Einführung in die Praktische Philosophie/Ethik

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Dietrich Böhler
WS 2009/2010
Einführung in die Praktische Philosophie/Ethik:
»Wo bist du? Was sollen wir tun?
Was heißt Zukunftsverantwortung«
0
Viererlei Erstaunen und zwiefaches Erschrecken als Anfänge des
Philosophierens.
I
Moral und Politik vor der Herausforderung der Zukunftsverantwortung.
II
Was heißt Zukunftsverantwortung? Und sind wir überhaupt einsehbar zu
etwas verpflichtet?
Die Aktualität von Hans Jonas und der Diskursethik.
III
Zukunftsverantwortung und Atomenergie.
IV
Idee des Diskurses und moralische Urteilsstufen.
Systematische und historische Grundlagen der Ethik.
V
Neuzeitliche Stationen der (Praktischen) Philosophie ─ Descartes, Hobbes
und Kant. Oder: Das sich selbst vergewissernde und sich
selbstbehauptende Subjekt zwischen instrumenteller Rationalität
und praktischer Vernunft.
VI
Gesinnungs- und Verantwortungsethik: Moral zwischen biblischem
Brüderlichkeitsethos und säkularer Erfolgsverantwortung.
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung.........................................................................................................................5
0
Vielerlei Erstaunen und zwiefaches Erschrecken als Anfänge
des Philosophierens…………………………………………………….......................6
I
Moral und Politik vor der Herausforderung der Zukunftsverantwortung .......... 9
1
Politik in der Komplementarität von Positivismus/Expertokratie und
Dezisionismus/Existentialismus .................................................................................. 11
2
Ausweitung des menschlichen Handlungsbereichs und neue, prinzipienbezogene
Verantwortungsethik in der technologischen Zivilisation............................................ 15
3
‚Pragmatische‘ (Atom)Energiepolititik nach Helmut Schmidt ................................... 17
4
Diskursethische, also prinzipienbezogene Vermittlung von Moral und Politik oder
liberalistischer Rückgang auf faktische Übereinkünfte?.............................................. 21
II
Was heißt Zukunftsverantwortung? Und sind wir überhaupt einsehbar zu
etwas verpflichtet?..................................................................................................... 26
1
Zum Problem einer globalen Verantwortungsethik nach Max Weber......................... 32
2
Hans Jonas, Karl-Otto Apel und die Berliner Diskursethik –
prinzipienethische Antworten auf die neuartigen Herausforderungen
der praktischen Vernunft durch die technologische Zivilisation................................. 37
3
Metaphysische und spekulativ theologische versus reflexiv dialogische Begründung
des Prinzips Mitverantwortung. Läßt sich das Zugleich von Freiheit und
Verantwortung (Kants „Faktum der reinen Vernunft“) einholen?.............................. 49
4
Absolute Pflicht zum Dasein der Menschheit?............................................................ 64
4.1
Hans Jonas’ orientierende Gedankenexperimente……………………......…. 64
4.2
Unbezweifelbare Pflicht zur Daseinsbewahrung der Menschheit oder: Als
Diskurspartner hast du dich zur Vereinbarkeit deiner Thesen / Entscheidungen
mit einem unbegrenzten argumentativen Konsensus verpflichtet………...…. 74
5
Was heißt „moralische Verantwortung für die Zukunft“ und was „Diskursethik“?.... 80
6
Verbindlichkeitserweis der Achtung der Menschenwürde im Dialog mit einem
Zweifler…………………………………………………………………………….... 99
7
Die Grundnorm Achtung der Menschenwürde im Streit um
‚verbrauchende Embryonenforschung’ und PID....................................................... 119
2
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
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[ III Zukunftsverantwortung und Atomenergie ...………………..…………………... 124
1
Mit Jonas gegen Jonas: Gedankenexperiment der Wette versus „pragmatische“
Einstellung zur Atomenergie…………………………………………………………
2
Atomkraft als verantwortungsethische Notwendigkeitsstrategie?................................
3
Spaemanns metaphysisch wertethisches Verdikt über die Atomenergie diskursiv
eingeholt………………………………………………………………………………
4
Dialogpragmatische Kohärenzprüfung als kurzer Verantwortungsdiskurs. Keine
]
Zukunftsverantwortung mit Atomkraft……………………………………..…….....
IV
Idee des Diskurses und moralische Urteilsstufen.
Systematische und historische Grundlagen ……………………………………… 125
1
„Wo bist du?“............................................................................................................. 125
1.1
Sokratische Dialogreflexion. Begründungsweg der Berliner
Diskurspragmatik........................................................................................... 130
2
Praktische Vernunft oder: Was heißt und warum brauchen wir (argumentativen)
Diskurs?..................................................................................................................... 139
2.1
Diskurs als Befreiung aus dem tragischen Neben- und Gegeneinander von
Institutionen. Metakonventionelles Bewußtsein in der „Achsenzeit“ zwischen
800 und 200 v. Chr. .......................................................................................141
2.2
Die unbegrenzte Auswirkungsdimension menschlichen Verhaltens in der
hochtechnologischen Zivilisation. Kein Begriff der MenschheitsVerantwortung ohne die Geltungsidee des
Diskursuniversums..........................................................................................152
2.3
Diskurs und Vernunft: ideale versus reale Kommunikationsgemeinschaft
und Normen der Diskurspartnerrolle...............................................................159
3
Woher wir kommen: Biblisches Dialog- und Moral-Erbe, Erblasten der theoriaTradition..................................................................................................................... 172
4
Diskurs- und Moralstufen........................................................................................... 180
4.1
Lawrence Kohlberg und die Entwicklungslogik der ethischen Urteile.......... 182
4.2
Eine verantwortungsethische Stufe 7 oder: Das Problem der moralischen
Strategiebildung angesichts ‚schmutziger’ Handlungsbedingungen und
fragwürdiger Zumutbarkeit............................................................................ 292
4.3
Erfüllte Autonomie: ‚Meine’ Verantwortung und Glaubwürdigkeit als
Diskurspartner................................................................................................ 204
3
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4
Vorbemerkung
Diese Vorlesung fügt sich in den Rahmenlehrplan des Instituts für Philosophie der Freien
Universität Berlin von 2008 ein. Sie dient als „Einführung in die Praktische Philosophie“ für
den Studiengang des „neuen Bachelor“, als Kolleg „Politische und Sozialphilosophie“ für den
Studiengang des „alten Bachelor“, nicht zuletzt als Basiselement des Studiengangs
Vergleichende Ethik und schließlich als Vorlesung für das, noch den Geist der universitas
atmende, nun aber – skandalöserweise – auslaufende Magisterstudium.
Da die inhaltlichen Vorgaben des Rahmenlehrplans im Wintersemester eher auf eine
Grundlegung der Praktischen Philosophie zielen, weil zudem der Dozent eine sogenannte
Einführung hier eigentlich für sinnlos hält, alldieweil sich Praktische Philosophie, nicht als
wären wir in der Schule, „unterrichten“ läßt, sondern darauf hinauswill, daß wir
philosophieren und über die Grundlagen der Ethik nachdenken, wird hier eine diskursive
Einleitung in die Praktische Philosophie vorgelegt. Sie lädt ein zum Diskurs mit uns selbst; so
nämlich, daß insbesondere Grundlagen der Ethik ausgewiesen werden, indem wir uns darauf
besinnen, was wir selber unweigerlich in Anspruch nehmen und implizit anerkennen.
Wir selbst? – Ja, wir als Denkende, und das heißt als Partner in einem argumentativen Dialog.
Eine zweistündige Vorlesung kann in einem Semester nur exemplarische Arbeit leisten.
Zumal dann, wenn der Diskurs auch unmittelbar praktiziert wird. Dazu lade ich alle
Interessierten freundlich ein.
Ob freilich die Vorlesung und mein zugehöriges Grundlagenseminar mitsamt den
notwendigen Texten und Veranschaulichungsmitteln (Arbeitsunterlagen, Schemata etc.) zu
Ende geführt werden kann, ist ungewiß. Es hängt davon ab, ob der Geschäftsführende
Direktor des Philosophischen Instituts und das Dekanat bzw. der Verwaltungsleiter dem
Lehrstuhl Praktische Philosophie/Ethik ab November wenigstens Werkvertragsmittel für die
Kompensation der fehlenden Sekretariatshilfe (40 Std. im Monat) einräumen.
Dietrich Böhler
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Statt eines Mottos: Über das Erstaunen als viererlei Anfang des Philosophierens und
über das Erschrecken als zwiefacher Anfang des Verantwortungsdenkens extemporiert.
Was, sagt man, von alters, sei der Anfang der Liebe zur Weisheit oder des Philosophierens? –
Das Erstaunen.
Diese Antwort, die in der Philosophiegeschichte immer wieder zurückgekommen worden ist,
finden wir in Platons Dialog theaitheos, 155 d. Platon läßt dort Sokrates sagen, der Zustand
des Erstaunens sei der „eines gar sehr die Weisheit liebenden Mannes […]; ja es gibt keinen
andern Anfang der Philosophie als diesen, und wer gesagt hat, Iris sei die Tochter des
Thaumas, scheint die Abstammung nicht übel getroffen zu haben.“ Thaumas, eine archaische
Urgottheit, deren Name an „wunderbar“ anklingt, hat mit Elektra die regenbogenfarbene Iris
gezeugt. Sie bringt auf einem Regenbogen den Menschen göttliche Kunde, so daß man in
jeder Hinsicht über sie ins Staunen gerät: Über ihre schimmernde Schönheit ebenso wie über
ihre göttliche Botschaft. In der Odyssee wird sie durch den Götterboten Hermes verdrängt.
Letztlich ist das Erstaunen bei Platon eingebettet in seine „periagogé“, seine Umdrehung des
natürlichen Bewußtseins – weg von der sinnlichen Wahrnehmung und hin zur geistigen Schau
der Ideen als Strukturen des Seins und des Seins als ganzem bzw. als göttlich
wohlgeordnetem Kosmos. In diesem Rahmen lassen sich, scheint mir, drei
Bedeutungsaspekte des Erstaunens unterscheiden, nämlich Erstaunen
a) als verwunderte, befremdete Reaktion auf die insistierende Befragung bzw. den
kritischen Diskurs (élenchos). Verfährt Sokrates doch schon fast nach dem
diskursphilosophischen Motto: ‚Kannst Du Deinen Wissensanspruch, den Anspruch
auf Wahrheit Deiner Meinung begrifflich präzisieren und einlösen?’
b) Das Erstaunen als Reaktion auf die Selbstwahrnehmung im Diskurs mit dem
Hebammenkünstler Sokrates, dem Maieutiker und Dialektiker mit platonischem
Ideenwissen, der einem ein implizites Wissen aus der Seele bzw. dem Geist heraufholt
und es in begriffliches Ideenwissen transformiert.
c) Erstaunen über das Ideenwissen gipfelt in der Schau der höchsten Idee, der Idee des
Guten und Schönen und des Einen als Urgrund des Seins. Das kann schon ausgelöst
werden durch Betrachtung des Firmaments als des wohlgeordneten Kosmos, welche
Menschen zur Philosophie und durch Nachahmung (mimesis) zur Wohlordnung des
eigenen Denkens bringe (Timaios 47 und 28-30).
Es folgt eine mündliche Erläuterung des Schemas „Das Erstaunen“ (von II bis IV), sodann
des Schemas „Das Erschrecken“. (Forts. S. 6a fehlt noch…)
6
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Das Erstaunen oder:
Viererlei Anfang des Philosophierens – von der Betrachtung zur Reflexion.
I. Platons periagogé Wendung von
der sinnlichen Wahrnehmung zur
geistigen Schau der Ideen/des Seins
(oder der Dinge an sich)
II. Kants ‚kopernikanische‘ Wende
von der theoria/spekulativen Schau
der Dinge an sich zur
„transzendentalen“ Rekonstruktion
der Erfahrungs- bzw.
Erkenntnisbedingungen des
Vernunftsubjekts
(I.)
Sein
Arten
und
Drehungen
der
Betrachtung
III. Sprachpragmatische Drehung
der Betrachtung „um unser eigenes
Bedürfnis [nach Intersubjektivität]
als Angelpunkt“ (Wittgenstein)
oder um unsere Sprachpraxis bzw.
Dialogpraxis
IV. Reflexiv-sprachpragmatisch/
diskursreflexive Wende:
Von der Betrachtung/Analyse/
Rekonstruktion der Sprachpraxis
zur aktuellen Reflexion auf
mich/dich als demjenigen, der
gerade etwas als etwas
versteht/geltend macht/tut.
(II.)
Erkenntnissubjekt
(III.)
Sprache/Praxis/Diskurs
Wende
von der
Betrachtung
zur
aktuellen
Reflexion
(IV.)
Ich/Du/Es jetzt in
sprachlicher Praxis als
argumentativem Dialog
7
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Das Erschrecken: Zwiefacher Anfang des Verantwortungsdenkens
I.
Erschrecken vor dem technologischen Prometheismus.
Die äußere Herausforderung der Vernunft/des Diskurses ergibt sich aus der Einsicht
in die Gefährdung der Existenz der Menschheit auf Erden und damit in die
Gefährdung der Existenzbedingungen von „Diskurs und Verantwortung“ (Apel, 1988)
durch eine ökologische Dauerkrise und eine technologisch/ökonomische
Dauergefährdung menschenwürdigen Lebens auf Erden (Jonas, 1979).
II.
Erschrecken vor der Entethisierung von Vernunft/Wissenschaft als moralfreier Ratio.
In diesem Erschrecken spiegelt sich die innere Herausforderung der Vernunft (Apel
1973 u.ö.) durch einen Vernunftbegriff und die Praktizierung einer Rationalität ohne
Prinzipienbegründung – mithin ohne einsehbare Verbindlichkeit als universale
Verpflichtung zur Menschenwürde, zur Gerechtigkeit und zur Zukunftsverantwortung.
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I Moral und Politik vor der Herausforderung der Zukunftsverantwortung
„Moral und Politik“ bezeichnet die Themenstellung der politischen Ethik. Sie ergibt sich aus
dem bleibenden Konflikt zwischen der Interessendurchsetzung und Selbstbehauptung eines
Staatsvolkes oder einer Interessengruppe und der Anerkennung moralischer Grundsätze, die
zu Partnerschaftlichkeit und Konsensbemühung oder zumindest zur Kompromißbereitschaft
auffordern. Die beiden Elemente dieses Konflikts sind zwar Pole eines unauflösbaren
Spannungsverhältnisses, stehen sich aber weder in der Geschichte noch in der Gegenwart
(Zivilisationskrise als Menschheitskrise) wie völlig unvereinbare Extreme gegenüber. Denn
die Interessendurchsetzung hängt zumindest langfristig von einer gewissen Verständigung
zwischen den einander entgegenstehenden Interessengruppen bzw. Nationen ab – und sei es
ein bloßer Interessenkompromiß. Bereits strategisch und zweckrational eingegangene
Kompromisse setzen aber, wie alle Übereinkünfte und Verhandlungen, ein Mindestmaß an
gegenseitigem Vertrauen voraus, das letztlich auf der gemeinsamen Anerkennung moralischer
Grundsätze beruht.1 Als Grundeinsicht politischer Ethik kann daher gelten, daß
Interessendurchsetzung und (einsehbar verbindliche) Moral ein Spannungsverhältnis mit
Vermittlungstendenz darstellen.
Als in der frühen Neuzeit, vor allem von Niccolò Machiavelli, und im Absolutismus etwa von
Jean Bodin, die moralfreie Selbstbehauptung des Staates durch Machtpolitik zum Inbegriff
der politischen Rationalität, nämlich der Raison des Staates und seiner Souveränität, wurde,
traten zugleich der christliche Humanismus und das Naturrecht der Aufklärung auf den Plan.
Durch Entwicklung eines Völkerrechts (Hugo Grotius) und durch den Versuch, den bürgerlichen Friedenszustand auf einen Staatsvertrag bzw. Sozialvertrag aus wohlverstandenem
Eigeninteresse zu gründen (Thomas Hobbes), sollten einerseits Fürstenwillkür oder gar rücksichtslose Herrschergewalt, andererseits egoistische Selbstbehauptung der Bürger und
Bewaffneten moralisch eingegrenzt werden.
Folie zu Seite 9
Unabhängig davon, nämlich zunächst vor dem Hintergrund von Luthers Lehre von der
Rechtfertigung aus Glauben und vom christlichen Handeln im Blick auf die beiden Reiche
Gottes, ist vom Luthertum eine Ethik des Kompromisses entwickelt worden. Aufgrund seiner
Verantwortung für die reale Welt (z.B. als Politiker) solle der Christ zum Kompromiß
zwischen dem absoluten Liebesgebot Jesu (Nächstenliebe, Bergpredigt) und den
Möglichkeiten bzw. Bedürfnissen der geschichtlich-gesellschaftlichen Realität im Sinne einer
1
Insofern sind Kompromisse zu messen (und d.h. kritisch zu prüfen) an der Vernunftidee eines strikt
argumentativ begründeten Konsensus.
9
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Realpolitik bereit sein. Freilich wurde Luthers ‚dialektische‘ Bestimmung der christlichen
Existenz, die auch den weltlich (im „Reich zur Linken“) und gemäß seinem jeweiligen
„Stand“ pflichtgemäß handelnden Christen immer in letzter Instanz „vor Gott“ (coram deo)
gestellt sieht, mehr oder weniger ignoriert. An die Stelle von Luthers ‚dialektischer
Sichtweise‘
trat
im
orthodoxen
Luthertum
und
im
deutsch-national
gesonnenen
Neuprotestantismus des 19./20. Jahrhunderts ein statisches „Denken in zwei Räumen“
(D. Bonhoeffer), die als getrennt und eigengesetzlich angesehen wurden. Das gibt unser
Schema „Erläuterung zu S. 10“ wieder:
M. Luther
Zwei Reiche Gottes
Reich zur Linken:
Reich zur Rechten:
Obrigkeit herrscht mit Recht und Gewalt,
Christus herrscht in Gnade durch Wort und
Ordnung nach Ständen in institutioneller
Sakrament, Existenz in Gleichheit und
Verantwortung.
