mich diese Ansicht hier einmal vertreten. P: Gut. Dann wollen wir prüfen, ob sie sich in einem Diskurs vertreten läßt. Um den Beweisgang abzukürzen, stelle ich dir eine Frage, die auf die vorhin getroffene Unterscheidung von Sinnbedingungen der Rede (a) und Glaubwürdigkeitsbedingungen der Partnerintention (b) zurückgreift. O: Nur zu! P: Ist es eine sinnvolle Rede (a) und bist du für mich (bzw. deine Partner im Dialog – wer immer sie sein mögen) ein glaubwürdiger, ernstzunehmender Diskurspartner (b), wenn du behauptest: ‚Nicht nur Argumente gelten im Diskurs, sondern auch bloße Interessen. Daher kann eine Zustimmung, die aus Interessen erfolgt, ein Kriterium für Gültigkeit sein‘? Kannst du selbst als wahrhaftiger Diskurspartner, der nach Wahrheit und Richtigkeit sucht und der als solcher von mir (bzw. deinen Partnern) ernst genommen sein will (b), diese ‚Interessen-Kriterien-These‘ als These mit kritisierbarem Geltungsanspruch (a) verstehen und in einem argumentativen Dialog vertreten? O: Das ist in der Tat heikel. P: Es ist vielmehr unmöglich. Bedenke doch: Wenn du (und wann immer du) wirklich nach Wahrheit bzw. Richtigkeit suchst, kannst du im Diskurs Interessen nicht einfach gelten lassen, weil sie halt vorliegen, sondern lediglich als Kandidaten für gute Gründe, als Ansprüche auf mögliche Geltung. Diese Ansprüche müßten jedoch erst eingelöst werden, nämlich durch triftige, allgemeine Zustimmung verdienende Argumente, welche bestimmte Interessen hinreichend begründen können. Andernfalls wärest du nicht, wie du vorgibst, ein nach Gültigkeit suchender Diskurspartner, sondern ein (raffinierter) Interessendurchsetzer, der sich einer Diskursveranstaltung 106 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 bloß als Mittel bedient und der die Würde seiner Partner verletzt, indem er sie nur scheinbar als Partner eines Dialogs der Argumente ernstnimmt und... O: Offenbar spielst Du auf die Menschenwürde an. P: Ja. Denn die nimmst du, jetzt im Dialog mir gegenüber, für dich in Anspruch, und ebenso nehme ich sie für mich in Anspruch. O: Und inwiefern verletze ich sie? P: Wenn du letztlich nicht nach dem besten Argument suchst, nach Gründen, die gelten können, dann nimmst du mich nicht als Argumentationspartner ernst, sondern machst mich zum Mittel deines Kalküls. Du achtest mich nicht in meiner Würde als gleichberechtigtem Verunftsubjekt. Vielmehr erniedrigst du mich. Denn du machst mich zum Mittel deiner eigenen partikularen Zwecke macht, d. h. du manipulierst mich. O: Wohl wahr. P: Langsam. Gibst du damit zu, daß die Suche nach Gültigkeit, also nach Wahrheit (von Sachverhaltsbehauptungen) und Richtigkeit (von Normbehauptungen bzw. von Normen und Handlungsweisen) an die Achtung der Würde all jener (als Argumentationspartner) gebunden ist, die an der Gültigkeitssuche teilnehmen? O: Das folgt offensichtlich. Aber diese Achtung bezieht sich ausschließlich auf die Diskursteilnehmer, nicht auf die da draußen und nicht auf ‚meine‘ Praxis außerhalb von Diskursen. Die Diskursverpflichtungen gelten eben auch nur für Diskurse; ihre normative Geltung überträgt sich nicht nach ‚draußen‘ auf die diskursexterne Praxis in Lebenswelt und Gesellschaft. Diesen Vorbehalt haben zuerst Karl-Heinz Ilting und dann Habermas geltend gemacht. Ist er nicht durchschlagend? P: Das bleibt zu prüfen. Zuvor aber müssen wir festhalten, was wir geklärt haben und worin wir inzwischen übereinkommen. 107 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 O: Gut, mein Herr Pedant. P: Wir müssen einräumen, daß sich sowohl ein theoretischer Diskurs (über die Wahrheit von Sachverhaltsaussagen, etwa von Situationsbeschreibungen) als auch ein praktischer Diskurs (über die Richtigkeit eines normativen Urteils, die Legitimität einer Norm oder die Berechtigung zu einer bestimmten Handlung) nur dann führen läßt, und daß ein Diskursergebnis nur dann gültig sein kann, wenn die Teilnehmer allein nach guten Gründen suchen und einander als gleichberechtigte Partner mit unantastbarer Würde achten, so daß sie dem Verfahren als vernunftgemäß und dem Ergebnis als (nach bestem Wissen) zutreffend bzw. richtig würden zustimmen können. Kannst du dem beipflichten? O: Insoweit bin ich einverstanden. Denn wahr oder richtig kann schlechterdings nur etwas sein, das alle, die sich sachkundig machen und ausschließlich Argumente gelten lassen, prüfen können und dem sie frei, aus Einsicht, zustimmen können. P: Eben; genau darauf kommt es an. In diesem Sinne können wir jetzt das Kriterium der Zustimmung näher bestimmen und deine Vermutung prüfen, die Diskursethik könne bloß eine interessegeleitete Zustimmung ins Auge fassen. O: Ja. Mehr kann sie nicht bieten. Geht sie doch von realen Diskursen aus. Und in wirklichen Diskursen machen die Leute natürlich ihre Interessen geltend. P: Nun frage ich dich, der du in diesem realen Diskurs mein Partner bist, der du als Diskurspartner ausschließlich sinnvolle Argumente gelten läßt und nach dem besten, eben dem wahren theoretischen bzw. dem richtigen praktischen Argument suchst: Bist du eigentlich einverstanden, und kannst du in deiner Suche zufriedengestellt sein, wenn dir gesagt wird: ‚Deine Wahrheits- und Richtigkeitssuche ist am Ziel, wenn deine Gesprächspartner deiner Argumentation zustimmen, weil sie von ihren zufälligen Interessen dazu motiviert werden, dir ihre Zustimmung zu geben?‘ O: Das wohl nicht. 108 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 P: 11.12.2009 Bestimmt nicht. Denn wenn du dich darauf einließest, müßtest du immer argwöhnen, von Interessenten, vielleicht auch liebedienerisch oder sonst korrumpierend, fehlgeleitet zu werden oder dich auch selbst zu betrügen, weil du, genaugenommen, gar nicht mehr nach Gültigkeit strebtest sondern bloß nach Übereinstimmung in deinem Kreise. Du könntest nicht im Einklang, in „Homologie“, sagt Sokrates, mit dir als ernsthaftem Argumentationssubjekt und als Diskurspartner (b) sein. Du nähmest einen Widerspruch in Kauf zwischen dem Anspruch auf argumentative Gültigkeit, den du selbst mit deiner Behauptung oder einem anderen Beitrag im Diskurs erhoben hast, und einem Gültigkeitskriterium, das dich mit Interessen abspeist bzw. mit einer interessegeleiteten Zustimmung. O: Damit hast du wohl Recht. Doch inwiefern soll damit meine These widerlegt sein? P: Als sinnlos erwiesen, mithin restlos widerlegt ist deine Annahme, daß sich in einem Rückgang auf den argumentativen Diskurs, durch den sich die Diskursethik begründet, keine verbindliche Orientierung gewinnen lasse, sondern nur das Kriterium – sagen wir jetzt besser: das Scheinkriterium – der interessegeleiteten Zustimmung. Und ... O: Ja, das Kriterium 'interessegeleitete Zustimmung' läßt sich in Wahrheit nicht durch eine Besinnung im Dialog auf den argumentativen Diskurs begründen. Das sehe ich ein. Aber... P: Gemach. Schritt für Schritt. Mein Gedanke ist noch nicht zum Schluß gebracht. Also: Durch die Widerlegung dieser deiner Kritik der Diskursethik wird auch die transzendentalpragmatische bzw. diskurspragmatische Generalthese der Diskursethik bestätigt. Denn an der Unhaltbarkeit deiner Kritik – jetzt können wir präziser sagen: an ihrer Unvertretbarkeit in einem Dialog der Argumente – zeigt sich, daß genau das zutrifft, was deine Kritik bestreitet. O: Und das wäre? P: Das ist zweierlei. Erstens, daß es für materiale Normen wie das Menschenwürdegebot sehr wohl strikte Gültigkeit und Verbindlichkeit gibt – eine Gültigkeit und Verbindlichkeit aus allgemein einsichtigen Gründen. 109 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 O: Und was für Gründe sollen das sein? P: Eben diejenigen Gründe, die wir alle haben bzw. erkennen, wenn wir uns besinnen auf die vorgängige (primordiale) Rolle eines Dialogpartners, die wir mit jeder ernsthaften Behauptung und mit jeder ernstgemeinten Frage bereits übernommen haben. O: Du meinst also, eine rationale Letztbegründung moralischer Grundnormen sei in der Tat möglich? P: Du hast sie vor dir. O: Und was ist mit der von dir beschworenen diskurspragmatischen Generalthese? P: Sie besagt: Die Suche nach einem bzw. die Bemühung um einen rein argumentativen Konsens, damit einhergehend die Geltungseinklammerung von bloßen Interessen und der Geltungsvorbehalt gegenüber einer faktischen Zustimmung, schließlich die (dazu logisch erforderliche) gleichberechtigte Berücksichtigung aller sinnvollen Argumente zur Sache, die irgend jemand vorbringen könnte, ist nicht irgendeine Orientierung neben möglichen anderen. Sie ist die einzige argumentativ unhintergehbare Erkenntnisorientierung: das absolute Erkenntnisprinzip schlechthin. O: Warum so unbescheiden? P: Es geht nicht um Bescheidenheit oder Unbescheidenheit. Es geht um Gültigkeit oder Ungültigkeit. Und das Diskursprinzip ist deshalb absolut gültig, weil du es überhaupt nicht in Zweifel ziehen kannst, ohne durch diese Zweifelshandlung dir selbst als Argumentationspartner zu widersprechen. O: Und ich müßte mir widersprechen, weil ich a priori diese Rolle übernommen habe, indem ich etwas – und sei es einen Zweifel – zur Geltung bringe? P: Ja. Wenn du ernsthaft etwas geltend machen und nicht eine Story erzählen oder dir gar in die Tasche lügen willst, dann hast du kraft deiner eigenen Gültigkeitsansprüche die 110 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Verpflichtung anerkannt, alle sinnvollen Argumente zum Thema sowohl zu suchen als auch zu prüfen und alle möglichen Träger sinnvoller Argumente als gleichberechtigte Partner zu achten. O: Das versteht sich wohl. Durch die Übernahme meiner Erkenntnisrolle, die du als Diskurspartnerrolle rekonstruierst, habe ich unausdrücklich alle anderen Erkenntnissubjekte anerkannt, bin gewissermaßen in die unbegrenzte Gemeinschaft der Vernunftsubjekte oder Diskursteilnehmer oder Erkenntniswilligen im strengen Sinne eingetreten. Und damit habe ich zugleich die Verbindlichkeit des argumentativen Dialogprinzips als das Prinzip der Moral anerkannt. Wie könnten wir es formulieren? P: Hinsichtlich seines normativen Gehalts etwa so: Bemühe dich um die Argumentation und um diejenige Handlungsweise, die die begründete Zustimmung aller als Diskurspartner verdient. O: Aber das ist doch formal und schließt nicht die Pflicht zur Achtung der Würde jedes menschlichen Wesens ein. P: Genau diese Pflicht schließt das letztbegründbare Diskursprinzip ein. O: Weshalb und inwiefern? P: Weil das Diskursprinzip unwiderleglich verlangt, sich um die gleichberechtigte Berücksichtigung aller sinnvollen Argumente zu bemühen, die von irgend jemandem für irgend etwas vorgebracht werden könnten, schließt es in erster Linie die Verpflichtung ein, das Leben und darüber hinaus die kommunikative Freiheit, mithin die Denk- und Dialogchancen all derer zu achten und zu schützen, die Ansprüche haben könnten. Und besteht nicht eben darin der materiale normative Gehalt des Menschenwürdegrundsatzes, der das Ur-Recht bzw. das ursprüngliche moralische Recht jedenfalls aller möglichen Mitglieder der Menschengattung zum Ausdruck bringt? 111 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 O: 11.12.2009 So ist es wohl. Allerdings treten auch Skeptiker auf, gerade in postmodernen Zeiten bzw. kulturrelativistischen Stimmungen, welche bezweifeln, daß die Pflicht, den so verstandenen Menschenwürdegrundsatz nach Kräften zu befolgen, absolut gültig und verbindlich sei. Was dann? P: Nun, diesen Zweifel und diesen Zweifler würden wir wiederum in einen reflexiven Diskurs ziehen, um diesen Gültigkeitszweifel mit der Diskurspartnerrolle des Zweiflers zu konfrontieren. Auf diese Weise können wir ja sinnkritisch zeigen, daß sich die prinzipielle Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der kommunikativen Freiheit und der Lebensmöglichkeiten von Anspruchssubjekten in einem argumentativen Dialog gar nicht sinnvoll bezweifeln läßt. O: Und „nicht sinnvoll“ hieße soviel wie „nur in Widerspruch zu eigenen Diskurspartnerrolle“? P: Ja. Und das, was du als Diskurspartner nicht mehr sinnvoll bezweifeln kannst, das bindet dich unwiederbringlich. O: Also wäre die Pflicht zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde absolut verbindlich… Das sehe ich jetzt ein. Doch wie steht es mit meinem vorhin, in Analogie zu Ilting und Habermas, gebrachten Einwand, daß sich ein Begründungsversuch der Menschenwürdenorm aus dem Diskurs auch bloß auf die Teilnehmer an einem Diskurs und strenggenommen nur solange, wie der Diskurs dauert, erstrecken könne? Dann wäre ja der universale und uneingeschränkte Geltungsanspruch des Menschenwürdegebots gerade verfehlt. Denn "Menschenwürde" ist unteilbar und für jeden in jedem Kontext verbindlich, oder sie ist nichts. P: Richtig. Laß uns also deinen Einwand prüfen. Bringe ihn nochmals vor! O: Ja: Ich bezweifle, daß ich oder jeder x-beliebige ernsthafte Diskurspartner dazu verpflichtet ist, auch außerhalb von Diskursen die Würde aller Menschen zu achten. P: Meinst du das ernst? 112 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 O: 11.12.2009 Ja; das sage ich dir als dein ernsthafter Diskurspartner. Ich treibe kein Spiel mit dir sondern achte, auch indem ich diese These vorbringe, deine Würde als Diskurspartner. Und ich selbst halte meinen Anspruch hoch, dir ein glaubwürdiger Diskurspartner zu sein. P: Letzteres kannst du aber nicht, wenn du zugleich diese These mir gegenüber behauptest. O: Das verstehe ich nicht. Ich werde doch noch zweifeln dürfen. P: Gewiß. Doch es gibt sinnvolle und sinnlose Zweifel. Und der deine ist zwar in gewisser Weise nützlich, weil wir etwas an ihm lernen können; aber als Diskursbeitrag zwischen Dialogpartnern ist er sinnlos, weil er sich nicht mit dem Anspruch vereinbaren läßt, ihr Vertreter sei ein wahrhaftiger, ein glaubwürdiger Diskurspartner und achte (als ein solcher) unbedingt die Würde seiner Gesprächspartner. O: Wieso? Ich kann doch – praktisch – dir ein glaubwürdiger Diskurspartner sein und – theoretisch – Zweifelsexperimente anstellen. P: Zieh dich nicht aufs Theoretische zurück; denn deine Theorien mußt du mit deiner aktuellen Praxis als Dialogpartner vereinbaren können. Eben daran bemißt sich deine Wahrhaftigkeit bzw. Glaubwürdigkeit als Partner im argumentativen Diskurs. Sinnvoll ist eben einzig der Gedanke und derjenige Zweifel, den du als glaubwürdiger Diskurspartner vertreten kannst; die Anderen müssen dich hinsichtlich deiner Meinung als ihren Partner – jetzt im Diskurs mit dir – ernstnehmen können. Eine vermeintlich radikale Theorie oder Skepsis, die mit glaubwürdiger Dialogpraxis nicht vereinbar ist, erweist sich im Dialog als sinnlos. O: Langsam, langsam! Warum soll eine radikale theoretische Perspektive nicht mit ernsthafter Praxis vereinbar sein? Betreibst du nicht eine unerlaubte Vermengung von Theorie und Praxis? Springst du nicht aus dem Diskurs in die Welt der Praxis? 113 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 P: 11.12.2009 Nein; ich demonstriere, daß eine dialogbezogene, rechtfertigungsfähige Vermittlung von Theorie und Praxis besteht. Dieser weichst du aus. Du entziehst dich gewissen Dialognormen, gewissen Diskurspartnerrolle, indem Verbindlichkeiten du einer unverbindliche – und theoretische jetzt – deiner Spekulationen, freischwebende Zweifel, anstellst. Das ist sinnlos. Laß die Spielerei! O: Du gehst zu weit. Was soll das? Wie kommst Du dazu? P: Ich komme dazu, weil du mich als deinen Diskurspartner in Anspruch nimmst. Daher will auch dich als meinen Diskurspartner bei den – jetzt deinen – Verbindlichkeiten der Diskurspartnerrolle nehmen. Komm aus deiner Verschanzung hinter einer bloß theoretischen Perspektive hervor; vergiß nicht bei deinem Theoretisieren, daß du jetzt mit mir im Diskurs bist! O: For the sake of argument. Was soll ich tun? P: Steh Rede und Antwort; verantworte dich jetzt im Diskurs! Laß dich als meinen Diskurspartner direkt befragen: Wie ist es um deine Glaubwürdigkeit als Diskurspartner bestellt, wenn du mir diese zwar ebenso versicherst wie deine Bereitschaft, meine Würde als Diskurspartner zu achten, aber zugleich in Zweifel ziehst, daß du meine Würde wie die anderer auch außerhalb des Diskurses zu achten verpflichtet bist? Ich denke, es ist um deine Glaubwürdigkeit geschehen, denn wenn du das bezweifelst, sagst du mir damit, du wissest nicht, daß du dazu verpflichtet bist. Eine nicht gewußte, eine nicht frei eingesehene Verpflichtung ist freilich keine – jedenfalls keine moralische, keine verbindliche, auf die man bauen kann. Also kann ich außerhalb des Diskurses nicht auf dich als moralische Person zählen. Und da soll ich im Diskurs auf dich zählen? O: Genauer bitte. Warum denn nicht? P: Versetze dich in meine Situation, in die dein Zweifel mich bringt (als deinen Diskurspartner) und laß dich fragen: Wenn dir jemand so käme – nämlich am Sonntag, im Diskurs, sagte er dir zu, die Menschenwürde der anderen Sonntägler, der Diskursteilnehmer, zu achten; doch darüber hinaus, im Alltag, wisse er sich nicht auf 114 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 das Menschenwürdegebot verpflichtet- könntest du ihn aufgrund dieser Rede als glaubwürdigen, als wahrhaftigen Partner im Diskurs anerkennen? O: Wohl eher nicht. P: Mit Sicherheit nicht. Bedenke nur zweierlei: Einmal die Verwobenheit von Diskursen und Alltagswelt. Denn Diskurse finden ja nicht auf einem anderen Stern statt, sondern müssen in der realen Welt geplant, organisiert, durchgeführt und ihre Ergebnisse auf diese angewandt bzw. in dieser realisiert werden. Überall da ist die Glaubwürdigkeit und die Menschenwürde der Diskurspartner als Menschen in der Praxis gefragt. Und genau das weißt du als Diskurspartner ebensogut wie ich. O: Da muß ich dir zustimmen. P: Bedenke zum anderen, daß sich die Grenze zwischen den Teilnehmern und den NichtTeilnehmern an einem Diskurs der Argumente nicht empirisch festlegen läßt: Eine solche Grenze wäre immer zufällig und willkürlich. Denn sie läßt sich nur von außen bzw. durch zufällige Umstände festsetzen und bleibt dem argumentativen Diskurs äußerlich. So könntest du Teilnehmer aber auch Außenstehender sein, Beteiligter oder Zaungast oder Betroffener. Doch diese empirische Zufälligkeit tut nichts zur Sache. O: Was ist denn hier die "Sache"? P: Die Sache des Diskurses sind die Argumente und die Suche nach möglicher Wahrheit bzw. Richtigkeit, also die Suche nach den besten, d. h. universal geltungsfähigen Argumenten. Solche Argumente müßten alle berechtigten Ansprüche und die Gründe, die für diese sprechen können, berücksichtigen und einschließen. Folglich müssen die jeweiligen Diskursteilnehmer auch die Würde aller achten, die an diesem faktischen Diskurs nicht teilnehmen, die aber Diskursteilnehmer sein könnten, werden könnten oder gewesen sein könnten. O: Das wären freilich alle Menschen. 115 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 P: 11.12.2009 Ja, zumindest alle Menschen. Denn von diesen Wesen wissen wir, daß ihnen die Möglichkeit, Diskursteilnehmer zu werden, von Natur mitgegeben ist. O: Das ist ein anthropologisches Faktum. P: Ja, eine Fähigkeit, die zumindest unserer Gattung zukommt, die Fähigkeit, Ansprüche zu haben und auch geltend zu machen. O: Aber auch diese Fähigkeit ist ein natürliches Faktum. Schließt du dann nicht von einer bloßen Tatsache auf eine Norm, von einem Sein auf ein Sollen? P: Ein solcher Fehlschluß, der „naturalistische Fehlschluß“, läge dann vor, wenn wir allein aus kontingenten Fakten eine Norm ableiten würden – genauer gesagt, aus zufälligen Tatsachen, welche nicht zugleich Voraussetzungen dafür sind, daß sich ein ohnehin allgemeinverbindliches moralisches Prinzip überhaupt befolgen läßt. O: Aber du setzt hier doch ein bloßes Faktum voraus: die Tatsache, daß ein Wesen die Potentialität besitzt, Ansprüche haben oder anmelden zu können. P: Sieh doch! Eben diese Tatsache ist nicht irgendeine Zufälligkeit, welche deiner und meiner Fähigkeit, zu denken, zu urteilen und moralisch zu handeln äußerlich wäre. Vielmehr ist sie eine interne Voraussetzung dafür: die Bedingung der Möglichkeit, überhaupt Normen bilden zu können, moralische Erwägungen anzustellen usw. Also ist die in der Menschengattung biologisch angelegte Potentialität, Ansprüche zu haben und diese zu äußern, was ja auch der Taubstumme kann, eine Existenzbedingung der Moral, jeder möglichen Norm, jeder möglichen Erörterung und Erkenntnis von Normen. Die Anlage zur Diskursfähigkeit ist eben kein kontingentes Faktum, sie gehört selbst zur Möglichkeit der Moral – ontologisch und logisch. O: Du meinst, sie gehöre ontologisch dazu, weil sie die Existenzbedingung von Moral, von Normen und einer Normendiskussion ist? P: Genau. Zudem ist der Begriff der Diskursfähigkeit logisch verwoben mit den Begriffen ‚Moral‘, ‚Norm‘ etc. 116 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 O: Wie das? P: Überlege doch: Würde deine Rede von Moral und Normen irgendeinen Sinn ergeben, wenn du dabei nicht voraussetzen könntest und vorausgesetzt hättest, daß die Adressaten der Moral oder einer Norm – auch du selbst, der du davon redest – die Anlage zur Diskursfähigkeit mitbrächten? O: Nein. Wenn wir diese Existenzbedingung nicht als Sinnvoraussetzung unserer möglichen Rede von Normen, Moral usw. ins Spiel gebracht hätten, liefe diese unsere Rede leer. Sie bliebe unverständlich. Und daher, so geht das diskurspragmatische Argument, gehört die Annahme dieser Fähigkeit selbst zum Begriff von Moral, Norm etc.? P: Exakt. Damit aber nicht genug. Denn die biologisch vorgegebene Diskursfähigkeit ist weder die einzige noch die ausschlaggebende Voraussetzung. Und als ein Faktum darf sie das auch nicht sein. O: Allerdings nicht; denn was wir benötigen, ist der Grund für eine Verbindlichkeit, wie Kant sagt, also für eine prinzipielle Verpflichtung. P: Genau. Und den haben wir auch. Wir haben einen einsichtigen Grund, der uns moralisch von vornherein verpflichtet. Es ist ein gar nicht sinnvoll bezweifelbarer Geltungsgrund. Er gilt absolut. O: Nur, woher nehmen wir einen solchen starken Grund? P: Die allgemein einsehbaren, daher allgemein verbindlichen Gründe für eine unbedingte Verpflichtung kommen aus unserem praktischen Vorwissen, das wir als Diskurspartner mitbringen. Denn dessen mögliche Wahrheit können wir durch Reflexion auf interne Voraussetzungen des Diskurses, auf dessen normative Sinnbedingungen, prüfen bzw. validieren. 117 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 O: 11.12.2009 Und eine dieser Sinnbedingungen, dieser Diskursnormen, wäre die Verpflichtung, die Würde aller anderen möglichen Diskursteilnehmer zu achten, also zumindest die Würde aller menschlichen Wesen? P: Ja. Und weil das eine Diskursnorm ist, ist es zugleich eine Norm, die für die Praxis verpflichtend ist. Das gehört zu unserem Verpflichtungswissen als Diskursteilnehmer. O: Diskurspartner jedoch, die den Verpflichtungsgehalt dieses Wissens bezweifeln, bringen einen sinnlosen Diskursbeitrag vor, weil sie sich dadurch zu dem grundlegenden Glaubwürdigkeitsanspruch in Widerspruch setzen, den sie durch Übernahme der Diskurspartnerrolle erhoben haben. Das heißt, daß sie durch diesen Zweifel ihre eigene Glaubwürdigkeit als Diskurspartner erschüttern? Verhält es sich so? P: So ist es. O: Dann habe ich verstanden. Der Menschenwürdegrundsatz läßt sich als verbindlich erweisen, läßt sich letztbegründen durch Reflexion auf den argumentativen Diskurs im Dialog mit dem Zweifler. 118 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 7 11.12.2009 Die Grundnorm Achtung der Menschenwürde im Streit um ‚verbrauchende Embryonenforschung’ und PID. Nun haben wir – hoffentlich – erwiesen, daß dem Menschenwürdegrundsatz absolute Verbindlichkeit zukommt. Doch wie weit diese reicht, welche Wesen also unter seinen Schutz fallen, bleibt noch zu klären. Hilft das Jonassche Gedankenexperiment der Wette, das zur Verantwortung für menschliches Leben verpflichtet, in dieser Sache weiter? Es liegt nahe, diese Argumentation auf die Problematik der Präimplantationsdiagnostik (PID) und ‚verbrauchender Forschung‘ an embryonalen menschlichen Stammzellen anzuwenden. Ein solcher Anwendungsversuch zeigt zunächst dieses: Wenn gilt, daß die genannten Technologien bzw. Forschungstätigkeiten das Ganze der möglichen künftigen Interessen der von ihnen betroffenen Embryonen aufs Spiel setzen, ohne daß sie zur Rettung der Menschheit beitragen, dann sind sie moralisch nicht zu rechtfertigen. So weit so gut. Allerdings wird ein umsichtiger Kritiker sich gleich zu Wort melden. Drängt sich hier doch, wie Jens Peter Brune in einem Colloquium des Hans Jonas-Zentrums bemerkte, der Einwand auf, daß die umstandslose Anwendung des Gedankenexperiments zum Zweck der Überprüfung von PID und ‚verbrauchender Embryonenforschung‘ das eigentliche Problem überspringe. Denn in der öffentlichen ethischen Diskussion ist es gerade umstritten, ob Jonas’ Kriterium der Berücksichtigung und Hütung des Ganzen der betroffenen Interessen auch auf die künftigen Interessen von Embryonen, einschließlich der Embryonen „in vitro“ unbedingt anzuwenden sei. Der Streit geht ja darum, ob Embryonen ein moralischer Status mit Anspruch auf Menschenwürde etc. zukomme. Und dieser Streit ist umso tiefer, als bereits über die Frage nach dem Anfang menschlichen Lebens im öffentlichen Diskurs Dissens besteht. Wenn aus guten Gründen über den Gegenstandsbereich der Verantwortung Uneinigkeit herrscht, dann hilft Jonas’ Verantwortungsbegriff, der sich ganz auf den Gegenstand der Verantwortung konzentriert und sich mit der schwachen Argumentationskraft eines metaphysischen Glaubens auf einen motivationsfähigen Wert des Seins verläßt, nicht weiter. Eine metaphysische Theorie, die dem Leben, zuhöchst dem menschlichen Leben, Seinswürde und Schutzanspruch zuschreibt, also an eine „Ehrfurcht vor dem Leben“ (Albert Schweitzer) appelliert, begründet hier letztlich nichts. Sie artikuliert nur den eigenen Wert- und NormenStandpunkt, eine schon mitgebrachte Motivation. Auch eine Differenzierung der Motivation durch Entfaltung von ethischen Intuitionen führt kaum weiter, da der Skeptiker deren universale Verbindlichkeit (für diesen Fall) in Zweifel ziehen dürfte. 119 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Was wir an diesem Dissenspunkt benötigen, ist ein Verbindlichkeitserweis, der den Andersmeinenden und den argumentationsbereiten Skeptiker einbezieht und die Gegenargumente entkräftet. Für die Begründungsarbeit würde das zweierlei bedeuten: Erforderlich ist – erstens – ein nicht-metaphysischer und nicht-intuitionistischer Weg. Schließlich kann jede metaphysische oder intuitionistische Theorie vom Skeptiker mit Recht als fallibel gekennzeichnet werden; und dieser schwache Status macht sie unfähig zur Allgemeinverbindlichkeit, die hier vonnöten ist. Das hat auch Hans Jonas eingeräumt, als er feststellte, seine ontologische Begründung des „Prinzip Verantwortung“ stelle bloß „eine Option [...] zur Wahl“.147 Zudem darf – das ist das zweite logische Erfordernis – der Argumentationsweg nicht deduktiv sein. Denn alle Ableitungen einer moralischen, also verbindlichen, Sollensvorschrift verlieren sich in der Ausweglosigkeit eines Begründungstrilemmas, wie Hans Albert nachdrücklich in Erinnerung gebracht hat.148 Was bleibt, ist eine sinnkritisch sokratische Besinnung darauf, daß auch der Skeptiker mit seinem Etwas-Bezweifeln jeweils schon in einem argumentativen Dialog mit Anderen ist und daß er in diesem Dialog die eigene Zweifelsthese müßte verantworten können. Hier kommt wieder der in der Umgangssprache verwurzelte Tätigkeitsbegriff der Verantwortung ins Spiel, der bei Jonas keine Erwähnung findet, obwohl er sich implizit darauf stützt: Verantwortung als ein Sich für die eigene These bzw. Zweifelsbehauptung Verantworten. Dieser responsorische Verantwortungsbegriff steht bei Sokrates im Hintergrund, er findet sich mehr oder weniger bei Wilhelm v. Humboldt und dem frühen Karl Löwith. Jonas zehrt zwar an wichtigen Stellen von ihm149, holt ihn jedoch nicht in seinen primär gegenstandsorientierten phänomenologischen Denkansatz ein. Die sokratisch-postkantianische Diskurspragmatik rekonstruiert zunächst das Beziehungsgeflecht des Sich-Verantwortens als sechsstelliges Verhältnis des Rede-undAntwort-Stehens: Eine Person (1) legt durch Dialogbeiträge (2) Rechenschaft ab über eine Handlung (3) und deren Wirkung (4); nämlich gegenüber (realen oder möglichen) Anderen (5) und kraft ihrer Geltungsansprüche vor der Instanz einer unbegrenzten 147 H. Jonas, Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik, in: ders., Philosophische Untersuchungen, 1992, S. 140. Vgl. Jonas’ selbstkritische Äußerung in: E.Z., S. 39. 148 Vgl. H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1968. S. 11-15; W. Kuhlmann, Ist eine philosophische Letztbegründung moralischer Normen möglich?, in: Funkkolleg Studientexte, Bd. 2, S. 572605. 149 Z.B. TME, S. 200. Ferner: H. Jonas, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität? Das Leib-Seele-Problem im Vorfeld des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1981, Einleitung, S. 13-18. Dazu Böhler, „Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung“, in: Böhler/Brune, 2004, S. 97-160. 120 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Argumentationsgemeinschaft (6). Dieses sechsstellige dialogbezogene Verhältnis ermöglicht jeweils ‚meine’ Selbsteinholung als eines Diskurspartners. Nun ist, wie wir inzwischen wissen, der Witz der sokratisch-dialogreflexiven Begründung dieser: Bei sich selbst als jetzt Denkendem, als Diskursteilnehmer ansetzend, besinnt man sich darauf, daß man selbst mit seinem Zweifel einen Dialogbeitrag gegenüber anderen als Partnern im argumentativen Dialog geltend macht bzw. gemacht hat. So geht man reflexiv auf das zurück, was beide Seiten, die ja als Diskurspartner ernst genommen sein wollen, in Anspruch nehmen müssen – nämlich, daß sie sich als irrtumsfähige Menschen für ihr Projekt im Dialog der Argumente verantworten können. Durch eine solche Besinnung sowohl auf den Diskurs als auch auf ‚mich‘ und ‚dich‘ als Partner in einem Diskurs kann die Diskurspragmatik dem Metaphysiker Jonas beispringen, kann sie seine moralphilosophische Absicht fundieren. Wie? Die Diskurspragmatik macht mit der von ihm eingeklagten „Anerkennung der Unwissenheit“ im Diskurs ernst. Sie bezieht nämlich diese Anerkennung so auf die offene Frage nach dem moralischen Status von Embryonen, daß die Antwort mit ihrer (nun anerkannten) Fallibilität von Situationseinschätzungen und konkreten Diskursen moralisch vereinbar ist: Wer etwas behauptet und sich damit anderen gegenüber rechtfertigen will, ist einsehbar und unbestreitbar dazu verpflichtet, die Möglichkeit der Rechtfertigung zu bewahren, d.h. die Möglichkeit einer Verantwortung vor dem Handeln als die Möglichkeit, sich mit Argumenten dialogförmig für ein Projekt oder eine These zu verantworten. Das aber heißt, er ist zunächst gehalten, „das Ganze der Interessen“ von (möglichen) Anspruchssubjekten nicht aufs Spiel zu setzen, sondern deren Rechte im Diskurs zu berücksichtigen. Und letztlich ist er verpflichtet, die zugleich normative und ontologische Idee des Menschen, welche nicht allein die Bewahrung der Gattungsexistenz sondern auch die Hütung von Menschenwürde und Moralfähigkeit einschließt, in seinen Entscheidungen zur Geltung zu bringen. Solange wir nicht mit Sicherheit ausschließen können, daß gravierende moralische Einwände gegen eine Handlungsweise möglich sind – etwa aus der Perspektive von Embryonen, deren moralischer Status jetzt faktisch noch offen sein mag –, gilt i.S. von Jonas’ „Heuristik der Furcht“ die Vorsichtsregel des „Vorrangs der schlechten vor der guten Prognose“.150 Und geltungslogisch stärker: Genau so lange stehen wir, die wir zugleich Akteure und (mögliche) Diskurspartner sind, unter der Diskursverpflichtung, den Rechtfertigungsdialog und das 150 Vgl. H. Jonas, PV, S. 63 f., 70 ff., vgl. 66 ff. 121 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Irrenkönnen in concreto ernst zu nehmen, statt in eine folgenirreversible Handlungsweise, die nicht irren dürfte, weil ihr Fehlschlag absolut unverantwortbar, also moralisch verwerflich wäre, direkt und revisionsunfähig überzugehen. Mithin gilt: Im Zweifel für die Verantwortung als Sich-im-Dialog-Verantworten-Können. Ergo im Zweifel für das Leben und die Menschenwürde. Diese Pflicht zur Vorsicht beim Sich-im-Dialog-Verantworten und vor dem Machen erstreckt sich auch auf den, faktisch noch umstrittenen, moralischen Status menschlicher Embryonen. Mit Blick auf Jonas’ Gedankenexperiment über die Wette im technologischen Handeln ergibt sich dieser Verbindlichkeitserweis: − (Moralisch:) Eine Technologie, deren Einsatz mit dem Risiko verbunden ist, das Ganze der möglichen Interessen moralisch anspruchsberechtigter Wesen aufs Spiel zu setzen, ohne dadurch zur Rettung der Menschheit beizutragen, ist moralisch nicht zu verantworten. − (Realistisch:) PID und ‚verbrauchende Embryonenforschung‘ setzen das Leben von Menschen-Embryonen aufs Spiel, ohne zur Rettung der Menschheit beizutragen. − (Skeptisch:) Zwar akzeptieren gemeinhin sowohl die Befürworter als auch (naturgemäß) die Gegner von PID und ‚verbrauchender Embryonenforschung’ das Prinzip der zu achtenden Menschenwürde. Ob jedoch Embryonen moralisch anspruchsberechtigte Wesen sind und daher den (vollen) Menschenwürdeschutz beanspruchen können, ist noch nicht eindeutig geklärt und faktisch umstritten (faktischer Dissens, faktisches Unwissen im öffentlichen Diskurs). − (Dialog-reflexiv:) Solange nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, daß gravierende moralische Einwände gegen eine Handlungsweise möglich sind, vor allem, daß eine Handlungsweise gegen das Prinzip der zu achtenden Menschenwürde verstößt, bleibt die Diskursflicht in Kraft, die Instanz des argumentativen Dialogs und die Irrtumsfähigkeit in konkreten Fragen ernst zu nehmen, statt eine folgenirreversible, nicht irren dürfende Handlungsweise zu wählen. Folglich gilt: Im Zweifel für das Leben und für die Nichtverfügbarkeit von Embryonen. Indem ‚wir‘ – z.B. mit dieser Argumentation – zwar die Streitsache selbst offen lassen, uns aber auf unsere Rollenpflichten im Diskurs besinnen, erkennen wir als Diskurspartner das, was ‚wir‘ absolut nicht dürfen – absolut nicht, solange ein Sachstreit besteht, in dem das menschliche Ganze auf dem Spiele steht bzw. stehen kann. Denn die Achtung der Menschenwürde ist ein unbedingtes Prinzip. Es gebietet, menschliches Leben als „Zweck an 122 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 sich selbst“ (Kant) zu achten, mithin jegliche Instrumentalisierung dessen zu unterlassen.151 Eine solche hat man freilich schon begonnen, wenn man hier bloß, wie es zeitgeist- und politiküblich geworden ist, im landläufigen Sinne ‚pragmatisch‘ verfährt: statt streng zu argumentieren, vermischt man entweder die argumentationstragende Besinnung auf die Verantwortungsbedingungen von Argumentationspartnern sofort mit einer Kalkulation von Nutzen und Nachteil hinsichtlich besonderer Interessen, oder man springt gleich in ein solches Nutzenkalkül, das die Vernunft zusammen mit der Moral erledigt. Für Klarheit, Strenge und Verantwortbarkeit einzustehen, ist des Denkens Pflicht. Ohne eine Wachsamkeit über jene Prinzipien, die auch das Denken tragen, verkäme es selbst – und damit die Menschenwürde, welche die Denkenden je schon in Anspruch genommen haben und welche sie als unbezweifelbare Verpflichtung einholen können. Es gilt heute mehr denn je, sie als Prinzip zu hüten und in ihrer Unbedingtheit zu achten. 151 Kant, GMS, AA, S.428f.: Aus der „Vorstellung dessen, was notwendig für jedermann Zweck ist, weil es Zweck an sich selbst ist“, mithin „ein objektives Prinzip des Willens ausmacht“, so daß es zum „allgemeinen praktischen Gesetz dienen kann“, leitet Kant die materiale Formel des kategorischen Imperativs ab. Diese nennt er „den praktischen Imperativ“: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ 123 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 III Zukunftsverantwortung und Atomenergie Die Kapitel des Teils „Zukunftsverantwortung und Atomenergie“ … 1 Mit Jonas gegen Jonas: Gedankenexperiment der Wette versus „pragmatische“ Einstellung zur Atomenergie 2 Atomkraft als verantwortungsethische Notwendigkeitsstrategie? 3 Spaemanns metaphysisch wertethisches Verdikt über die Atomenergie diskursiv eingeholt 4 Dialogpragmatische Kohärenzprüfung als kurzer Verantwortungsdiskurs. Keine Zukunftsverantwortung mit Atomkraft … sind aus urheberrechtlichen Gründen nicht Teil der frei zugänglichen Version der Vorlesung. Sie können nachgelesen werden in: Dietrich Böhler, Zukunftsverantwortung in globaler Perspektive, Bad Homburg 2009 im Kapitel 2: Zukunftsverantwortung und Atomenergie, S. 39-69. 124 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 IV Idee des Diskurses und moralische Urteilsstufen. Systematische und historische Grundlagen. 1 „Wo bist du?“ „Wo bist du?“ So läßt in der hebräischen Bibel der jahwistische Erzähler Gott, den Schöpfer, Adam, den Menschen anrufen (1. Mose 3, 9), als dieser sich dem Dialog mit ihm entzogen und sich schließlich vor ihm verborgen hatte – wissend, daß er Gottes Verbot mißachtet hatte. Nach 1918 wurde diese Frage eher am Rande der Philosophie, aber in emphatischer Kritik des methodischen und z. T. ontologischen Solipsismus, den ihre neuzeitlichen Hauptströmungen von Descartes über Kant und Fichte bis Husserl verkörpert hatten, zum Losungswort Franz Rosenzweigs und Martin Bubers. In der geradezu „vesuvischen“ Krisis nach dem brutal und hochtechnisch geführten europäischen Bruderkrieg von 1914-1918152 suchten die beiden biblisch jüdisch inspirierten Denker – Rosenzweig war auch durch den Neukantianismus Hermann Cohens hindurchgegangen und mit Heideggers Faktizitätsanalyse des menschlichen Daseins vertraut – vor allem zweierlei: einen Ansatz diesseits der transzendentalen Subjektivitätsphilosophie, diesseits ihrer „Lehre von der Konstitution der Welt aus der Subjektivität“153, und einen „Mythos des Ich und Du, des Berufenen und des Berufenden, des Endlichen, der ins Unendliche eingeht, und des Unendlichen, der des Endlichen bedarf.“154 Nicht in dem vorgenannten Sinne, weder existentiell noch religiös sei die Frage hier gestellt. Vielmehr soll sie anthropologisch und sprachbezogen, von einer ersten Person zu der angeredeten zweiten Person gefragt, das in den Lebensaktivitäten meist unbemerkte, zwiefältige elementare Verhältnis erschließen, welches wir Menschen von vornherein in der Welt und zu uns selbst unterhalten. Gefragt sei, wo wir uns (logisch unvermeidlicherweise) immer schon befinden: wir Menschen, jeder ein „Du“ und ein „Ich“, das sich sprechend bzw. handelnd zu „etwas“, dem Thema seiner möglichen Rede, verhält. Wo sind wir? Offenbar sind w einerseits immer schon in Situationen, die wir, sofern wir noch oder schon oder schon wieder bei Bewußtsein sind, als etwas Bestimmbares oder Bestimmtes verstehen, indem wir uns zu ihnen verhalten. Andererseits aber sind wir zugleich in einem gewissen Selbstverhältnis, insofern wir zu unseren Verhaltensweisen, unseren Handlungen Stellung 152 Vgl. Martin Bubers Nachwort: Zur Geschichte des dialogischen Prinzips, in: Ders., Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1973, S. 301ff., bes. S. 304-310. 153 Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin 1965, S. 246. 154 M. Buber, a. a. O. , S. 307 (Selbstzitat aus Buber, Die Legende des Baalschem, 1907). 125 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 nehmen können. Beides zusammen genommen, bildet unser ursprüngliches In-der-Welt-sein. Dieses hat immer zwei einander wechselseitig bedingende Elemente, ein primär semantisches und ein vorzüglich pragmatisches: Die bedeutungstragende Beziehung auf die jeweilige Situation unseres Etwas-Erlebens bzw. Etwas-Tuns und, dieser schon zugehörig, unsere ebenso sprachlich verstehende wie beurteilende bzw. bewertende Stellungnahme – so unausdrücklich, ja unvermerkt diese auch sein mag. Ohne Situationsbezug wäre unser Dasein bedeutungsleer; ohne möglichen Rückbezug, ohne begleitenkönnende Stellungnahme, bliebe es orientierungsblind. Die hier gestellte Wo bist du?-Frage ist mithin sprach- und erkenntnisanthropologischer Art. Der Versuch, sie zu beantworten, führt zunächst in eine „Rekonstruktive Pragmatik“.155 Deren Auskunft ist zweistufig und lautet grob: Du bist immer schon in verstandenen Situationen bzw. im Handeln als einem Antworten auf verstandene Situationen, also in einem quasi-dialogischen Bezug auf Situationen (a). Dieses Quasi-Dialogische manifestiert sich darin, daß du in einem Begleitdiskurs zu deiner Handlung mit Geltungsansprüchen Stellung nehmen kannst (b). Insofern besagt die ganze Antwort: Du bist immer schon sowohl in verstandenen Situationen und tendenziellen Handlungen als auch in einem impliziten, doch grundsätzlich explizierbaren, Begleitdiskurs. Vergleichen wir diesen Ansatz einer philosophischen Pragmatik mit dem Rückgriff der „Dialogiker“ auf das biblische Angeredetwerden Adams durch seinen Schöpfer, so zeigen sich Analogie und Differenz. Denn eine sprachpragmatische Rekonstruktion des In-der-Weltseins fragt weder existentiell nach der Mensch-Gott-Beziehung, noch untersucht sie die IchDu-Beziehung als Begegnung.156 Wohl aber bildet auch hier wie dort das Zugleich der Erfahrung von Welt und Miteinandersprechen samt Aufsichzurückgehenkönnen, insofern die Gleichursprünglichkeit von „Teilnahme am Sein“ und „Du-Sagen des Ich“, den Ausgangspunkt der Überlegungen. Und beide Ansätze suchen letztlich nach Verbindlichkeit ohne daß freilich die transzendental fragende Pragmatik eine Glaubensentscheidung voraussetzte oder geltend machte: die Entscheidung, sich als von Gott angerufen zu verstehen. Die Suche nach Verbindlichkeit führt jedoch über eine bloße Rekonstruktion hinaus, weil ein Skeptiker deren Ergebnissen mit dem Fallibilismusvorbehalt begegnen kann. Und dann 155 D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion: Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie. Frankfurt a. M. 1985, V. Kapitel. 156 Dazu: M. Theunissen, op. cit. 126 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 kommt die »Wo bist du?«-Frage geltungslogisch zum Zuge. Dann wird nämlich der Skeptiker ebenso wie die anderen Diskursteilnehmer gefragt, ob seine Skepsis gegenüber einem bestimmten normativen Gehalt der sprachpragmatischen Rekonstruktion verträglich ist mit den normativen Gehalten seiner Diskurspartnerrolle. Sofern die philosophische Pragmatik also auf eine Verbindlichkeit abzielt, muß ihre theoretische Erkenntniseinstellung zugunsten einer aktuell reflexiven Einstellung verlassen werden. Denn nicht durch eine theorieförmige Explikation läßt sich Einsicht in Verbindlichkeit gewinnen, sondern allein durch die, im Streitgespräch mit dem Skeptiker zu vollziehende, Besinnung auf das Wechselverhältnis von Situation und Begleitdiskurs, insbesondere aber auf die Sinnbedingungen des Diskurses selbst. Einzig hier lassen sich unwiderlegbare Argumente finden. Es ist gut möglich, daß sich unter Ihnen mittlerweile Widerspruch regt und das in der Kapitelüberschrift angefragte „Du“ kritisch zu Wort kommen will. Vielleicht, geneigte Leserin, geneigter Leser, würden Sie hier – als Opponentin bzw. Opponent "O" – etwa diesen Einwand machen und dadurch folgenden Dialog mit mir als Proponenten „P“ eröffnen: O: In der Lebenswelt befinde ich mich keineswegs von vornherein in einem Diskurs, sondern in mancherlei Tätigkeiten. Und darunter sind auch solche, die sich ohne Kommunikation und stumm vollziehen lassen. Zum Beispiel: wenn ich angle oder wenn ich rechne, dann pflege ich zu schweigen und keinen Diskurs zu führen. P: Abgesehen davon, daß du auch dann in gewisser Weise kommunizierst, wenn du stumm bleibst aber doch etwas Bedeutsames tust, indem du Sprachzeichen und Begriffe einer Sprache beim Tun gebrauchst oder sie als Sinnhintergrund deiner Handlungsweise voraussetzt, – also davon ganz abgesehen, triffst du mit diesen Beispielen nicht ins Schwarze. Es sind keine wirklichen Gegenbeispiele zu meiner These, daß du auch in der Lebenswelt, zugleich immer schon im Diskurs bist. O: Nanu, das sollte mich wundern! P: Was du vorbringst, stimmt zwar auf den ersten Blick; doch auf den zweiten stimmt es allenfalls 'zur Hälfte'. Denn auch wenn du angelst, mußt du dich fragen können, ob du es jeweils richtig oder erfolgversprechend usw. anstellst, so wie du es gerade (und an dieser Stelle, zu dieser Zeit, mit diesem Gerät usw.) machst; also mußt du mit dir in eine Überlegung, einen Diskurs über dein jeweiliges Angelverhalten treten können. Und du 127 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 mußt diesen deinen Begleitdiskurs mit guten Gründen bestreiten; d.h. mit solchen, denen auch die anderen kompetenten Angler beistimmen würden. O: Hm. Das hört sich plausibel an. Aber was, bitte, ist mit dem Rechnen? P: Für das Rechnen gilt das gleiche. Auch hier mußt du dich fragen können, ob du es richtig machst, und mußt dir diese Frage beantworten können; und zwar so, daß die Rechenmeister dir beipflichten können. Auch wenn du, ohne dabei ein Wort zu verlieren, demonstrierst, daß du den Rechenregeln wirklich folgst, führst du einen Diskurs und löst durch dein 'Es Vormachen und die Probe Machen' den Geltungsanspruch deiner Rechenhandlungen ein. O: Das würde aber bedeuten, daß man nicht immer schon 'im Diskurs ist', sondern in einer bestimmten (auch Regeln folgenden) Tätigkeit bzw. Praxis, und daß man zu dieser auch einen Diskurs führen können muß. Also wäre man zuallererst in der Praxis. Müßte demnach nicht die Praxis der Ausgangspunkt einer Grundlegung der Philosophie sein anstelle des Diskurses? P: In gewisser Hinsicht ist der Ausgangspunkt, den ich vorschlage, auch die Praxis: die Praxis mit Hinsicht auf den Diskurs; oder andersherum: der Diskurs als Begleitphänomen der Praxis, ohne das eine Praxis gar nicht möglich wäre. Keine Praxis ohne aktualisierbaren Begleitdiskurs! Er ist die Bedingung der Möglichkeit einer Praxis. Denn eine Praxis mußt du dir erschließen und aneignen, zudem mußt du deinen Vollzug der Praxis kontrollieren und kritisieren können usw. O: Aber ich bin ja nicht immer in einer Praxis, sondern ruhe mich vielleicht aus, betrachte etwas, meditiere vielleicht, bin in einer Stimmung oder in einer Leidenschaft, oder mir passiert wer weiß was … Dann gibt es auch keinen Diskurs. P: Nun, wenn du eine Praxis vollziehst und wenn es 'klappt', dann benötigst du freilich keinen Diskurs. Aber du hast ihn als Möglichkeit stets in petto; er ist die geltungsrelevante Hintergrundserfüllung deiner Praxis. Analog verhält es sich mit allen anderen Verhaltensweisen – und auch Widerfahrnisse sind solche, solange du sie erleben bzw. später darüber reden und dich somit in ein Verhältnis dazu setzen kannst. Und 128 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 genau das hast du soeben ansatzweise bereits getan, indem du solche Begebnisse sprachlich ausgedrückt und als etwas charakterisiert hast, das dir widerfahren kann ('ich bin in einer Stimmung oder in einer Leidenschaft, oder mir passiert etwas'), oder indem du sie als etwas bestimmt hast, was du selber unternimmst wie eine Meditation. Du selbst hast diese Beispiele schon als Verhaltensweisen charakterisiert, an die sich Diskurse anschließen lassen; und zwar von innen, aus der Perspektive der Betroffenen. Denn diese erfahren ein Widerfahrnis nur insofern und handeln selbst nur insofern, als sie sich, Stellung nehmend, zu diesem Begebnis oder zu ihrer Aktion verhalten. Dieses Stellung nehmende Sich Verhalten ist bereits ein Begleitdiskurs. O: Ist das der Grund für deine These, wir seien immer schon zugleich im Diskurs? P: Ja, da kein Erlebnis und keine Handlung ohne eine mögliche Stellungnahme denkbar ist, trifft es zu, daß wir entweder jeweils zugleich im Diskurs sind oder betreffbar und befragbar sind als Diskursteilnehmer. Der Diskurs ist das ständige Begleitphänomen unseres Lebens, der Ort des Verstehens, des Sich-Verstehens und des EtwasVerantwortens bzw. Rechtfertigens. 129 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 1.1 11.12.2009 Sokratische Dialogreflexion. Begründungsweg der Berliner Diskurspragmatik Die Begründung der Diskursethik hat, jedenfalls im Rahmen der Berliner Diskurspragmatik, in den letzten zehn Jahren eine Wende zur Dialogreflexion vollzogen.157 Die Pointe steckt in folgendem. 1) Zuallererst wird die Verwobenheit von Erlebnis bzw. Handlung und Diskurs mit Geltungsansprüchen dargetan, indem dieser als unbezweifelbares Begleitphänomen menschlicher Regungen aufgewiesen wird, als Begleitdiskurs. Dieser Begriff und die zugrundeliegende Einsicht in dessen Unhintergehbarkeit ergibt sich, wenn man – das ist das 2) Zweite – die alltäglich und wissenschaftlich dominante Einstellung einer sachkonzentrierten Aufmerksamkeit und Betrachtung von etwas als etwas verläßt und sie ergänzt durch eine komplementäre reflexive Einstellung des Sich Befragens: die Besinnung auf die internen Voraussetzungen des Etwas als etwas-Erlebens bzw. des Etwas als etwas (in bezug auf eine Situation und mit Blick auf einen Zweck)-Tuns, die der Handlungsweise erst ihren Sinn geben. Diese Sinnbedingungen einer Handlung sind aber zugleich die des Begleitdiskurses: Keine Handlung ohne Begleitdiskurs. Genaugenommen, ist diese Besinnung freilich ein Zwitter: teils reflexiv und teils betrachtend. In betrachtend analytischer Haltung – terminologisch wird von „theoretischer Einstellung“ gesprochen – versucht der so Fragende die notwendigen Sinnvoraussetzungen eines (Begleit-) Diskurses ja aufzudecken und zu erläutern. Diese gewissermaßen rekonstruktive Leistung ist aber wie alle möglichen theoretischen Leistungen, perspektivisch interpretierend; und das macht ihre Ergebnisse fallibel. 3) In einem dritten Schritt unterscheidet die Diskurspragmatik demgemäß streng zwischen der Rekonstruktion, die früher von den Transzendentalpragmatikern mit der eigentlichen oder strikten Reflexion fast zusammengeworfen wurde, und der eigentlichen Begründungsreflexion. Sie wird folgendermaßen neu bestimmt: (a) als sokratisch sinnkritische Konfrontation der Rolle eines Diskursteilnehmers mit einer von ihm bezweifelten Sinnbedingung des Diskurses, d.h. seiner Zweifelsthese, (b) als der ausschließlich beweisfähige, einzig und allein gültigkeitsverbürgende Begründungszug (Letztbegründung als Gültigkeits- und Verbindlichkeitserweis durch Reflexion in einem Dialog auf Präsuppositionen des Diskurses), 157 Darüber berichtet Horst Gronke in: Die Praxis der Reflexion, in: H. Burckhart und H. Gronke: Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik. Würzburg 2002, S. 21-44, bes. S. 38ff. 130 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 (c) als Besinnung von Diskursteilnehmern darauf, was sie tun müssen, um ein glaubwürdiger Diskurspartner zu werden; was es nämlich heißt, diskurskonstitutiven Verpflichtungen der Rolle eines Partners in einem Dialog der Argumente gerecht zu werden. 4) Erst wenn diese Begründungsschritte getan und die zugehörigen Begriffe gewonnen bzw. dialogreflexiv gesichert worden sind, kommt – als vierte Einsicht – die „zweigestufte Systemidee“ ins Spiel, welche den Transzendentalpragmatikern anfänglich als Ansatz vorgeschwebt hatte:158 Reflexive Letztbegründung des Moralprinzips und alsdann praktische Diskurse; jedoch wird das Prinzip ‚D’ jetzt zugleich als Handlungsprinzip eingeführt. Der fünfte Schritt besteht nunmehr in dieser Einsicht: Den Kerngehalt jener Diskurspräsuppositionen, deren Gültigkeit und Verbindlichkeit sich nicht ohne pragmatischen Widerspruch in Zweifel ziehen lassen, bildet das Dialogmoralprinzip ‚D’, das zugleich regulatives Handlungsprinzip ist:159 ›Bemüht euch jeweils um eine Argumentation und eine Handlungsweise, die die begründete Zustimmung aller (als Diskurspartner) verdienen.‹ (‚D’) 5) Das Prinzip ‚D’ ist also die oberste regulative Diskursidee, das grundlegende Geltungskriterium für Diskurse – zugleich aber das oberste regulative Handlungsprinzip: Grundnorm für Praxis und Sich-Verhalten. So begründet und so verstanden, bildet es – das ist die fünfte Systemeinsicht der Diskurspragmatik – den zugleich geltungslogisch und moralisch verbindlichen Rahmen für situationsbezogene „praktische Diskurse“, in denen die rationale, allerdings fallible Begründung konkreter Normen für eine jeweilige Situation zu leisten wäre.160 Ist dieser Begründungsgang, so mögen Sie, geneigte Leser, hier einwerfen, nun ausschließlich von geltungslogischer Bedeutung, ein Beweisverfahren und Begründungsverfahren für Normen? Wo blieben dann wir in der Lebenswelt und Alltagspraxis, die eine Motivation suchen oder doch deren Klärung und Präzisierung? Wir bringen ja aus unserer Lebenswelt und Sozialisation schon ethische Intuitionen mit, spüren aber, es sei klärungsbedürftig, wonach wir letztlich streben, was wir eigentlich wollen und was jeweils konkret das Gute sei, 158 Vgl. meine Ableitung und Konkretion von ‚D’ in: Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung: Hans Jonas und die Dialogethik – Perspektiven gegen den Zeitgeist, in: Bausch, Böhler u. a. (Hrsg.), Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft, EWD-Band 3, Münster 2000, S. 34-69, bes. S. 50ff. 159 Der dialogreflexive Neuansatz und dessen kritische Integration des transzendentalpragmatischen Systementwurfs findet sich im Zusammenhang erstmals in meinem skeptikerkritischen Essay: „Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik versus kulturalistische (Unternehmens-)Strategik. Besteht eine Pflicht zur universalen Dialogverantwortung?“. In: H. Steinmann und A. G. Scherer (Hrsg.), Zwischen Universalismus und Relativismus, Frankfurt am Main 1998, S. 126-178. Systematisch erhellend und kontexterschließend: H. Gronke, Die Praxis der Reflexion, in: H. Burckhart und H. Gronke (Hrsg.), Philosophieren aus dem Diskurs, Würzburg 2002, S. 21-44, bes. S. 36. 160 Gleichsam die Systemurkunde jenes Ansatzes ist das Funkkolleg „Praktische Philosophie/Ethik“ von 1980/81. 131 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 also das, was der Mühe des Strebens und Handelns jeweils wert ist. Sind wir mit der Suche nach Motivierung bei der Diskursphilosophie an der falschen Adresse? Müßten wir uns vielleicht an die Wertethiker wenden, also nicht an die kantische sondern an die aristotelische Tradition? Dazu folgendes Schema: 132 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Ethikformen Tradition Ethiktyp Fragen Kompetenz (Klärung der) Was wollen wir aristotelisch im weiten Sinn teleologisch, glücksethisch, wertethisch Ziel Motivation. eigentlich? Was ist der Mühe wert und Praktische Klugheit mit wertvoll? Zweckrationalität Was ist das Gute bzw. Auszeichnung von Tugenden und Werten. Rat für gutes Leben (hypothetischer das gute Leben? Imperativ) Einsicht in Prinzip der Moral. Begründung Was kann als richtig kantisch bis diskursphilosophisch deontologisch, normativ ethisch, moralisch (i.S. Kants) bzw. legitim gelten? Was sollen wir wollen und tun? Wozu sind wir verpflichtet? Praktische Vernunft letztlich aufgrund von Dialogreflexion und argumentativen Dialogen, Diskursen moralischer Normen und Kriterien für ‚guten‘ Willen und richtiges Handeln (kategorischer Imperativ). Indirekte Motivation: „Wo bist du?“ 133 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 In der Tat: Die Motivationsfrage ist die starke Seite der Wertethik und der AristotelesTradition, nicht die der Normenbegründung und der normativen oder deontologischen Ethik à la Kant. So ist es auch ein streckenweise aristotelischer Wertethiker gewesen, der aber zugleich quasi kantisch nach dem Moralprinzip fragt, der mich von der Bedeutung der Motivationsfrage überzeugt hat: Hans Jonas. Höchst aufmerksam für die Lebens- und Wertbedrohungen unserer technischen Zivilisation, hat er auch sorgsam den phänomenologischen Blick auf die ethischen, zumal die naturethischen Intuitionen aus Lebenswelt und Religion gerichtet. Tief davon beeindruckt, entwarf ich in der Laudatio zur Ehrenpromotion der Freien Universität Berlin 1992 eine Arbeitsteilung, gewissermaßen ein komplementäres Kooperationsverhältnis von dessen intuitionistischer Ontologie und der Diskursphilosophie.161 Denn als intuitionsbezogene „Heuristik ist eine ontologische Wertlehre gut für das diskursive Zusammenspiel mit einer Sollensethik geeignet: Die ontologische Wertheuristik würde für Verantwortung empfänglich machen; die normative Ethik würde Maßstäbe dafür aufstellen, zu welcher Verantwortung wir verpflichtet sind, und Dialogverfahren entwickeln, um diese Maßstäbe anwendbar zu machen. Beide Seiten wären aber nicht unabhängig voneinander anzusetzen, um erst nachträglich in ein Kooperationsverhältnis zu treten; vielmehr müßten sie von vornherein im Verhältnis wechselseitiger Ergänzung und Erläuterung stehen. Dabei käme der ontologischen Wertheuristik das inhaltliche und das Motivationsprius zu, während die Prinzipienreflexion und die Normenbegründungsdiskurse den logischen Primat beanspruchen könnten.“162 Während Jonas besondere sittliche Intuitionen aus der Lebenswelt geltend macht, wie die der elterlichen Fürsorge und der staatsmännischen Verantwortung, geht die sokratische Diskursethik auf allgemeine moralkonstitutive Intuitionen und Wollensrichtungen zurück, die sich aus dem Dialog und der Diskurspartnerrolle erschließen. Auf diese reflexive Weise motiviert auch sie: Sie motiviert Menschen zu ihrer eigenen Identität, insofern Menschen zugleich Akteure und Subjekte im Begleitdiskurs ihrer Handlung sind. Die sokratische Dialogreflexion spricht uns im Begleitdiskurs an. Und hier wollen und sollen wir zugleich. Jonas lehrt hingegen den sorgsamen Umgang mit konkreten lebensweltlichen ethischen Intuitionen, wie ihn allein die phänomenologische Schule methodisch anleiten kann.163 Dabei ist sein normativer Bezugspunkt das Kohärenzkriterium des Wertethikers, demzufolge der Einklang von Person und Handlungsweise mit (verallgemeinerbaren) lebensweltlichen 161 D. Böhler, Hans Jonas – Stationen eines Denkens, in: ders., R. Neuberth (Hrsg.), Herausforderung Zukunftsverantwortung. Hans Jonas zu Ehren. EWD-Band 1, Münster 1992 S. 27-36, hier: S. 33. 162 Ebd., S. 33. 163 H. Jonas, Philosophie. Rückschau und Vorschau am Ende des Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1993, S. 12. 134 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Verantwortungsgefühlen und paradigmatischen Verantwortungsinstitutionen (wie der Elternschaft oder des Staatsmanns) zu einem wertvollen Leben gehöre. In diesem Sinne zielt Jonas’ „wertethischer Diskurs auf die Explikation dessen, was wir [...] eigentlich wollen und wozu wir als ‚eigentliche Menschen‘ motiviert sein würden.“ (Gronke) Allein, was ist das? Lassen sich gültige Kriterien dafür erweisen? Was sollen wir vernünftigerweise wollen? Unterminiert diese scharfe Frage nach der Prinzipienbegründung die sanfte Motivationskraft der Kohärenzargumentation? Oder gibt es einen Ort, an dem das wohlverstandene Wollen und das letztbegründbare übereinkommen? Sollen Indem die zusammenfallen, Diskurspragmatik wo Motivation den und Erkenntnis transzendentalpragmatischen Begründungsanspruch durch aktuelle Dialogreflexion einlöst,164 führt sie auf diesen Ort: den Diskurs der sinnvollen Argumente als Dialog gleichberechtigter Partner; und damit motiviert sie die Akteure zu ihrer Identität als Subjekten im Begleitdiskurs. Denn sie stellt vor Augen, daß alle Menschen in ihren konkreten Begleitdiskursen zugleich etwas je Besonderes wollen und etwas Dialogallgemeines sollen. Das ist eine indirekte Motivation: ‚Ich‘ werde nicht direkt als Mensch mit seinen besonderen Wünschen, Interessen und sonstigen Wertdispositionen angesprochen, d.h. als Mensch in seiner jeweiligen Situation, sondern als Mensch, der sich darüber Rechenschaft ablegen, der zu sich Stellung nehmen und einen Begleitdiskurs führen kann, d.h. als möglicher Diskurspartner. Auf der Seite des Wollens bringen wir im Begleitdiskurs dadurch, daß wir etwas Besonderes, z.B. ‚mein’ aktuelles Interesse I. geltend machen, ein Stück Freiheit ins Spiel und erkennen dabei zugleich, auf der Sollensseite, Verantwortungspflichten an.165 Wir wollen eine Auffassung geltend machen, wollen ein Problem lösen, wollen andere überzeugen etc. Das aber sollen wir verständlich und wahrheitsfähig – diskutierbar – tun; dabei sollen wir die Anderen als gleichberechtigte Partner achten, sollen ernsthaft und diskursverantwortlich mit ihnen kooperieren. Und diese drei Dinge wissen wir: unser je besonderes Wollen, unser diskurspartnerschaftliches Sollen und das Zugleichsein beider. Mithin entspringt die Freiheit des Diskursteilnehmers nicht etwa allein aus dem Eigenwillen (als Willkürfreiheit), sondern geht zumal aus dem Wissen über diese kommunikative Interaktion und deren interne Bedingungen hervor. Es handelt sich um kommunikative Freiheit; sie basiert auf einer reziprok-kommunikativen Erfahrung, auf die ‚meine‘ jeweiligen 164 D. Böhler, Dialogreflexive Sinnkritik als Kernstück der Transzendentalpragmatik, in: ders., Kettner, Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, Frankfurt a.M. 2003. 165 Inwieweit man diese Pflichten konterkarieren kann, wird in den Erörterungen des offenen und verdeckten strategischen Handelns diskutiert. Jüngst: J. P. Brune 2001, S. 100-116 und M. H. Werner 2003a. 135 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Anderen sich ‚mir‘ gegenüber berufen können. Daher ist sie moralisch von Belang und kein bloßes kontingentes Faktum.166 In diesem Sinne sehe ich das philosophische wie überhaupt das legitimatorische A und O in dem reflexiv sokratischen Rückgang auf die Verbindlichkeiten eines Diskurspartners. Dieser Rückgang mündet in die Aufforderung, die immer zugleich die Selbstaufforderung eines Diskursteilnehmers ist: >hic Rhodus, hic salta!<, oder: >sei ein glaubwürdiger Diskurspartner, gleich in welchem Typ eines argumentativen Diskurses du dich befindest!