Liebe.
Dialektische Existenz des Christen:
Coram deo et coram mundo aber auch die weltliche Existenz stets coram deo.
Protestantischer Hauptstrom nach Luther:
-
Undialektisches Denken in zwei getrennten Räumen mit einer
-
Ethik des Kompromisses zwischen absolutem Liebesgebot und geschichtlichgesellschaftlicher Tunlichkeit bzw. Realpolitik.
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1
Politik in der Komplementarität
Dezisionismus/Existentialismus
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von
Positivismus/Expertokratie
und
Wenn im 20. Jahrhundert das Verhältnis von Moral und Politik bestimmt wurde, dann meist
in einem eigentümlich verkürzten Sinn sowohl des Moral- wie auch des Politikbegriffs. Denn
unter dem Einfluß des deutschen Liberalismus und vor allem Max Webers hat sich der
Zeitgeist daran gewöhnt, Moral (Ethik) als in doppeltem Sinne subjektive bzw. private
Gesinnungs- und Handlungsorientierung anzusehen, Politik hingegen als in doppeltem Sinne
intersubjektive Ausübung von Herrschaft über und von Verantwortung für ein Gemeinwesen.
Als intersubjektiv gilt die Politik, (1) insofern ihre mit Gewaltsamkeit verbundene
Herrschaftsausübung rechtsstaatlich legal ist und vom jeweiligen Staatsvolk als legitim
angesehen wird, und (2) insofern ihre Verantwortungsausübung verfahrensgemäß sowie
zweckrational ist und auf „wertfreiem Expertenwissen“ beruht, zudem auch die anfallende,
empirisch-theoretische Situationsanalyse geschlagen wird.
Erläuterung 1 zu Seite 11
Der letzte Punkt ist für das Politikverständnis in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation
charakteristisch: Es unterstellt, daß sich die Intersubjektivität der Politik insbesondere durch
die vermeintliche Objektivität von Situationsanalyse und Expertenwissen ergibt, also
aufgrund der monologischen Einstellung des Analytikers und objektivierenden Theoretikers.
Diese Einstellung macht die Gesellschaft bzw. einen gesellschaftlichen Problem- und
Planungsbereich zum Objekt und geht davon aus, daß hinreichendes Wissen über dieses
Objekt und zulängliche Planung dieses Objekts möglich ist, ohne daß Analyse und Planung
grundsätzlich auf Kommunikation und Verständigung mit diesem „Objekt“ angewiesen
wären. Das ist das expertokratische oder technokratische Selbstverständnis der Politik
(Expertokratie). In der westlichen Zivilisation ist es durch den Positivismus zur Herrschaft
gekommen, wurde in den letzten Jahrzehnten aber scharfer Kritik unterzogen.
Erläuterung 2 zu Seite 11
Die angedeutete Verkürzung des Politikverständnisses betrifft den Sinn der Politik als
öffentlicher Sache (res publica) im demokratischen Rechtsstaat, und zwar sowohl hinsichtlich
der Situationseinschätzung wie auch der Entscheidungsfindung, die beide nicht bloß
Angelegenheit von Experten und Politikern sein können und sein dürfen. Vielmehr müssen
beide, wenn sie rational und demokratisch-republikanisch sein sollen, Sache des öffentlichen
Dialogs sein. Das vorherrschende Verständnis des politischen Entscheidungsprozesses im
Sinne einer einsamen verantwortungsethischen Entscheidung (Max Weber) oder im Sinne der
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verwandten Situationsethik Jean-Paul Sartres läßt ein solipsistisch bzw. individualistisch
verkürztes Moralverständnis in die Politik einfließen. Dadurch wird in der Politik das
wirksam, was Karl-Otto Apel als Arbeitsteilung und als Verhältnis wechselseitiger Ergänzung
sowie
Ausschließung
oder
„Komplementarität“
von
Positivismus
einerseits
und
Existentialismus bzw. Dezisionismus andererseits beschrieben hat:
„Der Existentialismus ist die Philosophie der privaten, rein subjektiv verbindlichen und
insofern irrationalen Wertentscheidungen. Der Positivismus (Szientismus) ist die Philosophie
der wertfreien Rationalität, die im öffentlichen Lebensbereich durch Sachverständige
(‚Experten‘) zur Geltung gebracht wird. Die ebenfalls wertneutrale ‚Verfahrens‘-Rationalität
der öffentlichen Praxis ergibt sich dann daraus, daß die wissenschaftliche und technologische
Ermittlung von Wenn/dann-Regeln, die Ursachen und Wirkungen bzw. Mittel und Zwecke
verknüpfen, im politisch-wirtschaftlichen und politisch-juristischen Denken als Kalkulation
der Folgen und Nebenfolgen von Handlungen zur Geltung gebracht wird. Die Philosophie
dieser im wertneutralen Sinne ‚praktischen‘ Ergänzung der wissenschaftlichen ExpertenRationalität durch das Bedenken von Folgen und Nebenfolgen ist der amerikanische
Pragmatismus.“
Erläuterung zu Seite 12
Bei Weber und in dem, von ihm beeinflußten, „Kritischen Rationalismus“ Karl R. Poppers
und seiner Schule werden diese Elemente so zusammengebracht, daß man hier
gewissermaßen vom offiziellen Selbstverständnis der liberal verfaßten, wissenschaftlichtechnischen Zivilisation sprechen kann. Der Kern dieses Selbstverständnisses ist die
Komplementarität von wissenschaftlich-theoretischer Rationalität plus politischer Verfahrensund
Zweck-Rationalität
einerseits
und
privater,
irrationaler
Zwecksetzung
und
Wertentscheidung andererseits.
Den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Komplementaritätsauffassung von Moral und
Politik und ihrer (Weberschen) Zuspitzung zur Komplementarität zwischen persönlicher
Gesinnungsethik und politischer Erfolgsverantwortungsethik bilden vor allem Machiavellis
Politikbegriff und Luthers Rechtfertigungslehre bzw. Zwei-Reiche-Lehre. Am Vorabend und
in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind Machiavelli und Luther, dieser
freilich arg mißverstanden, vom deutschen Liberalismus aktualisiert worden – zumal von den
Lutheranern Max Weber und Friedrich Naumann.
Im Blick auf das Italien der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, zerfallen in rivalisierende
Fürstentümer und Stadtstaaten, zu denen auch der rücksichtslos machtpolitische Vatikanstaat
gehörte, und im Blick darauf, daß glaubwürdiges Christentum nur noch in individueller
Frömmigkeit mit weltabgewandter Liebespraxis existierte, war Machiavelli zu dem Schluß
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gekommen, daß Politik und (christliche Liebes-) Ethik zweierlei sind. Zwischen der
strategisch geschickten Selbstbehauptung oder Machtbehauptung eines Gemeinwesens
bzw.seines Machthabers und der Nächstenliebe im Umgang mit dem einzelnen Nächsten
bestehe ein grundsätzlicher Konflikt. Daher beschreibt und entwirft Machiavelli Politik als
wertneutrale Kunst, als Technik des strategischen Handelns der Menschenführung und
Staatslenkung, der diplomatischen und militärischen Machtbehauptung. Politik könne sich gar
nicht nach moralischen Normen richten, weil sie es vor allem mit politischen Gegnern bzw.
egoistischen Menschen zu tun habe und vor allem auf „Notwendigkeiten“, Notlagen und
Sachzwänge, reagieren müsse. Unter solchen Bedingungen müsse ein Herrscher alles
daransetzen, Erfolg für sein und in seinem Gemeinwesen zu erzielen, zumal für den
Machterhalt.
Im Blick auf strategisch machtpolitische Handlungsbedingungen wird, seit Machiavelli, als
„Staatsraison“, als Rationalität der Staatsführung und später auch als Ratio der Beamtenschaft
und generell der Verwaltung das moralfreie erfolgsbezogene Zweck-Mittel-Kalkül angesehen:
die „Zweckrationalität“. Das ist der Hintergrund, vor dem Max Weber die Idee einer
politischen Verantwortungsethik entwickelt hat, die er der Liebesethik Jesu und die
Wahrhaftigkeitsmoral Kants als personale „Gesinnungsethik“ gegenübergestellte. Denn eine
solche müsse in der politischen Realität scheitern; gelebt werden könne sie eigentlich nur von
Heiligen, die nicht für die Durchsetzung von Interessen anderer und nicht für die Bewahrung
eines Gemeinwesens verantwortlich sind.
Für das Politikverständnis und die politische Praxis in der Bundesrepublik, und zwar sowohl
in der SPD wie auch in der FDP und CDU/CSU, aber ähnlich für die Politik der anderen
westlichen Industriegesellschaften sollte es von entscheidender Bedeutung werden, daß nach
dem Vorbild Webers und Naumanns die Moral zur Gesinnungs- und Privatsache subjektiviert
und die Politik, unter dem Titel der Verantwortungsethik, zu einem eigengesetzlichen Bereich
der Zweckrationalität und Sachzwänge erklärt wurde. Scheinbar legitimiert durch die
„lutherische Scheidung“ von Politik und Heilsverkündigung, von „äußerer Macht oder Logik,
die in den Dingen selber liegt“ und „unserem persönlichsten Ich“ (F. Naumann), konnte sich
ein selbstgenügsames Politikverständnis durchsetzen. Die offizielle Politik verstand sich ohne
weiteres, ohne selbstkritischen moralischen Diskurs, als verantwortungsethisch und entzog
sich moralisch-politischer Kritik, indem sie diese als „gesinnungsethisch“ abqualifizierte.
Eine solche Abqualifizierung bedeutet freilich den Ausschluß der Kritiker aus der seriösen
politischen Diskussion und ihre Verbannung in ein Ghetto der Schwärmer und Idealisten. Ja,
zur Zeit der deutschen Teilung, in der alten Bundesrepublik, hatte das fast automatisch eine
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Diffamierung der Kritiker zur Folge: Sie seien trojanische Pferde bzw. geistige Wegbereiter
des Kommunismus oder des Terrorismus oder aber Angstneurotiker, deren Warnungen zur
Massenpsychose bzw. zur Hysterie verleiten. Nach diesem Muster war schon Konrad
Adenauers Verteidigungsminister, Franz Josef Strauß, mit den Gegnern der atomaren Rüstung
(1957) und mit den Atomphysikern der Göttinger Achtzehn verfahren, als sie schließlich in
die sozialdemokratische und protestantisch theologische Kritik an einer Atombewaffnung der
Bundeswehr einstimmten. Nach diesem Muster verfuhren dann die Parteispitzen der CDU,
aber alsbald auch Herbert Wehners SPD mit der Ostermarschbewegung der 60er Jahre;
analog bekämpfte seit 1967 die CDU – gegen scharfen Widerspruch Gustav Heinemanns und
Willy Brandts – die Studentenbewegung. Dementsprechend agierte schließlich die CDU aber
auch Kanzler Helmut Schmidt gegen die grün-alternative Bewegung und gegen die
Friedensbewegung der 80er Jahre.
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Ausweitung des menschlichen Handlungsbereichs und neue prinzipienbezogene
Verantwortungsethik in der technologischen Zivilisation
Heute werden von den Kritikern neuartige moralische Forderungen gegenüber dem Staat
erhoben. Sie ergeben sich dann, wenn elementare Staatszielbestimmungen (wie Schutz der
natürlichen Lebensgrundlagen, Art. 20a GG, und Wahrung des Friedens) wenn die
Legitimationsgrundlage des Verfassungsstaates, nämlich die Achtung der Menschenwürde
(Art. 1 GG), und die verfassungsrechtliche Verpflichtung auf Menschen- und Bürgerrechte
aktuell ernst genommen werden, indem man sie einer Situationsanalyse der globalen
technischen Zivilisation und einer Folgenanalyse der Politik gegenüberstellt; z.B. der Innen-,
der Wirtschafts- und Energiepolitik, der Bildungs-, Wissenschafts- und Technologiepolitik
und nicht zuletzt der Militärpolitik. Denn in der technischen Zivilisation hat sich das
Verhältnis von Politik und Moral grundsätzlich gewandelt: Zahlreiche politische Maßnahmen
und politisch zu verantwortende technisch-industrielle Projekte bzw. Praktiken, aber auch
viele Konsumgewohnheiten haben schädliche Nebenfolgen, die weit über den Lebensbereich
der einzelnen Nation und weit über den Zeitraum der Gegenwart hinaus wirken oder sogar
eine planetarische Wirkungsdimension erreichen. Beispielsweise bedeutet die Inbetriebnahme
eines einzigen Atomkraftwerks durch die sogenannte Entsorgungsnotwendigkeit das Risiko
radioaktiver Verseuchung ca. über eine halbe Million Jahre und macht technische
Schutzmaßnahmen sowie polizeiliche Sicherheitsvorkehrungen, die die Bürgerfreiheit in
Frage stellen, für etwa 7000 Generationen erforderlich.
Der Ausweitung des menschlichen Handlungsbereichs, 1973 von Karl-Otto Apel und 1979
von Hans Jonas grundsätzlich bedacht, entspricht eine Ausweitung und qualitative
Veränderung des Problemhorizonts der Ethik und insbesondere der Verantwortungsethik.
Während Max Webers Postulat einer Verantwortungsethik nur die Solidarität hinsichtlich der
Interessen einer Gemeinschaft bzw. eines Staatsvolks unterstellte, so daß sie den Politiker
allein für den Erfolg im Sinne dieser Binneninteressen verantwortlich machte, wird heute eine
Solidarität der Menschheit und eine Mitverantwortung der Politik für die gesamte Menschheit
gefordert. Solidarität hat dabei den im Godesberger Programm der SPD von 1959 entfalteten
Doppelsinn (a) einer Verbundenheit der Menschen als Interessensubjekte in einer ökologischökonomisch verflochtenen Welt und (b) einer weltweiten gegenseitigen Verpflichtung, die
legitimen Interessen der anderen und zumal der Schwachen beim eigenen politischen Handeln
zu beachten. Auf diesen universalen Horizont sind heute signifikante politisch-ethische
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Argumente und Forderungen der kritischen Öffentlichkeit bezogen; sie verweisen auf eine
globale und zukunftsbezogene Verantwortungsethik.
Vor diesem Hintergrund ist die kritische praktische Philosophie ist zu dem Ergebnis
gekommen, daß das Verhältnis von Politik und Moral kein unmittelbares sein kann und darf,
sondern allein ein mehrstufiges, das über Diskurse, über öffentliche Sinn- bzw.
Bedürfnisermittlung, demokratische Mehrheitsentscheidung und deren verfassungsrechtliche
Normenkontrolle und schließlich über begleitende moralische Verantwortungsdiskurse
vermittelt sein soll. Für die Ethik bedeutet dies, daß sie kommunikative Diskursethik wird. Für
die Politik folgt daraus zweierlei:
Grundsätzlich gelten politische Überzeugungen und Handlungen nur insoweit als moralisch
legitim und wirklich rational, als diese (in praktischen Diskursen) einer Überprüfung im
Hinblick auf das Moralprinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit∗ standhalten. Konkret
können politische Beschlüsse und Maßnahmen nur dann als moralisch legitim und wirklich
rational gelten, wenn sie auf einer bestmöglichen Situationsanalyse (im empirischtheoretischen Diskurs) einschließlich öffentlicher Verständigung mit den Betroffenen über
ihre Werte und Interessen (kommunikative Sinnermittlung) beruhen. Daraus ergibt sich der
Rahmen einer Vermittlung von Diskursethik und rechtsstaatlich demokratischer Politik:
(1)
Reflexiver Verbindlichkeitserweis des Moralprinzips durch Besinnung auf den
normativen Gehalt des argumentativen Dialogs als desjenigen Anerkennungs- und
Verpflichtungsverhältnisses, das logisch unhintergehbar ist, weil jeder, der etwas
behauptet bzw. bestreitet oder bezweifelt, schon die Rolle eines Argumentationspartners
übernommen hat;
(2)
Verhältnisbestimmung der Idealität/Kontrafaktizität des Moralprinzips zur teilweise
nonmoralischen Realität (Faktizitiät) der natürlichen und gesellschaftlichen Lebenssowie Kommunikationsbedingungen, und zwar mit dem Ziel, in und gegenüber der
Realität moralische Strategien auszubilden und dadurch die Entgegensetzung
„Gesinnungsethik oder Verantwortungsethik“ aufzuheben;
(3)
Analyse der gesellschaftlichen und ökologischen Situation (im politisch zu fördernden
empirisch-theoretischen Diskurs);
(4)
diese aber
unter Einschluß einer öffentlichen Verständigung mit gegenwärtigen
Betroffenen über ihre Bedürfnisse und mit Anwälten möglichen betroffenen Lebens
∗
Etwa in dieser Formel des Diskursgrundsatzes (D): >Handle so, daß die Maxime und die Wirkungen deines
Handelns die Zustimmung aller als Argumentationspartner verdienen.<
16
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einschließlich nichtmenschlicher Lebewesen bzw. Ökosysteme (als politisch zu
verwirklichende kommunikative Sinnermittlung);
(5)
konkrete praktische Diskurse zur Prüfung der moralischen Verantwortbarkeit der
jeweils vorgeschlagenen
politischen Maßnahme, nämlich im Blick auf das
Moralprinzip (als öffentlich durchzuführende universale Beratung unter Beteiligung von
Philosophen, Theologen und Anwälten von Lebensbedürfnissen wie Ökologen);
(6)
politische Entscheidung nach dem Verfahren des Mehrheitsbeschlusses, das jedoch,
auch in der Sache, revidierbar bleiben, einer verfassungsrechtlichen Normenkontrolle
unterworfen sein und von weitergehenden moralischen Diskursen begleitet werden soll.
Aus den Verfahrensschritten (5), (2) und (1) dieses Orientierungsrahmens würde
beispielsweise eine Kritik von Helmut Schmidts sorgfältigen und diskurswürdigen „Maximen
politischen Handelns“2 und zumal ihrer Anwendung auf die Energiepolitik folgen. Denn sein
Plädoyer für eine energiepolitische Risikostreuung durch Einsatz aller Energiearten,
einschließlich der Atomenergie, unterstellt einfach eine gleiche moralische Verantwortbarkeit
und gleiche moralische Legitimitätsfähigkeit aller Energieformen: „Jeder Energieträger bringt
entweder ökologische Risiken oder politische oder wirtschaftliche oder soziale Risiken mit
sich oder mehrere davon gleichzeitig. Und für diese Risiken lassen sich keine absolut sicheren
Voraussagen machen. Und da das nicht möglich ist, ist es nötig, die Risiken, wenn das geht,
zu streuen und das Gesamtrisiko zu minimieren. […] Deshalb einerseits ein starker
Nachdruck auf Energieeinsparung; deshalb andererseits Vorrang für die vorhandene bisher
genutzte und deshalb in ihrem Risiko bekannte (übrigens in ihrem Risiko häufig
unterschätzte) Kohle. Deswegen aber zugleich die Befürwortung der Förderung und der
Nutzung neuer Energiearten; auch Förderung eines begrenzten Ausbaus der Kernenergie. […]
Risikostreuung! Solche Abwägungen, wie sie unsere Energiepolitik bestimmen, liegen mit
Sicherheit im Rahmen, den der kategorische Imperativ zieht.“3
Schmidt schließt hier das Verfahren der (Risiko-)Folgenabwägung nach Wenn-dann-Regeln,
dessen Hintergrundphilosophie teils der amerikanische Pragmatismus, teils der Kritische
Rationalismus Poppers bildet, direkt an Kants moralische Geltungsprüfung i. S. des
kategorischen Imperativs an. Zwar hat er diesen zuvor schon mit Hans Jonas mit Blick auf die
Zukunft des Menschen und der Natur erweitert, ja ihn stillschweigend i. S. einer
kommunikativen Kant-Transformation á la Apel hochinterpretiert – als die Grundnorm, „in
2
Rede des Bundeskanzlers auf dem Kant-Kongreß der Friedrich-Ebert-Stiftung am 12. März 1981. Presse- und
Informationsamt der Bundesregierung. Reihe Berichte und Dokumentationen, Band 23, ISSN 0172-7575.
3
A.a.O., S. 14 f.
17
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Übereinstimung zu handeln mit dem, was […] Verständigung ermöglicht“4 – aber wo bleibt
diese zugleich kommunikativ diskursive und zukunftsverantwortliche Programmatik, wenn es
um die Risikobeurteilung der Atomenergie geht?
4
A.a.O., S. 10 und 9.
18
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
3
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‚Pragmatische‘ (Atom)Energiepolitik nach Helmut Schmidt
In Kapitel III der Vorlesung werden wir zeigen, daß einer Atomenergiepolitik die
kommunikative Perspektive der Zukunftsverantwortung fehlt, die sich aus dem Moralprinzip
und der (von diesem mitgebotenen) Verantwortung für die natürlichen Lebensbedingungen
ergibt: Atomenergie läßt sich daher in keinem praktischen Diskurs rechtfertigen, kann also
nicht als „moralisch, d.i. als Grund einer Verbindlichkeit gelten“ (Kant). Helmut Schmidt
unterstellt einfach, seine Entscheidung für ein Verfahren der „Risikostreuung“ unter
Einbeziehung der Atomenergie liege mit Sicherheit in dem Rahmen, den der, zuvor noch
zukunftsverantwortungs- und dialogbezogen vertiefte (!), kategorische Imperativ zieht. Diese
Unterstellung und die einhergehende Auszeichnung der eigenen Folgen- und Risikoabwägung
als „vernunftgemäß“ samt Verwertung anderer Standpunkte als „unvernünftig“5 erweisen sich
als hinfällig, wenn sie anhand des diskursethischen Vernunftmaßstabs und dessen
Anwendung auf praktische Fragen geprüft wird.
Denn jener Maßstab lautet gemäß Diskursgrundsatz >D<, daß nur solche Argumente als
vernünftig gelten, die die Zustimmung aller verdienen und daher auch in einer idealen
Argumentationsgemeinschaft konsensfähig wären. Und jene Anwendung besteht in der
selbstkritischen Frage eines ernsthaften Diskursteilnehmers: „Würden die gegenwärtigen oder
künftig lebenden Betroffenen, wenn ihnen die beschlossene Handlung H und deren Folgen
bekannt würden, mit konsensfähigen Gründen dagegen argumentieren können?“
An den Verfahrenschritten (3) und (4) des diskursethischen Orientierungs- und
Urteilsrahmens müßte Helmut Schmidts politische Ethik scheitern, insofern ihrer
Situationsanalyse die methodisch-solipsistische und theoretisch objektivierende Einstellung
des Experten zugrunde liegt, der eine Situation ohne Verständigung mit den zur Situation
gehörenden Menschen richtig zu erkennen glaubt, indem er diese einfach als Objekte seiner
Analyse traktiert. Die Experteneinstellung verzichtet nicht nur auf Kommunikation, sondern
hat eine dialogzerstörerische Tendenz. Macht sie doch diejenigen, mit denen sie
kommunizieren sollte, bloß zum Objekt ihrer Kausalerklärungen und unterstellt daher
vorweg, über die Motive und Interessen der verobjektivierten Menschen besser Bescheid zu
wissen als diese selbst. So nahm Schmidt etwa die Gegner der Kernenergie nicht als
5
A.a.O., S. 15 und 16.
19
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
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gleichberechtigte Dialogpartner ernst, sondern disqualifizierte sie als Träger von „Urängsten“
bzw. von „Aggressionen“ gegen den Staat.6
*
Ob
sich
die
expertokratische
Einstellung
und
die
Energiepolitik
des
beliebten
Altbundeskanzlers – nach zwanzig Jahren fortgesetzten Diskurses – verändert haben, mögen
die Leser seiner Bilanz „Ausser Dienst“, München 2008, prüfen.
In diesem Buch heißt es auf S. 88 f.: „Noch in den fünfziger Jahren war den meisten
Deutschen die Kernkraft als wünschenswert erschienen; einige Jahrzehnte später hat
Deutschland als eines von wenigen Ländern aus Angst vor der Kernkraft den >Einstieg in den
Ausstieg< beschlossen und hält bis heute daran fest, obgleich die Kernkraftwerke inzwischen
aus Gründen der Vernunft, nämlich aus ökologischen und ökonomischen Gründen, in aller
Welt gebaut werden. Als in den späten sechziger Jahren in den USA viele Studenten wegen
des Vietnam-Kriegs protestierten, setzten deutsche Jugendliche die Protestbewegung fort,
weil sie eine >Rückkehr des Faschismus< befürchteten. Als in den siebziger Jahren der >Club
of Rome< mit zwei Berichten ziemlich irrational das >Ende des Wachstums< verkündete,
fand er nirgendwo mehr geängstigte Anhänger als bei uns Deutschen. In den achtziger Jahren
protestierten Hunderttausende Deutsche zweimal gegen den NATO-Doppelbeschluß. Für die
Zukunft ist nicht auszuschließen, daß eine andauernde hohe Massenarbeitslosigkeit, welcher
der Gesetzgeber mit vernünftigen, jedoch unpopulären Arbeitsmarkt- oder sozialpolitischen
Schritten zu begegnen sucht, abermals einen Nährboden für psychotische Reaktionen bieten
kann, wie bereits 2003 die Ablehnung von Kanzler Schröders durchaus vernünftiger und
notwendiger >Agenda 2010< gezeigt hat.“
6
A.a.O., S. 39.
20
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
4
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Diskursethische, also prinzipienbezogene Vermittlung von Moral und Politik
oder liberalistischer Rückgang auf faktische Übereinkünfte?
Der diskurs- bzw. dialogethische Rahmen der Vermittlung von Politik und Moral verwirft die
methodisch-solipsistische Tendenz und das theoretisch objektivierende Selbstverständnis des
Expertenpolitikers und hebt sie in ein kommunikatives, öffentlichkeitsbezogenes Verständnis
der
Situationsanalyse
und
Politik
auf.
Zudem
ersetzt
es
das
monologisch
verantwortungsethische Selbstverständnisses des Staatsmannes, der seine Entscheidungen
letztlich als die eines ‚Einsamen vor Gott’ versteht und seine Grundwerte wählt, als träfe er
eine Glaubensentscheidung durch ein dialogisches Verständnis der politischen Urteilsbildung
und Entscheidungsfindung. In welchem Sinne?
In jenem dialogbezogenen Rahmen wird die konkrete politische Verantwortung als
kommunikativ diskursiver Prozeß verstanden und praktiziert, nämlich
anhand des
intersubjektiv gültigen Diskursgrundsatzes (D), der zugleich Moralprinzip ist. Bezogen auf
politische Realität ist dieses Moralprinzip freilich kontrafaktisch. Daher behält es den Status
eines regulativen idealen Prinzips: Es gibt eine permanente Aufgabenstellung an – eine stets
in Geltung bleibende Aufgabe, die seitens der Angesprochenen, der Wahlbürger und der
gewählten Bürger zumal, eine ebenso permanente Bemühung verlangt. In diesem Sinne läßt
es sich als politisch-ethischer Imperativ formulieren:
>Bemüht euch um Argumente und solche Entscheidungen, deren Wirkungen zumal in einer
idealen Kommunikations- und Argumentationsgemeinschaft konsensfähig wären; und bemüht
euch darum, zur Realisierung solcher Verhältnisse beizutragen, die den Anerkennungs- und
Dialogstrukturen einer reinen Kommunikationsgemeinschaft, in der unter Gleichberechtigten
nichts als das beste Argument gesucht würde, so nahe wie möglich kommen!<
In der politischen Praxis muß aber immer mit einer erheblichen Spannung zwischen der
kontrafaktischen Vorwegnahme einer rein argumentativen und unbegrenzten, insofern idealen
Kommunikationsgemeinschaft und den realen gesellschaftlichen Verhältnissen samt
allfälligen amoralischen Verhaltensweisen, nondialogischen Durchsetzungsstrategien und
Systemmechanismen gerechnet werden. Alles andere wäre nicht nur „Blauäugigkeit“ sondern
Verantwortungslosigkeit. Der zweite Verfahrensschritt des diskursethischen Schemas ist
deshalb eine Konkretion des Moralprinzips durch eine moralische Strategie, die den
Gesichtspunkt der Verantwortung für den Erfolg unter den ja gegebenen realen
Handlungsbedingungen zur Geltung bringt. In nüchterner Einschätzung einerseits der
21
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
teilweise undialogischen oder sogar dialoggefährdenden Handlungsbedingungen der
anthropologischen und soziologischen Gegebenheiten, andererseits der lebensweltlichen und
kulturgeschichtlichen Entwicklung eines dialogethischen „objektiven Geistes“ (Hegel), in
Rechtsstaat und Demokratie wird das regulative Idealprinzip der Diskurs- bzw. Dialogethik
hier ergänzt durch das regulative Realprinzip einer diskursbezogenen Moralstrategie:
>Tragt Sorge dafür, daß die schon existierenden Bedingungen der
Annäherung an
Verhältnisse einer idealen Kommunikationsgemeinschaft (so die biologische Existenz der
realen menschlichen Kommunikationsgesellschaften und die rechtstaatlichen Institutionen,
die grundrechtlichen Normen sowie die ethisch universalistischen Traditionen) bewahrt
werden!<
Die Aufgabe einer Vermittlung der (nunmehr unverkürzt, nämlich dialogisch und strikt
universalistisch begriffenen) Moral mit der (nunmehr unverkürzt als „öffentliche Sache“
verstandenen) Politik läßt sich dann mit Apel als Erarbeitung politisch ethischer Strategien
verstehen: Es geht darum, das regulative Idealprinzip mit dem regulativen Realprinzip jeweils
so in Vereinbarkeit zu bringen, daß die Bewahrung von (politisch-moralisch unverzichtbaren)
realen Lebensbedingungen eine realistisch einschränkende Funktion bei der Befolgung des
gewissermaßen idealistischen Moralprinzips übernimmt.
Das bedeutet eine Ernüchterung allen utopisch idealistischen Überschwangs. Demzufolge
sind nämlich alle Handlungsorientierungen zu revidieren, die sich ihren angestrebten – mehr
oder weniger als ideal angesehenen – Gesellschaftszuständen durch Mittel annähern, die
unverzichtbare
biologische
Lebensgrundlagen,
soziale
und
politische
Gleichberechtigungsbedingungen oder last but not least dialogförderliche geistige und
religiöse Traditionen gefährden. Wenn durch Situationsanalysen in öffentlichen empirischtheoretischen Diskursen sorgfältig gezeigt worden ist, daß eine derartige Gefährdung der Fall
oder sie nicht auszuschließen ist, müssen solche Mittel als politisch unmoralisch, weil
unverantwortlich, verworfen werden. Dies dürfte heute z.B. zutreffen für politische
Handlungsorientierungen wie:
-
wirtschaftliches Wachstum mit Energieverbrauchssteigerung,
-
Energiepolitik mit der Option auf Kernkraft u.a.m., welche auf Kosten des Klimas, der
Umwelt und zumindest der künftigen Generationen geht;
-
Sicherheitspolitik mit konventioneller und atomarer Hochrüstung, die auch und gerade
zu Lasten der Dritten Welt (Rüstung tötet täglich) sowie auf Kosten aller
22
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
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Volkswirtschaften geht (Rüstung ist kontraproduktiv) und überdies die Lebensgefahr
für die Menschheit permanent steigert.
Wenn Gesellschaften bzw. Regierungen von solchen Handlungsorientierungen oder von
solchen Mitteln nicht ablassen, stellt sich z.B. die Frage des zivilen Ungehorsams und
politischen Streiks als eines möglichen legitimen oder sogar politisch-moralisch gebotenen
Schutzes von moralisch hochrelevanten Lebensbedingungen der Menschheit oder
Verfassungsgütern eines demokratischen Rechtsstaats.
Treten wir nun von unserer Argumentation zurück und konfrontieren sie mit einer
Grundüberzeugung des westlichen Komplementaritätssystems. Denn bislang haben wir,
zumal in diesem Abschnitt und in Kapitel I.2 eine Voraussetzung gemacht, die sich mit dem
liberalistischen Hauptstrom des westlichen Politikverständnisses nicht verträgt. Haben wir
doch vorausgesetzt, Politik müsse so auf Moral bezogen werden, daß sie – erstens – mit dem
Moralprinzip vereinbar ist und daß sie – zweitens – auf eine solche Vereinbarkeit geradezu
angewiesen sei, weil Moral keine bloße Privatsache, sondern eine intersubjektiv einsehbare
und politisch tragende Angelegenheit sei. Just diese Voraussetzungen stehen quer zur
Mehrheitsmeinung, ja zur tiefen Überzeugung der modernen politischen Denker, die mehr
oder weniger zum philosophischen Liberalismus nach Kant zu rechnen sind – von John Stuart
Mill über Max Weber und Friedrich Naumann bis zu Karl R. Popper und in gewisser Weise
auch John Rawls, um nur einige Klassiker zu nennen. Der philosophische Liberalismus hält
nämlich eine allgemeingültige Begründung des Moralprinzips nicht nur für logisch
unmöglich, sondern auch für gänzlich unnötig und dogmatismusträchtig. Unnötig, weil sich
die Bürger in einem demokratischen Rechtsstaat frei einigen, also Übereinkünfte schließen
können, an welche sich die Politik dann als ihren Orientierungsrahmen zu halten habe.