<. Die Reichweite dieser Aufforderung ist schlechterdings universal: Kein Denkender kann sich ihr mit guten Gründen entziehen. Denn jeder kann wissen, daß er, was er auch tue und erlebe, zugleich dazu Stellung nehmen kann und daß er, zumindest virtuell, auch schon dazu Stellung nimmt: mit den Geltungsansprüchen der Wahrhaftigkeit und Verständlichkeit, der Wahrheit und der normativen Richtigkeit. Das Geltung beanspruchende Stellungnehmen zu einem jeweiligen Tun und Erleben, das sich von diesem nicht wegdenken läßt, ist schon Diskurs. Auch diejenigen, die bis über den Kopf in ihrer Praxis stecken, sind zugleich virtuell in einem Begleitdiskurs. Die Rolle des Diskurspartners begleitet alle anderen Lebensrollen und Berufsrollen... Die sokratisch reflexive Aufforderung besagt, daß sie dieses Zugleich-Sein ausdrücklich und konsequent praktizieren sollen – als glaubwürdige Diskurspartner. Freilich mag sich hier folgender Einwand nachlegen: ‚Aber bleibt es nicht offen, wie der Begleitdiskurs geführt wird? Öffnet sich hier nicht eine ganze Skala von Verhaltensweisen und Rationalitätstypen? Und zwar von einem losgelassen zweckrational-strategischen Erfolgskalkül, dem alle Mittel recht sind – man denke an Terroristen oder an Spekulantengesindel in Großbanken –, bis hin zur strikt argumentativen, reziprok dialogischen Wahrheits- und Richtigkeitssuche?‘ Ja und Nein: Sicher kann jeder versuchen, seinen Begleitdiskurs undialogisch und unmoralisch zu führen. So ist der Mensch. Und vielleicht hat er damit empirisch auch Erfolg, vor allem dann, wenn er durch die Systemgrenzen wirkungsmächtiger Institutionen, etwa 166 Dazu die Analyse in Böhler 1985, R.P., S. 296 ff., S. 374. Zum ‚Faktum der Vernunft‘ ohne naturalistischen Fehlschluß vgl. D. Böhler, Zukunftsverantwortung, Moralprinzip und kommunikative Diskurse. Die Berliner Auseinandersetzung mit Hans Jonas, in: Th. Bausch, D. Böhler, Th. Rusche (Hrsg.), EWD-Bd. 12, Münster 2004, S. 215-288 2004a, bes. S. 233 ff. 136 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 einer Großbank im globalen Finanzsystem, abgeschirmt ist von öffentlicher Kritik. Logisch gilt jedoch zweierlei: Erstens kann man den Begleitdiskurs nicht prinzipiell ausschalten, sondern ist auf ihn angewiesen. Zweitens setzt er a priori moralisch gehaltvolle Geltungsansprüche voraus. Das heißt: Diejenigen, die ihr Verhalten bloß strategisch und zweckrational orientieren, können einen Begleitdiskurs nicht glaubwürdig führen, weil sie die vorausgesetzten universalen Geltungsansprüche der Wahrhaftigkeit, der Wahrheit und der Richtigkeit bzw. Gerechtigkeit überhaupt nicht einlösen können. So beansprucht der Banker, der z. B. mit hohem Geldwert Spekulationsgeschäfte auf dem USamerikanischen Immobilienmarkt betreibt, es sei wahr, daß die dabei eingegangenen Risiken weder gefährlich für seine Kunden, für seine Bank noch gar für Dritte und die Volkswirtschaft seines Landes oder Europas seien. Wenn er jedoch über keine Risikokontrolle verfügt, kann er diesen Wahrheitsanspruch überhaupt nicht einlösen. Nun kann er aber wissen, daß ihm eine solche Kontrolle fehlt. Außerdem weiß der Banker von vornherein, daß von ihm generell das Geschäftsgebaren eines ordentlichen, verläßlichen Haushaltens (mit Einlagen der Bankkunden) erwartet wird. Sein Anspruch auf Wahrhaftigkeit bzw. Glaubwürdigkeit steht und fällt damit, daß er seinem Haushalterdienst durch ein vorsichtiges und kontrollierbares Gewinnstreben gerecht wird, statt in Roulettespiel zu verfallen. Wenn der Banker wissen kann, daß er keine Kontrolle über seine Risiken besitzt, dann ist es unwahrhaftig so zu tun, als tätige er ein normales Anlagegeschäft und nehme keine gefährlichen Risiken in Kauf. Dann spielt er anderen und sich selbst nur etwas vor, agiert nicht als Haushalter sondern als Hochstapler und Vabanque-Spieler. Im Begleitdiskurs fällt er hoffnungslos durch; da er weder seinem Anspruch auf Wahrhaftigkeit (bei Wahrnehmung seiner Berufsrolle) gerecht wird, noch den Wahrheitsanspruch seiner Risikoübernahme einlösen kann, ist er kein glaubwürdiger Diskurspartner. Er hat sich disqualifiziert. Das können wir alle durchschauen, auch ohne Philosophie studiert zu haben. Weshalb? Weil wir alle schon ein implizites Wissen von den Geltungsansprüchen mitbringen, welche den argumentativen Diskurs tragen – den Diskurs, der alle menschlichen Handlungen virtuell begleitet. Auf der Basis dieses moralisch gehaltvollen Vorwissens vom Diskurs, mithin auch von den internen Rechtfertigungsbedingungen des menschlichen Tuns und Lassens, können 137 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 wir ebensowohl begründete Urteile fällen, auch moralische Urteile, wie intersubjektiv geltungsfähige Handlungsorientierungen gewinnen. Will sagen: Wir können uns auf den Weg der praktischen Vernunft machen, den genau zu vermessen, Aufgabe der Philosophie ist. Die Philosophie hat die sokratische Chance der praktischen Vernunft. Sie kann und sollte bohrend unerbittlich zweierlei versuchen: Erstens zu ergründen, ob bzw. welche moralischen Verbindlichkeiten wir als Denkende durch unsere Begleitdiskurse a priori in Anspruch genommen haben; und zweitens, was daraus folgt – welche Kritik, welche Legitimation und gar Verpflichtung zur Verurteilung bzw. zur empörten Gegenwehr –, wenn Personen oder Institutionen den Diskurs zweckrational-strategisch umfunktionieren. Das wird uns sehr beschäftigen, wird uns in das Selbstdenken hineinziehen. Dazu lädt die Vorlesung ein. 138 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 2 11.12.2009 Praktische Vernunft oder: Was heißt und warum brauchen wir (argumentativen) Diskurs? Im öffentlichen Sprachgebrauch hat die Verwendung des Wortes Diskurs seit den siebziger, achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts teil an einer „Neuen Unübersichtlichkeit“167, die nicht allein das politisch philosophische sondern auch das medial öffentliche Selbstverständnis der Postmoderne schillern läßt. Bald alles und jedes, das irgendwie einen Sinnzusammenhang darstellt, kann heute „Diskurs“ genannt werden. Doch die Wortbedeutung geht auf >discurrere< („hierhin und dorthin laufen“) zurück, woraus sich in der Philosophie >discursiv< als Charakteristik des schlußfolgernden, analysierenden Denkens bzw. Verstandes, in der Bildungssprache hingegen >discorso< bzw. >discours< und >Diskurs< als Bezeichnung für einen essayistischen Vortrag oder einfach für Rede und Gespräch entwickelt haben. An diese Verwendungsweise schließt sich der gegenwärtig dominante Gebrauch von >Diskurs< an: semiotischer Universalausdruck für allerlei Sinnzusammenhänge, Diskussionen bzw. Debatten, Textsorten und Zeichenkontexte. Terminologisch begegnet er in der empirisch gerichteten Semiotik von Ch. Morris168, der linguistischen Diskurspragmatik169 und in postmodernen Diskursanalysen – psychoanalytisch bei J. Lacan, historisch genealogisch und machtkritisch bei M. Foucault, sprachkritisch bzw. semiotisch dekonstruktivistisch bei J. F. Lyotard, J. Derrida und P. de Man. Dieser philosophisch neutrale, nicht normative Gebrauch setzt ein gleichrangiges Nebeneinander zahlloser >Diskurse< voraus. Im Gegensatz dazu steht der von Jürgen Habermas170 in Vorbereitung einer sprachpragmatischen „Theorie des kommunikativen Handelns“171 und von Karl-Otto Apel, D. Böhler und Wolfgang Kuhlmann im Rahmen der „Transzendentalpragmatik“172 eingeführte philosophische Diskursbegriff. Kommunikationsbezogener Nachfolger des traditionellen Vernunftbegriffs und seines moralischen Anspruchs, bezieht er sich auf argumentative 167 J. Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1985. Ch. Morris, Signs, Language, and Behavior, New York 1946; dt. Zeichen, Sprache und Verhalten, Frankfurt a. M. 1981. 169 Vgl. D. Wunderlich, Studien zur Sprechakttheorie, Frankfurt a. M. 1976, dort bes.: Entwicklungen der Diskursanalyse, 293 ff.; ders., Sprechakttheorie und Diskursanalyse, in: K.-O. Apel (Hg.): Sprachpragmatik und Philosophie. Frankfurt a. M. 1982, 463-488; T. A. van Dijk (Hg.), Handbook of Discourse Analysis, 4 Bde. London 1985. 170 J. Habermas u. N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a. M. 1971. 171 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1981. Ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1984. 172 K.-O. Apel, D. Böhler u. a. (Hg.), Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: 1980/1981 als Studienbegleithefte und 1984 als Studientexte, 3 Bde., Weinheim u. Basel; dort 13-137, 313-433, 545-634 und 845-888. 168 139 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Kommunikation und entfaltet deren kritischen Sinn, der von Sokrates bis Kant durch die Gerichtshofmetapher umschrieben worden ist. >Diskurs< steht für die dialogförmige Prüfung der in der lebensweltlichen Rede und Interaktion immer schon enthaltenen bzw. vorausgesetzten, aber nicht explizierten noch gar problematisierten Geltungsansprüche auf Wahrhaftigkeit und Verständlichkeit, Aussagenwahrheit und normative Richtigkeit.173 Den Rahmen und die Begründung lieferte zunächst Apels Ansatz einer „Transformation der Philosophie“ zu einer kommunikativen Vernunftphilosophie, die auf eine Selbstaufklärung der Vernunft und eine Selbsteinholung des Denkens zielt. Der diesem Ansatz eigene dialektische Aufhebungsanspruch läßt sich überdies zwanglos auf die implizit universalistischen Orientierungen in lebensweltlichen moralischen Intuitionen und deren religiöse Ausbildungen beziehen, die generell auf die „Achsenzeit“174 (Karl Jaspers) und speziell auf Teile der hebräischen Bibel und der Jesus-Überlieferung zurückgehen. Sie gehören nämlich zu dem Sinnhorizont, in dem sich unser Vorverständnis jener Verpflichtungen traditionsgeschichtlich ausgebildet hat, welche Teilnehmer eines argumentativen Dialogs implizit anerkannt haben: Universalität des Moralischen, Achtung der Würde jedes Menschen u.a.m. 173 Vgl. J. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie des kommunikativen Kompetenz, in: ders. u. N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a. M. 1971, 101-141; ders., Was heißt Universalpragmatik?, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M., 1984, 353-440. 174 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949 und Frankfurt a. M. 1955. 140 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 2.1 11.12.2009 Diskurs als Befreiung aus dem tragischen Neben- und Gegeneinander von Institutionen. Metakonventionelles Bewußtsein in der „Achsenzeit“ zwischen 800 und 200 v. Chr. In seinem geschichtsphilosophischen Werk „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“175 hat Karl Jaspers gezeigt, daß sich gleichsam eine Achse über die Weltgeschichte legen läßt, welche die hochkulturellen Aufbrüche aus den archaisch mythischen Lebenswelten umfaßt. Es sind Aufbrüche in Asien und im östlichen Mittelmeerraum, und zwar entlang der Zeitachse von 800 bis 200 vor Christus. In diesem Zeitraum entwickelten die Hochreligionen und Hochkulturen in China, Indien – nicht Hinduismus, sondern Buddhismus – und in Israel – dort zumal die Propheten – und dann in Athen die Philosophie ein neues, ein reflektierendes Bewußtsein: Man fragt jetzt ebenso nach dem Sein im Ganzen und der Stellung des Menschen darin wie auch nach dem eigentlich Guten und (in Israel) auch deontisch nach dem einsehbaren Sollen, dem moralisch Richtigen. Im Konflikt mit den mythischen, rigiden Weltanschauungen und Institutionen spielt sich ein geistiger Entwicklungsprozeß ab, von dem Jaspers sagt, er sei der tiefste Einschnitt in der Geschichte176: „In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie […], – in Indien entstanden die Upanischaden, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt, – im Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild zwischen Gut und Böse, in Palästina traten die Propheten auf von Elias über Jesaias [scil: – nicht zu vergessen die kühnen sozialund kulturkritischen Propheten Amos, Hosea und Micha –] und Jeremias bis zu Deutetrojesaias – Griechenland sah Homer, die Philosophen – Parmenides, Heraklit, Plato – und die Tragiker, Thukydides und Archimedes. […] Das Neue dieses Zeitalters ist in allen drei Welten, daß der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewußt wird. […] Er stellt radikale Fragen. Er drängt vor dem Abgrund [scil: der chtonischen und archaischen Mächte, vor denen man nur Angst haben kann, und die man durch magische Kräfte mehr oder weniger zu bannen versucht] auf Befreiung und Erlösung. […] Er erfährt die Unbedingtheit in der Tiefe des Selbstseins und in der Klarheit der religiösen Transzendenz. Das geschah in Reflexion. Bewusstheit machte noch einmal das Bewusstsein bewusst. Das Denken richtete sich jetzt auf das Denken.“177 175 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Frankfurt a.M/Hamburg, 1955. Ebd., S. 14. 177 Ebd., S. 14 f. 176 141 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 In der Folge konnte es freilich welteinmalig in der pluralistisch bewegten Stadtkultur Athens – und dort wunderbarerweise innerhalb von knapp sieben Generationen zwischen 600 und 320, zwischen Anaximander und Aristoteles –zur Philosophie kommen: Liebe zur Weisheit als Denken des Denkens, als Diskurs über das Denken und als begrifflicher Begleitdiskurs des Handelns. Wenngleich die Philosophie eine griechische Sondererscheinung war, so zeigt sich doch auch in Asien und Israel eine gewisse Hinwendung zum Logos als Gegeninstanz zum uneinholbaren, dunklen und unheimlichen Mythos. Denn die entstehenden Hochreligionen interpretierten das Göttliche logosnah, mithin dem Geist nachvollziehbar. Das Göttliche wurde nicht mehr als eine Unzahl unheimlicher Dämonen und natürlicher Wesenheiten gedacht, sondern als der Eine oder das Eine. Es entbrannte ein Kampf um die Transzendenz des Einen Gottes gegen die Dämonen, die es nicht „gibt, – und der Kampf gegen die unwahren Göttergestalten aus ethischer Empörung gegen sie die Gottheit wurde gesteigert durch Ethisierung der Religion.“178 Der ethische Aufbruch der „Achsenzeit“ sprengt die fraglose Orientierungs- und Geltungsmacht der archaischen Institutionen. Er erobert kulturellen Freiraum für eine tiefsitzende Tendenz des sich kultivierenden Menschen: Selbstverständigung durch Reflexion und Begründung. Vor dem Hintergrund der Achsenzeit zeichnen sich Strukturmerkmale des Gattungswesens Mensch als eines Lebewesens ab, das offenbar von Natur zur Kultur genötigt ist. Hinsichtlich seiner dürftigen Organausstattung und seiner Instinktreduktion geradezu ein Mängelwesen, führt er eine riskierte, von Antriebsüberschuß und von Einbildungskraft fast überflutete Existenz. Um sich im Dasein zu halten, ist der Mensch auf verläßliche Verhaltensregulationen angewiesen, auf Institutionen, die die fehlenden Instinkte ersetzen. Zugleich bedarf er, um soziale und personale Identität zu gewinnen, einer metainstitutionellen Selbstverständigung: Diskurs als Reflexion im sinnhaften Medium der Sprache. Lassen Sie uns das durch einen Rückblick zunächst auf Herders Pioniertat der Philosophischen Anthropologie, dann auf deren institutionalistische Transformation durch Arnold Gehlen und auf Karl-Otto Apels sprach- und diskursbezogene Auseinandersetzung damit vor Augen führen. In seiner Preisschrift über den Ursprung der Sprache179, mit der er 1772 auf die von der Berliner Akademie der Wissenschaften (auf Französisch) gestellte Frage antwortete, ob die 178 Ebd., S. 15. J.G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 1772. Zit. nach J.G. Herders sprachphilosophische Schriften, hg. und eingeleitet von Erich Heintel, Hamburg 1960, S. 3-87. 179 142 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Menschen, bloß auf ihre Naturfähigkeiten gestützt, sich wohl selbst Sprache erfinden können, entwarf Johann Gottfried Herder die Theorie vom Menschen als einem Mängelwesen. Im Unterschied zu den Tieren, die von der Natur (z.B. mit Klauen, Zähnen und Fell) reich ausgestattet und durch ihre Instinktsteuerung stabil in einen überschaubaren „Wirkungskreis“ eingepaßt seien, stelle der Mensch ein riskiertes, dynamisches Wesen mit lauter „Lücken und Mängeln“ dar:180 Der Mensch lebt nicht in einer „einförmigen und engen Sphäre, wo nur eine Arbeit auf ihn wartet. Eine Welt von Geschäften und Bestimmungen liegt um ihn.“181 Demgegenüber habe „jedes Tier […] seinen Kreis, in den es von der Geburt an gehört […], in dem es lebenslang bleibt und stirbt; nun ist es aber sonderbar, daß je schärfer die Sinne der Tiere und je wunderbarer ihre Kunstwerke sind, desto kleiner ist ihr Kreis: desto einartiger ist ihr Kunstwerk. […] Die Spinne webt mit der Kunst der Minerve; aber alle ihre Kunst ist auch in diesen engen Spinnraum verwebt; das ist ihre Welt! Wie wundersam ist das Insekt und wie enge der Kreis seiner Wirkung!“182 Der Mensch hingegen – „nackt und bloß, schwach und bedürftig, schüchtern und unbewaffnet“ – stehe dazu in dem größten Mißverhältnis, weil er „offenbar auf tausend Bedürfnisse verwiesen, zu einem großen Kreise bestimmt“ sei183 und Vorstellungskräfte habe, die ihn in offene Welten hineinstellen, weil seine Vorstellungs- und Seelenkräfte sich über die ganze Welt verbreiteten.184 Je kleiner nun, folgert Herder, „die Sphäre der Tiere ist, desto weniger haben sie Sprache nötig. Je schärfer ihre Sinne, je mehr ihre Vorstellungen auf Eins gerichtet, je ziehender ihre Triebe sind: desto zusammengezogener ist das Einverständnis ihrer etwaigen Schälle, Zeichen, Äußerungen. Es ist lebendiger Mechanismus, herrschender Instinkt, der da spricht und vernimmt. Wie wenig darf er sprechen, daß er vernommen werde!“185 Hingegen müsse der Mensch das ihm eigentümliche Mißverhältnis von dynamisch offener Wirksphäre und natürlicher Mängelausstattung kompensieren: durch Sprache und Vernunftkräfte. In dem Mißverhältnis von Mängelausstattung und Weltoffenheit erkennt Herder „den notwendigen genetischen Grund zur Entstehung einer Sprache“186 und ebenso das Angewiesensein auf Vernunft bzw. Reflexion in Form – hier schließt er an Aristoteles an – einer „Besonnenheit“, welche seine Kräfte mäßige und leite187: 180 Ebd., S. 17 und 19. Ebd., S. 17. 182 Ebd., S. 15 f. 183 Ebd., S. 18. 184 Ebd., S. 17. 185 Ebd. 186 Ebd., S. 19. 187 Ebd., S. 22 f. 181 143 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 „Der Mensch in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum ersten Mal frei wirkend, hat Sprache erfunden. […] Diese Besonnenheit ist ihm charakteristisch eigen und seiner Gattung wesentlich: so auch Sprache und eigne Erfindung der Sprache. Erfindung der Sprache ist ihm also so natürlich, als er ein Mensch ist!“188 Während nach Herder der Mensch seinen Mängelcharakter und die Herausforderung seiner Weltoffenheit durch die Entwicklung von Reflexion als Besonnenheit und in eins damit durch die Erfindung von Sprache bewältigt, deutet der konservative Anthropologe Arnold Gehlen die menschliche Kompensationsleistung primär als Entwicklung von Institutionen. Diese aber schneidet er von Reflexion ab, indem er sie allein nach der Funktion des Instinktersatzes bestimmt: „Zucht-“ und „Führungssysteme“. Aus der (noch schärfer als von Herder ausgestellten) „Riskiertheit“ der menschlichen Lebensform, die sich ebenso aus seinem Instinktverlust wie aus seinem „Antriebsüberschuß“ ergebe, leitet Gehlen – in Anlehnung an den Lebensfunktionalismus Nietzsches und Paretos wie auch an die Zucht- und Führungsideologie der Nazis – „eine letzte Definition des Menschen“ ab. Er bestimmt den Menschen als „Zuchtwesen“ und gibt dazu folgende Erklärung: „Diese Bezeichnung umfaßt alles, was man unter Moral verstehen kann, im anthropologischen Aspekt: die Zuchtbedürftigkeit, den Formierungszwang, unter dem ein ‚nicht festgestelltes Tier‘ steht“.189 Im Sinne dieses Zuchtgedankens entfaltet Gehlen eine institutionalistische Anthropologie: wie das Verhalten der Tiere durch die Instinkte reguliert werde, so müsse das Verhalten des instinktarmen Menschen durch Institutionen formiert werden. „Angesichts der Weltoffenheit und Instinktentbindung des Menschen ist es durch nichts gewährleistet, daß ein gemeinsames Handeln überhaupt zustande kommt oder daß es, einmal vorhanden, nicht morgen wieder zerfällt. Gerade in diese Lücke tritt ja die Institution, sie steht an der Stelle des fehlenden automatischen Zusammenhangs zwischen Menschen, und gerade sie verselbständigt sich zur 188 Ebd., S. 23 f. A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Bonn 4. Aufl. 1944, S. 60. In der 6. Aufl. von 1958, in der auch die Rede von den Führungssystemen äußerst zurückgenommen ist, spricht Gehlen nunmehr von „einer Definition des Menschen als Zuchtwesen“: ebd., S. 64. Zu dem zeitgeschichtlichen Hintergrund, zum Begriffsrahmen und zu den philosophischen Voraussetzungen der Gehlenschen Anthropologie im Kontext des Historismusproblems und des Nietzsche-Pareto-Pragmatismus: D. Böhler, A. Gehlen: Handlung und Institution, in: J. Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart II, Göttingen 3. Aufl. 1991, S. 231-284. 189 144 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Sollgeltung“.190 Gehlen bleibt nicht bei der These stehen, „daß der Mensch aufgrund seiner Instinktreduktion und mangelhaften Organausstattung […] zur Institutionalisierung seines Handelns konstitutionell, also von Natur, gezwungen ist. Er unterstellt, auch das Wie des Handelns und seiner Institutionalisierung sei ‚aus der Natur des Menschen‘ ableitbar: daß sich nämlich die Institutionen ‚verselbständigen zu einer Macht, die ihre eigenen Gesetze wiederum bis in ihr (scil.: der Menschen) Herz hinein geltend macht’ und daß die Menschen sich von diesen ‚historisch gewachsenen Wirklichkeiten konsumieren lassen‘ müssen“.191 Vor dem Hintergrund seiner frühen Auseinandersetzung mit Gehlen192 hat Karl-Otto Apel im „Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik“193 den Aufbruch der Achsenzeit anthropologisch und ethisch rekonstruiert: Die diskursbezogene Tendenz in der Achsenzeit stellt er dem rigiden Institutionenbegriff Gehlens gegenüber. Lassen Sie uns die für mehrere Sprecher eingerichtete Radiosendung ein Stück weit verfolgen: Prof. Apel: In vieler Hinsicht erscheinen mir Arnold Gehlens Thesen als plausibel. Ihren Wahrheitskern sehe ich darin, daß Institutionen in der Tat eine notwendige Vermittlungs-Bedingung der instinkt-kompensativen Motivation und Regulation menschlichen Verhaltens darstellen. Als problematisch erschien mir allerdings das Verhältnis von Institution und Vernunft, wie Gehlen es sieht, und im Zusammenhang damit die These, daß faktisch wirksame Institutionen in ihrem mehr oder weniger zufälligen Nebeneinander, ja gerade als irrationale Gegeninstanzen zur kritischen Vernunft, die zureichende Bedingung menschlicher Moral bilden können. Problematisch ist insofern auch die Vermutung einer vollständigen Analogie zwischen der Funktion menschlicher Institutionen und der automatischen Auslöse-Funktion der Instinkt- und Dressur-Mechanismen bei Tieren. Wir machen uns dies am besten durch einige Beispiele klar. 2. Sprecher: Im tierischen Bereich kommt es oft vor, daß eine bestimmte, auf Instinkt oder Dressur beruhende stereotype Verhaltensform sehr abrupt von einer anderen, oft 190 A. Gehlen, Unmensch und Spätkultur, Bonn 2. Aufl. 1964, S. 157. So Böhler, ebd., S. 276 mit Hinweis auf Gehlen, Unmensch und Spätkultur, S. 8. 192 K.-O. Apel, Arnold Gehlens Theorie der Institutionen und die Meta-Institution der Sprache, in: ders., Transformation der Philosophie, Bd. I, Frankfurt a.M. 1973, S. 197 bis 222. 193 K.-O. Apel, Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft, in: ders., D. Böhler u. G. Kadelbach (Hg.), Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge 1, 1984, S. 74-80. 191 145 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 entgegengesetzten Verhaltensweise abgelöst wird, wenn das auslösende Signal durch ein anderes ersetzt wird, das einem anderen Funktionskreis des Instinktverhaltens angehört. So etwa kann es nach K. Lorenz vorkommen, daß ein Buntbarsch-Männchen ganz plötzlich das Verhalten des Rivalenkampfes durch das der Balz- bzw. Paarungszeremonien ersetzt, wenn es im letzten Moment vor dem Rammstoß in dem zunächst vermuteten Rivalen ein Weibchen erkennt. Der Fisch wechselt bei diesem Umspringen des Verhaltens sogar seine Farbe – so, als ob ein Schlachtschiff seine Flaggen wechselt. Ein genau analoges Phänomen läßt sich beim Haushund beobachten: Hier kann es vorkommen, daß der eifrige Wachhund seinen nach Hause kommenden Herren zunächst mit einem fremden Eindringling verwechselt und wütend ankläfft; plötzlich aber erkennt der Hund sein Mißverständnis, und sein Verhalten ändert sich nun abrupt im Sinne einer besonders demütigen und gewissermaßen schuldbewußten Begrüßungszeremonie. 1. Sprecher: Um mit diesem Beispiel etwas anfangen zu können, müßten wir es auf menschliches Verhalten übertragen. Das scheint mir aber nicht einfach zu sein. Wenn ich die Analogie richtig verstehe, müßte man also davon ausgehen können, daß Menschen immer dann ihr Verhalten abrupt wechseln, wenn sie jeweils anderen institutionellen Ansprüchen unterworfen sind. Gibt es denn so etwas tatsächlich? Prof. Apel: Gehlen bezieht seine Vergleiche ja vor allem auf archaische Kulturen. Und für diese läßt sich Ihre Frage durchaus mit „Ja“ beantworten – und zwar aufgrund zahlreicher Überlieferungszeugnisse. So berichtet z.B. Halldor Laxness in seinem Buch „Islandglocke“ über eine Saga, deren Inhalt der folgende ist: Eine junge Frau verbringt eine Nacht mit ihrem Geliebten in ihrem Haus. Am nächsten Morgen nehmen die beiden Liebenden zärtlichen Abschied voneinander, und der junge Mann reitet davon. Nach Ablauf einer bestimmten Frist jedoch sendet die junge Frau ihre bewaffneten Knechte hinter dem Geliebten her mit dem Auftrag, ihn zu töten. Der Grund für diese Verhaltensänderung der jungen Frau lag nicht in irgendeiner Änderung ihrer affektiven, also instinktresidualen Einstellung gegenüber ihrem Geliebten, sondern darin, daß zwischen ihrer Familie und der Familie des Mannes ein noch unabgegoltenes Verhältnis der Blutrache bestand. Nach Inanspruchnahme durch das 146 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 persönliche Liebesverhältnis mußte sie in unvermitteltem Wechsel des Verhaltens der Familien- bzw. Sippen-Pflicht der Blutrache gehorchen. Zahlreiche, im Prinzip ähnliche Fälle einer von Institutionen quasi-automatisch ausgelösten Verhaltensänderung sind uns aus allen Kulturen überliefert. So etwa aus dem nomadischen Bereich die typische Erklärung des Beduinenscheichs gegenüber seinem Sippenfeind „Im Zelt bist du mein Gast, hernach sieh dich vor, daß du meinen Leuten entgehst“. Hier ist es ganz deutlich der Konflikt zwischen der göttlichen Autorität des Gastrechts und der ebenso unerbittlichen Blutrachepflicht, der sogar die ausdrückliche Ankündigung einer rational unvermittelten Verhaltensänderung bestimmt. 2. Sprecher: Aber nicht nur im (vorstaatlichen) Bereich archaischer Blutverwandtschaftsordnung ist der rational unvermittelte Verhaltenswechsel aufgrund des Wechsels der normativen Verbindlichkeit von Institutionen vorstellbar. Fast noch mehr ist damit ein großes Thema der Göttersagen bezeichnet, die uns vom Kampf verschiedener Kulte um die Inpflichtnahme des menschlichen Verhaltens in den frühen Hochkulturen berichten. Dabei geht es oft darum, daß die Ansprüche älterer Götter oder Göttergeschlechter von späteren Autoritäten bestritten werden – so etwa in der griechischen Sage die Ansprüche der Erinnyen als der alten Rachegöttinnen, von dem Anspruch der Göttin Athene, die den Aeropag als staatliche Institution des Strafrechts repräsentiert. Charakteristisch für den griechischen Mythos ist aber auch die Bestreitung der quasi-rationalen Ansprüche Athenes und Apollons durch die rauschhaft-ekstatischen Kulte des Dionysos. Prof. Apel: In einem gewissen Sinn läßt sich verallgemeinernd sagen: alle Berichte über die verschiedenen Charaktere der Götter, über die Kämpfe der Götter und Göttinnen gegeneinander und über die Aufeinanderfolge verschiedener Göttergeschlechter repräsentieren nichts anderes als den Kampf der verschiedenen Institutionen der frühen Hochkulturen um die verbindliche Inpflichtnahme des menschlichen Verhaltens in den verschiedenen Lebensbereichen – und nicht zuletzt auch im Bereich von Tod, Bestattung und Verkehr mit den Toten. Und das große Thema der griechischen Tragödie ist im wesentlichen der Austrag dieser Götter- und Institutionenkämpfe in einer mehr und mehr vom Menschen 147 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 bestimmten Beurteilung – so etwa der Konflikt zwischen Königsrecht bzw. Staatsräson und vorstaatlicher Pietät des Totenkults in der „Antigone“ des Sophokles. Das Tragische erscheint hier als Konflikt zwischen göttlichem Recht und anderem göttlichem Recht, den der Mensch – so wenigstens im Anfang bei Aischylos – als Verhängnis des Schicksals zu ertragen hat. Schließlich ist auch noch zu bedenken, daß das rational unvermittelte Nebeneinander und oft Gegeneinander institutionell normierter Verhaltensweisen auch in der aufgeklärten Kultur der Gegenwart durchaus nicht seine Funktion verloren hat. Vielmehr ist es überall da zu beobachten, wo Menschen ihr Verhalten nicht aufgrund gefühlsmäßiger Neigungen oder rationaler Überlegungen, sondern einfach aufgrund ihrer sozialen Rolle motivieren und regulieren – so etwa aufgrund der Rollenverteilung in der Familie, oder im öffentlichen Lebensbereich vor allem aufgrund von Status und Berufsrolle. Und auch hier kann es durchaus noch immer zu rational kaum bewältigbaren Konflikten zwischen den moralischen Ansprüchen der verschiedenen Rollen kommen, Konflikten also, die tragisch genannt werden können. 2. Sprecher: So etwa wird aus dem Ersten Weltkrieg der Fall eines deutschen Jagdfliegers berichtet, der – nach einer gewissen Zeit des gegenseitigen Ausweichens – einen Luftkampf mit seinem britischen Vetter nicht mehr vermeiden kann. Er bringt die Maschine des Vetters zum Absturz und schreibt seiner britischen Tante einen Beileidsbrief – so wie es sich nach dem bürgerlichen Anstandskodex zwischen Verwandten gehört. Prof. Apel: Ähnliche Fälle eines rational unvermittelten, aber von außen durch konventionelle Rollenpflichten erzwungenen oder jedenfalls entscheidend motivierten Nebeneinanders von sehr unterschiedlichen Verhaltensweisen lassen sich keineswegs nur im militärischen Bereich vorstellen. […] unsere Beispiele [sollen vor allem dies deutlich machen:] Die institutionelle bedingten Rollen – und Statuspflichten können miteinander in Konflikt geraten. So die Berufspflichten mit Familienpflichten oder schließlich auch mit den weniger genau institutionalisierten Pflichten mitmenschlicher Verantwortung – etwa in der Politik. Das moralische Gewissen des modernen Menschen ist eben nicht identisch mit der jeweils institutionell bedingten Rollen- und 148 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Statusehre; es kann angesichts einander widersprechender Rollenansprüche in tragische Konfliktsituationen geraten; und es kann eben dadurch zur kritischen Reflexion der miteinander nicht vermittelten moralischen Autoritätsgrundlagen der verschiedenen Institutionen motiviert werden. Prof. Apel: Die Beispiele, die wir zur Illustration der GEHLENschen Philosophie der Instinktmoral der Institutionen herangezogen haben, legen, soweit ich es sehe, Schlußfolgerungen in verschiedener Richtung nahe: Einerseits läßt sich ein begrenztes Recht der GEHLENschen Analogie-These kaum bestreiten: Der Mensch kann im Alltag nicht unmittelbar seine subjektive Vernunft als normative Kompensation der Instinktreduktion zur Geltung bringen; er bedarf einer Vermittlungsinstanz. Die Institutionen müssen ihn davon entlasten, alles und jedes immer wieder entscheiden zu müssen, und sie müssen zugleich das Verhalten anderer Menschen einigermaßen erwartbar machen: dadurch, daß es – wie das eigene – konventionellen Mustern gehorcht. Andererseits wird jedoch durch die Berichte über die Konflikte der verschiedenen Institutions- bzw. Rollenmoralen, die uns durch die Sagenliteratur und die griechische Tragödie überliefert sind, folgendes bezeugt: die Menschen haben offenbar das rational unvermittelte Nebeneinander und Gegeneinander der institutionsbedingten Verhaltensnormen von vornherein anders erfahren als die Tiere das Umspringen der Verhaltensauslösung von einem Funktionskreis in den von Gehlen postulierte Analogie zwischen der I anderen. Insofern hat die nstinktregulation des tierischen Verhaltens und der normativen Funktion der Institutionen offenbar schon in archaischen Zeiten nicht wirklich funktioniert. Die Menschen haben offenbar den Konflikt der normativen Ansprüche der verschiedenen Institutionen – und der verschiedenen Götter – als Problem erfahren und als Verhängnis erlitten. 