Einerseits setzt sich der philosophische Liberalismus für (Meinungs-) Freiheit, Pluralismus
und Toleranz als Grundwerte mit einem normativen Gehalt ein, dessen Verbindlichkeit zu
unterstellen sei und die von ihm faktisch auch unterstellt wird. Andererseits ist er im Einklang
mit dem Historismus bzw. Relativismus und mit dem kritischen Rationalismus der
Popperschen Schule davon überzeugt, daß ein Verbindlichkeitserweis von Grundnormen
ebensowohl unmöglich wie unnötig sei. Vielmehr stelle das anfangs skizzierte westliche
Komplementaritätssystem von subjektiver Moral und intersubjektiver, aber moralfreier
Rationalität die Basis einer freiheitlich demokratischen Gesellschaftsordnung dar. Eben die
Komplementarität sei die notwendige und hinreichende Bedingung einer freiheitlichen Politik
und eines demokratischen Rechtstaats. Zumindest glauben die liberalen Klassiker, wie Apel
zusammenfaßt, daß „kein anderes Orientierungssystem ohne Dogmenzwang begründet und
23
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
öffentlich vertreten werden könne. Oft behaupten sie auch, daß die selbst moralisch
wertneutralen Methoden der wissenschaftlichen Rationalität – mit deren Hilfe man ja
Normensysteme auf ihre Widerspruchsfreiheit und ihre gesellschaftlichen Konsequenzen hin
vergleichen kann – hinreichen, um die Gesellschaft wie den Einzelnen zu verantwortlichem
Handeln anzuleiten. Diese weit verbreiteten Ansichten lassen sich jedoch m.E. alle als
unbegründet und im Gesamteffekt als illusionär erweisen.“
Folie zu Seite 24
Ein schlagendes Gegenargument – schlagend im Sinne einer immanenten Kritik – ist der
Einwand gegen die weit verbreitete ‚konventionalistische‘ Annahme ins Feld, „daß alle
Normen, die in einem öffentlich gültigen System positiven Rechts vorausgesetzt werden, auf
Übereinkünfte zurückgeführt werden können.“ Denn zumindest für die tragende Norm, daß
Übereinkünfte einzuhalten seien – „pacta sunt servanda“ lautet dieses römische Rechtsprinzip
– treffe das von vornherein nicht zu. Denn diese tragende Norm ist, fährt Apel fort, „eine
ethische Norm, die – als normative Bedingung von Übereinkünften – zugleich Rechtsnorm
sein muß und gleichwohl in ihrer Gültigkeit nicht auf dem ‚Verfahren‘ der Inkraftsetzung
durch Übereinkunft beruht. Dadurch allein ist schon bewiesen, daß auch in einer liberaldemokratischen Gesellschaftsordnung Moral nicht privat sein kann.“
Dem fügt Apel ein zweites Gegenargument hinzu, welches die Binnenmoral von
Vertragspartnern bzw. von Beteiligten einer Übereinkunft von der eigentlichen, und zwar
universalen Moral unterscheidet, welche alle möglichen Betroffenen in gleicher Weise als
Anspruchssubjekte ernstnehmen und berücksichtigen muß. Der liberalistische Rückgang auf
faktische Übereinkünfte sei schon deshalb unzureichend, weil er das Legitimationsproblem
gegenüber den möglichen Betroffenen, welche nicht am Zustandekommen einer jeweiligen
Übereinkunft beteiligt sind, von vornherein außer Acht lasse. So verwies Apel 1981 im
„Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik“ auf das moralische Legitimationsproblem „im
Hinblick auf die Interessen Dritter, die (wie beispielsweise Gastarbeiter oder Menschen
außerhalb des eigenen Staats- und Rechtssystems überhaupt) nicht zu den – direkt oder
indirekt – Beteiligten der institutionell geregelten Übereinkünfte, wohl aber zu den
Betroffenen gehören.
Mit anderen Worten: der Mechanismus der Normenbegründung durch verfahrensmäßige
Übereinkunft
(z.B.
durch
Mehrheitsbeschlüsse)
ist
in
einer
freiheitlichen
Gesellschaftsordnung eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung der Gültigkeit
rechtlicher Normen. Er setzt keineswegs nur den tatsächlichen Interessenkompromiß der
subjektiven Wertentscheidungen der einzelnen Bürger voraus, der verfahrensmäßig geregelt
24
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
ist, sondern auch eine intersubjektiv gültige Ethik der Konsensbildung aller denkbaren
betroffenen Kommunikationspartner.7
Diese Argumentation bündeln und ergänzen wir (um einen 3. Punkt) durch folgende
skizzenhafte Erläuterung:
Position und Kritik des philosophischen Liberalismus (nach Kant)
Grundwerte: (Meinungs-) Freiheit, Pluralismus, Toleranz
a) als Prinzipien/Grundnormen postuliert,
b) Prinzipien-Begründung (P-B) bzw. Verbindlichkeitserweis als logisch unmöglich
disqualifiziert und
c) pragmatisch durch Übereinkünfte – Verträge/Konventionen (V/K) substituiert →
Kontraktualismus.
Prämissen:
1. PB unmöglich und unnötig,
2. alle Normen ableitbar aus V/K.
Kritik:
1. P-B logisch möglich durch Reflexion auf mich/dich im argumentativen
Diskurs.
2. Normen wie: „pacta sunt servanda!“
und
„Menschenwürde unantastbar!“
nicht ableitbar aus
V/K.
3. Rückgang auf V/K ist moralisch defizitär: schließt Dritte (an den jeweiligen
V/K nicht Beteiligte, aber davon Betroffene) aus
→ Menschenwürde und Menschenrechte, Völker- und Umweltrecht nicht
begründbar
→ moralische Ohnmacht gegen das Böse als fanatisch Partikulares („unsere K.
läßt Menschenrechte nicht zu“).
7
Karl-Otto Apel: „Das westliche Komplementaritätssystem als Herausforderung für die ethische Vernunft“, in:
Apel/Böhler/Rebel, Funkkolleg Praktische Philosphie/Ethik: Studientexte, Bd.1, Weinheim/Basel 1984, S. 135 f.
25
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
II
11.12.2009
Was heißt Zukunftsverantwortung? Und sind wir überhaupt
einsehbar zu etwas verpflichtet?
Als im Jahre 1972 die Industriegesellschaften vom Club of Rome die erste drastische
Warnung vor den ökologischen Langzeitgefahren des quantitativen ökonomischen
Wachstums und den kumulativen Folgeschäden der (damals teils kapitalistischen, teils
staatssozialistischen) technologischen Zivilisation erhielten, fanden sich die Philosophen auf
die neuen Verantwortungsprobleme sehr schlecht vorbereitet. An der New School for Social
Research in New York und an der Universität des Saarlandes, ab 1972 dann an der Universität
Frankfurt, waren jedoch zwei, durchaus komplementäre, Denker bereits dabei, eine Ethik der
solidarischen Menschheits- und Zukunftsverantwortung zu entwerfen: Hans Jonas, ein
metaphysischer Postaristoteliker, aber mit biblisch jüdischer, z. T. auch kantischer
Moralmotivation, und Karl-Otto Apel, ein sprachpragmatischer Postkantianer.
Vor dem Hintergrund einer, von Jonas und Apel inspirierten, Skizze der hochtechnologischen
Problemsituation stellen sich uns vor allem diese Fragen:
-
Wie läßt sich moralische Verantwortung in der technologischen Gefahrenzivilisation
begreifen – als neuartige Für-Sorge für echtes menschliches Leben oder als SichVerantworten
vor
der
regulativen
Instanz
einer
idealen
Kommunikationsgemeinschaft?
-
Wie ist die Wahrnehmung einer moralischen Verpflichtung unter nonmoralischen
Handlungsbedingungen zu denken? Oder: Was sind moralische Strategien?
-
Läßt sich überhaupt eine moralische Verpflichtung als einsehbar verbindlich
erweisen?
-
Ist Jonas’ erster Imperativ, „daß eine Menschheit sei“, einsehbar verbindlich; oder
wäre ein konsensueller Suizid der Menschheit moralisch legitim?
-
Ist das Urrecht der Menschenwürde, das Recht auf Rechte, verbindlich? Läßt es sich
aus dem Diskurs erweisen?
-
Sind wir verpflichtet, es auch für Embryonen anzuerkennen?
Die Beobachtung, daß „die ganz unbeabsichtigten, aber unausweichlichen Nebenwirkungen“
der technologischen industriellen Zivilisation, etwa „die Verschmutzung der Atmosphäre, der
Gewässer, des Bodens, die Ausraubung der Biosphäre, der ganzen Lebenswelt durch
26
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
Überbeanspruchung, durch Ausrottung von Arten“8 unermeßlich sind, führte Jonas zu der
Erkenntnis, daß die Wirkungsmacht des Menschen „nach Maßstäben unserer irdischen
Umwelt ... enorm gestiegen ... und ein Zustand erreicht worden ist, in dem beinahe alles
möglich scheint“9. Daraus erwachse die Einsicht, daß proportional zu dieser Wirkungsmacht
auch die Verantwortung des Menschen größer werde, daß es nunmehr eine Verantwortung für
die Umwelt, für die Zukunft und für die Menschenwürde gebe. Aus dieser Einsicht entstand
Jonas’ „Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“, das 1979 erschienene
„Prinzip Verantwortung“.10 Das Werk soll die allgemeine Ethik dadurch ergänzen und
erweitern, daß ihr eine Moral der Zukunftsverantwortung hinzugefügt wird. Diese faßt er in
den neuen kategorischen Imperativ: „Handle so, daß die Wirkungen deines Handelns
verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“11
Im Kontrast zu Jonas wendet sich Apel dem Problem der Zukunftsethik indirekt, aber insofern
radikal zu, als er die Verpflichtung zur Zukunftsverantwortung rational erweisen will. Diese
sei nämlich ein integrales Bestandsstück der normativen Präsuppositionen des Diskurses bzw.
des Argumentierens überhaupt. Denn die Zukunftsverantwortung betreffe auch die
Existenzbedingung des Erkennens und Prüfens universaler Geltungsansprüche. Inwiefern?
Vorgreifend läßt sich antworten: Die Permanenz der Menschengattung ist die Bedingung für
das Streben nach einem rein argumentativen Konsens, also nach einer zureichenden
Einlösung jener logisch universalen Geltungsansprüche, die man für Diskursbeiträge erhebt.12
Aus diesem Grunde stimmen Apel und die Berliner Diskursethiker mit Jonas’ „erstem
Imperativ, daß eine Menschheit sei“ nicht allein überein, vielmehr können sie mit diesem
reflexiven Argument – das wird Thema des Abschnitts 5 sein – den Grund für die
Verbindlichkeit jenes Imperativs geben.
Was aber den argumentativen Diskurs, das Prüfen von Geltungsansprüchen, anbelangt, so
geht es hier um eine kommunikative Tätigkeit, welche auf wechselseitiger Anerkennung
leibhafter Kosubjekte beruht. Daher schließt der Diskurs von vornherein eine moralische
Orientierung ein. Kurzum: Vernunft realisiert sich als Diskurs, so nämlich, daß bei allem
Etwas-Erkennen-Wollen
und
Argumentieren
moralische
Erwartungen
und
8
So Jonas in dem Gespräch „Erkenntnis und Verantwortung“, in: Böhler u. Brune (Hg.), Orientierung und
Verantwortung. Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans Jonas, Würzburg 2004 (zit.: Böhler/Brune,
2004), S. 451: „Diese Zeitbombe tickt, während wir einfach so leben, wie wir es tun als Mitglieder der
westlichen technischen Zivilisation, und woran jeder von uns mitwirkt.“ (S. 450)
9
Ebd., S. 452 f.
10
Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt am
Main 1979., zit. als PV.
11
Ebd., S.36.
12
Vgl. K.-O. Apel, Die ökologische Krise als Herausforderung für die Diskursethik, in: Ethik für die Zukunft,
hg. von D. Böhler, München 1994, bes. S.388f.
27
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Erwartungserwartungen vorausgesetzt sind, und zwar als Verbindlichkeiten. Das gilt für alle
Erkenntnisbemühungen bzw. Diskurse – auch dann, wenn es nicht um praktische bzw.
ethische Themen, sondern z.B. allein um theoretische bzw. empirische Fragen geht. Aus
diesem Grunde kann Apels Transzendentalpragmatik die Einheit der theoretischen mit der
praktischen Vernunft, die Verwobenheit von Logik und Kalkül mit Dialog und Ethik
rekonstruieren.13 Kommunikationsreflexiv läßt sich Kants (antiaristotelische) Idee einer
Einheit der Vernunft einholen, also demonstrieren, daß reine Vernunft „für sich selbst
praktisch sein kann und es wirklich ist“14: moralisch motivierend und normierend, und das auf
verbindliche Weise.
Hans Jonas’ Denkweg und Karl-Otto Apels kommunikationsbezogene „Transformation der
Philosophie“, 1973 in zwei Bänden vorgelegt, zumal seine transzendentalpragmatische
Rekonstruktion von moralisch gehaltvollen Sinnvoraussetzungen des Denkens als Diskurs
und ihr Resultat, die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft in der Metapraxis des
Argumentierens, sind in je eigener Weise von einer faszinierenden Geistesgegenwart. So hat
die Arbeit an meinem Lehrstuhl und am Berliner Hans Jonas-Zentrum vielfach der
Auseinandersetzung mit dem intuitionsbezogenen, metaphysischen Denken von Jonas
einerseits und der kommunikationsbezogenen Transzendentalphilosophie Apels andererseits
gegolten. Die in Berlin entwickelte sokratische Diskurspragmatik und dialogbezogene
Verantwortungsethik
transformiert
bzw.
präzisiert
Grundgedanken
jener
beiden
komplementären Ansätze oder führt sie weiter.
Für die Situationsanalyse der technologischen Zivilisation ist es an der Zeit, sich
klarzumachen, daß charakteristische Begriffe, mit denen Öffentlichkeit, Wissenschaft und
Philosophie auf die planetare Selbstgefährdung der Menschheit reagieren, beschönigend und
verfälschend sind. So suggeriert die deutsche Diskussion oftmals, daß wir in einer bloßen
„ökologischen Krise“ und eben in einer „Risiko“-Gesellschaft leben. Freilich kann die
hochtechnologische Zivilisation gerade durch ihre Innovationen mehr zerstören, als sich im
Einzelnen prognostizieren und gegenüber künftigen Generationen verantworten läßt. In
diesem Betracht ist sie eher eine Gefahrenzivilisation und Zukunftsgefährdungsgesellschaft.
Scheint es doch ihr Gesetz zu sein, daß sie permanent kumulative Langzeitwirkungen
hervorbringt, welche die Anerkennung des Prinzips Menschenwürde und die Fortdauer
13
Ders., Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in: Ders.,
Transformationen der Philosophie. Band II. Frankfurt am Main 1973, S.358-436.
14
Kant, KpV, 1787, S.139.
28
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„echten menschlichen Lebens auf Erden“ in Frage stellen. Denn sie bringt nicht allein
kumulative Langzeitwirkungen hervor, die zusammen mit ökologischen und soziokulturellen
Lebensgrundlagen auch Freiheits- und Verantwortungsbedingungen künftiger Generationen
fortwährend verschlechtern oder gar zerstören; sie trägt darüber hinaus zur Aushöhlung der
moralischen Prinzipienorientierung bei. Macht sie doch Forschungs- und MedizinVersprechungen, die individuellen Interessen dienen, während hinderliche moralische
Orientierungen als fortschrittsfeindlich, illiberal, ja als inhuman hingestellt werden.
Was die Analysebegriffe angeht, so ist etwa der Begriff ›ökologische Krise‹ sinnlos, weil
euphemistisch. Daher wurde er in dem von der Forschungsgruppe „Ethik und Wirtschaft im
Dialog“
des
Hans
Jonas-Zentrums
edierten
Buch
Zukunftsverantwortung
in
der
Marktwirtschaft einer entsprechenden Sinnkritik unterzogen.15 Schon 1978 hatte Hans Jonas
seine Leser für „das metaphysische Ausmaß“ und für die Permanenz der technologischkapitalistischen Gefahrensituation sensibilisiert: sie werde der Menschheit nunmehr wie ein
Schatten anhaften – wie der „Schatten drohender Kalamität“.16 In den politisch-ethischen
Überlegungen und Diskussionen müssen wir m.E. in der Tat davon ausgehen, daß wir weder
in einer „ökologischen Krise“ leben, die wie es eine jede Krise ist, zeitlich begrenzt wäre,
noch in einer bloßen „Risikogesellschaft“17, sondern in der kapitalistisch- und technologischdynamischen
Gefahrenzivilisation.
Deren
weitreichende
Zerstörungen
und
Zerstörungspotentiale lassen sich nicht, wie das von dem Begriff ‚Krise‘ nahegelegt wird, von
vornherein auf den zeitlichen Nahbereich einschränken.
Weshalb? Allein deshalb nicht, weil uns das hochtechnologische Know how, etwa das der
Kernspaltung, in aller Zukunft begleiten dürfte; weil nicht allein unsere hochentwickelte
Zivilisation, sondern die gleichsam bevölkerungsexplodierte Menschheit zu ihrer Erhaltung
15
Thomas Bausch, Dietrich Böhler, Michael Stitzel u.a. (Hg.), Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft.
In memoriam Hans Jonas. EWD-Bd. 3, Münster 2000, bes. S. 58f, 37ff, 168f, 199f (zit.: EWD-3).
16
Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt
a.M. 1979, bes. 1. und 2. Kap. (zit.: PV); Ders., „Technik, Freiheit und Pflicht“, in: Wissenschaft als
persönliches Erlebnis, Göttingen (Vandenhoeck und Ruprecht) 1987, S. 45f: „Über eines müssen wir uns [...]
im klaren sein: eine Patentlösung für unser Problem, ein Allheilmittel für unsere Krankheit gibt es nicht. Dafür
ist das technologische System viel zu komplex, und von einem Aussteigen daraus kann nicht die Rede sein.
Selbst mit der einen großen ‚Umkehr‘ und Reform unserer Sitten würde das Grundproblem nicht
verschwinden. Denn das technologische Abenteuer selber muß weitergehen; schon die rettenden
Berichtigungen erfordern immer neuen Einsatz des technischen und wissenschaftlichen Ingeniums, das seine
eigenen neuen Risiken erzeugt. So ist die Aufgabe der Abwendung permanent, und ihre Erfüllung muß immer
Stückwerk bleiben und oft nur Flickwerk. Das bedeutet, daß wir wohl in alle Zukunft im Schatten drohender
Kalamität leben müssen. Sich des Schattens bewußt sein aber, wie wir es jetzt eben werden, wird zum
paradoxen Lichtblick der Hoffnung: er läßt die Stimme der Verantwortung nicht verstummen. Dieses Licht
leuchtet nicht wie das der Utopie, aber seine Warnung erhellt unseren Weg – zusammen mit dem Glauben an
Freiheit und Vernunft.“
17
Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986.
29
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
auf massenhafte, permanente Anwendung von Hochtechnologien mit erheblichem Potential
für Umweltschädigungen geradezu angewiesen ist; weil schließlich die Marktwirtschaft
primär an kurzfristigem Gewinn statt an Umweltverantwortung und Zukunftsverantwortung
orientiert ist, und weder die Umwelt einen Marktpreis hat noch die Verantwortungsfähigkeit
bzw. Moralität der künftigen Menschheit einfach in Marktpreise übersetzt werden oder
gleichsam auf den Warenpreis aufgeschlagen werden kann. Die Menschheit wird permanent
ihre
Umwelt
schädigen,
überdies
dürfte
sie
–
schon
dadurch
–
auch
die
Verantwortungsmöglichkeiten der künftigen Generationen beeinträchtigen. Deswegen ist es
sinnlos und eine falsche Beschwichtigung, die auf den Versuch hinausläuft, unsere
langfristigen moralischen Probleme auf die Ebene technischer Problemlösungen oder eines
politischen ad hoc-Managements herunterzureden, wenn man von „ökologischer Krise“
spricht oder auch analog von einer bloßen „Verantwortungskrise“. Vielmehr besteht die
politisch-moralische Herausforderung darin, daß die Bürger, die Zivilgesellschaften und die
Staaten sich auf die neuartige, stets zu erneuernde Verantwortungs-Engagements und
Verantwortungs-Institutionen einlassen.
Fassen wir unsere Problemskizze und Begriffskritik zusammen:
Befinden wir uns – nur – in einer sozio-ökologischen „Krise“?
Wie ist die Lage – oder die Verfassung? – der
technologischen Zivilisation (t.Z.)?
»Krise« (von κρίσις - Entscheidung, Scheidung, Zwiespalt) bezieht sich auf einen
entscheidenden Wendepunkt, insbes. auf die (über Leben und Tod entscheidende) kurzfristige
Zuspitzung eines Krankheitsverlaufs.
Hingegen handelt es sich bei den (im weitesten Sinne) ökologischen Makrogefährdungen,
denen hochentwickeltes Leben heute ausgesetzt ist, um Nebenfolgen der technologischen
Zivilisation, welche allererst die Existenzgrundlagen einer Weltbevölkerung in Höhe von ca.
6.821.000.000 ermöglicht. Zudem ist die Menschheit selbst zur Eindämmung jener Gefahren
wiederum auf Hochtechnologien mit dem Risiko anderer Makro- und Mesogefahren oder
Moral- und Freiheitsgefährdungen angewiesen. Kurzum: Die Menschheit sieht sich einer
strukturellen Selbstgefährdung gegenüber.
30
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
Diese Selbstgefährdung der hochtechnisierten Menschheit hat in der Theorie-Praxis-Gruppe
EWD zu den Begriffen „Gefahrenzivilisation“ und „Zukunftsgefährdungsgesellschft“
geführt.18
18
S.o. Anm. 15 und: D. Böhler, „Verstehen und Verantworten“, in: H. Jonas, Fatalismus wäre Todsünde,
München 2005, S. 8 f.
31
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
1
11.12.2009
Zum Problem einer globalen Verantwortungsethik nach Max Weber
Hans
Jonas’
metaphysisch
wertethisches
Verantwortungsdenken
und
die
transzendentalpragmatisch oder diskurspragmatisch begründete Verantwortungsethik teilen
die Auffassung, daß infolge der (hoch-)technologischen Lebensbedingungen, die seit Mitte
des 20. Jahrhunderts herrschen, der Ethik eine ganz neue Stunde geschlagen hat: Alle
Menschen seien selbst irgendwie verantwortlich dafür, daß auch künftig menschenwürdiges
Dasein möglich ist.
Die Diskurs-Verantwortungsethiker schlagen hier die Präzisierung „Mitverantwortlichkeit“
vor. Sie begründen diese Begriffsveränderung negativ und positiv: Negativ damit, daß eine
direkte Verantwortungszuschreibung für die einzelnen oft weder angemessen noch konkret
durchführbar sei. Die positiven Gründe sind: Erstens zehren heute alle denk- und
handlungsfähigen Lebewesen von der technischen Zivilisation; sie ist ihre Lebensbasis
geworden. Allein deshalb haben sie (i.S. einer Kausalhandlungsverantwortung) Anteil an der
technisch
zivilisatorischen
Gefahrenverursachung.
Zweitens
kommt
der
modernen
Kommunikationswelt und zumal im Falle rechtsstaatlicher Bedingungen allen diskursfähigen
Menschen – unabhängig von ihren institutionalisierten Verantwortlichkeiten – eine
Mitverantwortung als Diskurspartner für die Bewußtmachung und mögliche Bewältigung der
Zukunftsprobleme zu. Warum? Wer überhaupt von moralischen Problemen wissen kann und
irgendwie zu ihrer Verringerung beitragen kann, der weiß als Diskurspartner, daß er eine
Mitverantwortung für das Problembewußtsein ebensowenig zurückweisen kann wie für die
Verringerung und letztlich für die Bewältigung der Probleme.19
Diese neuartige kognitive und moralische Situation läßt sich in folgender Überschau
zusammenfassen:
Wer ist und wenn, inwiefern, für den globalen sozio-ökologischen Gefahrenzustand oder
für das Faktum der Gefahrenzivilisation »verantwortlich«?
»Mitverantwortung« statt »Verantwortung«!20
1.
Vielfach sind schon für lokale ökologische Katastrophen, erst recht für die
Globalgefährdung(en), nicht einzelne i.S. einer direkten Verursachung verantwortlich
zu machen.
19
Vgl. K.-O. Apel u. H. Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik,
Würzburg 2001 (zit.: Prinzip M.V.).
20
Vgl. Beiträge von Apel und Böhler in: K.-O. Apel u. H. Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung, Würzburg
2001.
32
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
2.
11.12.2009
Hingegen kann in zweifacher Hinsicht sinnvoll von Mitverantwortlichkeit
gesprochen werden:
a) kausale kollektive Mitverantwortung
- besteht (in mehr oder minder relevantem Ausmaß) für alle denk- und
handlungsfähigen Lebewesen, die von der technologischen Zivilisation als der
kollektiven Lebensbasis (seit der Moderne) zehren;
b) diskursive individuelle Mitverantwortung
- besteht für alle diese als mögliche Diskursteilnehmer, weil sie – erstens – im
Begleitdiskurs zu ihrem Verhalten dieses kritisch orientieren und – zweitens –
an der öffentlichen Meinungsbildung und moralischen Orientierung sich
beteiligen können.
Jonas und die Diskursethiker sehen die Philosophie vor der Aufgabe, diese – verglichen mit
aller traditionellen Ethik – ungeheure Mitverantwortung zu denken, also das neue Problem aus
dem ihm anhaftenden Ungefähr, jenem „Irgendwie“, zu befreien, indem wir es begreifen.
Zunächst ist nämlich die Philosophie zu der Begründungsaufgabe herausgefordert, die
Verbindlichkeit einer noch nie dagewesenen kollektiven Verantwortung zu erweisen; zum
anderen steht sie vor zweierlei Anwendungsaufgaben, nämlich sowohl die Konkretion des
Moralprinzips zu moralischen Situationsmaximen bzw. Normen, die eigentlich gelten sollten,
neu zu denken als auch erfolgsfähige Strategien bzw. Konterstrategien für deren Realisierung
und Durchsetzung in einer Gesellschaft, etwa gegen amoralische Interessen, gegen
eigensinnige
Funktionssysteme
oder
auch
gegen
widerständige
Traditionen
und
Orientierungssysteme zu entwickeln. Um sie dann auf ihre Moralverträglichkeit hin zu prüfen.
Kant hatte jene Konkretionsaufgabe nochmals vorkommunikativ, nämlich in Beschränkung
auf eine vom einsamen Subjekt zu leistende gedankenexperimentelle Anwendung des
kategorischen Imperativs zu lösen versucht. Ohne an dessen methodologischem, nämlich
transzendentalen Solipsismus Anstoß zu nehmen, hat Max Weber Kants idealisierende,
gleichsam innermoralische Orientierung als unzureichend kritisiert: als Leistung einer
Gesinnungsethik, die blind sei für die unverantwortlichen Folgen, die ein unmittelbar
moralgetreues Verhalten inmitten der „ethischen Irrationalität der Welt“ haben könne.21 In der
Tat sieht sich der realistische Ethiker und der ernsthaft Verantwortliche Gesinnungskonflikten
ausgesetzt, da die reale Welt Dilemmata bereithält, die in der Perspektive einer reinen
21
Max Weber, „Politik als Beruf“, in: Gesammelte Politische Schriften, hg. v. J. Winckelmann, Tübingen 31971,
S. 553, vgl. 550ff.
33
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
Gesinnung
unlösbar
11.12.2009
erscheinen
mögen.
Sind
„schmutzige
Hände“
(Sartre)
und
„Schuldübernahme“ (Bonhoeffer), zumindest aber die Bereitschaft dazu, unausweichlich?
Karl-Otto Apel hat Webers Anstoß als eigenständiges, konkret geschichtsbezogenes
Begründungsproblem ‚B‘ der Ethik pointiert. Im Jonas-Zentrum wird es sowohl kontrovers
diskutiert22 als auch wirtschaftsethisch präzisiert.23 Meines Erachtens geht es um zwei Arten
von
geschichts-
und
situationsbezogenen
Realisierungsfragen.
Einmal
um
die
moralstrategische Durchsetzungsfrage, welche Widerständigkeiten gegen eine moralische
(das Moralprinzip konkretisierende) Situationsnorm durch welche Strategien überwunden
werden sollten, und andererseits um die moralkonservative, gleichsam wertkonservative
Frage, welche ethischen Traditionen und Institutionen dem Moralprinzip entsprechen, so daß
sie bewahrt bzw. entwickelt werden sollten.
Die idealisierend prinzipienbezogene, gleichsam intrinsisch moralische Konkretionsaufgabe
besteht darin, vom abstrakt Prinzipiellen zu situationsbezogenen Maximen, gewissermaßen zu
regulativen Sollensperspektiven für das Handeln in einer gegebenen Situation zu kommen.
Dabei geht es zuallererst um einen begrifflichen und methodischen Rahmen für die
moralische
Konkretion
der
neuen
Zukunfts-Verantwortlichkeit,
welcher
alsdann
interdisziplinär auszufüllen wäre. Noch auf der Begründungsebene A können wir die reflexive
Letztbegründung des Moralprinzips als ersten Zug der Diskursethik (A 1) von einem zweiten
Zug
(A
2),
nämlich
der
diskursvermittelten
Anwendung
des
Moralprinzip
zur
Normenrechtfertigung unterscheiden.24 Und wenn Habermas von ‚praktischen Diskursen‘
sprach, hatte er, bei kritischem bzw. realistischem Lichte besehen, an nichts anderes gedacht;
denn er hat dabei stets die kontrafaktische Unterstellung gemacht, alle würden sich als
Teilnehmer eines moralischen Diskurses verhalten – auf argumentativen Konsens gerichtet
und mit dem guten Willen, die diskursiv gerechtfertigten Situationsnormen stets zu beachten.
Daher konnte er durchgängig auf „allgemeine (sic!) Normenbefolgung“25 und reine
22
Vgl. einerseits Böhler, „Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung“ in: EWD-3, bes. S. 63ff, 199ff
und K.-O. Apel, „Diskursethik als Ethik der Mitverantwortung vor den Sachzwängen“ in: Prinzip M.V., bes. S.
74ff. Andererseits M. Werner, Diskursethik als Maximenethik, Würzburg 2003, bes. S. 199ff, 237ff.
23
So von Th. Bausch: „Unternehmerische Verantwortung im Lichte universalistischer Prinzipienethik“, in:
Steinmann u. Scherer (Hg.), Zwischen Universalismus und Relativismus. Philosophische Grundlagenprobleme
des interkulturellen Managements, Frankfurt am Main 1998, S. 322-347.
Ferner Th. Rusche, Aspekte einer dialogbezogenen Unternehmensethik. EWD-Bd. 4, Münster 2002 (zit.:
EWD-4), S. 58ff und Teil III.
24
Vgl. D. Böhler, „Diskursethik und Menschenwürdegrundsatz zwischen Idealisierung und
Erfolgsverantwortung“, in: K.-O. Apel, M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht
und Wissenschaft, Frankfurt am Main, 21993, S. 201-231;
ders., „Ethik der Zukunfts- und
Lebensverantwortung. Teil I“, in: Böhler/Brune, 2004, S. 135 ff.
25
J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main 1983, S. 53-126, bes. S.
103.
34
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
Verständigungsorientierung abstellen, ohne daß er diese normativen Gehalte des
Diskursgrundsatzes ‚D’ für die reale Handlungsorientierung verantwortungsethisch, nämlich
moralstrategisch differenziert hätte.
Hingegen hat Apel eine solche situationsrealistische Differenzierung mit seinem, allerdings
unglücklich so genannten, „Ergänzungsprinzip“ der moralischen Grundnorm gemäß eines
moralstrategischen „Teils B der Diskursethik“ von vornherein ins Auge gefaßt.26 Ist das
erforderlich und angemessen? Ja. Denn als universalistisches Moralprinzip verlangt ‚D‘, daß
man auch diejenigen Situationen berücksichtigt und jene Sachzwänge prüft, die einer
ausnahmslosen, allgemeinen Befolgung moralischer Normen entgegenstehen. Diesen
Übergang vom idealisierten praktischen Diskurs zur erfolgsverantwortungsethischen
Fragestellung hat Horst Gronke diskursarchitektonisch geklärt.27
Im Sinne einer „Verantwortung für den Erfolg des Moralischen“ (Böhler), d.h. für den Gehalt
des Moralprinzips, geht es um die konterstrategische Durchsetzung der moralischen Gehalte
gegen die Widerstände einer teilweise amoralischen Systemwelt und einer teilweise „ethisch
irrationalen“ Handlungswelt. Denn in der realen Lebenswelt müssen wir damit rechnen, daß
moralische und bereits rechtliche Normen nicht allgemein befolgt, sondern z.T. egoistisch
bzw. partikular interessiert unterlaufen oder auch aus Verantwortungs- bzw. Fürsorgegründen
(z.B. angesichts einer Notlage) dispensiert bzw. uminterpretiert werden. In der
gesellschaftlichen Systemwelt kommt hinzu, daß sie neutralisiert oder gar konterkariert
werden können durch die Eigensinnigkeit, den Selbstbehauptungscharakter und die
‚Sachzwang-Macht‘ der gesellschaftlichen Systeme (wie Recht, Politik, Wirtschaft). Zudem
kanalisieren und modifizieren Institutionen die normativen Gehalte vielfach durch ihre
Routinen und Mechanismen.
Daraus ergeben sich zumindest zwei moralphilosophische Realisierungsaufgaben, die bei
Jonas zwar anklingen, aber von ihm weder eingeführt und differenziert noch aus dem
Moralprinzip abgeleitet werden. Es ist dies einmal die Prüfung, welche ethischen Institutionen
und Traditionen dem Moralprinzip gerecht werden, so daß sie bewahrt und entfaltet werden
sollten. Das wäre ein Diskursschritt B 1. Außerdem stellt sich nun die heikle Aufgabe, in
theoretischen Diskursen, und zwar mit zweckrational strategischer Einstellung – die Tradition
spricht hier verunklarend von „Klugheit“ –, Durchsetzungsstrategien zu suchen, die zunächst
26
K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung, Frankfurt am Main 1988, S. 256 ff, 270 ff. u.ö.; ders.,
Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt am Main 1998
(zit.: Auseinandersetzungen), Sachregister: „Diskursethik – Begründungsteil A und B“; ders., „Diskursethik
und die systemischen Sachzwänge der Politik, des Rechts und der Marktwirtschaft“, in: M. Niquet, F. J.
Herrero, M. Hanke (Hg.), Diskursethik. Grundlegungen und Anwendungen. Würzburg 2001, S. 181-204.
27
H. Gronke, Apel versus Habermas: Zur Architektonik des Diskursethik, in: A. Dorschel, M. Kettner u.a. (Hg.),
Transzendentalpragmatik, Frankfurt am Main 1999, S. 273ff, bes. S. 232ff.
35
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
einmal erfolgsfähig sein müssen. Das wäre eine zweckrational strategische Diskursstufe B 2.
Dann steht die moralische Legitimationsaufgabe an, in praktischen Diskursen zu prüfen,
welche der entwickelten Strategien, die wir als erfolgsfähig einschätzen, derart mit dem
Moralprinzip vereinbar sind, daß sie als (für die Beteiligten) zumutbar gelten können und
gegenüber den Betroffenen verantwortbar sind. Das wäre die eigentliche moralstrategische
Diskursstufe B 3, die spezifisch verantwortungsethische Erörterung.
Erforderlich ist dazu ein Moralprinzip mit Kriterien für die rationale Abwägung jener
Folgelasten, welche eine moralische Konterstrategie für die durchaus verschiedenartigen
„Betroffenheitslagen“, die „komplexen Entwicklungspfade“ der Gesellschaften (M. Werner)28
und für die schutzwürdigen Moral-, Freiheits- und Kulturgüter einer Gesellschaft nach sich
ziehen kann. Daher wäre eine bloß vermeidungsethische Fassung des Moralprinzips, welche
geböte, die Vernichtung der Menschheit zu vermeiden, unzureichend. Es bedarf, wie Apel
und Werner gegen Jonas ins Feld geführt haben, mehr als eines puren Bewahrungsprinzips
und mehr als einer Ergänzungsethik.