3. Sprecher: Tatsächlich hat diese leidensvolle Erfahrung in einer weltgeschichtlichen Periode, die Karl Jaspers die „Achsenzeit“ nennt, in allen Hochkulturen, von China und Indien über den Vorderen Orient und Ägypten bis Griechenland, zu einer Art Aufstand des religiös-ethischen und philosophischen Denkens gegen die fraglose Autorität der Institutionen geführt: Im indischen Buddhismus führte dieser Aufstand zu dem 149 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Versuch, die brahmanische Kastenordnung der Gesellschaft und die sie begründende Religion des Kreislaufs der Wiederverkörperungen durch Selbsterlösung im Sinne des Nirwana zu überwinden. In Griechenland begann die Infragestellung aller institutionellen Normen durch die radikale philosophische Frage, ob die Geltung dieser Normen von Natur aus (physei) oder bloß kraft menschlicher Setzung (thései bzw. nómo) bestehe. Im Monotheismus der israelitischen Bibel-Religion wurde sie als unmittelbar göttlich gedachte Ordnung der archaischen Institutionen durch die „außerweltliche“ Autorität eines Gottes überwunden, der die Idee göttlicher Institution abschwächt und den Menschen zum Herrn einer profanen Welt einsetzt. In der abendländischen Tradition verband sich die im Christentum radikalisierte monotheistische Transzendierung alle innerweltlichen Autoritäten durch das philosophische Denken; und nach der Bewährung der wissenschaftlichen Rationalität im Zuge wachsender Naturerkenntnis begann die neuzeitliche Aufklärung, die soziale Welt der Institutionen grundsätzlich zum Gegenstand der Kritik und der revolutionären Veränderungen zu machen. Vernunftprinzipien (nach KANT: vorgestellte Gesetze) sollten jetzt unmittelbar normativ die Moral und die positiven Institutionen des Rechtsstaats und schließlich des Sozialstaats bestimmen. Zusammenfassend können wir feststellen: „In Kulturen, deren ›achsenzeitlichen‹ alltagsweltlich Übergänge zu institutionalisierter einer Sinn noch ›postkonventionellen‹ keine (besser: metakonventionellen) Geltungsrechtfertigung freigibt, verstricken sich Akteure in unauflösliche, weil an widerstreitende Götter bzw. Schicksalsmächte gebundene, Dilemmata als Alternativen ohne Diskurs: in Tragödien. Hier stehen Menschen rettungslos zwischen konträren Normen, weil ihnen noch nicht die befreiende, übergeordnete Instanz einer Geltungsrechtfertigung durch Verallgemeinerbarkeit der Gründe offen steht. So erscheint das Tragische in Sophokles’ ›Antigone‹ als unauflöslicher ›Konflikt zwischen göttlichem Recht und anderem göttlichem Recht‹ (dem Königsrecht).“ So D. Böhler u. M. Werner, Alltagsweltliche Praxis und Rationalitätsansprüche der Kulturwissenschaften, in: F. Jaeger u. J. Straub (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2, Stuttgart u. Weimar, 2004, S. 74. 150 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Für unsere Frage, warum der Mensch den argumentativen Diskurs benötigt, können wir daraus eine anthropologische Antwort ableiten: Offenbar sind die Menschen auf eine Selbstverständigung durch Reflexion, Kritik und Begründung angewiesen, um nicht zu Opfern des tragischen Gegeneinanders/Nebeneinanders von Institutionen zu werden. Allein im Diskurs lassen sich die Konflikte der widerstreitenden institutiona-lisierten Normen und individuellen Ansprüche so lösen, daß Frieden gewahrt und die Identität der Personen nicht verletzt wird. Denn das Ergebnis eines Diskurses, einer Suche nach dem besten Argument, kann jeder mit seiner Identität vereinbaren, wenn er sein Vernunftvermögen kultiviert, wenn er sein zweites ‚Ich‘ zur Sprache bringt: das des Diskurspartners, der auf der Basis guter, d.h. zustimmungswürdiger, Gründe mit sich selbst, mit seinem Tun, in Einklang sein will. Wie Sokrates. 151 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 2.2 11.12.2009 Die unbegrenzte Auswirkungsdimension menschlichen Verhaltens in der hochtechnologischen Zivilisation. Kein Begriff der Menschheits-Verantwortung ohne die Geltungsidee des Diskursuniversums Als Karl-Otto Apel und ich 1979 das Projekt eines „Funkkollegs Praktische Philosophie/Ethik“ vorbereiteten, haben wir uns die Frage, warum der Mensch eigentlich Ethik und damit einen Diskurs über praktische Fragen brauche, also über moralische Anspruchs- und Normenkonflikte, auch und zumal im Blick auf das Heute, die weltgeschichtlich neuartige Situation des hochtechnisch lebenden Menschen gestellt. Daher eröffneten wir die erste Kollegstunde folgendermaßen: Prof. Böhler: Meine Damen und Herren, liebe Kollegiaten, die erste Stunde des Funk-Kollegs „Praktische Philosophie/Ethik“ trägt den Titel „Die Situation des Menschen als Herausforderung an die praktische Vernunft“. Durch eine philosophische Charakteristik der Situation des menschlichen Daseins überhaupt möchten wir eine Antwort auf die Frage geben: „Warum benötigt der Mensch überhaupt so etwas wie Ethik?“ Diese Themenstellung wird sicherlich manche unter Ihnen überraschen. Ist es nicht fürchterlich abstrakt, über „den“ Menschen zu sprechen, wo sich doch eine Fülle konkreter Probleme jedem, der über ethische Fragen nachdenkt, unmittelbar und unabweisbar aufdrängen? Wer heutzutage versucht, sich selbst unsere Ausgangsfrage versuchsweise zu beantworten, der wird an sehr verschiedenartige aktuelle Situationen denken, z. B. Situationen, in denen sich die Frage nach verbindlichen Regeln oder Normen unseres Handelns stellt. Er denkt vielleicht zunächst an die Problematik der zwischenmenschlichen Beziehungen im Nahbereich von Ehe, Familie, Nachbarschaft und Beruf und an andere ethische Probleme, etwa an die Diskussion um den § 218, an die moderne Sexualerziehung, an die Ehescheidung, an Partnerschaft und Konkurrenz im Berufsleben, an die Behandlung der alten Menschen und schließlich an das Verhältnis zum eigenen Tod. Möglicherweise wird man aber auch sogleich an Fragen menschlicher Beziehungen im Bereich der Politik denken, z.B. an die schwierigen Probleme der sozialen Gerechtigkeit einerseits und der Freiheitsgarantien in unserem Lande andererseits, 152 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 oder aber an die ebenso komplexen Probleme einer verantwortlichen Vertretung nationaler Interessen im Spannungsfeld der Weltpolitik. Schließlich mag man heutzutage sogar in erster Linie an Probleme gesamtmenschlicher Verantwortung für die planetare Ökosphäre denken, wie sie z.B. durch den Club of Rome der Menschheit als Problem einer solidarischen Verantwortung vor Augen gestellt wurden. Man kann in diesem Zusammenhang bemerken, daß die ethischen Probleme heute zum ersten Mal eine weltweite Dimension der Auswirkung und des Risikos gewonnen haben. Denken wir nur an die Notwendigkeit internationaler Institutionen und Konferenzen etwa über Fragen der Bevölkerungspolitik, der Energie- und Entwicklungspolitik, vor allem aber an die ständige Bedrohung durch die Möglichkeit eines mit nuklearen „Waffen“ geführten Vernichtungskrieges. Es zeigt sich also, daß ethische Probleme in der Gegenwart in drei verschiedenen Auswirkungsbereichen menschlicher Handlungen auftreten: 1. in einem Nah- oder Mikrobereich des zwischenmenschlichen Verhaltens im Privatleben; 2. in einem Mittel- oder Mesobereich der Interaktion der politisch Handelnden, die etwa Gruppeninteressen oder Nationalinteressen vertreten, und 3. in einen Groß- oder Makrobereich der solidarischen Verantwortung für das Lebensinteresse der menschlichen Gattung in der Zukunft. Darüber hinaus zeigt sich weltgeschichtlich erstmals, daß ethisch bedeutsame Entscheidungs- und Regelungsprobleme des Mikro- und des Mesobereichs heutzutage die Tendenz haben, zu ethischen Problemen des Makrobereichs, also der weltweiten Dimension menschlicher Verantwortung, zu werden. So wird z.B. das scheinbar private Intimsphärenproblem der Geburtenregelung zu einer Streitfrage internationaler Konferenzen, die sich über die Gefahren einer Überbevölkerungskrise auf der Erde auseinandersetzen. Andererseits reichen die Probleme der Staatsräson in die planetare Dimension hinein, nehmen doch Abrüstungskonferenzen der Weltmächte eine Dimension an, die nicht nur machtstrategisch, sondern auch ethisch relevant ist, weil von den politischen Entscheidungen das Überleben der Menschheit abhängt. 153 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 1. Sprecher: Es leuchtet ein, daß sich die ethischen Probleme heute in den drei von Ihnen unterschiedenen Ebenen bewegen. Wie kommt man aber von diesen Beobachtungen […] zu der eingangs hypothetisch aufgeworfenen Frage, warum der Mensch ganz allgemein so etwas wie Ethik benötigt? Wo steckt das Gemeinsame dieser so unterschiedlichen Herausforderungen an die Ethik? Sie, Herr Apel, haben sich doch offensichtlich etwas Besonders davon versprochen, gleich zu Beginn des FunkKollegs mit der sehr allgemeinen Frage nach der Situation des Menschen schlechthin einzusetzen. Prof. Apel: Ja, das ist tatsächlich das Ausgangsproblem, das ich in den ersten Stunden unseres Funk-Kollegs aufnehmen und mit Ihnen durchdenken möchte. Sollte es nicht möglich sein, die verschiedenartigen aktuellen Herausforderungen der praktischen Vernunft als Differenzierung einer Herausforderung zu begreifen – einer Herausforderung, die durch die Situation des Menschen überhaupt, durch die Tatsache des menschlichen Daseins schlechthin, bedingt ist? Genauer: sollte es nicht möglich sein, sogar die aktuelle Differenzierung der ethischen Probleme nach drei Auswirkungsbereichen menschlicher Handlungen und ihrer dramatische Zuspitzung in dem neuartigen Risiko-Bereich planetarischer Verantwortung auf ein anthropologisches Grundfaktum zurückzuführen, durch das unser Verständnis aller weiteren, geschichtlich differenzierten Herausforderungen der ethischen Vernunft gewissermaßen von vornherein festgelegt wird? – Versuchen wir, die hier angedeutete Vermutung durch eine radikale Verfremdung der Gegenwartsituation des Menschen im Lichte der Geschichte der Menschwerdung einzulösen. In christlich-theologischer Perspektive drängt sich uns Abendländern an dieser Stelle die Rede vom Sündenfall auf. Er soll mit dem Ereignis der Menschwerdung unabtrennbar verknüpft sein: die Menschwerdung soll zugleich in einem ersten Akt der Sünde und in dem damit verbundenen Erwerb des Gewissens bestanden haben. In einer philosophischen Perspektive – wie sie z.B. von Kant in seiner kleinen Schrift „Vom mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte“ eröffnet wurde – könnte man etwa folgende Interpretation des biblischen Mythos ins Auge fassen: Durch die Menschwerdung – wie immer man diesen qualitativen Sprung in der Evolution des Lebens zu erklären hat – wurde einerseits der Funktionsbereich 154 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 automatischer Verhaltensregeln durch Naturgesetze – zuletzt durch solche der tierischen Instinkte und bedingten Reflexe – prinzipiell überschritten. Darin liegt gewissermaßen ein kosmischer Sündenfall. Denn die Sicherheit und Verläßlichkeit der naturgesetzlich-automatischen Form der Verhaltensregulation wurde zumindest punktuell zugunsten der menschlichen Handlungsfreiheit durchbrochen. 1. Sprecher: Wenn ich Ihre Interpretation der biblischen Geschichte vom Sündenfall richtig verstehe, dann muß gleichzeitig mit diesem Wegfall automatischer Verhaltensregulierung eine neue Instanz entstanden sein, die die Religion „Gewissen“ nennt. Es geht wohl um die Ersetzung eines naturgesetzlich determinierten Verhaltens durch eine Situation, in der der Mensch vieles und Gegensätzliches tun kann, zugleich aber auch einen Maßstab gewinnt, seine möglichen Handlungen kritisch zu beurteilen; damit entgeht er der Gefahr, wahllos zwischen alternativen Verhaltensmöglichkeiten hin und her zutreiben. Wäre dieses Zusammenspiel von Handlungsfreiheit und der Entstehung einer kritischen Beurteilungsinstanz die „Geburtsstunde“ der Ethik? Prof. Apel: So kann man es ausdrücken. Wir sprechen ja von ethischen Normen nur unter der Voraussetzung, daß sie nicht als Naturgesetze im Sinne von Instinkten und Reflexen zu verstehen sind. Normen sind gewissermaßen Zumutungen gesetzesanaloger Verhaltensregulationen, die sich nicht automatisch und ausnahmslos durchsetzen, sondern hinsichtlich ihrer Befolgung an eine gewisse Vernunft-Einsicht und Entscheidungsfreiheit des Willens appellieren. Anders gesagt: Normen und normativ anspruchsvolle Erwartungen fordern uns als Freie und als Einsichtsfähige zur Prüfung ihrer Zumutungen heraus. Sie fordern uns dazu heraus, gute Gründe für oder gegen ihre Befolgung oder für ihre Veränderung zu finden. Das heißt: Sie provozieren uns zum Diskurs. Dieser Provokation können wir heute, angesichts der unbegrenzten Dimension, in der sich unser Verhalten nunmehr räumlich und zeitlich auswirkt, nur in dem Maße gerecht werden, wie wir nach allen Gründen suchen, die gegen unsere Verhaltensweisen und unsere Institutionen bzw. gesellschaftlichen Systeme vorgebracht werden können – von wem auch 155 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 immer: von Zeitgenossen in einem fernen Winkel der Welt, dessen Lebensbedingungen tangiert werden von unserer Lebensweise bzw. einem unserer Projekte, oder von künftigen Generationen, auf deren Kosten wir heute, sei es Schulden machen, sei es Energie verschwenden, das Klima zerstören oder anderes anrichten, was irreversibel ist und als unverantwortlich gelten kann. Die Rolle des Diskurspartners ist, wie wir bereits gesagt haben, später aber genau entfalten und begründen müssen, an universale Geltungsansprüche gebunden: Wer nicht den guten und ebenso selbstkritischen wie gegenwartskritischen Willen aufbringt, sich um das beste Argument (für die Situation) zu bemühen und eben deshalb auch alle Ansprüche zu berücksichtigen, die (für die Situation) von Bedeutung sein können, der widerspricht den Universalitätsansprüchen seiner Diskurspartnerrolle. Keine Vernunft ohne den Geltungsrahmen des Diskursuniversums! Kein glaubwürdiger Diskurspartner, der nicht das Universum der sinnvollen Argumente zur Sache oder eine ideale Kommunikationsgemeinschaft anerkennen würde – als die letzte Instanz in Sachen Wahrheit und Richtigkeit. Dazu gleich mehr. Heute, im Blick auf die Unbegrenztheit der Auswirkungsdimension unserer hochtechnologisch vermittelten Lebensweise oder Handlungen und Systeme, beginnen wir zu erkennen, daß wir die Idee eines Diskursuniversums bzw. einer idealen Kommunikationsgemeinschaft benötigen, wenn wir jener Unbegrenztheit gerecht werden wollen. Wollen wir die neue Verantwortung denken, welche uns die hochtechnologische Zivilisation auferlegt, dann muß der Bezugs- und Geltungsrahmen der Verantwortung deckungsgleich sein mit der Auswirkungsdimension unseres Verhaltens. Daher gilt: Kein Verantwortungsbegriff für die hochtechnologische Zivilisation ohne die regulative Geltungsidee des Diskursuniversums i. S. einer idealen Kommunikationsgemeinschaft, in der die Ansprüche jedes Betroffenen gleichermaßen zur Geltung gebracht und geprüft würden. Die Verantwortungskrise unseres Zeitalters, diese Herausforderung zu einer unbegrenzten Mitverantwortung all derer, die denken und handeln können und unbegrenzte Wirkungen mitverursachen können oder schon mitverursachen, gibt uns den Anstoß,. diese Idee einzuholen, die logisch von vornherein mit den Begriffen der Vernunft, der Wahrheit und der Philosophie verwoben ist. Jetzt müssen wir sie ausdrücklich machen und ihr auch praktisch zu entsprechen versuchen, wenn wir nicht den Kopf in den Sand stecken, die neuartige Menschheitsverantwortung nicht ignorieren und verfehlen wollen. Gerade eine Einleitung in die Praktische Philosophie hat allen Anlaß, diese Idee zu denken. Das wird uns tiefer in den Diskursbegriff hineinführen. 156 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Doch lassen sie uns zuvor die Dimensionen des (postmodernen) menschlichen Handelns präzisieren, indem wir die Analyse des Jahres 1980 aktualisieren und vertiefen: Mikro-, Meso-, Makro- und Tiefendimension des zu Verantwortenden Situation 1980 nach Apel und Böhler, Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: Ethische Probleme treten gegenwärtig in drei verschiedenen Auswirkungsbereichen menschlicher Handlungen auf: in einem Nah- oder Mikrobereich der unmittelbaren Interaktion zwischen Menschen im sog. Privatleben, in einem Mittel- oder Mesobereich der Interaktion politischer Handlungssubjekte, welche Gruppen- oder Nationalinteressen vertreten, und schließlich in einem Groß- oder Makrobereich solidarischer Verantwortung der Menschheit für das Lebensinteresse der menschlichen Gattung, bezogen auf die Gegenwart und auf die kommenden Generationen. Darüber hinaus zeigt sich weltgeschichtlich erstmals, daß ethisch bedeutsame Entscheidungs- und Regelungsprobleme des Mikro- und Mesobereichs heutzutage die Tendenz haben, zu solchen des Makrobereichs zu werden: Z.B. wird das scheinbar private Intimsphären-Problem der Geburtenregelung zu einer Streitfrage internationaler Konferenzen über die Gefahren einer Überbevölkerung der Erde; und die klassischen Probleme der politischen Staatsräson – so etwa die der Diplomatie und ihrer militärischen Fortsetzung nehmen im Atomzeitalter auf den Abrüstungskonferenzen der Weltmächte eine neue Dimension an, die schon deshalb nicht nur machtstrategisch, sondern auch moralisch relevant ist, weil das Überleben der Menschheit davon abhängen kann. Situation 2008 – mit Blick auf Jonas: „Das Prinzip Verantwortung“, 1979: Dramatisierung des Atomproblems von der Mesoebene her: Konflikt der nördlichen Atommächte mit Iran, zuvor mit dem Irak Sadam Husseins und mit Nordkorea. Weitere atomare Rüstung der Großmächte! Dramatisierung der Durchsetzungsstrategien von Gruppeninteressen durch unkontrollierte (finanzkapitalistische) Bank- und Börsenspekulationen. Diese gefährden auch Bedingungen 157 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 langfristiger Entwicklung und Zukunfts- bzw. Umweltinvestitionen, verstärken also Makroprobleme. Dramatisierung ökologischer und ökonomischer Makrobereichsprobleme (z.B. Ozon, sog. Klimawandel, Wasserprobleme und –mangel, Feinstaub, Welthunger). Ein vierter Verantwortungsbereich, die Tiefendimension der Verantwortung für Gehalt und Verbindlichkeit des Moralprinzips, ergibt sich aus der faktischen Unterordnung allgemeiner moralischer Orientierungsbegriffe wie >Menschenwürde< und Intuitionen wie >Ehrfurcht vor dem Leben< unter partikulare Interessen des Mikrobereichs (Heilungs-, Kinderwunsch) oder des Mesobereichs (technologisches Industrieinteresse). 158 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 2.3 11.12.2009 Diskurs und Vernunft: ideale versus reale Kommunikationsgemeinschaft und Normen der Diskurspartnerrolle. Den Diskursbegriff philosophisch zu bestimmen, heißt zumal „Vernunft“ zu rekonstruieren. Bezieht sich der Vernunftbegriff doch auf die Kompetenz (traditionell: das Vermögen) sowohl zu sinnvoller, nachprüfbarer Argumentation zwischen (einem Plural von) vernunftfähigen, leibhaften und individuierten Wesen194 wie auch auf die Fähigkeit einer reflexiven Selbsteinholung der internen Voraussetzungen des argumentativen Handelns. Erst eine solche Selbsteinholung eröffnet auch die praktische Dimension der Vernunft. Das ist einmal die Selbstverantwortung195 der Argumentationsteilnehmer für ihre Beiträge und für die dialogischen Beziehungen, die sie aufgenommen haben, indem sie (möglichen oder anwesenden) anderen gegenüber etwas als etwas Bestimmtes geltend machen. Das ist zudem die (damit verwobene) Mitverantwortung von Diskursteilnehmern196 unmittelbar für den Diskurs selbst, mittelbar auch für dessen weltweite (gesellschaftliche, aber auch ökologische) Realisierungsbedingungen und schließlich für die Bemühung, die Diskursergebnisse praktisch umzusetzen – im Alltag wie in Recht, Politik und Wirtschaft. Zu den grundlegenden Einsichten besagter Selbsteinholung gehört es, daß die kommunikative Argumentationssituation unhintergehbar ist – nicht in dem empirischen, hier nachgerade absurden Sinne einer permanenten Festlegung menschlicher Praxis auf nichts anderes als auf ein faktisches Argumentieren, vielmehr im geltungslogischen Sinne. Das heißt, die Argumentationssituation ist unhintergehbar auf der logischen Ebene dessen, was gültig sein kann; unhintergehbar ist sie, wenn es darum geht, Ansprüche auf Verständigung und Geltung einzulösen. Um das zu erkennen, bedarf es freilich einer Umstellung des Denkens: von der theoretisch eingestellten Betrachtung oder Rekonstruktion zu einer 194 Vgl. H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960 und Münster o. J., §§ 24, vgl. § 32; dies., Vom Leben des Geistes, München 1979: Das Denken, 182-190; vgl. Das Wollen, 426 f.; vgl. W. Kuhlmann, Beiträge zur Diskursethik. Studien zur Transzendentalpragmatik. Würzburg 2006, 9 ff., passim. 195 Klassisch bei Edmund Husserl, der den Skeptiker sinnkritisch mit dem Anspruch auf Selbstverantwortung seines Denkens konfrontiert: „Aller echter Skeptizismus […] zeigt sich durch den prinzipiellen Widersinn an, daß er in seinen Argumentationen implizite, als Bedingungen der Möglichkeit ihrer Geltung, eben das voraussetzt, was er in seinen Thesen leugnet.“ (E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Bd. III/1 der Husserliana, hrsg. v. K. Schuhmann, Den Haag 1976, § 79). Kritisch zu Husserls subjektphilosophischer Fassung des Selbstverantwortungspostulats: K.-O. Apel, Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt a. M. 1998, 72 ff. Für eine durchgeführte sprachpragmatische Kritik: H. Gronke, Das Denken des Anderen. Führt die Selbstaufhebung von Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität zur transzendentalen Sprachpragmatik? Würzburg 1999. 196 Vgl. die Beiträge von Apel und Böhler, in: K.-O. Apel u. H. Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik. Würzburg 2001. 159 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 „Reflexion auf den Diskurs im Diskurs“197 – will sagen: in dem gerade strittig geführten Diskurs, dem aktuellen argumentativen Dialog. Allein eine sokratisch sinnkritische Reflexion auf den Diskurs und seine konstitutiven Voraussetzungen, sofern sie in dem jeweiligen argumentativen Dialog mit dem Skeptiker durchgeführt wird, vermag zu demonstrieren, daß „reine Vernunft für sich praktisch“, nämlich moralisch verpflichtend sein kann198. Und erst, wenn das erwiesen ist, darf man eigentlich von der Einheit der Vernunft sprechen, nämlich der praktischen und der theoretischen, als auch von der Einheit der Philosophie mit der theoretischen, worauf wir wiederholt zurückkommen werden. Kommunikationsbezogen gewendet, bedeutet das: Vernunft ist eine Kompetenz, die ‚ich’ (auch als skeptisch Argumentierender) nur ausüben kann, insofern ‚ich’ schon in das ethisch geladene und moralisch verpflichtende Verhältnis, nämlich in das des argumentativen Dialogs und der reziproken Anerkennung von Argumentationspartnern, eingetreten bin. Rationalität ist demzufolge nicht bloß als Verstand, als formelle Diskursivität („theoretische“, „instrumentelle“, „strategische“ Vernunft) zu denken, sondern nachkantisch, nachpeircisch und posthusserlsch als eine im Grunde „kommunikative Kompetenz“199, deren Wahrnehmung ein mehrstelliges Dialogverhältnis mit moralischen Verbindlichkeiten voraussetzt. Diese werden von jedem, der überhaupt etwas zu verstehen gibt und geltend macht, selbst dann implizit in Anspruch genommen, wenn er sie bloß formell, logisch, technisch oder funktionalistisch versteht, also mißversteht. Das formelle, vielfach zweckrationalistisch verengte Rationalitätsverständnis, wie es in der hochtechnologischen Phase der Wissens-, Medien- und Wissenschaftsgesellschaften vorherrscht, müßte in dem Diskursbegriff als Begriff des argumentativen Dialogs ebenso kritisch aufgehoben werden wie die Intersubjektivitäts- und Kommunikationsvergessenheit des traditionellen Vernunftbegriffs. Das ist der Anspruch der sprachpragmatischen Entfaltung des Diskursbegriffs zwischen Jürgen Habermas’ sprachtheoretischem und sozialwissenschaftlichem Rekonstruktionsansatz (im Sinne einer formalpragmatischen „Theorie des kommunikativen Handelns“) und der transzendental angesetzten Pragmatik Karl-Otto Apels200, aus der sich eine gestufte Diskurspragmatik entwickelte201: theoretische 197 K.-O. Apel, Auseinandersetzungen, S.179. I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft (AA, 218), vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA, 461). 199 J. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen (Vgl. Anm. 7), S.101 ff. 200 K.-O. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in: ders., Transformation der Philosophie, Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt a. M. 1973, 358-435; ders., Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen, in: ders., Auseinandersetzungen (Vgl. Anm. 10), S.281 ff. 201 W. Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung. Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik, Freiburg/München 1985, bes. Kap. 2, vgl. Kap. 5; ders., Systemaspekte der Transzendentalpragmatik, in: ders., Sprachphilosophie – Hermeneutik – Ethik. Studien zur Transzendentalpragmatik, Würzburg 1992, S.270 ff.; 198 160 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Rekonstruktion von Sinnvoraussetzungen des Diskurses als vorläufige, weil fallible Stufe, und sinnkritische sokratische Reflexion im Dialog als definitive Stufe einer Selbsteinholung – definit, weil sie einen reflexiven Verbindlichkeitserweis der rekonstruierten Sinnbedingungen und ihres moralischen Gehalts leisten kann. Die Rekonstruktion des je schon mitgebrachten tacit knowledge oder Handlungswissens vom Diskurs202 entfaltet und systematisiert jenes lebensweltliche und geistesgeschichtlich vermittelte (resp. in der Philosophiegeschichte schon explizierte!) Vorverständnis des Dialogs, von dem ‚wir’ in der Kommunikation zehren, wenn wir anderen gegenüber etwas geltend machen wollen. Die Rekonstruktion von Diskurspräsuppositionen kann plausibel machen – aber als theoretische, daher fallible Leistung nicht außer Zweifel stellen –, daß menschliche Tätigkeit überhaupt und das damit verwobene kommunikative Handeln nur im Blick auf bestimmte Geltungsansprüche verständlich ist, die auf mögliche Diskurse verweisen:203 Als Ansprüche auf intersubjektive Gültigkeit transzendieren sie ebenso die faktische Situation samt Kontext wie den subjektiven Horizont des Handelnden bzw. Denkenden. Beziehen sie sich doch auf reale und virtuelle andere Anspruchssubjekte als auf (mögliche) Argumentationspartner. Eine selbsteinholende Klärung des Diskursbegriffs sieht sich vor eine Reihe von Herausforderungen gestellt: Läßt sich in terms of discourse die Einheit der Vernunft in ihren Differenzen erschließen – im Spannungsfeld von Logik und Ethik, von instrumenteller versus praktisch verbindlicher Vernunft, strategischer versus dialogischer Einstellung usw.? Lassen sich die beiden Eckpunkte des Diskursbegriffs, der transzendentale Rückbezug des Denkens auf die argumentative Kommunikation und die Idee der Selbsteinholung, als verbindliches normatives Telos des Diskurses erwiesen?204 Das wäre umso nötiger, als ihr kritischer D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion. Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie, Frankfurt a. M. 1985, bes. Kap. V.4 und 5 sowie VI; ders., Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik versus kulturalistische (Unternehmens-)Strategik. Besteht eine Pflicht zur universalen Dialogverantwortung?, in: H. Steinmann, A. G. Scherer (Hg.), Zwischen Universalismus und Relativismus, Frankfurt a. M. 1998, S.126 ff.; dazu H. Gronke, Die Praxis der Reflexion, in: H. Burckhart u. H. Gronke (Hg.); Philosophieren aus dem Diskurs, Würzburg 2002, bes. S.34-40. 202 A. Damiani, Handlungswissen. Eine transzendentale Erkundung nach der sprachpragmatischen Wende. Phil. Habilitationsschrift, Freie Universität Berlin, 2007. 203 D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik (Vgl Anm. 16), bes. S.120 ff., S.296-299, S.328-348, S.359 ff.; D. Böhler, M. Werner, Alltagsweltliche Praxis und die Rationalitätsansprüche der Kulturwissenschaften, in: F. Jaeger, J. Straub (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart/Weimar 2004, 69-84; J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1981, bes. Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, S.25-71, S.163-200. 204 Ein Gegenexempel zu unserer Vorgehensweise bildet Peter Kohlhaas’ Studie zur Wort- und Begriffsgeschichte von ‚Diskurs’, die theoretisch distanzierend verschiedene Verwendungsweisen von ‚Diskurs’ erläutert. Sie unterstellt offenbar, man könne hierbei einen neutralen Beschreibungsstand-punkt einnehmen. Folglich disqualifiziert sie eine normative Entwicklungsperspektive als „rigide“ – unabhängig davon, ob diese sich rechtfertigen läßt oder nicht. Vgl. P. Kohlhaas, Diskurs und Modell. Historische und 161 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Orientierungssinn in methodisch grundsätzlicher Differenz zu allen Lebenswelten, allen Handlungswelten oder Systemwelten, ja auch zu jeder Geistesgeschichte steht, so daß sie sich nicht einfach daran „anschließen“ lassen. Diese Differenz ist prinzipiell, also unaufhebbar, weil jene Eckpunkte regulative Ideen bzw. Kriterien für Gültigkeit einschließen, die einen idealen Maßstab formulieren: Einen ‚Maßstab‘, den man nicht in der Hand hat, weil er eine nie abschließbare Aufgabe bezeichnet – etwa die Aufgabe einer reinen Argumentationspraxis und eines Konsenses auf der Basis aller geprüften Argumente zur Sache. Allerdings erscheinen regulative Ideen den nach Wittgenstein und Heidegger verbreiteten kontextualistischen Spielarten eines Neo-Pragmatismus (ohne Peirce) als sinnlos bzw. als metaphysisch205. Denn ein solcher Neopragmatismus läßt nur das gelten, was innerhalb eines gegebenen Sprach- und Handlungskontextes entweder vorfindlich ist (wie etablierte Regeln), oder was sich innerhalb dieses Rahmens rekonstruieren läßt, etwa mit John R Searle. Er unterscheidet „konstitutive Regeln“, die die richtige Handlungsweise z.B. eines Spiels angeben, wie etwa „Elfmeterschießen“, von zusätzlich vereinbarten regulativen Konventionen, wie etwa Anstandsregeln.206 Ganz anders die regulativen Geltungsideen: Sie transzendieren einen empirischen Kontext grundsätzlich. So überschreitet die Idee eines rein argumentativen Konsenses jede faktische Diskussion und jeden empirisch erreichten Konsens. Die Transzendentalpragmatik macht geltend, daß solche kontextüberschreitenden Ideen gleichwohl denknotwendig sind, auch wenn nirgendwo in der Welt ein rein argumentativer Konsens (auf der Grundlage aller relevanten Argumente zur Sache) auffindbar sein kann. Darauf kommen wir zurück. Die Idee des Diskurses und die ersten Ansätze zur Entfaltung der in ihm angelegten Gegenseitigkeitsstruktur haben im Athen des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts Schule gemacht, ja sie haben eine Kultur des Miteinander-Denkens und Miteinander-Streitens eröffnet – nach dem Urbild des Sokratischen Dialogs als Institution des Gründe-Gebens, des λόγον διδόναι (logon didonai). Denn Sokrates sucht nach dem geltungslogisch Allgemeinen, nach Wahrheit und richtiger Definition, und führt diese Suche in Form eines dem Gerichtsverfahren entlehnten έλεγχος (elenchos) durch. In Europa entwickelte sich daraus das systematische Aspekte des Diskursbegriffs und ihr Verhältnis zu einer anwendungsorientierten Diskurstheorie. In: H. U. Nennen (Hg.), Diskurs. Begriff und Realisierung. Würzburg 2000, 29-56. 