Doch bietet Jonas dazu nicht Ansätze? Leistet er nicht für die Herausarbeitung der normativen
Gehalte des Moralprinzips einen wichtigen Beitrag durch seinen phänomenologischen
Umgang mit ethischen Intuitionen? Können und müßten hier nicht beide ‚Seiten‘ voneinander
lernen?
Freilich
betrifft
Jonas’
Beitrag
eher
die
Konkretionsaufgabe
(in
transzendentalpragmatischer Architektonik die Ebene A 2) als die Entwicklung und Prüfung
moralischer Strategien (also die Ebene B).
28
M. Werner, Erfaßt das ‚Prinzip Verantwortung‘ die Probleme moderner Technologie?, in: W. E. Müller
(Hg.), Hans Jonas. Von der Gnosisforschung zur Verantwortungsethik, Stuttgart 2003, S. 227ff, hier S. 233f
(zit.: Werner 2003b). Ders., Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung, in: M. Düwell/K. Steigleder (Hg.), Bioethik.
Eine Einführung, Frankfurt am Main 2004, S. 41ff, hier S. 43f (zit.: Werner 2003a).
36
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
2
11.12.2009
Hans Jonas, Karl-Otto Apel und die Berliner Diskursethik – prinzipienethische
Antworten auf die neuartigen Herausforderungen der praktischen Vernunft
durch die technologische Zivilisation.
Das, worauf Jonas’ „Prinzip Verantwortung“ reagiert, ist neben der Erosion der Idee der
Menschenwürde bzw. der Gottesebenbildlichkeit des Menschen zumal die äußere
Herausforderung der praktischen Vernunft, die mit den, von der technologischkapitalistischen Zivilisation verursachten, Gefährdungen von Menschheit und Natur gegeben
sind. Die transzendentalpragmatischen bzw. dialogpragmatischen Diskursethiker teilen seine
Gefahrenanalyse im wesentlichen, wenngleich sie das Erfordernis einer – möglichst durch
öffentliche Verständigung mit den Beteiligten und je unterschiedlich Betroffenen zu
ermittelnden
und
daher
wahrheitsfähigen
–
Interpretation
der
Bedürfnisse
und
Betroffenheitslagen betonen, während Jonas allgemein von der neuen Bedrohung der
Menschheit ausgeht und diese generelle Bedrohungslage eher in theoretischer Einstellung
analysiert. Außerdem heben sie hervor, daß mit den äußeren Herausforderungen eine innere
verbunden sei, welche auch zur Relativierung der Menschenwürde führt: eine „Selbstparalyse
der Vernunft“ (Apel) infolge der vorherrschenden Gleichsetzung von Vernunft mit theoretisch
analytischer und zweckrational kalkulierender Rationalität. Daraus ergeben sich bei Jonas und
den Transzendentalpragmatikern unterschiedliche Ansätze.
Jonas’ Analyse der äußeren Herausforderung der praktischen Vernunft führt ihn zunächst zu
drei Erweiterungen des Problemhorizonts der Ethik, die sich gut mit den Begriffen der drei
Auswirkungsdimensionen menschlichen Verhaltens in der technologischen Zivilisation
erläutern lassen, die Karl-Otto Apel 1973 eingeführt hatte.29
Die Dimension der ethischen Probleme sei in der Tradition räumlich und zeitlich
eingeschränkt gewesen, auf das Verhalten zwischen Personen, also auf eine soziale MikroDimension, und dann, politisch-ethisch, auf das Verhältnis zwischen Staaten und Völkern, in
der politischen Meso-Dimension. Nun führe aber, so Jonas, die technische Praxis neuartige
Faktoren in die „moralische Gleichung“ ein, nämlich einmal die hochtechnologische
„Unumkehrbarkeit im Verein mit ihrer zusammengefaßten Größenordnung“. Die ganz neue,
zumal ökologische Makro-Dimension ergibt sich daraus, daß die Wirkungen des
29
Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie II, Frankfurt a.M. 1973 (zit.: Transformation II), S. 359-361.
Ders., „Die Situation des Menschen als Herausforderung an die praktische Vernunft“, in: ders., Böhler,
Kadelbach (Hg.), Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge, Bd. 1, Frankfurt/M. 1984, hier: S. 49 ff.
37
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11.12.2009
hochtechnologisch vermittelten Kollektiv- und Systemverhaltens zunehmend weder räumlich
noch zeitlich eingrenzbar sind. Im Rückgriff auf das „Funkkolleg Praktische Philosophie /
Ethik“ (Erstausgabe 1980/81) lassen sich diese drei Dimensionen folgendermaßen erläutern:
Mikro-, Meso-, Makro- und Tiefendimension
des zu Verantwortenden
Ethische Probleme treten gegenwärtig in drei verschiedenen Auswirkungsbereichen
menschlicher Handlungen auf: in einem Nah- oder Mikrobereich der unmittelbaren
Interaktion zwischen Menschen im sog. Privatleben, in einem Mittel- oder Mesobereich der
Interaktion politischer Handlungssubjekte, welche Gruppen- oder Nationalinteressen
vertreten, und schließlich in einem Groß- oder Makrobereich solidarischer Verantwortung der
Menschheit für das Lebensinteresse der menschlichen Gattung, bezogen auf die Gegenwart
und auf die kommenden Generationen.
Darüber hinaus zeigt sich weltgeschichtlich erstmals, daß ethisch bedeutsame Entscheidungsund Regelungsprobleme des Mikro- und Mesobereichs heutzutage die Tendenz haben, zu
solchen des Makrobereichs zu werden: Z.B. wird das scheinbar private Intimsphären-Problem
der Geburtenregelung zu einer Streitfrage internationaler Konferenzen über die Gefahren
einer Überbevölkerung der Erde.
Und die klassischen Probleme der politischen Staatsräson – so etwa die der Diplomatie und
ihrer militärischen Fortsetzung nehmen im Atomzeitalter auf den Abrüstungskonferenzen der
Weltmächte eine neue Dimension an, die schon deshalb nicht nur machtstrategisch, sondern
auch moralisch relevant ist, weil das Überleben der Menschheit davon abhängen kann.
Was Jonas nun besonders betont, ist die losgelassene Dynamik der Auswirkungen
technologischer Projekte und technologisch vermittelter Alltagshandlungen Beiden spricht er
einen „kumulativen Charakter“ zu: „Gewisse Wirkungen addieren sich, so daß die Lage für
späteres Handeln und Sein nicht mehr dieselbe ist wie für den anfänglich Handelnden,
sondern zunehmend davon verschieden und immer mehr ein Ergebnis dessen, was schon
38
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getan ward.“ Demgegenüber habe „alle herkömmliche Ethik [...] nur mit nicht-kumulativem
Verhalten“ gerechnet.30
Naiv erscheint Jonas auch der Erkenntnisbezug des traditionellen ethischen Urteils. Sowohl
die aristotelisch-thomasische Tradition einer Ethik des guten Lebens, gewissermaßen einer
Wert- oder Glücksethik, als auch die normative Ethik bzw. Ethik des Sollens und der
moralischen Pflicht seit Kant gingen ganz selbstverständlich von derselben ErkenntnisVoraussetzung aus: Da die sittlichen Probleme aus dem ‚mir‘ jeweils vertrauten „Nahkreis
des Handelns“ entspringen, kann ‚ich’ auch jeweils aufgrund ‚meines‘ alltagsweltlichen
Erfahrungswissens und kraft ‚unseres‘ common sense erkennen, was moralisch richtig oder
praktisch gut ist.31 Demgegenüber pointiert Jonas, daß die kumulative technologische
Veränderung der Welt „lauter präzedenzlose Situationen“ schaffe, für die „die Lehren der
Erfahrung ohnmächtig“ seien, woraus er die Konsequenz zieht: „Unter solchen Umständen
wird Wissen zu einer vordringlichen Pflicht [...], und das Wissen muß dem kausalen Ausmaß
unseres Handelns größengleich sein.“32
Wir sehen uns also dem neuen moralischen Erfordernis gegenüber, uns bestmögliches
Folgenwissen zu beschaffen. Nicht zuletzt diese Einsicht ist es auch, welche einen
grundlegenden Aspekt der Diskursethik hervorgebracht hat, nämlich das Postulat, eine Ethik
müsse heute mit empirisch-theoretischen Diskursen über die jeweilige Situation verbunden
werden, um das zur moralischen Urteilsbildung erforderliche weitreichende, beispielsweise
ökologische, Situations- sowie Folgenwissen zu gewinnen. Freilich blieben die konkreten
praktischen situationsbezogenen Diskurse über die Frage, was wir in einer bestimmten
Situation tun sollen, gerade wegen ihrer Abhängigkeit von der empirisch theoretischen
Wissensbildung grundsätzlich fallibel, so daß ihre Irrtumsfähigkeit zu berücksichtigen, mithin
die Revisionsfähigkeit der praktischen Urteile und Maßnahmen, die daraufhin getroffen
werden, zu gewährleisten sei.
Eine ähnliche Statusüberlegung findet sich bei Jonas. Stellt er doch eine höchst ernüchternde
Reflexion jener Einsicht an, deren wissenschaftstheoretischer Gehalt – von beiden Seiten
unbemerkt – mit einer Grenzerkenntnis Karl R. Poppers übereinkommt33: das Folgenwissen in
nicht-geschlossenen Systemen, also etwa für die geschichtliche Welt und die Biosphäre der
30
Jonas, PV., S. 27.
Jonas, PV., S. 23 ff.
32
Jonas, PV., S. 28.
33
Vgl. Karl R. Popper, „Naturgesetz und theoretische Systeme“, in: H. Albert (Hg.), Theorie und Realität,
Tübingen 1964. Auch in Topitsch (Hg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln 41967.
31
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Erde, könne nie das der (exakten) bedingten Prognose sein. Folglich bleibe es stets
unzulänglich.
Jonas pointiert nun, daß sich aus der Nichtprognostizierbarkeit der ökosozialen
Technologiefolgen ein scheinbar paradoxes Ausgangsproblem der Verantwortungsethik als
einer Wissens-Ethik ergibt: „Daß das vorhersagende Wissen hinter dem technischen Wissen,
das unserem Handeln die Macht gibt, zurückbleibt, nimmt selbst ethische Bedeutung an. Die
Kluft zwischen Kraft des Vorherwissens und Macht des Tuns erzeugt ein neues ethisches
Problem. Anerkennung der Unwissenheit wird dann die Kehrseite der Pflicht des Wissens und
damit ein Teil der Ethik“34.
Wenn wir diese Überlegungen im Vorfeld einer Zukunftsethik – allerdings auf spätere
Begründungsargumente im Kap. II.3, III.4 und IV.5 vorgreifend – zuschärfen und pointieren,
gelangen wir zu folgendem Ergebnis:
Unsere paradoxe (Selbst-)Verpflichtung im Vorfeld der Zukunftsverantwortung:
A: Bemühung um Vernetzungs- und Global-Erkenntnis als Pflicht – B: Fallibilitätsbewußtsein
und globales Vorsichts- sowie Rücksichtsverhalten als Pflicht.
A
Einerseits ergibt sich daraus, daß wir (logisch unhintergehbar) mit Anspruch auf
Wahrheitsfähigkeit handeln und über Handlungsweisen urteilen, und daraus, daß die
Wirkungen unseres Verhaltens uns nicht mehr unmittelbar (durch Sehen und Hören)
oder aufgrund des Erfahrungsschatzes des überlieferten common sense zugänglich
sind, die Verpflichtung, sich um eine Erkenntnis unserer Handlungsnebenfolgen
eigens zu bemühen.
→ »Beteiligt euch an den empirisch-theoretischen Diskursen! Beschafft euch so viel
Folgenwissen wie möglich!«
B
Andererseits reicht das Folgenwissen in der offenen geschichtlichen Welt und in der
selbstlebendigen Bio- und Ökosphäre nie zu. Zudem bleibt es sehr fehleranfällig;
geschweige, daß sich aus ihm exakte bedingte Prognosen ableiten ließen, die wir in
verläßliche Wenn-dann-Handlungsregeln gießen könnten.
Ergo:
»Laßt euch nur auf revisionsfähige Maßnahmen, Techniken etc. ein, die mit der Vorsorge,
Vorsicht und Rücksicht gegenüber den möglichen Betroffenen – auch und gerade den
zukünftigen Betroffenen – vereinbar sind, welche ihr nicht allein durch euren
34
Jonas, PV., S. 28.
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Richtigkeitsanspruch impliziert, sondern schon mit eurer Grundrolle als glaubwürdige
Diskurspartner in Anspruch genommen habt!«
Das, was die Transzendentalpragmatiker darüber hinaus ins Spiel bringen, ist eine diskursund wissenschaftspragmatische Einsicht von dialogethischer Tragweite: Bereits das
Kernstück der naturwissenschaftlich-technologischen Rationalität, das empirisch-theoretische
Wissen, lasse sich, weil es wahrheitsfähiges Wissen sein will, das als solches von anderen
muß anerkannt werden können, allein in der dialogischen und daher moralisch geladenen
Form eines Diskurses unter gleichberechtigten Argumentationspartnern geltend machen.
Insofern setze auch der Naturwissenschaftler beispielsweise voraus, daß er andere
Wissenschaftler – logisch gesehen aber alle möglichen kompetenten Diskursteilnehmer – als
gleichberechtigte Diskurspartner achten soll und eigentlich auch will. Denn er erhebt ihm
gegenüber Ansprüche auf Geltung seiner Thesen, Theorien und Experimentresultate. Schon
die Aufdeckung dieser unausweichlichen Anerkennung der anderen Diskursteilnehmer als
solcher zeigt, daß die Herausarbeitung der dialogischen Form des Wissens moralisch von
Belang ist.35
Hier kommt die Diskursethik, als genitivus subiectivus verstanden, ins Spiel: Diskursethik als
Ethik der Geltungsdiskurse – eine normative Ethik für das Verhalten von Diskursteilnehmern.
Ihre Grundfrage lautet: ‚Wozu sind wir im Diskurs (als mögliche Diskurspartner) eigentlich
verpflichtet?‘ Und die erste Antwort ist: ‚Wenn wir auf uns als Subjekte von
Wahrheitsansprüchen reflektieren, erkennen wir, daß wir diese Ansprüche allein dann
glaubwürdig und ohne Selbstwiderspruch anderen gegenüber erheben können, sofern wir uns
um eine argumentative Konsensbildung bemühen.‘
Aus der diskurspragmatischen Dimension der wissenschaftlichen Forschung – das Forschen
ist ja zugleich ein Geltendmachen von Hypothesen und Theorien bzw. ein Kritisieren solcher,
mithin ein argumentativer Diskurs – läßt sich eine implizite Wissenschaftsethik als Ethik der
Diskurspartner erschließen. Den weitreichenden Anstoß dieser diskursethischen Einsicht
verdanken wir Charles Sanders Peirce.36
35
K.-O. Apel, Transformation II, S. 324ff, 395ff. D. Böhler, In dubio contra projectum, in: ders. (Hg.), Ethik für
die Zukunft, München 1994 (zit.: E.Z.), bes. S. 255 ff, 268 ff. Ders., „Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik
versus kulturalistische (Unternehmens-)Strategik“, in: H. Steinmann u. H. Scherer (Hg.), Zwischen
Universalismus und Relativismus, Frankfurt a.M. 1998, S. 126-178, bes. S. 143-163.
36
Dazu: K.-O. Apel, „Von Kant zu Peirce: Die semiotische Transformation der Transzendentalen Logik“, in:
ders., Transformation II, S. 157-177, bes. S. 173 ff. Ders., The Response of Discourse Ethics, Leuven 2001, S.
58 f. Ders., Der Denkweg von Charles S. Peirce, Frankfurt a.M. 1975.
41
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11.12.2009
Apels Programm einer transzendentalpragmatischen Aufdeckung des Kommunikationsaprioris37 und das einer Rekonstruktiven Pragmatik38 enthalten den Grundriß für eine Ethik
für Diskurse und schließen dabei sokratisch-kantisch auch an Popper an. Dessen kritisches
Wissenschaftsethos, von ihm selbst als eine bloße Entscheidungsangelegenheit des
Vernunftgläubigen angesehen, wurde (hinsichtlich dieser Deutung) als ein dezisionistisches
Mißverständnis zurückgewiesen; doch konnte sein normativer Gehalt, das Ethos des
selbstkritischen Forschers in einer offenen Gemeinschaft, als angemessene Entsprechung zur
intersubjektiv-dialogischen Form des Beanspruchens und Geltendmachens einer Erkenntnis
aufgewiesen werden. Denn das Erheben von Geltungsansprüchen schließt eben Moralität ein
– zunächst in Form der Anerkennung substantieller moralischer Verpflichtungen gegenüber
allen möglichen Diskurspartnern.
Wenn aber in den impliziten Voraussetzungen der wissenschaftlichen Rationalität und
generell in denen des Argumentierens moralische Verbindlichkeiten aufweisbar sind, dann ist
Vernunft als dialogische Praxis des Argumentierens nicht bloß formeller und theoretischer,
technischer oder ökonomischer Natur, nicht ein bloßes Vermögen des Analysierens und
Rechnens, als das sie seit Hobbes vom Mainstream angesehen wird, sondern zugleich
moralisch
orientierend
und
verpflichtend.