205 Vgl. A. Wellmer, Der Streit um die Wahrheit. Pragmatismus ohne regulative Ideen, in: D. Böhler, M. Kettner, G. Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, Frankfurt a. M. 2003, 143-170; kritisch dazu: K.-O. Apel, Wahrheit als regulative Idee, a.a.O., S.171-196; H. Gronke, Die Relevanz von regulativen Ideen zur Orientierung der Mit-Verantwortung. Eine Verteidigung von Apels transzendentaler Transformation des Pragmatismus, a.a.O., S.260-282. Vgl. auch M. Sandbothe (Hg.): Die Renaissance des Pragmatismus. Aktuelle Verflechtungen zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie, Weilerswist 2000. 206 John R. Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt a.M. 1971, S. 54 ff. 162 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Paradigma kritischer Vernunft, in dem die Gerichtshofmetapher – am pointiertesten in Kants „Kritik der reinen Vernunft“207 – eine ausgezeichnete Rolle spielt. Dank seiner Kritik eines Scheinwissens, das unfähig ist, die naiv behaupteten Interessen und Meinungen als Geltungsansprüche einzulösen, und dank seiner Aufnahme juridischer Verfahrenselemente weist das Modell des Sokratischen Dialogs noch über Kant hinaus auf ein kommunikatives Verständnis von „Kritik“ und „Vernunft“, von „Geltung“ aus Gründen und „Gewißheit“ durch Rechtfertigung. Bis auf die Gegenwart nur unterschwellig wirksam oder gar, wie bei Descartes, solipsistisch ausgeklammert, blieben der egalitär kommunikative Verständigungsaspekt und die dialogische Ethik des Diskurses, obzwar beide schon in Platons sokratischen Dialogen, auch durch deren dialogische Gestaltung208 angelegt oder unterstellt sind. Maßgeblich dafür war die ontologische, und zwar ideentheoretische Überformung der freien Verständigung unter Gleichberechtigten und ihrer gemeinsamen moralischen Basis als Dialogpartner: Der Seinstheologe Platon verdrängte den Dialog zunehmend durch eine spekulative Wesensschau, die theoria. Ineins damit überformte und verdrängte er den, in der „Apologie“ und den Dialogen „Kriton“, „Gorgias“ und „Thrasymachos“ spürbaren Ansatz einer Moralbegründung durch dialogische Besinnung auf normative Orientierungen, die ein Dialogteilnehmer in Anspruch nehmen muß, wie Gerechtigkeit als Anerkenntnis der Gleichberechtigung bei der Wahrheitssuche.209 Platon zwängte den Sokratischen Richtungsstoß zu einem Denken aus dem Dialog in den undialogischen Rahmen einer Seinsschau – einer geistigen Schau des Ganzen und seines Urgrundes. Diesen bestimmte er als das ewig in sich ruhende Gute und Eine. Den Diskursansatz des Sokrates, dessen konsequente Durch- und reflexive Weiterführung ein Denken jenseits einer uneinholbaren Metaphysik erlaubt hätte, ersetzte Platon durch eine spekulative Kosmostheologie. Das ontologische Paradigma der antiken theoria ist in der Neuzeit kraft eines Reflexionsfortschritts von dem subjektphilosophischen bzw. mentalistischen Paradigma der Bewußtseins- und Transzendentalphilosophie abgelöst worden. Nun fragte die Philosophie nach Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis. Diese neue, von Kant „transzendental“ genannte Fragestellung weist jedoch über den Rahmen des Bewußtseins oder subjektiven Geistes (mens) hinaus auf eine sprachlich erschlossene Welt (Humboldt, Wittgenstein und Heidegger) und auf das Selbstverhältnis des Erkenntnissubjekts, welches nicht prinzipiell 207 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (A S.XI f; B S.697, S.767 f, S.779f.) Vgl. zur literarischen Form des philosophischen Dialogs: V. Hösle, Der philosophische Dialog, München 2006. 209 Zur impliziten Sprach- und Dialogethik bei dem (noch) sokratisch orientierten Platon: V. Hösle, Wahrheit und Geschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1984, 314-359. 208 163 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 einsam sondern ein Verhältnis des Dialogs ist. Nur als leibhafter, daher ‚interessierter’ Teilhaber an einer (bereits Sinn erschlossen habenden) Welt kann ein Bewußtsein überhaupt Perspektiven entwickeln und selber Sinn ‚haben‘, so daß es Bewußtsein von etwas als etwas wird: verständliche Intentionalität, handlungsleitendes Interesse, motivierender Wert. Keinerlei Interesse an etwas und kein Verstehen von etwas als etwas Bestimmtem ohne das „Leibapriori“ einer Sprach- und Handlungsgemeinschaft als realer Kommunikationsgemeinschaft.210 Das ist die eine Seite von Apels zwiefältigem „Apriori der Kommunikationsgemeinschaft“; sie schließt zumal an die transzendentalen Einsichten der sprachhermeneutischen Tradition zwischen dem römisch-italienischen rhetorischen Humanismus und der Linie Humboldt – Dilthey – Heidegger – Gadamer an. Es kommt hinzu, daß ein Denkender sein Gedachtes nicht etwa als ein absolut einsames Subjekt – ein pures „Ich denke“ – geltend machen kann, sondern allererst als Kommunikationsteilnehmer: als „Ich behaupte euch gegenüber“, d.h. in einem dialogischen Verhältnis zu realen Adressaten und zu möglichen Diskursteilnehmern. Denn immer dann, wenn ‚ich‘ einen Gedanken als richtige Antwort auf ..., als zutreffende Beschreibung von ... ansehe, dann habe ‚ich’ diesen damit implizit gegenüber all denen als gültig behauptet, die ‚meinen’ Gedanken würden prüfen und ihm würden zustimmen bzw. ihn kritisieren können. Insofern hat sich das, empirisch vielleicht nur im Selbstgespräch denkende, Erkenntnissubjekt auch auf eine „ideale Kommunikationsgemeinschaft“ (Apel) bezogen. Daraus ergibt sich die dialektische Aufhebung des Ansatzes bei einem methodisch solitären Vernunftsubjekt in das Konzept des argumentativen Dialogpartners. Das rekonstruktive Konzept eines zwiefältigen Aprioris der Kommunikationsgemeinschaft, von Apel als Kernstück einer sprach-, leib- und diskursbezogenen „Transformation der [sprach-, leib- und daher z.T. auch dialogvergessenen] Philosophie“ eingeführt, läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die transzendentalpragmatische Dialektik diskurspragmatisch expliziert211 210 Vgl. M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, bes. Kap. VI. Der Leib als Ausdruck und die Sprache, S.207 ff.; dazu A. Podlech, Der Leib als Weise des In-der-Welt-seins, Bonn 1956. Vgl. auch K.-O. Apel, Transformationen (Anm. 15), Bd. 1: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik, S.25 und S.96-100, S.111 ff.; ders., Das Leibapriori der Erkenntnis. Eine erkenntnisanthropologische Betrachtung im Anschluß an Leibnizens Monaden-Lehre, in: Archiv für Philosophie 12 (1963), S. 152-172. In Auseinandersetzung mit Karl Marx und Ludwig Feuerbach: D. Böhler, Metakritik der Marxschen Ideologiekritik. Prolegomenon zu einer reflektierten Ideologiekritik und Theorie-Praxis-Vermittlung. Frankfurt a. M. 11971, 2. korr. Aufl. 1972. S.93-102, S.255-268 und S.200-217. 211 Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Bd. II, Frankfurt a.M. 1973, bes. S.423-435. 164 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Wenn du zurückgehst auf dich als Denkenden/Sprechenden bzw. Diskurspartner, erkennst du in deinem Gedachten/Gesagten, da du geltend machst/implizit behauptest, zugleich partikulare Bedingtheiten (a) und universal Gültiges/Verbindliches (b). 1. Reale Kommunikations- und Praxisgemeinschaft Sinnkonstitution (W. v. Humboldt: „Weltsicht“) durch Sprache als geschichtlich vorgebildetem aber stets bildsamem Sinnhorizont und partikulare Praxisperspektive durch Selbstbehauptungsinteressen (a) versus argumentativer Diskurs als kommunikativer Metainstitution, welche Begründung und Verständigung gemäß vorgängiger Geltungsansprüche und Dialogversprechen ermöglicht (b). (a) Geschichtliche Situierung in einer partikularen „Lebenswelt“ (Husserl, Heidegger, Wittgenstein) samt „Geworfenheit“ (Heidegger) in vorgegebene Ausgangsbedingungen des Daseins mit dem basalen Interesse an Daseins- bzw. Selbsterhaltung samt Tendenz zu strategischer Durchsetzung und mit der einschränkenden Perspektivität des Etwas-vor-einem-bestimmten Erfahrungs- und Bewertungshintergrundes- Wahrnehmens und Verstehens. (b) Tendenz zur Transzendierung von (a) durch Reflexion und argumentative Diskurse: Schon eine Sinnverständigung (auch als Konkretion des Sinnhorizonts einer Sprache) schließt Ansprüche auf virtuell universale Geltung ein: auf Verständlichkeit der Rede, Wahrhaftigkeit der Absicht, Wahrheit der Beschreibung und moralische Richtigkeit der Aufforderung/Norm. Werden diese Ansprüche nicht mehr bloß als eingelöst (bzw. als von Institutionen garantiert) unterstellt, sondern auchproblematisiert, was seit der „Achsenzeit“ (Karl Jaspers) der Hochkulturen212 zunehmend der Fall ist, dann nimmt die lebensweltliche Verständigung die kritische und begründende Form des argumentativen Diskurses (Habermas) an.213 212 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Frankfurt a.M. 1955, bes. Kap. 1 und 5. Jürgen Habermas, Was heißt Universalpragmatik? In: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1984, S. 353 ff., bes.S. 353-358, S.404-423. 213 165 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 2. Ideale Kommunikationsgemeinschaft Kraft jener Geltungsansprüche sind Menschen virtuelle Diskurspartner und damit Mitglieder einer idealen Kommunikationsgemeinschaft, in der nur sinnvolle Argumente zählen, und in der jedes sinnvolle Argument zur Sache aufgesucht und geprüft würde. Einlösbar sind Geltungsansprüche durch oder in bezug auf Argumente; und zwar bei Erfüllung einer Reihe von vorgängigen Dialogversprechen, die man bereits durch Übernahme der Rolle eines Diskurspartners implizit abgegeben hat; z.B. das Versprechen – der Beachtung der Instanz einer unbegrenzten, strikten Argumentationsgemeinschaft als Geltungsinstanz aller faktischen Kommunikationsbeiträge und – der gegenseitigen Anerkennung als gleichberechtigter Mitglieder einer Argumentationsgemeinschaft, d.h. als Geltungsansprucherheber oder –prüfer mit Anspruch auf Achtung ihrer Menschenwürde. Aus der Dialektik von (1) und (2) lassen sich zwei grundlegende regulative Prinzipien für eine langfristige moralische Handlungsstrategie jedes Menschen, jeder Institution etc. ableiten: In allem Tun und Lassen soll es darum gehen, 1. das Überleben der menschlichen Gattung als der realen Kommunikationsgemeinschaft sicherzustellen und 2. in der realen Kommunikationsgemeinschaft solche Verhältnisse anzustreben, die denen einer idealen möglichst nahekommen, also dialogische Verhältnisse unter gleichberechtigten und möglichst solidarisch mitverantwortlichen Partnern. Die Rede von Approximation oder gar von Verwirklichung ist hier jedoch mißverständlich, weil sie aus der Geltungslogik in die Utopie springt (als könne der utopische Zustand einer idealen Kommunikationsgemeinschaft ein Handlungsziel sein). Das wäre unvereinbar mit dem Sinn einer „regulativen Idee“ als einer Geltungs- bzw. Diskursperspektive und eines Metakriteriums der Gültigkeit von Diskursbeiträgen. Wir „verwirklichen“ jedoch die Idee der idealen Argumentationsgemeinschaft jetzt und hier im Diskurs insoweit, als wir die Rolle des Diskurspartners ausfüllen und als es uns einzig um sinnvolle, geltungsfähige Argumente zur Sache geht. Und wir werden dieser Idee in der Praxis insoweit gerecht, als wir solche Beratungs-, Anerkennungs- und 166 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Entscheidungsverhältnisse bewahren, entwickeln oder erst herbeiführen, die ihrem dialogischen Sinn möglichst entsprechen. Fassen wir diesen Punkt zusammen: Das Konzept der idealen Kommunikations-gemeinschaft ist eine regulative Idee, die als Geltungsidee eine indirekte Orientierung für das Handeln, nämlich als letzthinnige Richtungsbestimmung gibt. Das, was zu ihrer Befolgung unabdingbar nötig ist, erschließt sich durch eine aktuelle Reflexion im Diskurs auf den Diskurs. Und was ist – geltungslogisch und moralisch – absolut erforderlich? Jeweils unsere Bemühung, vier Geltungsansprüche und die damit verwobenen Dialogversprechen einzulösen. Es sind die folgenden: 167 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Sinnbedingungen eines Dialogbeitrags als Normen der Diskurspartnerrolle und Elemente des Diskursprinzips. Diskurspragmatisch sinnvoll, d.h. diskutierbar als Beitrag zu einem argumentativen Dialog, ist eine Rede, ein Gedanke als Versuch der Einlösung bzw. Erfüllung von vier Geltungsansprüchen (a): einlösbar durch: Selbstverantwortung Selbst- und Mitverantwortung erfüllbar durch: Selbstverantwortung Selbstund Mitverantwortung a1) Anspruch auf Verständlichkeit der Redehandlungen (R) als Nachvollziehbarkeit ihres Sinns mit Widerspruchsfreiheit des propositionalen Gehalts (P) als P, als Teil von R und von R als Diskursbeitrag (Voraussetzung für Andere, mit dem Sprecher (S) über R kommunizieren zu können), a2) Anspruch auf Wahrhaftigkeit der Sprecherintention samt Glaubwürdigkeit der Diskursbereitschaft (Voraussetzung für Andere, mit S über R kommunizieren zu wollen, sich auf R einlassen zu können), a3) Anspruch auf Wahrheit bzw. Wahrheitsfähigkeit meiner Proposition, so daß sie im Diskurs ernsthaft (s.o.: a2) vorgebracht und intersubjektiv geprüft werden kann, a4) Anspruch auf Legitimität bzw. Richtigkeit von Normen und Handlungsweisen (auch ‚meiner’ in der Diskussion), woraufhin sie im Diskurs geprüft werden können; konstitutive Bedingung für Kommunikation überhaupt teils konstitutive Bedingung, teils regulative Idee mit konstitutiver Funktion für Dialoge und Kooperationen und sechs vorgängigen Dialogversprechen (b): Sinngeltung b1) sich den Anderen mit prüfbaren Diskursbeiträgen als autonomer Diskurspartner zur Verfügung zu stellen, also sich um widerspruchsfreie und sachlich wahrheitsfähige Dialogbeiträge zu bemühen, b2) die nicht begrenzbare Gemeinschaft aller möglichen Anspruchssubjekte, mithin das Universum der sinnvollen Argumente bzw. der sinnvoll argumentierbaren Lebensansprüche als letzte Sinn- und Gültigkeitsinstanz, (selbst- und ergebniskritisch) zu berücksichtigen, also auch nach möglichen besseren Argumenten zu suchen, b3) allen Anderen gleiche Rechte als möglicher Dialogpartner zuzuerkennen und ihre Würde zu achten: Diskursgerechtigkeit (mit Fairneß) und Menschenwürde, b4) mitverantwortlich zu sein für den Diskurs (als Möglichkeit der Verantwortung, jetzt und in Zukunft, also auch für die (in konkreten, falliblen Diskursen zu ermittelnden) menschen-rechtlichen, ökologischen, sozialen und kulturellen Realisierungsbedingungen öffentlicher Diskurse, b5) die Fallibilität von Situationsanalysen und situationsbezogenen Diskursen zu berücksichtigen, also deren Ergebnisse revisionsfähig zu halten und keine irreversiblen Handlungsweisen zu empfehlen, deren Folgen mit (b1) bis (b4) unverträglich sein können, b6) auch in diesem Sinne (b5) mitverantwortlich zu sein für die tendenzielle Umsetzung der Diskursergebnisse in die alltagsweltlichen und gesellschaftlichen Praxisfelder. diskursbezoge ne regulative Ideen mit konstitutiver Funktion für Dialoge und Kooperationen 168 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Kehren wir zurück zu unserer Skizze der Philosophiegeschichte! Unsere entwicklungslogische Interpretation von Haupttendenzen bzw. Paradigmen der Philosophie in ihrer Geschichte – nämlich Sein versus Subjekt versus Sprache und argumentativer Diskurs – legt sich nach der sprachpragmatischen Wende nahe und erfährt heute mehr und mehr Zustimmung, so daß sie in unterschiedlichen Varianten vertreten wird.214 Die diskurspragmatische Version sieht folgendermaßen aus: 214 Als partes pro toto: E. Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt a. M. 1976; E. Tugendhat u. U. Wolf, Logisch semantische Propädeutik, Stuttgart 1983, 8 f., 17 ff. u. ö.; H. Schnädelbach, Philosophie, in: E. Martens u. H. Schnädelbach (Hg.), Philosophie. Ein Grundkurs, Bd. 1, Reinbek 1991, 37-76; T. Lücke, Mit skeptischen Fragen durch die Philosophiegeschichte, in: H. Burckhart und H. Gronke (Hg.), Philosophieren aus dem Diskurs (Anm. 16), 45-69. Vgl. D. Böhler, T. Nordenstam und G. Skirbekk (Hg.), Die pragmatische Wende. Sprachspielpragmatik oder Transzendentalpragmatik? Frankfurt a. M. 1986. 169 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Die drei (Haupt-) Paradigmen der Philosophiegeschichte (idealtypisch in diskurspragmatischer Sicht) Hauptepoche Klassische Antike (Platon, Aristoteles) Erkenntnishaltung/Methoden Gegenstand Schau mit Analyse (der Das „Sein“ (Seiendes als Strukturen des Seienden): Wesenheit/Substanz/Idee und theoria im Ganzen bzw. Kosmos) Das vom „Subjekt“ Erkennbare und das Subjekt als Neuzeit (seit Descartes) Reflexion (auf das Subjekt) Erkenntnisinstanz mit transzendentaler Erkenntnisanalyse Kant: Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung/Erkenntnis Sprache/Handlung und kontextualistische Praxis- Erkenntnissubjekt/Sprecher in Moderne (seit W.v. oder Diskurs-Rekonstruktion Sinnwelt als Humboldt, Ch. S. versus realer Kommunikations- Peirce, Heidegger u. transzendentalpragmatische gemeinschaft (KG) und in Wittgenstein II) Rekonstruktion und bezug auf das Reflexion Diskursuniversum bzw. die ideale KG Die Interpretation der Philosophiegeschichte im Sinne einer Sukzession von drei Paradigmen, von denen das je folgende den Anspruch erhebt, das voraufgegangene dialektisch „aufheben“ (Hegel), eröffnet eine entwicklungslogische Sicht und Beurteilung des Labyrinths, das wir „Philosophiegeschichte“ nennen. Diese Sicht- und Beurteilungsweise hat die normative, moralphilosophisch aufgeladene Pointe, welche die Grundlagen der Theoretischen und der Praktischen Philosophie, die theoretische Vernunft und die praktische, miteinander verbindet, 170 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 so nämlich, daß wir überhaupt die Befugnis erlangen von der Philosophie als Disziplin im Singular zu sprechen – und auch von Vernunft als einer Kompetenz, zugleich des Erkennens wie auch des Beurteilens und Orientierens. Wenn es eine Entwicklungslinie der Philosophie gibt, und wenn das Zu-sich-selbst-Kommen der Vernunft in ihrer Selbsterkenntnis als Vermögen des argumentativen Dialogs besteht, dann trifft sich unsere entwicklungslogische Interpretation der Philosophie als sich aufstufender Disziplin der Vernunft mit der von Lawrence Kohlberg erarbeiteten kognitivistischen Entwicklungslogik des moralischen Urteils.215 Denn in der Auseinandersetzung zwischen Kohlberg und Habermas sowie Apel hat sich gezeigt, daß das ausdifferenzierte moralische Urteil den kommunikativen Diskurs und dessen Prinzip voraussetzt: die verallgemeinerbare Gegenseitigkeit.216 Dazu gleich. 215 L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt a. M. 1974; ders., Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt a. M. 1996. Dazu: D. Garz, Lawrence Kohlberg zur Einführung, Hamburg 1996. 216 J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt a. M. 1976, S.63-91; ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983, S.127-206; ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991, bes. S. 92 ff.; K.-O. Apel, Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen des moralischen Bewußtseins, in: Funkkolleg Studientexte (Vgl. Anm. 6), (Erstausgabe als „Studienbegleitbrief 1“ im Jahre 1980), hier S.59-65, vgl. S.53 ff. und S.66153; D. Böhler, Verbindlichkeit (Vgl. Anm. 24) Kap. I.2. 171 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 3 11.12.2009 Woher wir kommen: Biblisches Dialog- und Moral-Erbe, Erblasten der theoriaTradition Es ist frappant, wird aber von den Philosophen so gut wie nicht bedacht, daß es zu dem Paradigma der Kommunikation bzw. des Dialogs, in welches die Entwicklung der Philosophie zu münden scheint, schon in der Achsenzeit zwei entscheidende Anstöße gegeben hat: nicht allein den Sokratischen, der sogleich von der griechischen theoria-Tradition und Kosmosmetaphysik abgefangen wurde, sondern den hebräischen biblischen des Sinai-Bundes zwischen Israel und einem Gott, mit dem das Volk Israel kommuniziert, so sehr, daß die biblische Religiosität geradezu auf der Kommunikation mit Gott als Bundespartner und als Inbegriff (verstehbarer) Gerechtigkeit beruht. Denn die hebräisch biblische Bundestheologie, insbesondere ihr Konzept des zwischen Gott und Israel auf dem Sinai geschlossenen Bundes (hebräisch b’rit), entwickelt eine moralische Vertrags- und Prinzipienorientierung, die das (von Kohlberg als Stufe 5 der Entwicklungslogik rekonstruierte Urteilsniveau) des Sozialvertrags zwiefach überbietet: mit ethisch universalistischer Tendenz, deren Zielpunkt die Idee der Menschenwürde, und zwar im Rahmen eine Kommunikation mit Gott, die eine zunehmende Tendenz zum argumentativen Dialog aufweist. Beides sowohl in der biblischen Überlieferung vom NoahBund Gottes mit der Menschheit und deren rechtsethischer Entfaltung im Talmud als auch in den biblischen Überlieferungen vom Sinaibund zwischen dem einen Gott und Israel. Erstens wird der Verpflichtungsgehalt des Sinaibundes durch das Gebot der Nächstenliebe und Fremdlingsliebe ins Universale geweitet.217 Nicht eine Nutzenerwartung bzw. eine utilitaristische Binnenmoral bestimmt in der Bundestheologie das, was gilt, sondern eine intrinsisch moralische Orientierung. Hermann Cohen hat sie überzeugend herausgearbeitet.218 Dabei hat er gezeigt, daß der Monotheismus die – jedenfalls entwicklungslogische – Basis einer universalistischen Ethik ist, die allererst zur Anerkennung aller Menschen als Ebenbilder des Schöpfers verpflichtet und dazu überhaupt verpflichten kann.219 Zweitens: Es ist die besagte innermoralische Orientierung, die zum Abschluß bzw. zum Einhalten des Bundes mit dem Gott motiviert, der einsehbar gerechte, folglich den Gerechten und Weisen erfreuende Weisungen gibt: 1. Mose 1,27 und 9,5f; 5. Mose 10,12-21 und 32,1-4; Josua 24; Micha 6,8; Psalm 119 etc. 217 So in dem priesterschriftlichen Buch Leviticus: 3. Buch Mose, 19,18 und 19,33 H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Darmstadt 1978, Kap. VIII, bes. S. 144155. 219 Ebd., S. 138 ff., 173 f., 276-284, 291-297, 468-474. 218 172 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Jedenfalls in den jüngeren, den nachexilischen Überlieferungen der Sinai-Bundestheologie, so im Deuteronomium (5. Buch Mose), im Buche Josua und in Psalm 119, wird das Moment der Einsicht und freien Anerkennung des Bundes durch Israel betont. Wenngleich die theonome Motivation, das Vertrauen auf und die Ergebenheit in die Gerechtigkeit und die gute Macht Gottes, weiterhin den Ton angibt220, wird eine gewisse autonome Motivation freigesetzt. So sehr, daß der Bund mit Gott nicht länger als Unterwerfungsvertrag, sondern als freie Übereinkunft verstanden wird und das Gottesverhältnis als Dialog mit einem absolut verläßlichen, absolut gerechten Partner. Gottes Glaubwürdigkeit ist seine erkennbare Gerechtigkeit. Das Verhältnis zu ihm soll weder eines der Unterwürfigkeit noch eines der instrumentellen Tauschgegenseitigkeit i. S. eines „do ut des“ sein. Das eine wie das andere findet im Opferkultus und in der priesterlichen Sühnetheologie Ausdruck, die im Buche Micha geradezu ad absurdum geführt werden: Micha 6, 1-8 (diese Kapitel wohl um 400 v.Chr. hinzugefügt).221 Ich gebe hier die (formgeschichtlich gegliederte) Übersetzung Helmut Utzschneiders222, deren fünftletztes Wort in Vers 8 („achtsam“) ich durch „einsichtig“ ersetzt habe. Der dramatisch Text – das von dem Opferkultus belastete Volk führt einen Rechtstreit mit Gott, der zuerst knapp auf seine geschichtlichen Heilstaten (6,3-5) verweist und dann die Quintessenz der biblisch-jüdischen Ethik zu Bewußtsein bringt – lautet demgemäß so: 6,1 Erster Auftritt: Der Prophet ruft zum Rechtsstreit Micha: (an die Leser bzw. das Publikum) 1 Hört doch, was YHWH sagt! (an YHWH) Auf, führe einen Rechtsstreit mit den Bergen, daß die Hügel deine Stimme hören! (an die Berge) 2 Hört, ihr Berge, den Rechtstreit YHWHs, und [merkt auf] ihr Grundfesten der Erde! Ja, YHWH hat einen Rechtstreit mit seinem Volk, und mit Israel wird er sich auseinandersetzen! 220 Vgl. Matthäus 22, 36-40 bzw. Markus 12, 28-31. Analoge Stellen sind: 5.Mose 10,a; 1. Samuel 15,22; Hosea 12,7 und 10,12 sowie Amos 5,24. In der JesusÜberlieferung: Matthäus 23,23 und Lukas 11,42. 222 Helmut Utzschneider, Micha. In: Züricher Bibelkommentare, Zürch 2005, S. 129 ff. 221 173 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 6,3-5 Zweiter Auftritt: Gottes Streit- und Rechtfertigungsrede YHWE: 3 Mein Volk, was habe ich dir angetan und womit habe ich dich ermüdet? Antworte mir! 4 Ja, ich habe dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt und aus dem Hause der Sklaverei habe ich dich erlöst; und ich habe dann Mose, Aaron und Mirjam vor dir her gesandt. 5 Mein Volk, erinnere dich doch: Was hat Balak, der König von Moab, beratschlagt und was hat ihm Bileam, der Sohn des Beor, geantwortet? [Erinnere dich] von Schittim bis Gilgal, damit Wissen sei um die Heilstaten YHWHs! 6,6f Dritter Auftritt: Der Vorwurf des Volkes Ein Repräsentant des Volkes: 6 Womit soll ich YHWH entgegentreten, mich beugen vor dem Gott der Höhe? Soll ich ihm mit Brandopfern entgegentreten, mit einjährigen Kälbern? 7 Wird YHWH an Tausenden von Widdern Gefallen haben, an Zehntausenden Bächen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen geben für meine Verfehlung, die Frucht meines Leibes für mein Sündenleben? 6,8 Vierter Auftritt: Bescheid für das Volk Micha: 8 Es ist dir verkündet, o Mensch, was gut ist und was YHWH von dir fordert: [nichts als] Recht üben, und Güte lieben und einsichtig wandeln mit deinem Gott. Überdies wird von dem „prophetischen Katechismus“ Micha 6,8 bis zu Hillel und Jesus den Gläubigen ein autonomes Prinzipienurteil (zumal bei Unsicherheit und in Normenkonflikten) 174 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 gewissermaßen abverlangt223; am deutlichsten, wenn Hillel und Jesus die Gesetzgebung der Thora und die Forderungen der Propheten zusammenfassen in der Goldenen Regel.224 In logischer Zuspitzung würde daraus folgen: Unabhängig davon, wie die Gebote zustande gekommen sein mögen, sie sind einsehbar gerecht; daher kann man sich auch kraft autonomer Erkenntnis ihrer Geltungsgründe, mithin wie ein freier Diskurspartner, mit den Geboten Gottes identifizieren, als habe man sie selbst gegeben. Diese Annäherung an die Kantische Autonomie hat Cohen zu Recht zum Angelpunkt seiner moralischen Rekonstruktion „der Quellen des Judentums“ gemacht.225 Die hebräisch biblische Annäherung an dialogische Autonomie wird von der christlichen Metaphysik freilich mehr oder weniger preisgegeben. Zeigt sich hier doch die starke Tendenz, das Gott-Mensch-Verhältnis weniger im Sinne einer „Korrelation“ (H. Cohen) oder gar der Reziprozität eines Bundes zu bestimmen, als vielmehr gemäß einer einsinnigen Teleologie, welche den Menschen unabhängig von seinem Willen in den Heilsplan Gottes einfügt. Damit verbindet sich eine intellektualistische, neuplatonisch subjektbezogene Perspektive, die den Menschen in einem Dualismus von Seele contra Körper zwängt, dort seine gottoffene Innerlichkeit ansiedelt und hier seine sündenträchtige Äußerlichkeit. Dieser geradezu gnostisch-manichäische Dualismus ist hoch ambivalent. Einerseits setzt er eine, ganz und gar unbiblische, tragische Leibfeindschaft frei, andererseits ermöglicht er die Entdeckung der Innerlichkeit des Menschen und seines Subjektcharakters, mithin einer Sphäre, die vom Begriff der Autonomie vorausgesetzt ist, in der hebräisch biblischen Tradition aber kaum eine Rolle spielt. Klassiker dieses Dualismus und jener heilsgeschichtlichen Teleologie ist Aurelius Augustinus (354 – 430), der Denkfiguren des Manichäismus und Neuplatonismus samt einem quasi-aristotelischen Telosbegriff im Christentum verankert, zu dem er sich schließlich bekehrt hat. Sein entjudaisiertes Christentum ist von dem hebräisch geschichtlichen Denken des Bundesvolkes, welches in Kommunikation mit seinem Gerechtigkeits-Gott wandeln wollte226, und von dem biblischen Liebesbegriff, der die Achtung aller Menschen als 223 Dazu D. Flusser, Jesus, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 68 ff., bes. S.73-78. Matthäus 7, 12 bzw. Lukas 6, 31; vgl. Römerbrief 13, S.8-20. 225 H. Cohen, Religion (Vgl. Anm. 32), bes. S. 218 f., 377, 395, 401 f.. vgl. S. 235 f., 276 f., 308. 226 Vgl. die Sinaiüberlieferung der Bundestheologie, den prophetischen Katechismus Micha 6,8 und dessen Anverwandlung durch Jesus: Matthäus 23,23 und Lukas 11,42; schließlich die moralische bzw. liebesethische Korrelation von Mensch und Gott in Lukas 6,36 und Matthäus 5,48; aber auch die Gleichsetzung des Sinaigesetzes (Thora) und der prophetischen Ethik mit der „Goldenen Regel“ in Matthäus 7,12 und Lukas 6,31. 224 175 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Ebenbilder Gottes einschließt227, kaum weniger weit entfernt, als der neuplatonische und gar der manichäische Dualismus. Selbst die, von Hannah Arendt hervorgehobene, christliche Errungenschaft seines Denkens, der Liebesbegriff,228 ist entleiblicht. So zwingt Augustinus das Liebesvermögen in den Dualismus Seele contra Körperlichkeit, eine Welt ersehnend, in der die Menschen auf den Beischlaf verzichteten229. An die Stelle der biblischen Korrelation von Gott und Volk Gottes – „ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott“ (3. Mose 19,2; vgl Matth. 5, 48) – setzt er eine heilsgeschichtliche Teleologie. Diese verlangt, Gott als den einzigen, daher vollkommen zu liebenden Selbstzweck anzusehen, die Welt und alle Menschen aber als Mittel – im Dienst der ‚Liebe’ zu Gott. Dadurch werden freilich die Menschheit, die Natur und die Kultur eines eigenständigen Wertes beraubt, sie gelten bloß als Mittel. Daher gibt es weder für Naturethik einen Boden, noch für eine Moral der Menschenwürde. Da Gott der einzige Selbstzweck ist und es einzig ihn zu lieben gilt, ist es recht, wenn mit den Menschen und der Welt als mit bloßen Mitteln verfahren wird. Eine absolute moralische Grenze gibt es nicht, ‚Menschenwürde’ kann in diesem Rahmen nicht gedacht werden. Der Abweg zu einem heilsgeschichtlichen Totalitarismus öffnet sich. Und in der Tat: Der Kirchenpolitiker Augustinus hat ihm letztlich nicht widerstanden. Als die moralisch rigorose, tendenziell sozialrevolutionäre nordafrikanische Mehrheitsgemeinde um den Bischof Donatus das Märtyrertum und das heiligmäßige Leben gegen die junge katholische Staatskirche und das christianisierte Kaisertum zu unumstößlichen Kriterien erhob und die Katholiken als frevelhafte Gemeinschaft angriff, verfuhr Augustinus zweideutig. Einerseits protestierte er gegen die Todesstrafe, die der römische Staat über die Donatisten verhängte und engagierte sich unermüdlich in Diskussionen und Verhandlungen mit ihnen.230 Andererseits machte er den wahren Glauben abhängig von der disciplina catholica und ihren Institutionen231, und er dachte nicht daran, die kaiserlichen Religionsgesetze oder auch nur die 405 von Kaiser Honorius befohlene zwangsweise Katholisierung der Donatisten zu kritisieren. Ketzer sind zu verfolgen.232 Augustinus versteht es, die staatlichen Gewaltmaßnahmen in Religions- und Gewissensdingen mit dem christlichen Liebesgebot zusammenzuzwingen, indem er – wir sehen, daß nicht ein 227 Vgl. 1. Mose 1,26-28 und 9,5 f. (ff.), dann z. B. die Jesus-Worte Markus 12,28-31, Matthäus 22,35-40, Lukas 10,25-37 sowie Matthäus 23,23, Lukas 11,42 und Matthäus 5,43-48, Lukas 6,27-36 sowie die vierte Bitte des Vaterunsers: Matthäus 6,12 / Lukas 11,4. 228 H. Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, Berlin 2003 (Diss. von 1928). Nachdruck: L. Lütkehaus (Hg.), Berlin/Wien 2003. Dies., Vita Activa (Vgl.Anm. 9), S.52 f.; dies., Vom Leben des Geistes (Vgl. Anm. 9), 329 f., 336 ff. 229 Dazu: K. Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980. (zit. als Augustin) 230 Vgl. H. Fr. von Campenhausen, Lateinische Kirchenväter, Stuttgart 1960, bes. S. 185-193. 231 K. Flasch, Augstin., S. 160. 232 Vgl. H. Fr. von Campenhausen, op.cit., S. 191-194. 176 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 argumentativer Diskurs mit Achtung der Meinungsfreiheit und Menschenwürde, sondern ein um das Seelenheil besorgter Großinquisitor die Leitidee bildet – die kirchliche Heilsfürsorge tendenziell mit christlicher Liebe gleichsetzt. Das Interesse an einer, nicht durch unbedingte moralische Normen wie die der zu achtenden Menschenwürde und Gewissensfreiheit eingegrenzten, kirchlichen Heilsfürsorge läßt ihn voraussetzen, daß sich jede Liebe auf das schlechthin und wahre Gute richte, auf Gott. Nur wisse das die alltägliche Liebe nicht. Daraus leitet er eine Maxime ab, die die Autonomie des moralischen Urteils einklammert und der Fremdbestimmung einer christianisierten Teleologie unterwirft: „contra voluntatem tuam sed propter salutem tuam“233 – verhängnisvoll für die katholische Praxis, zerstörerisch für die Sinnbedingungen eines realen praktischen Diskurses. Im Sinne dieser Maxime konnten Lehre und Praxis der katholischen Kirche autoritär werden. Schlägt hier doch die „Liebes- und Gesinnungsethik um in die Rechtfertigung von Gewalt“, wie Kurt Flasch pointiert.234 Wenn nämlich den Betroffenen nicht zugetraut wird, zu erkennen, worauf sich ihre Intention eigentlich richtet, wohl aber Augustinus selbst sich dieses Zielwissen zuschreibt und in der Heilsinstitution Kirche verankert, dann bedarf es eigentlich keines Diskurses mit den Menschen mehr sondern nur eines solchen über sie und der Etablierung einer Sanktionsmacht für den (unterstellten) Regelfall: Sie verhalten sich ihrem Willen entsprechend aber in Widerspruch zur Liebe zu Gott. In der weit gespannten Wirkungsgeschichte Augustins leidet der Diskursgedanke zudem unter der unklaren und inkohärenten Weise, in der der christliche Philosoph die Dialektik Ciceros mit einem neuplatonischen Dualismus und Spiritualismus verbindet. Die christliche Philosophie der Scholastik nimmt ebensowenig wie Augustinus, den dialogischen, leibfreundlichen und geschichtsbezogenen Grundton der hebräischen Bibel auf – schon vor Augustinus war so gut wie kein Kirchenlehrer überhaupt des Hebräischen mächtig –, und auch die sokratische Diskursorientierung spielt hier keine zentrale Rolle, wenngleich die Scholastik eine universitäre Diskussions- und apologetische Streitkultur entwickelt. Leitend ist die theoria-Tradition mit aristotelischen Ober- und neuplatonischen Unterströmen. Sie durchherrscht zumal die Erkenntnisauffassung der Scholastik. Deren „Vater“, der Benediktiner Anselm v. Canterbury (1033 bis 1109), gab die Melodie vor. Mit Bezug auf die Paulinische Entgegensetzung einer bloß stückweisen, spiegel- und 233 Augustinus, Epistulae CLXXIII 4, in: Migne, Petrologiae Cursus Completus, Series Latina, Bd. 33, Paris 1861/62, S.803. Zur Sache die vorzügliche Analyse von Kurt Flasch, Augustin 1980, 164-172. 234 K. Flasch, Augustin, S. 165. 177 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 rätselähnlichen Welterkenntnis zu der himmlischen Schau „von Angesicht zu Angesicht“235 erneuerte er den neuplatonischen Begriff von Intuition als unmittelbarer Erkenntnis Gottes und stellte sie der Erkenntnis endlicher Dinge gegenüber.236 Auf dem Höhepunkt der Scholastik versteht Thomas von Aquin (1225 bis 1274) nicht allein die schauende Vernunft sondern auch den diskursiven Verstand als ein kommunikationsunabhängiges Vermögen. Entweder erkenne der Mensch „discursive“ oder „simplici intuitu“237; beide Modi, so unterstellt er, seien akommunikativ und prinzipiell einsam realisierbar. Dazu passend, vermittelt er einen bis heute, etwa vom kritischen Rationalismus Karl R. Poppers und vom Hauptstrom der analytischen Philosophie238, bewahrten Kern der alteuropäischen Erkenntnis- und Sprachauffassung: Das Wesen der Erkenntnis (gleichviel ob man ihr einen intuitiven oder diskursiven Vollzug zuschreibt) liege im semantischen Aspekt des Logos, der „Aussage“ über Sachverhalte und der schlußfolgernden Verknüpfung von „Aussagen“. Demgegenüber habe der kommunikative (bzw. virtuell kommunikative) Aspekt des Logos, die pragmatische Dimension der Verständigung mit anderen über den Sinn und die Geltung von Aussagen, keine erkenntnis- und geltungskonstitutive, sondern nur eine instrumentelle Funktion. Eine solche instrumentalistische Pragmatik setzt die Möglichkeit eines kommunikationsunabhängigen Habens von Sinn und Bedeutung ebenso voraus wie die Möglichkeit einer konsensunabhängigen Wahrheit – und damit den methodischen Solipsismus. So kann man, wie etwa Bocheński pointierte, durchaus „eine sozusagen individuelle Wissenschaft (denken), die von einem einzigen Menschen aufgebaut und nur von ihm gekannt wäre“.239 Noch jüngste erkenntnistheoretisch orientierte Argumentationstheorien berufen sich einzig und allein auf eine „semantische Wahrheitstheorie“. Sie machen die Gültigkeit einer Argumentation von „konsensunabhängigen sekundären Wahrheitskriterien“ abhängig und sehen den „Sinn von Wahrheit [...] nicht [in der] Übereinstimmung mit anderen Personen, sondern [in der] Orientierung in der Welt.“240 Die Hintergrundsphilosophie des traditionellen Schemas „diskursiv versus intuitiv“, die den Diskurs nicht auf eine Gemeinschaft von Argumentierenden bezieht, sondern ihn als 235 1. Kor. 13,12. Anselm, Monologium LXVI; vgl. C. Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande, 4 Bde., Leipzig 1855-1870, Neudruck Darmstadt 1957, Bd. III, S.332 u. S.746 Anm. 237 Th. v. Aquin, Summa theologica II. II, 180, 6 ad 2, zit. nach R. Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe I, Berlin 1927, S.286, Artikel „discursiv“. 238 Vgl. K.-O. Apel, Transformation (Anm. 15), Bd. 2, 326 ff.; ders., Die Logos-Auszeichnung der menschlichen Sprache. Die philosophische Relevanz der Sprechakttheorie, in: H.-G. Bosshardt (Hg.), Perspektiven auf Sprache, Berlin/New York 1986, 45-87. 239 I. M. T. Bocheński, Die zeitgenössischen Denkmethoden, München 31965, S.19. 240 C. Lumer, Argumentation/Argumentationstheorie, in: H. J. Sandkühler (Hg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 1, Hamburg 1990, S.246 ff. 236 178 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 bloßes Resultat monologischen Schließens ansieht, hat das Diskursverständnis nachhaltig bestimmt – ebenso wie die von Thomas fortgeschriebene neuplatonische Auffassung der Reflexion als einer kommunikationsunabhängigen Intuition. Für eine systematische Reflexion auf kommunikative Grundbedingungen der Argumentation (als Erhebung und dialogische Prüfung von Geltungsansprüchen) bietet der alteuropäische Denkrahmen keinen Raum. Weil Sprache nur zur nachträglichen Bezeichnung des vorsprachlich Erkannten nötig sei, galt Erkenntnis als im Grunde akommunikativ – sei es als Vorgang des „discursiven“ Verstandes, sei es (auf der Linie Augustinus-Descartes-Idealismus-Husserl) als primär intuitives Reflexions- und Zweifelsverfahren, dem eigentlichen Geschäft der Vernunft. Die traditionsbeherrschende Bezeichnungstheorie der Sprache erscheint dem „geradeausblickenden“ natürlichen Bewußtsein so plausibel, daß Karl-Otto Apel sie geradezu als „Commonsense-Auffassung der Sprache“241 charakterisieren kann. Es ist kein Zufall, Auseinandersetzung mit daß sich der aktuelle der hermeneutischen philosophische und analytischen Diskursbegriff Philosophie, in den „komplementären Spielarten der linguistischen Wende“242 und dem transzendentalsemiotisch orientierten Pragmatismus von Charles Sanders Peirce243 herausgebildet hat – ursprünglich aber aus dem nonmetaphysischen Ursprung der antiken Metaphysik: dem Sokratischen Dialog.244 241 K.-O. Apel, Transformation (Anm. 15), Bd. 2, S.334 ff. J. Habermas, Hermeneutische und analytische Philosophie. Zwei komplementäre Spielarten der linguistischen Wende, in: ders., Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt a. M., 1999, S.65-101. 243 K.-O. Apel, Einführung: Peirce’s Denkweg vom Pragmatismus zum Pragmatizismus, in: ders. (Hg.), Charles Sanders Peirce, Schriften, Bd. II, Frankfurt a. M. 1970, S.11-211; ders., Von Kant zu Peirce: Die semiotische Transformation der transzendentalen Logik, in: ders., Transformation (Anm. 15), Bd. 2, S.157-177; ders., Szientismus oder transzendentale Hermeneutik? Zur Frage nach dem Subjekt der Zeicheninterpretation in der Semiotik des Pragmatismus, ebd., S.178-219. 244 K.-O. Apel, Das Sokratische Gespräch und die gegenwärtige Transformation der Philosophie, in: D. Krohn, D. Horster, J. Heinen-Tenrich (Hg.), Das Sokratische Gespräch – Ein Symposion, Hamburg,S. 55-77. D. Böhler, Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und Praxis, in: Funkkolleg Studientexte (Anm. 6), Bd. 2, S.313-355, bes. S.328 ff, S.339 ff.; H. Gronke, Die Grundlagen der Diskursethik und ihre Anwendung im sokratischen Gespräch. Ein unvollendeter Klärungsversuch zum Verhältnis von Philosophie, Philosophiedidaktik und Praxis, in: D. Krohn, B. Neißer, N. Walter (Hg.): Diskurstheorie und Sokratisches Gespräch. Frankfurt a. M. 1996,S. 17-38; ders., Mit Ariadne im Labyrinth der Verständigung. Sokratische Argumentation und Sokratisches Analysegespräch, in: D. Krohn, B. Neißer (Hg.), Verständigung über Verständigung. Münster, 2004, S.12-62. 242 179 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 4 11.12.2009 Diskurs- und Moralstufen Dort, wo es zu einer kommunikationsphilosophischen Rekonstruktion der pragmatischen Dimensionen des Denkens kommt, insbesondere seit der Transzendentalpragmatik K.-O. Apels und der Formalpragmatik bzw. Diskurstheorie von J. Habermas, erscheint der argumentative Diskurs als die Existenzbasis und Realisierungsform der Vernunft.245 Das bedeutet eine Entmetaphysizierung – oder sollten wir sagen, eine Entmythisierung? – der Vernunft. Abgelöst von den uneinholbaren Glaubensannahmen der theoria-Tradition, entledigt sie sich ihrer metaphysischen Maskierung. Sie tritt nicht länger als nous (νούς) auf, als methodisch einsames Vermögen, den göttlichen Kosmos und das Ansichsein der Dinge zu erschauen. Nunmehr zeigt sie sich als die dialogförmige Praxis, Geltungsansprüche zu erheben und diese an dem ihr eigenen kommunikativ ethischen Maßstab zu prüfen: dem der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Denn eine dialogische Praxis bildet ein normativ verpflichtendes und kriterial bestimmendes Anerkennungsverhältnis. Als Diskursverhältnis von Gleichberechtigten, gehalten, den sinnvollen Argumenten zur Sache nachzugehen und das beste Argument zu suchen, ist die Vernunft moralisch geladen. Es gibt keine Vernunft, sei sie theoretisch, funktionalistisch oder ästhetisch gerichtet, die nicht in sich praktisch wäre, weil sie stets ein dialogisches Verhältnis ist. So führt die Rekonstruktion der konstitutiven Bedingungen des Argumentierens mit innerer Notwendigkeit zu einer normativen Diskursethik.246 Traditionell gesagt, besteht eine Einheit der theoretischen und der praktischen Vernunft. Wenn Vernunft nichts anderes ist als das Verhältnis und die Praxis des argumentativen Dialogs, dann ist das Vernunftkriterium nicht bloß das logisch Allgemeine, sondern auch etwas au fond Sittliches und Soziales: Gerechtigkeit als verallgemeinerbare Gegenseitigkeit. Dann ist es auch kein bloßes Kriterium der Gültigkeit, sondern ebenso eine moralische Grundnorm. Warum? Weil jeder, der nach Gültigkeit sucht, seine Glaubwürdigkeit als Diskurspartner verlöre und den möglichen Argumentationspartnern nicht die geschuldete Anerkennung gewähren könnte, wenn er die Verbindlichkeit des Diskursprinzips in Frage 245 K.-O. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in: Transformation, Bd. II (1973), S. 358-435. Ders., Studieneinheit 4 und 20, vgl. auch 1-3, in: Funkkolleg Studientexte (1984), I und II.; J. Habermas, Was heißt Universalpragmatik?, in: ders., Vorstudien (1984), S. 353-440.; D. Böhler, Studieneinheit 11 und 26, vgl. auch 12 und 13, in: Funkkolleg Studientexte (1984), II und III. Ders., R.P. (1985), bes. S. 296ff, 335ff und 359ff. 246 K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung, Frankfurt a. M. 1988 (zit.: Diskurs (1988)); ders., Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in: ders., Transformation., II (1973), S. 358435. D. Böhler, R.P. (1985); J. Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1983), S. 53-125; ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991; W. Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung (1985). 180 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 stellte, welches fordert: ›Suche einzig nach solchen Urteilen und Handlungsweisen, die selbst in einer idealen Argumentationsgemeinschaft, worin alle Stimmen zur Beurteilung der realen Situation gleichermaßen gehört worden wären, begründete Zustimmung fänden.‹ 181 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 4.1 11.12.2009 Lawrence Kohlberg und die Entwicklungslogik der ethischen Urteile In der soeben formulierten Norm der moralischen Normen, dem zugleich kriteriologischen und deontologischen Diskursprinzip, sehe ich auch die eigentliche, weil allererst konsequente Schlußpointe einer „Entwicklungslogik des moralischen Urteils“ oder sagen wir genauer: der praktischen Alltagsdiskurse. Eine solche verdanken wir dem kognitivistischen Psychologen Lawrence Kohlberg, der sie auf den Schultern Jean Piagets und mit Blick auf George Herbert Mead sowie John Dewey erarbeitet hat.247 Kohlberg hat seine Probanden, Kinder, Jugendliche und Erwachsene, zu praktischen Diskursen provoziert, indem er ihnen sittliche Dilemmata, d.h. Normenkonflikte, vorgelegt und eine begründete Lösung verlangt hat. Den Rahmen jener Dilemmata bilden vor allem zwei „entwicklungsphilosophische“ Annahmen. Von G.H. Mead entlehnt er die sozialisationstheoretische Annahme, daß die Menschen lernen, sich zur Welt in der Weise eines role taking zu verhalten und daß sie über diese, symbolisch vermittelte, Gegenseitigkeit auch ein Selbstverhältnis aufbauen: „Wir besitzen ein Selbst gerade insoweit, als wir die Einstellungen der anderen zu uns einnehmen können.“248 Die Reziprozitätsrelation gilt auch als Strukturbedingung ‚meiner’ Beurteilung praktischer Fragen und Konflikte. Darüberhinaus enthält sie – und das ist die zweite, nunmehr normativ moralische, entwicklungsphilosophische Annahme – den Kern des Beurteilungskriteriums: die Orientierung an Gegenseitigkeit als (Vor-)Verständnis von Gerechtigkeit, das sich von kruden unmittelbaren und egoistischen Formen bis zu abstrakt reflektierten und ethisch universalistischen Formen entwickele. Die Pointe von Kohlbergs Entwicklungslogik ist die stufenförmige Ausdifferenzierung und Vervollkommnung der Reziprozität als Kriterium moralischer Urteile. Methodologisch stützt sich diese Entwicklungslogik auf den hermeneutischen Zirkel zwischen philosophischem Moralbegriff und empirischen Untersuchungen, also viel eher auf Abduktion im Peirceschen Sinne denn auf Induktion.249 Das Verhältnis von idealtypischer 247 L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt a. M. 1974 (zit.: Zur kognitiven Entwicklung (1974)). Dazu: D. Garz, Lawrence Kohlberg zur Einführung, Hamburg 1996 (zit.: Kohlberg (1996)). K.-O. Apel, Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen des moralischen Bewußteins, in: Funkkolleg Studientexte (1984), I (Erstausgabe als „Studienbegleitbrief 1“ im Jahre 1980), S. 59-65, vgl. auch 66-153. 248 G. H. Mead, Die Genesis des sozialen Selbst und die soziale Kontrolle, in: ders., Philosophie der Sozialität. Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie. Hg. v. H. Kellner, Frankfurt a. M. 1969, S. 95, vgl. 84ff. Vgl. ders., Geist, Identität und Gesellschaft (1968), Kap. 9-11 und 19-25. 249 Die strukturelle Verwandtschaft des ‚Zirkels (im vorgreifenden) Verstehen’ und des abduktiven Schlusses bzw. der „Hypothesis“ bei Peirce hat Apel in seiner Peirce-Ausgabe hervorgehoben. Ders., Peirce, 182 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Rekonstruktion und empirischer Bestätigung hat Kohlberg als komplementäres Verhältnis beschrieben, das zu einer wechselseitigen Korrektur führt: „Die Wissenschaft kann überprüfen, ob die Moral, so wie sie von einem Philosophen konzipiert wurde, phänomenologisch mit den psychologischen Fakten übereinstimmt. Die Wissenschaft kann jedoch nicht so weit gehen, diese Konzeption der Moral im Hinblick darauf zu rechtfertigen, was Moral sein sollte.“250 Diesen „hermeneutischen Rekonstruktionismus“ hat Habermas als „Arbeitsteilung zwischen der rationalen Rekonstruktion moralischer Intuitionen (Philosophie) und der empirischen Analyse von Moralentwicklung (Psychologie)“ gewürdigt.251 Moralphilosophisch ist Kohlbergs Entwicklungslogik so angelegt, daß sie sich als zwanglose Verbindung der drei Hauptfragen nach der Moral bzw. nach der moralischen Diskurskompetenz interpretieren läßt. Es sind dies: die genetische Entwicklungsfrage ‚Wie wird man moralisch?’, die Erläuterungs- und Definitionsfrage ‚Was heißt moralisch bzw. moralisch zu sein?’ und die deontologische Begründungsfrage ‚Warum soll man moralisch sein bzw. sein wollen?’. Kohlberg teilt nämlich mit der Diskursphilosophie die – letztlich auf Sokrates zurückgehende – Einsicht, daß praktische Urteile mit Stellungnahmen zu sich selbst verwoben sind. Genauer gesagt: derjenige, der ein moralisches Urteil fällt, nimmt implizit noch einmal zu diesem Urteil Stellung, indem er ein Verständnis dessen ins Spiel bringt, was es heißt, moralisch zu sein: „H tun, ist moralisch, weil H den Kriterien für ‚moralisch’ entspricht, und weil wir implizit den Geltungsanspruch haben, gemäß der (von uns vorausgesetzten und für uns einsehbaren) verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit handeln zu wollen.“ Nun läßt sich die sokratische „Was-ist“-Frage nicht von der Entwicklungsfrage „Wie wird man etwas?“ abtrennen. Eine Entwicklungsgeschichte und gar eine Entwicklungslogik liefe leer, wenn sie nicht begleitet und gestützt würde von der sachlichen Bestimmung und Erläuterung dessen, was sich da entwickelt. Im Blick darauf greift Kohlberg auf Chomskys Unterscheidung von Kompetenz und Performanz und auf dessen Idee der linguistischen Kompetenz zurück. „Wir behaupten, daß die empirische Untersuchung der moralischen Entwicklung sich nicht stark von der empirischen Untersuchung der grammatischen Entwicklung unterscheidet; diese geht aus einer linguistischen Theorie grammatischer Schriften I, Entstehung des Pragmatismus, Frankfurt a. M. 1967, S. 81ff, vgl. 139ff; und: Peirce, Schriften II, Vom Pragmatismus zum Pragmatizismus, Frankfurt a. M. 1970, S. 153ff und ebenda: Vorlesung 7: Pragmatismus und Abduktion, S. 365ff. 250 L. Kohlberg, From Is to Ought: How to commit the naturalistic fallacy and get away with it in the study of moral development, in: Th. Mischel (Hg.), Cognitive Development and Epistemology, New York 1971, S. 151-235 (zit. bei D. Garz, Kohlberg (1996), S. 38). 251 J. Habermas, Moralbewußtein u. kommunikatives. Handeln (1983), S. 42. Dazu: D. Garz, Kohlberg (1996), S. 37-42 und 49ff. 183 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Kompetenz hervor, führt dann aber zurück und revidiert die formale linguistische Theorie. Dies ist eine neue Formulierung der Ansicht Sokrates’, daß man keine psychologische Antwort auf die Frage ›Wie wird Tugend erworben?‹ vor einer philosophischen Antwort auf die Frage ›Was ist Tugend?‹ geben kann.“252 Logisch geht die Erläuterungsfrage, was denn moralisch sei bzw. heiße, der Entwicklungsfrage in der Tat voraus. Und es ist jene Erläuterungsfrage, auf welche die Probanden, denen ein moralisches Dilemma aufgegeben ist, jeweils antworten, sei es auch nur implizit. Kohlbergs Entwicklungslogik ist letztlich die systematisierte Aufstufung von Antworten auf die Frage, was es heiße, moralisch zu sein. An Kant geschult, erkennt Kohlberg überdies, daß sich die Was-ist-Frage, wenn sie im Blick auf Moral gestellt wird, letztlich nur beantworten läßt, wenn man zugleich die Frage ‚Warum moralisch sein?’ beantworten kann. Als transzendental Fragender, die quaestio iuris stellender Philosoph hat Kant eine moralische Verhaltensweise als diejenige bestimmt, die „den Grund einer Verbindlichkeit“ bei sich führe.253 Eben in diesem Sinne versteht Kohlberg den Höhepunkt und das Ziel der moralischen Entwicklung als Selbsteinholung des moralischen Sollens – als autonome Einsicht des praktisch Urteilenden in die Verpflichtung zur Gegenseitigkeit, und zwar zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Philosophischer Rekonstrukteur, der sich an Sokrates, Kant und Rawls orientiert, sieht Kohlberg eine solche Begründung als die eigentlich moralische an, weil sie das Prinzipienniveau einer verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit erreicht haben würde. Eben darin erkennt er das Telos einer Entwicklungslogik des moralischen Urteils, wenngleich dieses Urteilsprinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit von den meisten Menschen offenbar nicht erreicht bzw. von den Begründungen ihrer moralischen Urteile verfehlt werde. Freilich verstand er dieses Urteilsniveau zunächst, wie Kant und Rawls, gewissermaßen im Sinne der methodisch akommunikativ denkenden Traditionslinie: als Gedankenexperiment und somit als methodisch einsame Erkenntnis eines Vernunftsubjekts, das aus kommunikativen Bezügen herausgelöst wäre. Das bleibt zu diskutieren. Den Begründungen, die Kohlbergs Probanden für die von ihnen je bevorzugte Handlungsweise zur Lösung eines Normenkonflikts – etwa in dem „Heinz-Dilemma“ – angeben, entsprechen charakteristische Gegenseitigkeits- und Gerechtigkeitsorientierungen aus der (modernen) Lebenswelt. Diese ließen sich nach „regelmäßigen Alterstrends der Entwicklung“ differenzieren und beruhten auf einer ebenfalls gestuften „kognitiven Basis“.254 In den gegebenen Urteilsbegründungen stufe sich das Niveau der Gegenseitigkeit sukzessive 252 Vgl. das Manuskript Kohlbergs: General Preface, in: Essays in moral development, 1978 (zit. bei D. Garz, Kohlberg (1996), S. 44). 253 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (zit.: GMS), Akademie-Ausgabe, S. 389. 254 L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung (1974), S. 59f. 184 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 auf: von der gleichsam asozialen, vorkonventionellen instrumentellen Gegenseitigkeit (Stufe 2), deren Ausschließlichkeit typisch für das Kleinkind ist, über die konkret konventionelle Gegenseitigkeit der Tugenderwartungen einer Primärgruppe und ihrer Autoritäten als Vorbilder (Stufe 3), die sich im Kindergarten- und Grundschulalter zu bilden pflegt, zu der abstrakt konventionellen Gegenseitigkeit der Normenerwartungen einer Sozialordnung, die um ihrer selbst anerkannt wird („law and order“ – Stufe 4). Hier und sonst besteht die stufenweise Sukzession darin, daß jede weitere Form der Gegenseitigkeit „differenzierter und verallgemeinerter als die vorausgehende ist“.255 Der Aufriß dieser Sukzession läßt sich, wenn wir verschiedene Veröffentlichungen Kohlbergs zusammenführen, in dieses Stufenschema der moralischen Urteilsentwicklung fassen: 255 Ebd., S. 100f. 185 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Ebene Basis der moralischen Wertung Entwicklungsstufen I Prämoralische und präkonventionelle Ebene Quasi physische Geschehnisse/Handlungen und Bedürfnisse 1 Orientierung an Lustgewinn oder an Bestrafung und Gehorsam 2 Naiv egoistische Orientierung an instrumenteller Gegenseitigkeit (do ut des) 1. Reifungskrise mit Regressionsrisiko II Konventionelle Ebene/Moral der Rollenkonformität Übernahme guter und richtiger Rollen, Einhalten der konventionellen Ordnungen und Erwartungen anderer 3 Orientierung an Vorbildern und konkreten Tugenden meiner Gruppe. Konformität 4 Orientierung an der Aufrechterhaltung von Recht und sozialer Ordnung um ihrer selbst willen. Rücksicht. (Übergangsstufe 4 ½) III Postkonventionelle Ebene der selbstakzeptierten moralischen Prinzipien mögliche Regressionstendenzen Entwicklungslogik hin zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit Stufen der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg 2. Reifungskrise mit Risiko von Regressionen Übereinstimmung des ‚Ich‘ mit faktisch 5 Legalistische Orientierung am Sozialvertrag i. S. des oder potentiell (→ Gedankenexperiment, Nutzens einer Gesellschaft (Gemeinwohl) Empathie) gemeinsamen Werten und 6 Orientierung am Gewissen, an gegenseitigem Ansprüchen, Grund-Rechten und Respekt/Vertrauen und an der verallgemeinerbaren Pflichten Gegenseitigkeit: idealer Rollentausch durch einsames Gedankenexperiment (z. B. kategorischer Imperativ) Frei nach: Lawrence Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt a. M. 1974, S. 60 f; ders., Moralische Entwicklung (1968), in: ders., Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt a.M. 1996, S. 7-40, hier S. 16; ders., From Is to Ought, in: Th. Mischel (Hg.), Cognitive Development and Epistemology, New York 1971, S. 151-235. Vgl. Kohlberg, Boyd u. Levine, Die Wiederkehr der sechsten Stufe: Gerechtigkeit, Wohlwollen und der Standpunkt der Moral, in: W. Edelstein u. G. Nunner-Winkler, Zur Bestimmung der Moral, Frankfurt a. M. 1986, S. 205-240, hier S. 223 f. Vgl. Kohlberg, Essays on Moral Development, Vol. I, San Francisco 1981, S. 411. 186 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Die von Kohlberg rekonstruierte Sukzession ist eine logische Abfolge, kein empirisch soziales Kontinuum, das vor Rückfällen und Abbrüchen gefeit wäre. Sie hat kritische Schwellen zu überwinden, so daß (nach Kohlberg) zumindest zwei charakteristische Reifungskrisen zur sozialen und moralischen Urteils- bzw. Diskursentwicklung gehören. Das Kleinkind hat (von Stufe 2 zu 3) die Emanzipation vom Elternhaus und den Sprung in die Sozialität mit Gleichaltrigen durchzumachen. Erfordert ist jetzt zunächst die Anerkennung gemeinschaftsbezogener Tugenden und die einvernehmliche Erfüllung von Erwartungen anderer (Autoritätspersonen, Gleichaltrige): Stufe 3. Für die Heranwachsenden ist hingegen eine Krise infolge allseitiger Relativierung typisch; ein Anspruch auf Urteilsautonomie und das Bedürfnis nach (mehr oder weniger) allgemeinen Werten bzw. Normen treten in den Vordergrund. Sie können aber nicht ohne weiteres erfüllt werden, sondern changieren im Zwielicht relativistischer Stimmungen. Im günstigen Falle, bei glücklichem Ausgang dieses Lernprozesses, eröffnet die „Adoleszenzkrise“ das prinzipienbezogene, metakonventionelle Diskursniveau einer nunmehr prinzipienbezogenen Urteilsbildung. Bereits die erste Reifungskrise führt zu einer im engeren Sinn moralischen Einsicht. Es ist „die Erkenntnis (Stufe 3), daß familiäre und andere positive Sozialbeziehungen Systeme der Reziprozität sind, die auf Dankbarkeit und auf der reziproken Einhaltung der Erwartungen zweier Sozialpartner beruhen. Auf Stufe 4 entwickelt sich dies zu einem Verständnis der Sozialordnung, bei dem die Erwartungen durch Arbeit und Konformität erfüllt werden und bei dem Versprechen und Vertrag eingehalten werden müssen.“ Wenngleich sich „die logische Ordnung“ der Stufen unter dem Gesichtspunkt der Differenzierung von „Reziprozität und Gleichheit“, zumal nach „Kategorien der Gerechtigkeit“ weiter fortsetzt,256 gilt die nun folgende Fortschrittsmöglichkeit als dramatisch kritisch und außerordentlich regressionsträchtig. Denn jetzt tut sich die Kluft auf zwischen einer lebensweltlichen Konsensorientierung an etablierten Konventionen, welche durch einfache Rollenübernahme erfolgt, und der Distanzierung, Infragestellung und kritischen Gewichtung der eingelebten Sitten und Normen mit Hilfe von Prinzipien und diskursiven Erwägungen. Der jetzt durchzumachende Lernprozeß ist derart heikel, daß Kohlberg, sein Mitarbeiter Elliot Turiel und Karl-Otto Apel diese Adolenszenzkrise sogar als eine eigene Krisenstufe 4 ½ charakterisieren können: anarchistische Obertöne, eine grenzenlose Relativierungstendenz und ein regressives „,Aus-dem-Gleichgewicht-Geraten‘“, das Rückfälle auf egoistische Orientierung (Stufe 1) und den Strategismus des „wie du mir, so ich 256 Ebd., S. 101. 