Dann
ist
eine
moralisch
bedeutsame
Selbsterkenntnis der Vernunft möglich, welche die moderne Selbstinfragestellung der
praktischen Vernunft als gegenstandslos erweist – als Selbstverfehlung der Praxis des
Geltung-Beanspruchens und Etwas-Geltendmachens. Eine Selbsterkenntnis der Vernunft im
Sinne Kants: Vernunft, die aus sich selbst heraus praktisch ist. – Das ist jedenfalls eine
grundlegende These dieser Vorlesung. Sie wird im einzelnen zu erörtern sein: Es gilt ihre
Gültigkeit zu erweisen, ihren Orientierungssinn – was heißt und wozu orientiert Diskursethik?
– zu bestimmen, sodann ihre Anwendbarkeit auf die Handlungswelt (im Sinne einer
Verantwortungsethik) zu prüfen und zu konkretisieren. Zunächst fassen wir zusammen:
Vernunft ist aus sich selbst heraus praktisch,
und zwar moralisch verpflichtend. Oder:
Transzendental- und Diskurspragmatik gegen den Strom.
37
K.-O. Apel, Sprache als Thema und Medium der transzendentalen Reflexion, in: ders., Transformation II, S.
311ff, bes. 327ff. Ders., Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, ebd., S.
358ff.
38
Böhler, Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion:
Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie, Frankfurt am Main 1985 (zit.
Rekonstruktive Pragmatik), Kap. II und VI.
42
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
Weil auch die (angeblich moralfreie) wissenschaftliche Forschung in ihrer „pragmatischen
Dimension“ des Erhebens von Geltungsansprüchen gegenüber Anderen und des Diskutierens
mit Anderen als gleichberechtigten Diskurspartnern stillschweigend moralische Rechte und
Verpflichtungen voraussetzen und als verbindlich anerkennen muß,
deshalb gilt:
>Vernunft< ist eine moralisch geladene, dialogische Praxis des Miteinander-Argumentierens.
Also
ist sie nicht bloß formell, theoretisch und technisch, kein bloßes Kalkül-Vermögen des
Analysierens und Rechnens.
Nun steht dieser transzendentalpragmatische Vernunftbegriff gegen den Zeitstrom. Er
antwortet
eben
auf
die
Herausforderung
des
modernen
westlichen
„Komplementaritätssystems“ (Apel). Erinnern wir uns: Vom Hauptstrom des modernen
westlichen Geistes wird einerseits die wissenschaftlich-theoretische Ratio und das formale
Kalkül der Zweckrationalität als die Vernunft schlechthin monopolisiert; andererseits würden
Wert- und Normfragen zu einem ‚act of faith‘ (Popper), einem existenziellen und irrationalen
Entscheidungsakt subjektiviert. Diese auch von Jonas berührte Komplementarität39 führt dazu,
daß die Idee einer praktischen Vernunft als obsolet und illusorisch gilt40. Dann aber erscheint
es als sinnlos, moralische Ansprüche auf der objektiven oder intersubjektiven Ebene der
Vernunft, also des Erweisbaren, prüfen und rein argumentativ darüber befinden zu wollen.
Praktische Fragen, wie die Frage nach dem „Vorrang eines Ziels gegenüber anderen unter
dem Aspekt der Vernunft zu diskutieren“ gilt dann als unmöglich.41 Vernunft wird auf
formale Logik plus theoretisch-empirische Rationalität plus Zweck-Mittel-Kalkül verkürzt;
sie schrumpft zur „subjektiven“ und „instrumentellen Vernunft“ (Max Horkheimer). In
lockerer Anknüpfung an Apel läßt sich diese Komplementarität der technologischen und
liberalen Zivilisation folgendermaßen rekonstruieren und erläutern:
39
Jonas, PV, S. 57.
„Die Komplementarität zwischen wertfreiem Objektivismus der Wissenschaft einerseits, existentiellem
Subjektivismus der religiösen Glaubensakte und ethischen Entscheidungen andererseits erweist sich als der
moderne philosophisch-ideologische Ausdruck der liberalen Trennung zwischen öffentlichem und privatem
Lebensbereich, der sich im Zusammenhang mit der Trennung von Staat und Kirche herausgebildet hat.“ In:
Apel, Transformation II, S. 370, vgl. 361-378. Weiterentwickelt in: ders., „Die Selbstinfragestellung der
praktischen Vernunft in der Gegenwart“, in: Apel, Böhler, Rebel (Hg.), Funkkolleg/Studientexte, Bd. 1, S.
130-137. Vgl. ders. Diskurs und Verantwortung, S. 26-36, 58ff.
41
M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, hg. von A. Schmidt, Frankfurt am Main 1967, S. 17.
40
43
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Auf der einen Seite ...
steht die (von Max Weber an Hand des großen
neuzeitlichen Säkularisierungs- /
Rationalisierungsprozesses beschriebene)
Entwicklung von
zweckrationalen Standards
im weitesten Sinne mit ihren (z.B. von Jürgen
Habermas untersuchten) Sub- und Nebenformen
–
–
–
–
der wissenschaftlich-technischen Rationalität
einer am Erfolg kontrollierten
Naturbeherrschung,
der ökonomischen Rationalität des effizienten
Mitteleinsatzes bei vorgegebenen Zwecken,
der strategischen Rationalität wechselseitiger
Instrumentalisierung zu je eigenen Zwecken,
der pragmatischen Verfahrensrationalität der
öffentlichen Willensfeststellung per
Mehrheitsbeschluß usw.
Auf der anderen Seite ...
steht eine Verdrängung aller
moralischen Wert- und Normgesichtspunkte
in den Bereich des rational nicht Fassbaren,
des
Irrationalen,
eine Entwicklung, die sich
gesellschaftspolitisch in der
Privatisierung der moralischen Urteilsbildung durch den Liberalismus
und philosophisch in der Strömung des
Existentialismus als Subjektivierung aller
moralischen Normen und Werte
niedergeschlagen hat.
Komplementär sind diese Seiten insofern, als a) alles, was in den Bereich des Irrationalen fällt, im Bereich
des Rationalen nicht vorkommt und umgekehrt, andererseits aber b) die Annahme eines Bereichs des
Irrationalen Voraussetzung für den Bereich des Rationalen ist und umgekehrt: der Wissenschaftler, der im
Labor seine erfolgskontrollierten Experimente durchführt, muß, indem er experimentiert, moralische Wertund Normfragen aus dem Blickfeld nehmen (methodologische Werturteilsenthaltung); der Existentialist,
der sich in der außergewöhnlichen Situation einer „Ur-Entscheidung für/gegen Vernunft“ wähnt, setzt
selbstverständlich voraus, daß die Welt um ihn herum weiterhin „funktioniert“ und dieses „Funktionieren“
anhand von Rationalitätsstandards zu erklären ist.
Unter diesen Voraussetzungen verfällt freilich das Sich-Verantworten gegenüber den
(moralischen) Ansprüchen Anderer einem Wertsubjektivismus, einem Rückzug auf ‚meine’
Wertwahl,
die
allenfalls
noch
plausibel
gemacht
werden
kann.
Von
jener
Subjektivierungsgefahr, letztlich Beliebigkeitsgefahr der Ethik ist Jonas durchdrungen. Das
motiviert ihn dazu, die traditionelle substanzielle, nämlich objektive Vernunft, die den Wert
des Seins aus diesem selbst vernehmen will, zu erneuern. Es ist dies eine Theorie des Seins,
und zwar (erstens) eine spekulative, d.h. weder empirisch falsifizierbare noch argumentativ
irgend beweisbare Theorie, welche (zweitens) einen normativen Orientierungsanspruch
erhebt, also auch praktisch relevant sein will.
Genauer betrachtet, vertritt Jonas einen teleologischen Ansatz, der in der lebendigen Natur
objektive Zwecke (griech.: telos, Plural: teloi) rekonstruiert, die einen Wertcharakter haben,
so daß sie den Menschen ansprechen und zu einer bestimmten Handlungsrichtung auffordern.
Diese Richtung gibt Jonas mit der weitgefaßten Formel „Solidarität des [menschlichen]
44
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
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Interesses mit der organischen Welt“42 an und erläutert sie im Rückgang auf uns, die
Angehörigen
der
Menschengattung
und
Teilhaber
der
technischen
Zivilisation,
folgendermaßen: „Die Zukunft der Menschheit ist die erste Pflicht menschlichen
Kollektivverhaltens im Zeitalter der modo negativo ‚allmächtig‘ gewordenen technischen
Zivilisation. Hierin ist die Zukunft der Natur als sine-qua-non offenkundig mitenthalten, ist
aber auch unabhängig davon eine metaphysische Verantwortung an und für sich, nachdem der
Mensch nicht nur sich selbst, sondern der ganzen Biosphäre gefährlich geworden ist. […] Im
wahrhaft menschlichen Blickpunkt bleibt der Natur ihre Eigenwürde, die der Willkür unserer
Macht entgegensteht. Als von ihr hervorgebracht schulden wir dem verwandten Ganzen ihrer
Hervorbringungen eine Treue, wovon die zu unserem eigenen Sein nur die höchste Spitze ist.
Diese aber, recht verstanden, befaßt alles andere unter sich.“43
Damit setzt Jonas die teleologische Metaphysik der aristotelisch-thomasischen Tradition fort
und stützt sich auf seine evolutionäre Ontologie des Lebens. Es geht ihm darum, das „Prinzip
der Ethik“ aus der „Natur des Ganzen“, nämlich aus dem im Menschen gipfelnden Leben zu
begründen und insofern aus dem, „was die Theologie als ordo creationis zu bezeichnen
pflegte.“ So formulierte er programmatisch im Epilog zu „Organismus und Freiheit“.44 Die
Frage ist jedoch, ob es, geltungslogisch gesehen, überhaupt möglich ist, aus einer bloßen
Theorie, hier einer Deutung der Natur bzw. des lebendigen Seins, verbindliche Sollensnormen
abzuleiten.
M. E. läßt sich mit Jonas eine Selbstbejahung des Lebens, das sich lebend behaupten will,
rekonstruieren.45 Dann können wir jene ontologische Wertintuition rational einholen, die
bereits Albert Schweitzer 1923 der subjektphilosophischen Ich-Evidenz Descartes’
entgegengesetzt hatte. Wegen ihrer Einleuchtungskraft möchte ich sie hier ins Spiel bringen,
wenngleich Jonas selbst sich nie mit Schweitzer beschäftigt zu haben scheint. Statt mit
Descartes die Evidenz des „Ich denke, also bin ich“ zum Ansatzpunkt zu machen, wählte
Schweitzer die Evidenz: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“46
In unmittelbarem intuitionistischem Zugriff fährt Schweitzer sprunghaft fort: „Ethik besteht
also darin, daß ich die Nötigung erlebe, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor
42
Jonas, PV, S. 245.
A.a.O., S. 245 und 245 f.
44
Göttingen 1973, S. 341. In: H. Jonas, Organismus und Freiheit. Philosophie des Lebens und Ethik der
Lebenswissenschaften, hg. von H. Gronke, Freiburg 2009, S. 358 (= Kritische Gesamtausgabe der Werke von
Hans Jonas; hg. von D. Böhler et al. (zit.: KGA), Bd. I/1).
45
Im Kontext: H. Jonas, a.a.O. Ders., PV, S. 153-183, vgl. 136-150.
46
A. Schweitzer, Kultur und Ethik, Nachdruck München 1972, S. 330 f.
43
45
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dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. Damit ist das denknotwendige Grundprinzip
des Sittlichen gegeben.“47
So ‚schließt‘ der intuitive Seins- bzw. Naturdenker von dem Ergebnis einer Betrachtung bzw.
Theorie des Seins auf eine Norm des Handelns, eine Sollensvorschrift. Der behutsam
Denkende oder der Skeptiker in uns wird nach dem Rechtsgrund eines solchen Schlusses von
– sagen wir großzügig: einer einsichtig gemachten – Werthaftigkeit allen organischen Lebens
zu der Norm bzw. dem kategorischen Imperativ, der Mensch solle „allem Leben, dem er
beistehen kann, […] helfen“ und stets praktisch berücksichtigen: „Gut ist, Leben erhalten und
Leben fördern; böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen.“48
Auch wenn eine intrinsische Werthaftigkeit des organischen Lebens erwiesen ist, wozu Jonas
nicht allein viel mehr als Schweitzer geleistet hat, sondern weitaus mehr als alle
Naturphilosophie bislang, kommen wir als Denkende bzw. Diskurspartner, die nur sinnvolle
Argumente gelten lassen dürfen, um die Frage nach dem Rechtsgrund des Schlusses von
einer Seinsinterpretation auf eine moralische Verpflichtung gegenüber dem organischen
Leben nicht herum: ‚Warum sollten wir unbedingt dazu verpflichtet sein, auf diese
Werthaftigkeit mit helfendem, förderndem Handeln zu antworten, und zwar ausnahmslos?
Wo liegt hier der Grund der Verbindlichkeit?‘
Und dann läßt sich – auf der Anwendungsebene – verantwortungsethisch weiterfragen: ‚Wie
sollen wir denn eine absolute Förderung alles organischen Lebens rechtfertigen können – in
Anbetracht der Folgen, die ein solches Verhalten für das menschliche Leben in vieler Hinsicht
haben müßte?‘ Doch wollen (und sollten) wir als strikt argumentative Diskurspartner die
Ebenen nicht ineinanderschieben. Halten wir die Geltungsebene der Prinzipienbegründung
und die realisierungsbezogene Ebene der Anwendung bzw. der Folgenverantwortung
auseinander! Bleiben wir zunächst strikt auf der ersten, der eigentlichen Prinzipien-Ebene und
fragen (wie ein nachkantischer Moralphilosoph in transzendentalpragmatischer Einstellung)
zunächst allein danach, ob es für uns als Argumentationspartner einen unabweisbaren Grund
gibt, der uns in Schweitzers oder Jonas’ Sinne zum solidarischen Engagement zugunsten des
übrigen organischen Lebens verpflichten kann. – Pointieren wir die Frage und die
Ebenenunterscheidung nochmals:
Die prinzipienbezogene Geltungsfrage als Frage nach dem Rechtsgrund einer
Verpflichtung – diskursreflexiv gestellt:
47
48
Ebd.
A.a.O., S. 331.
46
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11.12.2009
Gibt es für uns als Argumentationspartner, die allein sinnvolle Diskursbeiträge gelten lassen
wollen und dürfen,
einen unabweisbaren (d.h. nur durch performativen/pragmatischen Selbstwiderspruch
bezweifelbaren) Grund für die Verpflichtung/Norm:
‚Du sollst dich i.S. einer Solidarität mit der organischen Welt engagieren‘?
Davon zu unterscheiden sind die Fragen der Anwendbarkeit und der Folgenverantwortung:
‚(Wie) läßt sich die Verpflichtung X realisieren?‘ Und:
‚Lassen sich die Folgen der Verpflichtung X rechtfertigen?‘
Besagte quaestio juris, die Frage nach dem Rechts- bzw. Geltungsgrund, hatte Karl-Otto Apel
1981 vorbereitet, als er argumentierte: Wollte man allein aus dem Seinsfaktum der
„Selbstbejahung des Seins“ die Pflicht zur Zukunft als „Bewahrung des Daseins und des
Soseins des Menschen“ (Jonas) ableiten, dann machte man sich einer petitio principii, des
logischen Zirkels durch Unterstellung des eigentlich zu Beweisenden, auf ähnliche Weise
schuldig, wie wir das in der teleologischen Seinslehre der Aristoteles-Tradition und der Stoa
beobachten können:
„Es ist gewiß einleuchtend, daß dem Menschen heute angesichts seiner gesteigerten
technischen Macht (des Bewirken-Könnens) eine entsprechend erweiterte moralische
Verantwortung für seinesgleichen – insbesondere für die nächsten Generationen – und sogar
für die Natur (als natürliche Umwelt) zufällt. Aber es ist ebenso klar, daß diese neue
Sollenspflicht nicht ohne logischen Zirkel allein aus den Tatsachen des Seins herzuleiten ist.
Wollte man sie – mit Aristoteles und der Stoa – auf die teleologische Bestimmung des Seins
der Natur zurückführen, dann setzte man sie im metaphysischen Verständnis des Seins der
Natur schon voraus. Denn aus der unterstellten Tatsache: daß etwa alles Lebendige nach
Selbsterhaltung, alle Tiere nach Lust und alle Menschen nach Glück streben, folgt
keineswegs, daß ich für die Erfüllung dieses Strebens irgendwie verantwortlich bin. Man
könnte insofern angesichts der ökologischen Krise genausogut die Konsequenz ziehen: ‚Nach
mir die Sintflut!‘ oder ‚Rette sich, wer kann!‘.
Erst wenn ich, neben den Tatsachen der Natur, noch ein deontologisches Prinzip, eine
Grundnorm im Sinne der verallgemeinerten Gegenseitigkeit der Ansprüche aller Menschen
47
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als Vernunftwesen, voraussetzen kann, ergibt sich die Verantwortungspflicht im Sinne von
Jonas.“49
Mit dem letzten Satz gibt Apel die Richtung an, in der offenbar die Antwort auf unsere
dialogpragmatisch, und zwar diskursreflexiv gestellte Frage nach dem Rechtsgrund einer
Pflicht zur Lebens- und Zukunftsverantwortung zu suchen ist. Doch ist damit diese Frage
noch nicht direkt beantwortet. Wir bleiben weiter auf der Suche – zumindest bis Kapitel
II 4.2.
49
K.-O. Apel, „Ist die philosophische Letztbegründung moralischer Normen auf die reale Praxis anwendbar?“,
in: Apel, Böhler, Rebel (Hg.), Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: Studientexte, Bd. 2, Weinheim u.
Basel 1984, S. 606-634, hier S. 628.