187 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 dir“ (Stufe 2) befördert, durchherrschen eine zwielichtige Stimmung, in der alles möglich ist, weil alles als erlaubt gilt. 257 Erst wenn, und in dem Maße wie es gelingt, diese anarchistisch relativistische, im günstigsten Falle negativ aufklärerische Krise durch Reflexion auf Prinzipien und durch deren Aneignung zu überwinden, so daß sowohl die Tugendkonventionen (Stufe 3), die politisch etablierten Normen- und Verfahrenskonventionen (Stufe 4) als auch die vorkonventionellen Lust- und Selbstbehauptungsorientierungen auf ihre Legitimität und Verantwortbarkeit hin geprüft werden können, erst dann kann die eigentlich moralische Orientierung greifen: so daß die Urteilenden nicht allein die Erläuterungsfrage, was moralisch heiße, sondern auch die Begründungsfrage, warum man moralisch sein solle, mehr oder weniger beantworten können. Die Prinzipienorientierung charakterisiert Kohlberg als „postkonventionelle“ bzw. „nachkonventionelle Ebene“. Das halte ich freilich für unangemessen. Suggeriert diese Bezeichnung doch, die hier entwickelte Prinzipien- und Diskursorientierung bzw. Gewissensorientierung könne jemals die bestimmten Inhalte ersetzen, die uns immer schon aus unseren Ego-Interessen (Stufen 1 und 2) und aus den sittlichen sowie politischen Konventionen (Stufe 3 und 4) gegeben sind. Aber das wäre eine lebensfremde, idealisch naive Vorstellung, die nicht allein der Wirksamkeit bzw. Orientierungsfunktion des Moralprinzips in der gemischten Alltagswirklichkeit widerspricht, sondern auch von Kohlbergs Untersuchungen widerlegt wird. Darum kann es also nicht gehen. Vielmehr ist eine prinzipienbezogene moralische Orientierung allein als Auseinandersetzung mit den sozialen bzw. konventionellen und mit den vorkonventionellen bzw. egozentrierten Orientierungen zu denken. Auch besteht ja die kriteriale Funktion eines Prinzips gerade in der Klärung der Frage, welche Relevanz autonom Urteilende dem einen oder dem anderen Interesse, der einen oder der anderen sittlichen Konvention begründeterweise und verallgemeinerbarerweise zusprechen sollten. Aus diesem Grunde ist es angemessen, immer dort von „metakonventionell“ zu reden, wo Kohlberg unvorsichtig von „postkonventionell“ spricht. Was nun die Sukzession auf der metakonventionellen Ebene anlangt, so möchte ich mit Kohlberg sagen, daß auf Stufe 5 „das Verständnis der Sozialordnung zu einer Auffassung vom flexiblen Sozialvertrag oder -abkommen zwischen freien und gleichen Individuen“ 257 Vgl. L. Kohlberg, The Philosophy of Moral Development, San Francisco 1984, S. 440ff; E. Turiel, Adolescent conflict in the development of moral principles, in: Robert L. Solso (Hg.), Contemporary issues in cognitive psychology: The Loyala symposium, Washington D. C. 1973, S. 231-249; ders., Conflict and transition in adolescent moral development, in: Child Development, 45. Jg., 1974, S. 14-29, dt. in: R. Döbert, J. Habermas, G. Nunner-Winkler (Hg.), Entwicklung des Ichs, Köln 1977, S. 253-269. Dazu in einer vor allem phylogenetischen und zeitgeschichtlichen Perspektive: K.-O. Apel, Diskurs (1988), bes. S. 387ff, 410 und 430f. 188 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 ebenfalls „eine Form der Reziprozität (und Gleichheit)“ ist. Und auf „Stufe 6 werden moralische Prinzipien als universelle Prinzipien der reziproken Rollenübernahme formuliert, z.B. die Goldene Regel oder der Kategorische Imperativ: ‚Handle so, wie du handeln würdest, nachdem du erwogen hast, wie jedermann handeln würde [mit Apel besser: ‚sollte‘], wenn er in der Situation wäre.‘ Mit anderen Worten, auf konventionellem Niveau wird angenommen, daß die Sozialordnung die Strukturen der Reziprozität beinhaltet, welche ‚Gerechtigkeit‘ definieren, während auf prinzipiellem Niveau die Sozialordnung aus den Prinzipien der Gerechtigkeit abgeleitet wird, der sie dient. Die Prinzipien der Gerechtigkeit oder die moralischen Prinzipien sind selbst wesentlich Prinzipien der Rollenübernahme, d.h. sie schreiben vor, ‚so zu handeln, daß man die Standpunkte aller an der moralischen Konfliktsituation Beteiligten in Rechnung stellt‘ (Mead, 1934).258 Auf prinzipieller Ebene besteht also eher eine Verpflichtung gegenüber den [...] Prinzipien der Gerechtigkeit als gegenüber der Sozialordnung selbst. Diese Prinzipien sind Prinzipien der verallgemeinerten Reziprozität oder Rollenübernahme.“259 Führt man Kohlbergs Programm einer Sukzession der Ausdifferenzierung und Verallgemeinerung der Gegenseitigkeit strikt durch, dann ergeben sich freilich drei Änderungen. Zunächst ist die Orientierung am Sozialvertrag (5) aufzustufen, indem man das metakonventionelle biblische Verständnis der mosaischen Sitten- und Rechtsordnung in seiner Bedeutung für die moralische Urteilsbildung würdigt. Denn die hebräisch biblische Bundestheologie, insbesondere ihr Konzept des zwischen Gott und Israel auf dem Sinai geschlossenen Bundes (hebräisch b’rit), entwickelt eine moralische Vertrags- und Prinzipienorientierung, die das von Kohlberg als Stufe 5 rekonstruierte Urteilsniveau deutlich überbietet. Und das sowohl in der biblischen Überlieferung vom Noah-Bund und deren rechtsethischer Entfaltung im Talmud als auch in den biblischen Überlieferungen vom Sinaibund zwischen Gott und Israel, dessen Verpflichtungsgehalt durch das Gebot der Nächstenliebe und Fremdlingsliebe ins Universale geweitet wird. Hier ist ein höheres moralisches Urteilniveau gegeben, als es von einem binnenmoralischen und primär nutzenorientierten Sozialvertrag, abgeschlossen zwischen Interessensubjekten, oft gesagt werden kann. Zunächst Gegenstand und zugleich die Vertragsurkunde ist das „Bundesbuch“ mit den Zehn Geboten. Nicht mehr die Nutzenerwartung unserer Gruppe, also eine utilitaristische Binnenmoral, bestimmt das, was gilt, sondern eine intrinsisch moralische Orientierung, und zwar in dem 258 Vgl. G.H. Mead, Mind, Self and Society, Chicago 1934 (dt.: Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1968). 259 L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung (1974), S. 102. 189 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 universalistischen Bezugsrahmen der Menschheit – jedenfalls in der Entwicklungstendenz. Hermann Cohen hat sie entschlossen herausgearbeitet.260 Die moralintrinsische Perspektive zeigt sich als Orientierung an dem, was gerecht und gut ist: der Achtung des menschlichen Lebens, der Nächstenliebe und dem Vertrauen auf einen Gott, dessen Gerechtigkeit man anhand seiner Gebote einsehen und auf dessen Treue man sich verlassen kann. Eben jene innermoralische Orientierung ist es, die zum Abschluß bzw. zum Einhalten des Bundes mit dem Gott motiviert, der gerechte Weisungen gibt: 1. Mose 1,27 und 9,5f; 5. Mose 10,12-21 und 32,1-4; Josua 24; Micha 6,8; Psalm 119 etc. Wir haben betont, daß jedenfalls in den jüngeren, den nachexilischen Überlieferungen der Sinai-Bundestheologie, so im Deuteronomium (5. Buch Mose), im Buche Josua und in Psalm 119, das Moment der Einsicht und freien Anerkennung des Bundes durch Israel betont wird. Die anfängliche Fremdbestimmung durch den machtvollen Gott, der Israel das Gesetz nach Art eines Unterwerfungsvertrages einfach ‚gibt’ – diese heteronome Normengenese tritt zurück. Und erlauben Sie mir auch diese Erinnerung: In der späteren Bundes- und Thora-Theologie scheint die Geltungsfrage der Entstehungsfrage übergeordnet zu werden. In logischer Zuspitzung würde daraus folgen: unabhängig davon, wie das Gesetz zustandegekommen ist, es ist einsehbar gerecht, und daher kann man sich kraft autonomer Erkenntnis der Gründe für dessen Gültigkeit – mithin als freier Diskurspartner – mit dem Gesetz Gottes identifizieren, so als habe man es selbst gegeben. Also ganz im Sinne der Kantischen Autonomie, die Hermann Cohen denn auch zum Angelpunkt seiner ethischen Rekonstruktion „der Quellen des Judentums“ macht.261 Was Kohlbergs Stufe der moralischen Prinzipienorientierung, Stufe 6, anbelangt, so ist sie veränderungsbedürftig. Es gilt, sie derart zu reformulieren, daß sie wirklich dem Anspruch gerecht wird, es handele sich hier um die Rekonstruktion der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Dann muß sie so begründet und formuliert sein, daß sie den rein kommunikativen Charakter einer strikten, verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit hat, so daß das anzustrebende Ziel und das Geltungskriterium, die hermeneutische Verständigungsgegenseitigkeit und die diskursive Geltungsgegenseitigkeit, als regulative Prinzipien festgehalten sind. Demgemäß läßt sich auf der moralischen Prinzipienstufe ein akommunikatives Prüfungsverfahren, etwa ein Gedankenexperiment oder ein role taking in 260 H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Darmstadt 1978 (zit.: Religion der Vernunft (1978)), Kap. VIII, bes. S. 144-155. 261 Ebd., bes. S. 218f, 377, 395, 401f. Vgl. S. 235f, 276f, 308. 190 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Form des Einfühlens in den Anderen und dessen Situationswahrnehmung, bloß umständehalber und unter starkem Fallibilitätsvorbehalt in Kauf nehmen: als Notbehelf, dessen Ergebnisse riskant hypothetisch sind – kritikbedürftig im Blick auf eine Verständigung mit den Betroffenen über ihre eigene Situationseinschätzung und ihr Selbstverständnis. 191 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 4.2 11.12.2009 Eine verantwortungsethische Stufe 7 oder: Das Problem der moralischen Strategiebildung angesichts ‚schmutziger’ Handlungsbedingungen und fragwürdiger Zumutbarkeit. Freilich ist die Prinzipienfrage, ob eine Handlungsmaxime überhaupt argumentativ zustimmungswürdig sei, in hohem Maße idealisierend. Setzt sie doch voraus, daß alle Beteiligten wahrhaftig, argumentationseinsichtig und guten Willens sind, also auch bereit, die zustimmungswürdigen, diskursiv universalisierbaren Normen ausnahmslos zu befolgen. Just diese regulative Idealisierung müssen Verantwortungsträger nach Maßgabe ihrer jeweiligen realen Handlungssituation geschichtsbezogen und folgensensibel, kurz: realistischverantwortungsethisch gewissermaßen einklammern – nicht um sie vergessen zu dürfen, sondern um sie differenzieren zu können: Das regulative Ideal, die Normen eines idealisierenden praktischen Handlungsorientierungen Diskurses, umzuarbeiten; ist und in folgenverantwortbare, dabei müssen die konkrete situationsbedingten Moralrestriktionen berücksichtigt und konterstrategisch aufgefangen werden. “Blauäugigkeit“ ist oft unverantwortlich. In der sozialen Wirklichkeit gilt, daß „gutgemeint“ nur zu oft das Gegenteil von „gutgetan“ bzw. von „verantwortlich“ ist. Diese erfolgsverantwortliche Lektion gehört vor allem dann unabdingbar zur moralischen Urteilsbildung, wenn es um Verantwortung für anvertraute Schwächere geht, und wenn die Verantwortungsträger nicht voraussetzen können, daß sie es de facto einzig mit moralischen Handlungspartnern und moralgemäßen Handlungsbedingungen zu tun haben (werden). Eben diese Voraussetzung kann in der sozialen Wirklichkeit unzutreffend sein. Ist das der Fall, dann wäre es gegenüber Schutzbefohlenen, Klienten, aber auch gegenüber Kooperationspartnern, die sich auf ‚mich’ verlassen, unverantwortlich, wenn ‚ich’ mich gleichsam blauäugig verhielte. Wie? Indem ich meinem Gegenüber stets guten Willen bzw. moralische Untadeligkeit oder auch nur strikte Rechtlichkeit unterstellte. Das Gleiche kann auch für mein Verhalten in bzw. gegenüber Institutionen, Machtzusammenhängen und sozialen Systemen gelten. Vorsicht, ja strategisches Kalkül, mag hier im Interesse ‚meiner Leute’ durchaus angebracht sein. Soll ‚ich’ als Verantwortungsträger oder Mitverantwortlicher doch dafür geradestehen können, daß sie nicht Schaden nehmen und ‚ich’ ihre (vorausgesetzt: legitimen) Interessen mit Erfolg wahrnehmen kann. 192 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Wer verantwortlich handeln und den Seinen keine Schadensfolgen aufhalsen will, der muß sich aus moralischen Gründen mit moralischer Skepsis wappnen. So muß er darauf gefaßt sein, daß ein Gegenüber massiv Eigeninteressen durchsetzen will und daher weder zur strikten Befolgung von Rechtsnormen (vom Straßenverkehr bis zu Handelsgeschäften) bereit ist noch gar zu einer argumentativ dialogischen Bemühung um das moralisch Richtige. Auch sind in vielen Feldern der Gesellschaft – von den politischen Arenen über die Märkte bis zum Finanzmarkt und zur Börse – die Handlungsbedingungen weniger dialogisch als vielmehr strategisch bzw. strategisch agonal vorstrukturiert: Es geht nicht (oder nicht vordringlich) um Konsens aus guten Gründen, sondern zumal um Vorteile im Kampf der Macht- und Interessen-Konkurrenz. Infolgedessen sollten Verantwortungsträger ein gewisses moralisches Mißtrauen ins Spiel bringen, indem sie ihr moralisches Vertrauen auf den guten Willen der Gegenseite bzw. auf garantiert moralanaloge Handlungsbedingungen und Institutionen einklammern, statt sich naiv darauf zu verlassen. Sie sollen bereit sein, Konterstrategien zu entwickeln, um der moralisch legitimen Sache zum Erfolg zu verhelfen. Die realistische, ja moralskeptische Distanznahme nach außen und die Bereitschaft, moralisch legitime Konterstrategien zu suchen und einzusetzen, gehören zur Fürsorglichkeit, die ein Verantwortlicher nach innen wahrzunehmen hat. Denken wir z.B. an Unternehmer oder Manager, die für den Unternehmenserfolg einzustehen haben, sich aber allenthalben mit der Zahlung von Schmiergeldern, mit Korruption und dergleichen Moralwidrigkeiten konfrontiert sehen, die in den meisten Ländern auch Rechtswidrigkeiten sind. Sie stehen vor dem verantwortungsethischen Problem, ob bzw. unter welchen Bedingungen und in welchem Ausmaß sie sich jetzt in der unmittelbaren Situation, die für sie eine Notlage – im Wettbewerb um einen wichtigen, auch arbeitsplatzsichernden Auftrag – darstellen kann, an einer solchen schlechten Praxis beteiligen dürfen. Falls ja, müßten sie dieses Vorgehen rechtfertigen können als eine Notstrategie, die sie ad hoc, zur Bewältigung dieser unmoralischen Situation ergreifen. Ließe sich eine solche Situationsstrategie als Notmaßnahme rechtfertigen? Wohl einzig dann, wenn sie (erstens) wirklich eine Not abwehrt, also einer Notwehr entspricht, und wenn sie (zweitens) verbunden wird mit einem energischen, erfolgsfähigen, längerfristigen Engagement zur Veränderung der schlechten Handlungsbedingungen – etwa der Situation „keinen Auftrag ohne Bestechung etc.“. Die Unternehmer müßten sich also fragen, ob und auf welche Weise sie dieser moralwidrigen Praxis entgegenarbeiten können, ohne dadurch ihren (vorausgesetzt: legitime Güter anbietenden) Unternehmen und Mitarbeitern gefährlichen Schaden zuzufügen. 193 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Darf sich ein Verantwortungsträger unter dem Zwang dieser Situation und der Notwendigkeit, den für sein Unternehmen lebenswichtigen Auftrag A zu erhalten, ausnahmsweise auf eine Zahlung von Schmiergeldern etc. einlassen? Sollte er das sogar tun, sofern er sich von vornherein für das Ziel engagiert, daß in seinem Auftragsland L mittelfristig die Schmiergeldund Korruptionspraxis als Wirtschaftskriminalität geächtet wird? Das liefe darauf hinaus, die Notmaßnahme einer Konterstrategie – gleichsam durch einmaliges Heulen mit den Wölfen – zu kompensieren, nämlich durch das Engagement für eine moraladäquate Veränderung der rechtlichen und wirtschaftspolitischen Verhältnisse, die allerdings mittelfristig greifen müßte.262 In der Situation weitaus dramatischer, in der moralischen Beurteilung durchaus übersichtlicher sind Dilemmasituationen, in denen die mögliche Lebensrettung gegen die unmittelbare Wahrhaftigkeit steht, das Gebot der Hilfeleistung gegen das Gebot „du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“. Denn hier ist die Lebensrettung eindeutig der Wahrhaftigkeit vorzuordnen, sofern durch eine unwahrhaftige Auskunft ein sonst bedrohtes Leben gerettet werden kann. Man denke an einen Mörder, der einen Hausbesitzer oder einen Wohnungsbesitzer fragt, ob sich der von ihm gesuchte X in der Wohnung versteckt habe. Auch wenn es kein Mörder, sondern z.B. ein Gestapo-Beamter zur Zeit des Dritten Reiches oder ein Jakobiner zur Zeit des revolutionären Terreurs ist, welcher diese Frage stellt, so ist die schützende Lüge, mit der der Hausbesitzer antwortet, sofern sie denn wirklich eine Schutzfunktion erfüllen kann, eine legitime moralische Konterstrategie. Sie ist moralisch legitim, weil keine begründete Zustimmung des Gesuchten zu seiner Ermordung möglich und in einer reinen Argumentationsgemeinschaft erwartbar ist. Wir werden bei Gelegenheit Kants auf dieses vergleichsweise harmlose aber lehrreiche Dilemmabeispiel zurückkommen. Bis hierher haben wir das Rechtfertigungsproblem moralischer Strategien einfacher dargestellt, als es wirklich ist, weil wir allein das Verhältnis eines Verantwortlichen nach außen, nicht aber das Verhältnis zu seinen Leuten bzw. Schutzbefohlenen berücksichtigt haben. Es dabei bewenden zu lassen, hieße die verantwortungsethische Urteilsbildung zu verkürzen. Denn das moralstrategische Außenverhältnis des Verantwortlichen wirft einen Schatten auch auf sein Binnenverhältnis: Er muß prüfen, inwieweit er es den Seinen bzw. dem 262 Zu dem Problem: D. Böhler, Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung. Hans Jonas und die Dialogethik – Perspektiven gegen den Zeitgeist, in: Th. Bausch, D. Böhler u.a. (Hg.), Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft. In memoriam Hans Jonas, EWD-Bd. 3, Münster 2000, bes. S. 59ff und 63ff. Vgl. die empirisch orientierte Einzelanalyse und Problemübersicht von Britta Richarz, Wirtschaftskriminalität als Diskussionsgegenstand in der aktuellen deutschsprachigen Wirtschafts- und Unternehmensethik, Magisterschrift, Philosophisches Institut der Freien Universität Berlin, 2006. 194 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Gefährten oder z.B. den Angehörigen des Unternehmens, für das er tätig ist und Entscheidungen zu treffen hat, zumuten sollte und kann, in die Strategiebildung einbezogen und in deren Einzelheiten eingeweiht zu werden. Das hier zuständige regulative Prinzip heißt: so viel gemeinsame Beratung und Abstimmung wie unbedingt möglich, so viel Schonung der eigenen Leute und so viel Zurückhaltung von Informationen wie nötig. Doch schließt diese Orientierung in Grenzsituationen auch ein gänzliches Verschweigen ein. Sofern eine offenherzige Erörterung der eigenen Verhaltensweise den anderen Betroffenen nicht zumutbar erscheint oder diese sogar schädigen bzw. gefährden dürfte, insoweit sollte sie unterbleiben. Dann gilt es zu schweigen. Es bleibt dann nur der Diskurs im engsten Kreis oder sogar nur mein Gewissensdiskurs... Die Abwägung der Zumutbarkeit kann, jedenfalls in Situationen, wo sehr viel auf dem Spiele steht oder wo es gar um das Leben geht, auch zum Täuschen, ja selbst zum Belügen guter Freunde und Verwandter führen. Im Widerstand gegen das totalitäre und terroristische Naziregime hat Dietrich Bonhoeffer solches Täuschen, wiewohl er sehr darunter litt, praktiziert und reflektiert. Offenbar hatte er wie viele Christen – unter ihnen Immanuel Kant – das achte Gebot „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ radikalisiert und universalisiert. War sein ursprünglicher Sitz im Leben die Gerichtsverhandlung unter dem Tor im alten Israel, so daß es sich auf Zeugenaussagen in einer mündlichen Verhandlung bezog, konnte es im Anschluß an die Moralität der Bergpredigt als Verpflichtung zu allgemeiner und permanenter Wahrhaftigkeit verstanden werden. Es mag dieser Hintergrund sein, vor dem der Häftling Bonhoeffer nach zehn Jahren Nazisystem und Widerstand gegen dasselbe zum Jahreswechsel 1943 die Frage stellte: „Sind wir noch brauchbar? Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung mißtrauisch gegen die Menschen geworden und mußten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden – sind wir noch brauchbar?“263 Ein anderes Beispiel gibt der Schauspieler Michael Degen Er war im März 1943 als Junge mit seiner jüdischen Mutter vor der SS geflüchtet, war mit ihr von Berliner Wohnung zu Wohnung untergetaucht, und hatte dann eine Weile bei der exilrussischen Pianistin Ludmilla Dimitrieff, die auch für Parteigrößen private Klavierkonzerte gab, Unterschlupf gefunden. Die herbe, fast egomane Frau in den besten Jahren, Witwe eines deutschen Juden, schwärmte 263 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. E. Bethge, München 111962 (zit.: Widerstand (1962)), S. 31. 195 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 gegenüber dem Knaben von beschnittenen Männern, holte ihn nachts zu sich ins Bett und mißbrauchte ihn sexuell. Das verschwieg der Junge seiner Mutter im Zimmer nebenan. Michael Degen erinnert sich: „Wenn ich nicht verheimlicht hätte, wie Ludmilla mich bedrängte, wäre meine Mutter sofort ausgezogen. Wir hätten auf der Straße gestanden und das – wäre wahrscheinlich der Tod gewesen. Da hatte ich zum ersten Mal eine große Verantwortung.“264 Stellen wir hier die moralische Verantwortungs- und Zumutbarkeitsfrage: Fragen wir uns, worin genau die moralische Strategie des Jungen bestand. Wie verhält er sich? Worauf leistet er Verzicht? Analog zu dem Verhalten des Theologen im Widerstand, der den Talar ausgezogen hatte und in den Geheimdienst, die Abwehr des Dritten Reiches eingetreten war, suspendierte auch der Knabe Michael Degen seinen Anspruch auf direkte Wahrhaftigkeit. Seiner Mutter verschweigt er, was die russische Pianistin, die ihnen auf dem Höhepunkt der Judenvernichtung im halb zerbombten und beängstigend kontrollierten Berlin eine rettendes Versteck bietet, und dadurch ihr Leben bewahrt, ihm selbst antut. Während sonst Mutter und Kind alles miteinander teilen, distanziert das Kind hier die Vertrauensgemeinschaft, in der es sich aufgehoben fühlt und noch Geborgenheit findet – in Mitten des Mordterrors, vor dem es sich zu retten gilt. Das Kind durchbricht die zwischen ihm und seiner Mutter selbstverständliche Erwartungserwartung der gegenseitigen Wahrhaftigkeit. Eine große seelische Leistung, durch die es plötzlich moralisch erwachsen wird, ja die Rolle des Verantwortungsträgers übernimmt, welcher die Folgen seines Handelns bedenkt, das unverantwortbare totale Risiko wahrnimmt – und daher der Mutter das Unzumutbare nicht zumutet. Indem der Junge seine unmittelbare Wahrhaftigkeit suspendiert, gibt er aber nicht die Wahrhaftigkeit des Argumentationspartners preis. Vielmehr erweist er sich gerade dadurch als einer, der die Dilemmasituation und deren Lebensgefahr sich klar macht, der also ernsthaft überlegt, und deshalb als glaubwürdiger Partner in einer möglichen, freien und offenen Argumentationsgemeinschaft Anerkennung und vermutlich auch Zustimmung für seine Handlungsweise fände: dafür daß er der Mutter verschweigt, was vorgeht. Denn nur dadurch kann er dem Verantwortungsprinzip gerecht werden, welches gebietet, ihrer beider Leben vor der Vernichtung, vermutlich vor Auschwitz, zu bewahren. Das Interview mit Michael Degen zeigt, daß er bereits als Kind das Argument der Folgenverantwortung und das der Zumutbarkeitsabwägung mit intuitiver Klarheit befolgt hat. In dem Begleitdiskurs, den er mit 264 M. Hanfeld, Ein Gespräch mit dem Schauspieler Michael Degen. Das jüdische Totengebet hat mir das Leben gerettet, in: FAZ, 31.Oktober 2006, S. 46. 196 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 sich selbst führt, in seinem Gewissensgespräch, sieht das Kind so ernsthaft wie sorgsam nach der verantwortlichen Handlungsweise. Betrachten wir es mithin als virtuellen Diskurspartner, der in seiner äußersten Gefahrensituation keine Diskursgemeinschaft in Anspruch zu nehmen wagt. Können wir dann sagen, es habe seinem Wahrhaftigkeitsanspruch zuwidergehandelt? Doch wohl nicht. Denn wie ein Diskurspartner, der nach dem besten Argument sucht, hat er seinen Wahrhaftigkeitsanspruch gegenüber der Geltungsinstanz einer virtuellen, idealen Argumentationsgemeinschaft keineswegs zurückgenommen, hat ihn vielmehr eingelöst. Aber und gerade nur dadurch, daß er den Wahrhaftigkeitsanspruch in der direkten Interaktion mit der Mutter zurücknimmt, um Verantwortung zu übernehmen, indem er di Mutter vor einem lebensgefährlichen Dilemma und sie beide vor dem drohenden fürchterlichen Tode bewahrt, – eben dadurch wird er für diese Situation ein glaubwürdiger Diskurspartner. Ein zweites kommt hinzu. Der Junge suspendiert nicht allein den unmittelbaren Wahrhaftigkeitsanspruch, er verzichtet auch auf die unmittelbare Wahrnehmung seines Autonomieanspruchs, nämlich gegenüber Ludmilla. Läßt er sich doch von ihr mißbrauchen, zum Instrument ihrer sexuellen Wünsche machen. Er beharrt nicht auf seiner Selbstbestimmung ihr gegenüber, er duldet, daß sie seine Integrität verletzt, daß sie ihn zum Mittel ihrer egoistischen Zwecke macht und erniedrigt. Er verzichtet darauf, seinen Anspruch auf Menschenwürde durchzusetzen. Er fordert nicht ein, was Kant in seinem Imperativ der Menschenwürde als unbezweifelbares moralisches Recht anerkannt hat – den Anspruch, von Anderen nie nur als Mittel, sondern immer zugleich als Zweck gebraucht zu werden.265 Auf andere Weise aber, auf der Ebene des argumentativen Diskurses, den er als Gewissensdiskurs mit sich selber führt, verwirklicht er freilich den Anspruch auf Autonomie desto glänzender. Er erweist sich als urteilsautonom. Gerade dadurch, daß er sich nicht in die Arme seiner Mutter wirft und laut werden läßt, was ihm von der Ludmilla angetan wird, erweist er sich als autonomer Argumentationsteilnehmer; sprachen doch gute Gründe für ihn, die in jedem Diskurs, in dem allein sinnvolle Argumente zählen, Anerkennung fänden. 265 Ungekürzt lautet die Menschenwürde- oder Selbstzweckformel Kants Kategorischem Imperativ: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ I. Kant, GMS, S. 429 (vgl. Meiner-Ausgabe, Hamburg 1990, S. 54 f.). Im Anschluß daran arbeitet Kant die „Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich sich selbst gibt“, als Kriterium dafür heraus, daß dem Menschen ein absoluter bzw. „innerer“ Wert zukomme, und nicht etwa bloß ein von außen zugemessener, relativer Wert, nämlich entweder ein Marktpreis oder ein Affektionspreis (ebd., Akademieausgabe, S. 434 f.) Kant kommt zu dem Schluß, daß moralische Autonomie, also die Selbstbestimmung eines Willens hinsichtlich seiner moralischen Urteilsbildung bzw. Gesetzgebung „der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ sei (ebd., S. 436). Es ist eben diese Würde aufgrund moralischer Autonomie, welche in unserem Beispiel der heranwachsende Michael Degen unter Beweis gestellt hat, indem er auf moralstrategische Weise Verantwortung wahrgenommen und es ertragen hat, von Ludmilla Dimitrieff de facto manipuliert und entwürdigt zu werden. 197 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 An diesem Beispiel gewinnen wir zwei Einsichten, die von grundsätzlicher Bedeutung sind: erstens die metaethische Unterscheidung der unmittelbaren Handlungen von dem (argumentativen) Diskurs über diese bzw. über die Situation, zweitens die moralphilosophische Einsicht, daß es verantwortungsethisch geboten sein kann, legitime Ansprüche, deren Erfüllung einem als moralische Rechte zustehen, in moralrestriktiven Situationen zurückzunehmen, also selbst ethisch zurückzustecken und sich konterstrategisch zu verhalten. Warum das? Weil ein unmittelbares ethisches Verhalten für Betroffene unzumutbar wäre und unverantwortliche Folgen nach sich zöge. Diese Einsichten lassen sich in folgendem Schema festhalten: Diskurslegitimer Umgang mit dem Geltungsanspruch ‚Wahrhaftigkeit’ und der Anerkennungserwartung ‚Geachtetwerden der Menschenwürde/Autonomie’ (MW/A). Ebene Rolle ‚meine’ Wahrhaftigkeit Anerkennung ‚meiner’ MW/A Unmittelbare Praxis in Lebenswelt und Gesellschaft (faktische) Lebensrolle im Umgang mit fakt. Adressaten als (mögl.) Diskurs- und Moralgefährder einklammerbar und suspendierbar im Umgang mit einer Person bzw. Institution, die die Anerkennung ‚meiner’ MW/A verweigert, einklammerbar und suspendierbar (Begleit-) Diskurs (bzw. Gewissen) (auch kontrafaktische) Diskurspartnerrolle (DP) in der Beziehung zu fakt. Adressaten als ernsthaftem DP und zur idealen Argumentationsgem. (relig.: zu Gott) unbedingt einzulösen in der Beziehung zu einem fakt. Adressaten als ernsthaftem DP und zur idealen Argumentationsgemeinschaft unbedingt zu gewährleisten Gehen wir nun wieder zu unserem Beispiel zurück. Es zeigt uns, daß der verantwortungsethische Realitätsvorbehalt – der realistisch-moralische Vorbehalt, nach außen (gegenüber Dritten und gesellschaftlichen Mächten) nötigenfalls strategisch zu handeln –, unangenehm nach innen, mithin auch auf uns selbst zurückschlägt. Sieht man nämlich von dem zweiten moralstrategischen Gesichtspunkt in dem Beispiel Michael Degens ab, also von dem Verzicht auf die Durchsetzung der eigenen Autonomie, und konzentriert man sich auf die Suspendierung der unmittelbaren Wahrhaftigkeit, dann erkennt man: Die ursprünglich nach außen gerichtete strategische Vorbehaltlichkeit und konterstrategische Verhaltensbereitschaft muß, zumindest angesichts von Lebensgefahr, auch nach innen gewendet werden. Denn zumal Wahrhaftigkeit, also die unmittelbare Aufrichtigkeit und Offenheit je ‚meiner’ Kommunikation mit ‚meiner’ Umgebung, kann in gefahrvollen 198 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Situationen u.U. selbst für den vertrautesten Kreis der Betroffenen unzumutbar sein. Das ist ganz sicher und zumindest dann der Fall, wenn sie unverantwortliche Risiken erzeugt: Risiken, die einzugehen illegitim wäre, weil sie „das Ganze der Interessen der betroffenen Anderen“, wie Hans Jonas formuliert266, aufs Spiel setzen würden. Denn das Leben umkreist alles, was moralisch zu berücksichtigen ist. Denn ohne das Leben gibt es keinerlei Wert, keine Achtung der Menschenwürde, keine mögliche Moralität etc. Daher gilt, daß ‚meine’ Wahrhaftigkeit nach innen zumindest dann, wenn sie das Leben Anderer oder mein eigenes Leben gefährden dürfte, zurückgenommen werden soll. Das ist ein kategorisches moralisches Sollen. Kurzum: Die Rücksicht auf die Zumutbarkeit der Wahrheit nach innen, also auf die Zumutbarkeit ‚meiner’ Aufrichtigkeit und Offenheit in der Kommunikation (über die Handlungslage und ‚meine’ Handlungsweise mit den ‚Meinen’) ist die Kehrseite der Konterstrategie nach Verantwortungsethik. außen Rücksicht und ebenfalls auf die ein unabdingbares Zumutbarkeit mitsamt Moment der moralstrategischer Zurücknahme der Wahrhaftigkeit ist zumindest dann verantwortungsnotwendig und daher moralisch geboten, wenn das Gesamtinteresse der betroffenen Anderen bedroht ist, ihr Leben. Die moralstrategische Fragestellung führt also nicht etwa zu einem andersartigen Prinzip, das neben das Moralprinzip mit seinem Kriterium der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit träte. Nein, sie ergibt sich aus dessen Anwendung auf das Dilemma eines/einer Verantwortlichen, der/die in nonmoralanalogen Situationen moralisch richtig handeln will und soll. Will er/sie aber unter solchen (moralfeindlichen) Bedingungen noch moralisch legitim agieren, so muß er/sie Handlungsweisen suchen, die im Lichte der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit als folgenverantwortlich und zumutbar gelten können. Bei dieser Suche leitet ihn/sie die geltungsmäßig prinzipienbezogene und faktisch situationsbezogene moralische Verantwortungsfrage (7): ‚Welche strategischen Gegenmittel nach außen und z.B. welche Wahrhaftigkeitszurückhaltungen oder Lügen nach innen sind unter den je gegebenen moralrestriktiven Handlungsbedingungen für Verantwortungsträger als Diskurspartner zustimmungswürdig und daher mit dem Moralprinzip vereinbar, d.h. moralisch verantwortbar? Und zwar auch dann, wenn sie persönlichen moralischen Intuitionen oder religiösen Geboten zuwiderlaufen sollten.‘ Die herausgestellte Leitfrage nimmt den Verantwortungsträger oder die Verantwortungsträgerin in eine besondere Pflicht: die Pflicht für den (möglichen) Erfolg des 266 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt am Main 1979. (zit. als PV), S.79. 199 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Moralischen in nicht moralgemäßen Verhältnissen. Insofern läßt sie sich als erfolgsmoralische Frage bezeichnen. Sie erweitert die moralintrinsische Perspektive, welche wir zuallererst einnehmen, wenn wir nach dem Standpunkt der Moral suchen, um zwei Aspekte: Zunächst um die realistische Einschätzung der Handlungsbedingungen und der moralischen Folgelasten eines unmittelbar moralischen Verhaltens i.S. eines dialogisch offenen Miteinanders, sodann durch die praktische Bemühung um einen Erfolg des Moralischen unter kontra-moralischen Bedingungen. Beides zusammen bedeutet eine Präzisierung des Moralstandpunkts, nämlich die Konkretion der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit von deren Idee zur Realisierbarkeit. Und erst in dieser Konkretion kommt die Aufstufung der Gegenseitigkeitsperspektive zu ihrer Vollendung – von der Gesinnungsstufe (6) zur Verantwortlichkeitsstufe (7). Eine konsequente Aufstufung der Gegenseitigkeit ist also durchaus mit der, politisch von Max Weber und zukunftsethisch von Hans Jonas, diskursethisch von Karl-Otto Apel und feministisch von Carol Verantwortungsperspektive Gilligan vereinbar. geltend gemachten, Wohlverstanden, kann Fürsorgedie Fürsorge- und und Verantwortungsperspektive nämlich nichts anderes verlangen als die Bereitschaft zu Konterstrategien und die Prüfung solcher nach Maßgabe der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit (Stufe 6). Die Handlungsbedingungen, angesichts derer sie zu entwickeln sind, sind nicht bloß asymmetrisch, sondern moralrestriktiv. Hier liegt das Problem des, am schärfsten von Max Weber und Karl-Otto Apel eingeforderten, Übergangs von der „Gesinnungsethik“ zu einer „Verantwortungsethik“, von einer gleichsam privaten Moralität zu einer sozialen und politischen Folgenmoral, allgemein von der Selbstsorge um den eigenen reinen Willen und die (auch nach außen erscheinende) seelisch-moralische Integrität hin zu der Sozialsorge und Zukunftssorge um die berechtigten Bedürfnisse und Geltungsansprüche Anderer, welche auf dem Spiele stehen. Dieser Überstieg zur Verantwortungsethik läßt sich in folgenden Stichworten zusammenfassen: Verantwortungsethik als Bildung moralischer Strategien durch Beziehung des Moralprinzips „D“ auf non-moralanaloge Situationen. Dieses Beziehen bzw. Anwenden führt (1) zur Differenzierung und Konkretion von „D“ zu → „D-V“ bzw. „Stufe 7“ (nach Böhler) und (2) zu einer jeweiligen moralischen Strategiebildung gemäß „D-V“: situative Suspension bei diskursidealer Aufrechterhaltung von Wahrhaftigkeit und Autonomie. Der Maßstab ist, daß ‚ich‘ als Diskurspartner in einer freien Argumentationsgemeinschaft für 200 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 ‚meine‘ Verhaltensweise einstehen und für meine Bemühung mit Recht Anerkennung erwarten kann. Dieser Übergang schließt Belastungen der moralischen Person ein; ja er kann eine moralische Identitätskrise zur Folge haben, wofür es bewegende Zeugnisse gibt – nicht zuletzt bei Repräsentanten des religiösen Ethos oder eines Standesethos (Pfarrer, Ärzte, Soldaten). Es fragt sich jedoch, ob es sich bei solchen unleugbaren Krisen des moralischen Selbstverständnisses eigentlich um eine Krise auf der metakonventionellen moralischen Prinzipienstufe (6) handelt. Oder begegnen wir hier gesinnungsethischen Überhöhungen tradierter moralischer Intuitionen bzw. Ideale, die sich in einem argumentativen, anhand des Moralkriteriums der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit (6) geführten Diskurses nicht verteidigen lassen, so daß sie auch die verantwortungsethische Prüfung einer moralstrategischen Konkretion (7) nicht bestehen können? Entwicklungslogisch wäre jeweils zu prüfen, ob es sich um Verabsolutierungen tradierter, institutionalisierter und eingelebter Orientierungen unterhalb der diskursfähigen Prinzipienstufe 6 handelt. Das können ebenso Orientierungen an Recht und Ordnung (Stufe 4) oder am Sozialvertrag (Stufe 5) sein wie auch eine religiöse Bindung an göttliche Gebote. M.E. bezeugen die moralischen Identitätskrisen der Gesinnungsethiker die inneren Schwierigkeiten, gegenüber den Stufen 3, 4 und 5 die Autonomie eines konsequent prinzipienethischen Urteils zu gewinnen und zu behaupten. Denn diese erfordert eine prinzipiengeleitete Distanzierung nicht allein der ethischen Konventionen (Stufen 3 und 4), sondern auch der durch einen Sozialvertrag oder durch einen Glaubensbund mit Gott anerkannten Grundnormen (gemäß Stufe 5 bzw. 5 ½). Die moralische Urteilsautonomie, die man als möglicher Diskurspartner von vorneherein in Anspruch genommen hat, ist anstrengend. Sie schließt eine zweifache Bereitschaft zum kritischen Diskurs ein: die Bereitschaft zur Geltungseinklammerung aller konkreten normativen Gehalte und die Bereitschaft zu deren Verantwortbarkeitsprüfung angesichts der gegebenen Situation. Um moralische Autonomie zu praktizieren, bedarf es dialektischer Einsicht und psychologischer Selbstdistanz samt Konfliktbereitschaft. Zunächst ist die dialektische Einsicht erfordert, daß ‚wir’ einerseits Urteilende sind, die als Diskurspartner das ideale Geltungsverhältnis universaler Reziprozität zu allen möglichen Argumentationspartnern und ihren sinnvollen Diskursbeiträgen anerkannt haben, andererseits aber Akteure bzw. Rollenträger, die als Verantwortliche den Moralrestriktionen asymmetrischer Handlungsbedingungen und nonmoralanaloger Verhaltensweisen ausgesetzt sind bzw. sein können. Die Dialektik dieser beiden ursprünglichen Positionen, in der ‚wir’ uns 201 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 hier befinden, ist der Bezugsrahmen der Verantwortungsethik. Denken und praktizieren läßt sich moralische Verantwortung einzig dann, wenn beide Positionen gleichermaßen berücksichtigt werden. Diskursidealität ohne Folgenverantwortungsrealismus wäre schwärmerisch und verlöre den konkreten Gegenstand des Diskurses aus den Augen. Folgenverantwortungsrealismus ohne Diskursidealität wäre zynisch, wüßte nicht, was es eigentlich zu verantworten gelte und vor welcher Instanz. Zur Umsetzung jener Dialektik braucht es Selbstdistanz und Institutionendistanz – Abstand von eingelebten ethischen Orientierungen und Selbstverständnissen. Wer moralisch verantwortlich sein will, benötigt Raum und Kraft für eine moralstrategische Risiko- und Konfliktbereitschaft. Deren normativer Sinn besagt: ‚Suche und praktiziere Konterstrategien – auch auf die (wohl selten auszuschließende) Gefahr hin, daß du etwas bewirkst, was man im nachhinein, in einem besser informierten Diskurs über die Verantwortbarkeit des Getanen bzw. in Gang Gesetzten, nicht gutheißen und als zustimmungswürdig ansehen kann.’ Ohne die Risikobereitschaft, praktisch zu irren, Gewissensbisse zu erleiden oder im Urteil Anderer schlecht dazustehen, gibt es keine couragierte, moralstrategische Tat – keine „freie, verantwortliche Tat auch gegen Beruf und Auftrag“, wie Dietrich Bonhoeffer formulierte.267 Summa summarum können wir das verantwortungsethische Problem so pointieren: Während auf der Stufe 6 die Diskursfrage einfach lautet, ob eine bestimmte Handlungsweise oder Norm im Prinzip moralisch richtig ist, ob sie überhaupt der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit entspricht, so daß sie unter Diskurspartnern argumentative Zustimmung finden würde und daher anzustreben ist, stellt sich auf Stufe 7 das situationsbezogene Realisierungs- und Durchsetzungsproblem dessen, was als eigentlich moralisch richtig erkannt worden ist. Das Moralkriterium der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit als argumentativer Zustimmungswürdigkeit bleibt ungeschmälert in Kraft. Und das ist von entscheidender Bedeutung. Warum? Ohne Bindung der moralstrategischen Diskurse an das Moralkriterium liefen sie Gefahr, der Willkürregel „Der (moralische) Zweck heiligt die (nonmoralischen) Mittel“ anheimzufallen. Dann lösten sich die verantwortungsethischen Beratungen und Überlegungen in ein strategisches Erfolgskalkül auf: die Mittel und Wege würden bloß noch an den zweckrationalen Kriterien von Effizienz und Erfolg gemessen. Das liefe auf die unmoralische Selbstermächtigungsformel hinaus, die da lautet: „uns ist alles erlaubt“. An dem Maßstab der moralischen Urteilsbildung ist nicht zu rütteln: die eine moralische Prinzipienorientierung hat Bestand. Aber die Handlungssituationen, um deren Beurteilung 267 D. Bonhoeffer, Widerstand (1962), S. 14. 202 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 oder praktische Bewältigung es zu tun ist, können von aller Moralität entfernt sein. Denen, die moralisch guten Willens sind, kann mancherlei Amoralität entgegenstehen. Daher richtet sich der Blick der Teilnehmer an einem verantwortungsethischen Diskurs in realistischer Nüchternheit auf jene ‚schmutzigen’ Handlungsbedingungen, unter denen der Verantwortliche nicht auf die Moralbereitschaft des Gegenübers und nicht auf eine Moralgemäßheit der Verhältnisse rechnen kann noch darf. Das ist das von Karl-Otto Apel so genannte B-Problem der Ethik; es verlangt die Bildung und Prüfung „moralischer Strategien“268, gibt als deren Bewertungsmaßstab aber das regulative Diskurskriterium der argumentativen Zustimmungswürdigkeit an: ‚Fragt euch, frage dich, ob eure/deine ins Auge gefaßte Strategie die begründete Zustimmung aller, zumal der Betroffenen, erhalten würde, wenn sie diese Situation (im Lichte der euch/dir zugänglichen Informationen) als strikte Argumentationspartner beurteilten!’ Durch die Koppelung der realistischen, und zwar moralstrategischen Situationseinschätzung an das diskursethische Moralkriterium transformiert sich die Prinzipienethik von einer Gesinnungs- in eine Verantwortungsethik. Dieser Überstieg von einem idealisch unmittelbaren Verständnis und Anwendungswillen des Moralprinzips hin zu einer moralstrategischen Konkretion des Moralprinzips, und zwar anhand der Fragen nach Folgenverantwortbarkeit und Zumutbarkeit, stellt ein neues Urteilsniveau dar: Nunmehr sucht der Urteilende nach einer Handlungsweise, die den Erfolg des Moralischen unter nicht moralischen Bedingungen möglichst gewährleistet. Für die Problematik schlage ich eine eigene Stufe vor: „Stufe 7“. 268 K.-O. Apel, Ist die philosophische Letztbegründung moralischer Normen auf die reale Praxis anwendbar?, in: Funkkolleg Studientexte (1984), III, bes. S. 624-634. Ders., Diskurs (1988), S. 256ff, 265ff und 299f; ders., The Response of Discourse Ethics to the Moral Challenge of the Human Situation as Such and Especially Today, Leuven 2001 (zit.: The Response (2001)), S. 77ff. 203 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 4.3 Erfüllte 11.12.2009 Autonomie: ‚Meine’ Verantwortung und Glaubwürdigkeit als Diskurspartner. Wenn wir zurücktreten von der bis hierher diskutierten Problematik einer Entwicklungslogik des moralischen Urteils bzw. der praktischen Urteilskompetenz, mag die Frage aufkommen, ob oder inwiefern derlei auch für den Entwicklungsweg der philosophischen Paradigmen von Bedeutung sei. Die Antwort ergibt sich daraus, daß erst das dritte, das kommunikationsphilosophische Paradigma imstande ist, Kohlbergs Idee zu würdigen und fruchtbar zu kritisieren. Mehr noch, die soeben vorgetragene (und erst noch abzuschließende) Auseinandersetzung ist selbst ein signifikantes Ergebnis des dritten philosophischen Paradigmas, der Kommunikationsphilosophie – und ihrer internen Entwicklung von Habermas’ Rekonstruktion des Idealtyps ‚kommunikatives Handeln‘ zu einer sokratischen Reflexion auf ,uns‘ als Partner in Diskursen, hier: in praktischen Diskursen. Beides wird deutlich, wenn wir auf die Anfänge der Kommunikationsphilosophie und deren erste Auseinandersetzung mit Kohlberg in den späten siebziger und ersten achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts zurückblicken. Jürgen Habermas hat auch dank seiner intensiven, kundigen Auseinandersetzung mit Lawrence Kohlberg Wissenschaftsgeschichte geschrieben. 1976 gab er den Anstoß zu einer kommunikationsbezogenen Reformulierung von Kohlbergs höchster Stufe. Sein Argument war dieses: Von einer verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit könne strenggenommen erst dann die Rede sein, wenn die Bedürfnisse der Betroffenen „nicht mehr nur innerhalb eines durch kulturelle Überlieferung naturwüchsig fixierten Interpretationsrahmens nach einem monologisch angewendeten Prinzip der Verallgemeinerung überprüft“ und also „die Bedürfnisinterpretationen nicht länger als gegeben angenommen, sondern in die diskursive Willensbildung einbezogen werden“269. Im Anschluß daran kritisierte Apel 1980, daß Kohlberg, wenn er die Stufe 6 durch Kants Kategorischen Imperativ erläutert, auf das einsame Gedankenexperiment eines Einzelnen zurückgehe: „Der Einzelne überlegt sich, ob seine subjektiven Grundsätze des Handelns universalisierbar sind [...], aber er berät sich nicht mit anderen darüber“. So schließe Kohlbergs Definition der Stufe 6 noch nicht die 269 J. Habermas, Moralentwicklung und Ich-Identität, in: ders., Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt a. M. 1976, S. 88 und 87. 204 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 (entscheidende) „Forderung 11.12.2009 einer zwischen allen Betroffenen zu vollziehenden Verständigung“ über den Sinn ihrer Bedürfnisse und Interessen ein.270 Allerdings haben Habermas und anfänglich auch Apel (1980) aus dieser berechtigten Kritik eine falsche entwicklungslogische Konsequenz gezogen. Nahmen sie doch Kohlbergs Stufe 6 als solche einer formalistischen Pflicht- und monologischen Gewissensethik hin und fügten dieser dann – im Sinne einer „universalen Sprachethik“ – noch eine siebente Stufe der „universalistischen Bedürfnisinterpretationen“ als höchste Stufe hinzu.271 Aber es ergibt keinen Sinn, einfach weiterzuzählen und fortzustufen, wenn Kohlbergs Bestimmung der Urteilsstufe 6 das entwicklungslogische Telos der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit offensichtlich unterbietet, das Moralprinzip also fehlerhaft ansetzt. Außerdem ist auch der Geltungsanspruch eines Gewissensurteils ein Anspruch auf Zustimmungswürdigkeit, der die mögliche Kommunikation mit Anderen einschließt, wenngleich diese sich in der Lage, die der Urteilende vorfindet, vielleicht nicht realisieren läßt. Daher sieht sich der Urteilende/Handelnde zu einer kommunikationsentlasteten, mehr oder weniger einsamen Urteilsbildung genötigt. Sein Geltungsanspruch ist es aber, „nach bestem Wissen und Gewissen“ zu urteilen. Darin ist die Verpflichtung enthalten, sich um das beste Wissen zu bemühen.272 Und das beste soziale Situations- bzw. Bedürfniswissen gewinnt man durch Kommunikation mit den Betroffenen, das zweitbeste durch Methoden der Interpretations- und Verständigungswissenschaft, der Hermeneutik, welche das nicht mögliche Gespräch über den Sinn dessen, was abwesende oder verstorbene Autoren gesagt bzw. gewollt haben, durch sorgsame Verfahren der Sinnerschließung zu kompensieren sucht. Das hermeneutische Regulativ bleibt die Idee der Verständigung mit den betreffenden Anderen: die regulative Idee der „Verständigungsgegenseitigkeit“ (Böhler).273 Kurzum: Wenn die Entwicklungslogik auf verallgemeinerbare Gegenseitigkeit zielt, dann muß deren eigentliche Prinzipienstufe, die Stufe 6, selber kommunikationsbezogen formuliert werden. Eine Korrektur durch nachträgliche Ergänzung des Fehlenden, nämlich der Kommunikation, durch Hinzufügung einer eigenen Stufe 7, wäre Flickschusterei. Erforderlich ist also eine verständigungsbezogene Reformulierung der Kohlbergschen Stufe 6. Diese muß 270 K.-O. Apel, Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen des moralischen Bewußteins, in: Funkkolleg Studientexte (1984), I (Erstausgabe als „Studienbegleitbrief 1“ im Jahre 1980), S. 62. 271 J. Habermas, a.a.O., S. 83 und 84f; vgl. K.-O. Apel, a.a.O., S. 62f. 272 Hegels Kritik der romantischen Irrationalisierung des Gewissensbegriffs und G.H. Meads Beziehung des Gewissensurteils auf die ideale Kommunikationsgemeinschaft, das universe of discourse, weisen darauf hin und sind daher für eine Klärung des Gewissensbegriffs unverzichtbar: D. Böhler, Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und Praxis, in: Funkkolleg Studientexte (1984), II, bes. S. 347-350; ders., R.P. (1985), S. 339ff. 273 Vgl. meine Einführung dieses Terminus’ in: Funkkolleg Studientexte (1984), I, S. 276, vgl. 274ff und in Bd. III, S. 858f. 205 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 zwei verschiedenartige Gesichtspunkte berücksichtigen, die Habermas im Begriff des praktischen Diskurses zusammenwirft. Das ist zuallererst die Gegenseitigkeit der Verständigung über den Sinn anstelle eines auf willkürgefährdete Analogieschlüsse angewiesenen monologischen Verstehens. Sodann geht es um die Gegenseitigkeit der Geltung von Gründen, worauf die diskursive Prüfung zielt. Im ersten Schritt steht eine kommunikative Sinnermittlung als Verständigung zwischen den Urteilenden und den möglichen Betroffenen über ihre Interessen und ihre Situation an: „Was ist der Sinn der Handlungsweise und der dahinterstehenden Bedürfnisse, Interessen bzw. Werte von N. N.? Was wollen die Betroffenen, und wie verstehen sie ihre Situation?“ Erst dann, wenn wir durch direkte Kommunikation oder hermeneutische Verfahren dieses Situationswissen erworben haben, sind wir legitimiert, den moralischen oder praktischen Diskurs im engen Sinne zu führen. Strenggenommen, ist der praktische Diskurs also erst der zweite Schritt. Er dreht sich um die normativ moralische Frage: „Was sollen wir (im Sinne der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit) tun, wenn die Situation der Betroffenen mitsamt ihren Interessen und Werten so und so beschaffen ist?“ Nach Maßgabe des Diskursprinzips soll nun – wieder möglichst kommunikativ – geklärt werden, was es in der besonderen Situation heißt, im Sinne der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit zu handeln. Es geht hier um die Bestimmung der „Geltungs-Gegenseitigkeit“ der Gründe für/gegen eine Handlungsweise. Demnach ergibt sich eine kommunikationsbezogene Reformulierung der moralintrinsischen Urteilsstufe 6 mit der Fragestellung: „Wie sollen wir uns gegenüber den Interessen der Betroffenen eigentlich bzw. idealiter verhalten?“ Die Antwort läuft, formal gesprochen auf die Aufforderung hinaus: Berücksichtigt die beiden Ebenen eines praktischen Diskurses: (1) Verständigung (möglichst mit den Betroffenen) über den Sinn ihrer Interessen und über ihre Situation. (Ebene der Verständigungsgegenseitigkeit) (2) Diskurs (möglichst mit den Betroffenen): Wozu sind wir – eigentlich/idealiter – verpflichtet, wenn die Situation samt den Interessen der Betroffenen so und so beschaffen ist? (Ebene der Geltungsgegenseitigkeit) Aus diesen Überlegungen ergibt sich folgende kritische Rekonstruktion von Kohlbergs Entwicklungslogik des moralischen Urteils bzw. der lebensweltlichen praktischen Diskurskompetenz als Aufstufung des Gegenseitigkeitsniveaus. In der anschließenden Tabelle wird diese Aufstufung vor allem von der dritten, entwicklungslogisch tragenden Säule („Urteils- und Gegenseitigkeitsniveau“) dargestellt. 206 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 Entwicklungslogik hin zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit des moralischen Urteils: Lawrence Kohlberg und die Diskursverantwortungsethik Stufe der Orientierung 1 Orientierung durch Ego-Intuitionen/Lustgewinn und durch egozentrische Machtkonformität Urteils- und Gegenseitigkeitsniveau Reziprozität von Gehorsam – Belohnung bzw. Freiheit von Strafe (gut ist, was mir nützt) 2 Physisch pragmatische Ich-Orientierung mit egoistischer Instrumentell relativistische Tauschperspektive Gegenseitigkeit (do ut des) Bezugspunkt Je deine Handlung, je mein Bedürfnis Je meine/deine Handlungsweise mögliche Regressionstendenzen Diskursebene I Prämoralisch: Egoismus Strategismus Reifungskrise: zur Anerkennung Anderer und sozialer Rollen II Konventionell: Bezug auf persönliche Autorität und konkrete Werte/Normen Bezug auf funktionale Autorität u. Rechtsnormen bzw. -verfahren 3 Orientierung an Vorbildern und konkreten Tugenden in den Rollen ,unserer‘ Gruppe 4 Orientierung an der Aufrechterhaltung von Recht und sozialer Ordnung um ihrer selbst willen Soziale Identität und Anerkennung gemäß Bezugsgruppe: Gegenseitigkeit von Erwartungen in ,unserer’Gruppe Ordnungs- und Rechtsbewußtsein: Gegenseitigkeit des generalisierten (normativen) Anderen Rollen → gruppenbezogene Anerkennung und Fürsorge Normensystem → Institutionenloyalität Reifungskrise (4 ½): zur Autonomie durch Prinzipienorientierung samt Folgen- und Strategie-Verantwortung III Metakonventionell/ prinzipienbezogen: Gedankenexperimente oder Diskurse über die Einsehbarkeit (für mich) und Zustimmungswürdigkeit (für alle) von Werten/ Normen/ Handlungsweisen 5 Legalistische Orientierung am Sozialvertrag i.S. des Nutzens ,unserer‘ Gesellschaft (Gemeinwohl) 5½ Orientierung an Kult- u. Sittenvertrag („Bund“) mit Gott dem Gerechten und Liebenden (z. B. Mose 2. B., 20; 3. B. 19, 18; 5. B. 5 u. 6; Propheten, z.B. Micha 6,8; Hillel und Jesus) 6 Orientierung am universalen Moralprinzip: ‚Wozu sind wir unbedingt verpflichtet? Was sollen wir eigentlich tun?’ → Dialog-Moralprinzip ‚D’: „Ist die Maxime M aufgrund von Verständigungs-Gegenseitigkeit und in rein argumentativen Diskursen zustimmungswürdig?“ 7 Ausgang von (6) mit Blick auf faktische Moralrestriktionen: ‚Können wir als Diskurspartner die Erfolgsstrategie X zur Durchsetzung der Maxime M moralisch noch verantworten?’ ‚Ist die Strategie zustimmungswürdig?’ Politische Autonomie gegenüber der Verbindlichkeit von Konvention und Gesetz: Vertragspartnerschaft Theonomie mit partieller Autonomie gegenüber Eigeninteressen und Verpflichtungen von 3 bis 5: Korrelation mit Gott, dem Gerechten Kommunikative Diskurs-Einstellung mit Autonomie gegenüber 3 bis 5½, Verallgemeinerbare Verständigungsund Geltungsgegenseitigkeit unter (möglichen) Diskurspartnern Verfassungs- bzw. Sozialvertragsgrundsätze Als gerecht einsehbare Gebote Gottes und Nächstenliebe bzw. Goldene Regel Moralprinzip ‚D’ → Menschenwürde und Diskurs-Gerechtigkeit: alle Rechtsansprüche gleichermaßen berücksichtigen! DiskursverantDiskurs-Autonomie gegenüber moralischen Gesinnungsmaximen (6): wortungsprinzip ‚D-V‘ argumentative Zustimmungs→ Erfolgsbezogene Moral- und Zukunftswürdigkeit im Blick auf nonreziproke Handlungsbedingungen sorge gemäß ‚D’ 207 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 Die hier vorgeschlagene 11.12.2009 Entwicklungslogik reformuliert Kohlbergs Schema in diskursverantwortungsethischer Sicht. Diese Reformulierung hat gegenüber dem Urbild vier Vorteile. Sie vermeidet den Kategorienfehler des „Postkonventionalismus“, zudem kann sie das genuin moralische Niveau der hebräisch-biblischen Überlieferung würdigen (Stufe 5 ½). Drittens bestimmt verallgemeinerbare sie das moralische Gegenseitigkeit, so Prinzipienniveau daß auch das der Stufe 6 strikt Beurteilungsverfahren als nicht monologisch sondern partizipatorisch angelegt ist: Sinnverständigung und Diskurs treten an die Stelle eines bloßen Verallgemeinerbarkeitstests, den einer allein als Gedankenexperiment durchführen kann. (Zu diesem Selbstwiderspruch läßt sich Kohlberg durch seine Anlehnung an Kant und Rawls verleiten.) Nachdem derart Kommunikation in die Vernunft eingebracht und dadurch die methodisch solipsistische Perspektive der Tradition überwunden worden ist, wird durch Einführung einer verantwortungsethischen Urteilsstufe 7 auch die Tendenz zu einer gesinnungsethisch idealistischen Anwendung des moralischen Prinzipienurteils aufgehoben. Die vierte Errungenschaft ist sozusagen das „Überlegungsgleichgewicht“ von Kommunikation, prinzipiengeleitetem Verantwortungsdiskurs: konterstrategische Die realistische Erfolgsgesichtspunkt Idealdiskurs und real Zukunftsverantwortung ernüchtert die folgenbezogenem konkretisiert, Orientierung an der der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Was bedeutet dieser kommunikationsbezogen revidierte entwicklungslogische Ansatz für die Wie-, die Was- und die Warum-Frage der Moral? Wie wir moralisch werden bzw. es werden können, zeigt Kohlbergs Sukzession der Urteilsentwicklung: das Moralischwerden ist ein Bildungsprozeß der sich aufstufenden Gegenseitigkeitsorientierung im eigenen Überlegen. Im Laufe der Sozialisation, der Selbstwerdung und Persönlichkeitsentwicklung differenziert sich die faktische Orientierung bei Normenkonflikten derart, daß die Urteilenden die Frage, was ‚moralisch’ heiße, im Sinne einer stufenweise allgemeineren bzw. umfassenderen Gegenseitigkeit (jedenfalls implizit) beantworten. Die entwicklungslogische Antwort auf die Entstehungs- bzw. Wie-Frage der Moral lautet: Man wird moralisch, indem man zunächst – auf der vorkonventionellen und dann der konventionellen Ebene – die Frage, was moralisch zu sein heiße, in Form einer zunehmend umfassenden und abstrakten Gegenseitigkeit zu beantworten lernt. Dann erfolgt der Einschnitt der Krisenstufe 4½, der Sprung auf die metakonventionelle Urteilsebene. Hier wird nach Grundsätzen dafür gesucht, warum eine Gegenseitigkeitsorientierung als moralisch gelten soll. Die Was-Frage verwebt sich mit der Warum-Frage. Ja, sie wird nun im Lichte der Begründungs- bzw. Warum-Frage gestellt. Die Antworten stufen sich jetzt so auf, daß 208 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 progressiv allgemeine und 11.12.2009 abstrakte Grundsätze ins Spiel kommen; und zwar folgendermaßen: Stufe 5 – Einhalten der Grundsätze eines Sozial- und Verfassungsvertrags in bezug auf die Angehörigen ‚unseres’ politischen Verbandes, z.T. mit Menschenrechten, Stufe 5 ½ – Einhalten der Grundsätze einer als göttlich geachteten Gerechtigkeits- und Liebesethik mit Pflichten gegenüber allen Menschen, Stufe 6 – Sich-Einlassen auf kommunikative Diskurse und Sich-Orientieren am Prinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit, Stufe 7 – Sich-Distanzieren von einem gesinnungsethischen, harmonistischen und konkretistischen Verständnis des Moralprinzips und von der Ausschließlichkeit der rein dialogisch kommunikativen Einstellung, statt dessen Sich-Einlassen auf moralstrategische Situations- und Folgen-Diskurse, deren Ergebnisse aber dem Dialogprinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit genügen sollen. Die Stufen 6 und 7 eröffnen zudem die Chance einer erfüllten Autonomie. Denn sie ermöglichen es den Urteilenden, sich als Diskurspartner einzuholen, indem sie ihren Anspruch auf Urteilsautonomie, auf autonome Diskurspartnerschaft, einlösen – durch Beantwortung der prägnanten Frage „Warum moralisch sein?“ Es ist dies eine doppelte Frage, nämlich die wertethische Frage der Selbstmotivation: „Warum will ich eigentlich moralisch sein?“ und die normativ ethische Frage der Verbindlichkeitserkenntnis: „Warum soll ich (begründeterweise) moralisch sein?“ Auf der sechsten Stufe und mit situations- sowie zukunftsbezogener Differenzierung auf Stufe 7 erschließen sich den Fragenden – im Zuge einer sokratischen Besinnung auf ihre Ansprüche als Diskurspartner – nämlich folgende Antworten: ‚Ich, der ich mit Anspruch auf Wahrheit einen Diskurs führe, will mich um VerständigungsGegenseitigkeit und um Geltungs-Gegenseitigkeit bemühen, weil ich erkenne bzw. erkannt habe, daß andersartige Orientierungen mit meinem Anspruch, ein autonomer Diskurspartner zu sein, in Widerspruch geraten müssen, also meine Diskursglaubwürdigkeit und damit auch meine moralische Identität zerstören würden.’ Wenn skeptisch nachgefragt wird, warum man diese moralische Wertorientierung wählen und warum man diese Selbstmotivation wollen solle, so ergibt sich – ebenfalls durch Besinnung auf die eigene Diskurspartnerrolle – diese Antwort: ‚Weil ich anderenfalls meinen Anspruch, 209 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 auch und gerade bei der Beurteilung meiner Auffassungen und Handlungsweisen ein glaubwürdiger Diskurspartner zu sein, preisgeben müßte. Denn ich würde mir selbst praktisch unverständlich und verlöre gegenüber anderen meine Glaubwürdigkeit, meinen moralischen Kredit, den ich als Diskurspartner in Anspruch genommen habe, wenn ich in Zweifel zöge, daß ich die Bemühung um Sinnverständigung und um das beste Argument als meine Pflicht erkennen kann und daher in der Pflicht stehe, meine Urteilsbildung und mein Verhalten an der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit zu orientieren. Also sehe ich ein, daß ich eben das tun soll.’ Ist aber die Handlungssituation so beschaffen, daß du als Akteur (bzw. der von dir zu beurteilende Akteur) moralwidrige Bedingungen vorfindest oder solche Handlungsnebenfolgen nicht ausschließen kannst, die das Leben Dritter gefährden bzw. deren Menschenwürde in Frage stellen, dann stehst du, Diskurspartner, vor dem verantwortungsethischen Dilemma der Stufe 7: Du benötigst jetzt eine moralische Strategie, für die du in realer Kommunikation mit allen Beteiligten und Betroffenen (jedenfalls zur Zeit) keinen Konsens finden kannst. Freilich ist ein strategisches Handeln deiner dialogischen Moralgesinnung zuwider, weil du die Autonomie Anderer strikt achtest und niemanden ‚hintergehen’ willst. Nun frage dich als Diskurspartner, der das beste Argument sucht, mithin letztlich die Geltungsgegenseitigkeit in einer idealen Argumentationsgemeinschaft der wohlinformierten und moralischen Diskurspartner, ob du es sowohl wollen kannst als auch es verantworten, d.h. rechtfertigen und daher sollen kannst, die Entscheidung für eine jetzt nicht konsensfähige Strategie zu umgehen. Bald wirst du einsehen: du kannst diesen moralisch einfachen Weg nicht ernsthaft wollen. Denn er ist unvereinbar mit deiner moralischen Prinzipienorientierung, weil diese die Übereinstimmung deiner Handlungsweise bzw. deines Urteils mit der Geltungsgegenseitigkeit verlangt Kommunikationsgemeinschaft. und Das, damit was in deren Akzeptanz letzter Instanz in zählt, einer idealen das letztlich ausschlaggebende Kriterium, ist nicht die faktische Zustimmung seitens deiner real gegebenen Kommunikations-, sondern die Zustimmungswürdigkeit einer idealen, unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft. Freilich verlangt diese strikte Orientierung am DialogMoralprinzip die Zivilcourage, sich von der realen Kommunikationsgemeinschaft zu distanzieren, und ebenso die Gesinnungscourage, im Gegenzug zur unmittelbaren Moralität sich auf eine moralische Strategiebildung einzulassen und das reale Gegenüber zu 210 Vorlesung Böhler WS 2009/2010 11.12.2009 hintergehen. Der bequeme Weg wäre das Paradox eines ethischen Egoismus: du würdest im Sinne der Stufe 4 (Legalität) und der Stufe 1 (bloße Egoität) dein gesinnungsethisches Moralund Selbstverständnis (inkonsequente Stufe 6) behaupten, darüber aber deine moralische Anerkennung der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit in rein argumentativen Diskursen (konsequente Stufe 6) fahren lassen. Generell gilt: Alles das, was du als Diskurspartner nicht wollen kannst, weil es deiner moralischen Identität als eines Diskurspartners widerspricht, das darfst du auch nicht vorschlagen, wollen oder tun. Alles, was mit der Glaubwürdigkeit des Diskurspartners unverträglich ist, das darf ein Diskurspartner nicht wollen. Also soll er verantwortungsethische Diskurse führen und soll eine moralische Strategie suchen. Welcher Art muß diese sein? In Frage kommt bloß eine Strategie, von der er – gemeinsam mit den ernsthaften Diskurspartnern, denen er vertrauen kann – nach bestem Wissen und Gewissen anzunehmen berechtigt ist, daß sie in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft Zustimmung finden würde. 211