48
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3
Metaphysische
und
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spekulativ
theologische
versus
reflexiv
dialogische
Begründung des Prinzips Mitverantwortung. Läßt sich das Zugleich von Freiheit
und Verantwortung (Kants „Faktum der reinen Vernunft“) einholen?
Was Hans Jonas anbelangt, so bietet er zwei metaphysische Begründungsansätze, zunächst
eine, durchaus methodisch atheistisch angesetzte, philosophische Biologie als Teleologie des
Lebens, sodann eine spekulative Theologie, die hinter und in der Evolution des Lebens (von
der Amoebe bis zum homo sapiens sapiens) einen Schöpfergeist annimmt, jedenfalls als
plausible, wenn nicht gar erklärungskräftige Möglichkeit.
Auf Jonas’ Lehre von einem möglichen Gott, der die Evolution der Materie zum Organismus
und dessen Fortschritt zur Freiheit gewollt habe, können wir hier nur einen Blick werfen.
Dabei sollten wir zunächst Jonas’ Selbstverständnis berücksichtigen. Macht er doch
unmißverständlich klar, daß er nach Kants Metaphysikkritik, nach Nietzsches Proklamation
des Todes Gottes und nach Heideggers radikaler Endlichkeitsphänomenologie von „Sein und
Zeit“ über Gott und die Welt nachdenkt. Denn er vertritt nicht etwa (objektivistisch) eine
Ontotheologie, derzufolge (erstens) Gott das Sein selbst bzw. der Grund des wertvollen und
ein Sollen einschließenden Seins sei, und derzufolge (zweitens) diese, in Gottes Vernunft
verankerte, Einheit von Sein und Sollen objektiv erkennbar sei. Vielmehr nimmt Jonas die
Immanenz der Welt, die Endlichkeit des Lebens ebenso ernst wie die Zeitlichkeit des
menschlichen Daseins, welches sich anschickt, das Sein zu erkennen. Darin ist er so
konsequent, daß er in seinem Evolutionsmythos die Idee eines möglichen Schöpfergottes
selbst jenen Bestimmungen und damit das Transzendente der Immanenz unterwirft.50 Insofern
entsubstantialisiert er seine metaphysisch-theologische „Vermutung“ im vorhinein und
unterstellt sie dem methodischen Atheismus, der den modernen Wissenschaften zugrundeliegt
und der vom nachkierkegaardschen Existentialismus ausdrücklich aufgenommen wird.51
Im Lichte von Kants Kritik der dogmatischen bzw. vorkritischen Metaphysik denkend,
entwirft Jonas einen „hypothetischen Mythos“, der die Weltentstehung, zumal die Genese von
Geist, durch die Annahme eines Schöpfergeistes erklärt. Dieser habe dadurch, dass er in der
„Materie“ Geist zugelassen habe, die Verfügungsmacht über die Fortsetzung der Evolution in
die Hände des Menschen gegeben. Eine Allmacht Gottes und dessen Schöpfung menschlicher
50
Jonas, „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ und „Materie, Geist und Schöpfung“, in: ders., Philosophische
Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a.M. 1992 (zit. Philosophische Untersuchungen),
bes. S. 190-197, 243-247.
51
Jonas, Erinnerungen, Frankfurt a.M. 2003, S. 93. Ders., Gespräch mit H. Koelbl, in: H. Koelbl (Hg.),
Jüdische Portraits, Frankfurt am Main 1998, S. 170, Sp. 2.
49
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Freiheit seien zusammen nicht denkbar. Da die Macht auf Erden beim Menschen liege, habe
er auch die Verantwortung für das „Weltabenteuer“, damit aber zugleich die Verantwortung
für das Schicksal des gütigen göttlichen Geistes.52 Über diesen philosophischen Gottesbegriff,
das Sein Gottes als bedingungsloses In-der-Welt-Sein charakterisierend, kann Jonas den
Begriff des menschlichen Geistes erläutern: Zum menschlichen Geist gehöre das Bewußtsein
der Weltverantwortung oder das negativ theologische Wissen, daß dem Menschen „kein
rettender Gott“ die Pflicht [abnimmt], die seine Stellung in der Ordnung der Dinge ihm
auferlegt.53
So bringt der jüdisch-deutsche Denker den religiös offenen Zeitgenossen eine, in sich
zwiefältige, Motivation zur Zukunftsverantwortung nahe: In Übereinstimmung mit seinem
Begriff sei der Mensch (als leibhafter Geist in der Schöpfung) einzig dann, wenn er weder die
real moralische Verantwortung für das Weltabenteuer abwälzt, noch sich der geistig
moralischen Verantwortung für das Schicksal des göttlichen Geistes entzieht. – Derart ertastet
Jonas eine hypothetische Verantwortungstheologie des ohnmächtigen Gottes. Mir scheint, daß
sich nach Auschwitz, wo die Hoffnung auf einen Gott als allmächtigen Herrn der Geschichte
mitvergast worden ist, einzig eine solche Theologie noch glaubwürdig vertreten läßt.
Diese kosmische Verantwortungstheologie bildet auch den Motivationshintergrund für Jonas’
scharfe Kritik am späten Heidegger. 1964 verwarf er Martin Heideggers mystischseinsgeschickliche „Kehre“ als Flucht vor der Rechtfertigungsaufgabe des Denkens. Er
unterzog sie einer schneidenden Sinnkritik: Heideggers neuer Ansatz bei dem Seinsgeschick,
auf dessen Anrufung (in der Geschichte – z.B. durch ‚den Führer‘) es zu hören gelte, verbinde
den demütigen, vermeintlich subjektfreien Gestus eines Vernehmens des Seins mit dem
hybriden Anspruch, daß durch den Seinsdenker, also durch Heidegger, „das Wesen der Dinge
selbst spricht“, und mit der zugleich seins- und erkenntnismystischen Verheißung, ein
erkenntnisphilosophisches aber auch ontologisches Grundschema, die Differenz und Relation
von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt wie auch von Mensch und Welt, ad acta zu
legen. Denn durch ein gehorsames, frommes Vernehmen des sich uns zuschickenden Seins
könne die – in Wahrheit doch von jeder Theorie erneut zu überbrückende – „Subjekt-ObjektSpaltung erlassen, vermieden, überwunden werden“. Wer freilich so spekuliere, der
erschleiche nicht allein, was er zu erkennen vorgibt, die Wahrheit über das Sein, sondern
mache sich durch diesen Objektivismus auch unangreifbar. Ziehe er doch das
Erkenntnissubjekt, das sich für sein Vorgehen und seine Aussagen gegenüber anderen müsse
52
Jonas, „Materie, Geist und Schöpfung“, in: ders.: Philosophische Untersuchungen, S. 244, vgl. S. 230–251.
Ders., „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“, ebd., S. 190–208.
53
Jonas: Philosophie. Rückschau und Vorschau am Ende des Jahrhundert,. Frankfurt a.M. 1993, S. 41 f.
50
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rechtfertigen können, zurück auf ein vermeintliches Ohr sowie den Mund des sich jeweils
zuschickenden Seins. Das bedeute zunächst eine Art totalen Objektivismus. Hinzukomme,
daß eine solche selbstimmunisierte Ontotheologie „die enormste Hybris in aller Geschichte
des Denkens“ darstelle.54 – So Jonas’ These in Kürze. Schauen wir genauer hin.
Der späte Heidegger vollzieht eine „Kehre“ des Denkens als Abwendung vom
Vernunftsubjekt,
worin
ihm
Nietzsche
vorausgegangen
war
und
Foucault,
der
methodologische Proklamateur des „Todes des Subjekts“, mit Pathos nachgefolgt ist –
Wolfgang Kuhlmann, Axel Honneth und Jürgen Habermas haben diese Problematik
sinnkritisch beleuchtet.55 Die „Kehre“ Heideggers ist so radikal, daß er für sich selbst
überhaupt nicht mehr von Philosophie spricht, sondern sich ein ursprüngliches bzw.
„anfängliches Denken“ zuschreibt, das der Dichtung und dem Mythos verwandt ist. Dieses
soll nicht von dem Subjekt des Denkers ausgehen, wie er es z.T. in „Sein und Zeit“, dessen
Ausgangspunkt und Zentralbegriff das „Dasein“ (Nachfolgebegriff von „Subjekt“) ist und das
vom Vernunftanspruch auf „Durchsichtigkeit“ der Geschichte der Ontologie geleitet wird,56
auch selbst getan hat.
Warum das? Seit Platons Ideenlehre erblickt er in der Geschichte der Metaphysik die Tendenz
einer Unterwerfung bzw. Zurichtung des Seins unter eine Methodenherrschaft des denkenden
Subjekts,57 den Versuch eines „Herrwerdens der ἰδέα über die ἀλήϑεια“, welcher dazu
geführt habe, daß „fortan sich das Wesen der Wahrheit nicht als das Wesen der
Unverborgenheit [des Seins] aus eigener Wesensfülle entfaltet“, sondern verlagert werde auf
den Verstand und dessen selbstgesetzte Richtigkeitsmaßstäbe, welche dann „das angeblich
Wirkliche“ festsetzten.58 Gegen diese vermeintlich von vornherein seinsvergessene und verfälschende Herrschaft der Subjektivität setzt Heidegger einen radikalen Neubeginn – das
Denken soll demutsvoll auf das Sein selbst lauschen, es soll sich in doppeltem Sinne als „das
Denken des Seins“ wissen. Dieser Genitiv besagt nach Heidegger nämlich zweierlei: Erstens
sei das Denken des Seins, „insofern das Denken, vom Sein ereignet, dem Sein gehört“.
Zudem sei das Denken auch „Denken des Seins, insofern das Denken […] auf das Sein
54
Jonas, „Heidegger und die Theologie“, Vortrag von 1964, deutsch in: G. Noller (Hg.), Heidegger und die
Theologie, Beginn und Fortgang der Diskussion, München 1967, S. 316-340, hier S. 335f. Nachdruck in: D.
Böhler, P. Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung. Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans
Jonas. Würzburg 2004, S.39-58, hier S.54.
55
W. Kuhlmann, „Tod des Subjekts? Eine transzendentalpragmatische Verteidigung des Vernunftsubjekts“, in:
ders., Kant und die Transzendentalpragmatik, Würzburg 1992, S. 155-167; A. Honneth, Kritik der Macht.
Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M. 1985, S. 149 ff.; J. Habermas, Der
philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1985, S. 340.
56
M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1963, §§ 5 f., 9 ff. u.ö. Zit.: S. 22.
57
M. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 1947.
58
A.a.O., S. 41, 44 u. 45.
51
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11.12.2009
hört“59 – und den Menschen „in die Lichtung des Seins“ gestellt sein läßt,60 damit er „der Hirt
des Seins“ werde bzw. als Hirte des Seins existiere.61
Heidegger geht damit hinter die gesamte Philosophie seit Platon zurück und verwirft sie als
eine subjektgeleitete technische Metaphysik, ein „seinsvergessenes Denken“, durch das sich
der methodisch zugreifende Philosoph und Techniker zum Beherrscher einer Welt der Dinge
aufgeworfen habe, zum Techniker einer Welt des je vereinzelten, nämlich zum Objekt von
Theorie und Methode gemachten „Seienden“. Die gesamte Philosophie stelle eine Geschichte
des Abfalls vom umgreifenden Sein dar, weil sie immer erneut Seiendes zum Objekt mache
und
es
so
dem
methodisch
technisch
verfahrenden
Vernunftsubjekt
bzw.
62
Wissenschaftssubjekt unterwerfe.
Jonas läßt sich auf die damit verbundene Totalkritik der gesamten Denk- und
Wissenschaftsentwicklung nicht weiter ein; vielmehr deckt er Heideggers spekulativen und
therapeutischen Ansatzpunkt auf, um diesen ad absurdum zu führen. Zunächst kritisiert er die
spekulative These, die Unterscheidung von Subjekt und Objekt, ja das darauf beruhende
Subjekt-Objekt-Verhältnis des Menschen in Theorie und Praxis, sei nichts als ein griechisch
abendländischer Fehltritt – seit Platon und Aristoteles. Denn darauf baut Heidegger seine
Therapie auf: Ersetzung der Philosophie durch ein ursprüngliches „Andenken an das Sein“
und durch seinsfromme Dichtung, worin sich die Haltung einer Demut vor dem Sein
verkörpern würde.
Dagegen argumentiert Jonas 1964 auf einem Heidegger gewidmeten Kongreß amerikanischer
Theologen wie folgt: „Die Initiative dem Sein überlassen, horchen auf das, was es spricht,
ansprechen auf seinen Ruf, sich ergreifen lassen von seiner Macht, ja, mehr als alles: die
ganze Haltung der Subjektivität und der Bemeisterung des Objektes durch meine gemachte
Begrifflichkeit aufgeben – ist das nicht Andacht, ist das nicht Demut? Hier müssen wir etwas
sagen über die scheinbare, falsche Demut von Heideggers Zuschiebung der Initiative an das
Sein – so verführerisch für den christlichen Theologen, aber in Wahrheit die enormste Hybris
in aller Geschichte des Denkens. Denn sie besagt nicht weniger als des Denkers Anspruch,
daß durch ihn das Wesen der Dinge selbst spricht, und damit den Anspruch auf eine Autorität,
die kein Denker jemals beanspruchen soll. Und es bedeutet ferner den prinzipiellen Anspruch,
daß die menschliche Grundbedingung, nämlich im Abstand zu den Dingen zu sein, den wir
durch das Hinausreichen unseres Geistes überbrücken müssen – kurz, daß die sogenannte
Subjekt-Objekt-Spaltung erlassen, vermieden, überwunden werden könnte: den Anspruch also
59
M. Heidegger, Über den Humanismus, Frankfurt a.M. o.J., S. 7.
A.a.O., S. 15 f. und 19 f.
61
A.a.O., S. 19.
62
A.a.O. Ders., Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 1947. Ders., Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962.
60
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auf eine mögliche Unmittelbarkeit, die vielleicht im Verhältnis von Person zu Person, nicht
aber im Verhältnis zum unpersönlichen Sein und zu den Dingen und zur Welt stattfinden
kann. Es ist wirklich ohne Vorgang in der ganzen Geschichte abendländischer Philosophie.
[…] Das Subjekt-Objekt-Verhältnis […] ist nicht ein Fehltritt, sondern das Privileg, die Bürde
und die Pflicht des Menschen. Nicht Platon ist verantwortlich dafür, sondern die menschliche
Situation und Verfassung, ihre Grenzen und ihr Adel nach der Ordnung der Schöpfung. Denn
weit entfernt davon, eine Abweichung von biblischer Wahrheit zu sein, ist diese Setzung des
Menschen gegenüber der Gesamtheit der Dinge, sein Subjekt-Status, und der Objekt-Status
und das gegenseitige Außereinander der Dinge selbst, in der Idee der Schöpfung als solcher
und der von ihr bestimmten Stellung des Menschen zur Natur gesetzt. Es ist der Zustand des
Menschen, wie er nach der Bibel gemeint war, ihm auferlegt durch seine Geschöpflichkeit
und von ihm zu übernehmen, durchzuvollziehen – und zu transzendieren nur in gewissen
Begegnungen mit Seinesgleichen und Gott, d.h. in existentiellen Beziehungen sehr besonderer
Art. Niemand und kein waltendes Sein nimmt uns die Verantwortung ab für das, was wir
denken und sprechen.“63
Gegen den seinsfrommen, den „anfänglichen“ und „wesentlichen“ Denker Heidegger, den er
geradezu als „Bauchredner des Seins“ apostrophieren kann64, macht Jonas geltend, daß das
Denken verantwortlich sei und daß es „entscheidend von der Auffassung seiner
Verantwortlichkeit“ abhänge65. Das ist seine kritisch philosophische Richtschnur.
Was sein eigenes Denken anbelangt, so legt er in diesem Sinne großen Wert darauf, den
geltungsmäßigen Stellenwert sowohl seiner metaphysischen Ontologie als auch seiner
spekulativen Theologie distanziert und kritisch zu erörtern. Mit selbstkritischer Redlichkeit
wahrt er die ontologischen Differenzen zwischen Denker und Gedachtem, zwischen
Endlichkeit und möglicher Nicht-Endlichkeit. So spricht er von Gott nur in doppelter
Einklammerung bzw. mit doppeltem Vorbehalt gegenüber dem Wahrheitsanspruch seiner
eigenen Aussagen (über Gott). Einmal bezieht er sich nur auf den möglichen Gott (‚es ist
möglich, daß Gott existiert‘); zudem schreibt er seinen Aussagen über Gott nur den
schwachen Stellenwert von „Vermutungen“ ohne einlösbaren Wahrheitsanspruch zu.66
Die
Subjekt-Objekt-Differenzen
ernstnehmend
und
in
Einklammerung
des
Wahrheitsanspruchs über das Sein-Können eines möglichen Schöpfergeistes nachdenkend,
63
Jonas, „Heidegger und die Theologie“, Vortrag von 1964, deutsch in: G. Noller (Hg.), Heidegger und die
Theologie, Beginn und Fortgang der Diskussion, München 1967. Nachdruck in: D. Böhler, P. Brune (Hg.),
Orientierung und Verantwortung. Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans Jonas. Würzburg 2004
(zit.: Böhler/Brunde, 2004), S.39-58, hier S.54 f.
64
A.a.O., S.54.
65
A.a.O., S. 336.
66
Jonas, Philosophische Untersuchungen, 3. Teil, S. 171-255.
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zeigt sich Jonas als ein nachkantischer und nachhusserlscher Metaphysiker. Das trennt ihn
sowohl von der antiken und thomistischen Ontotheologie als auch von der des späten
Heidegger. Diesem kritischen Zug werden weder Vittorio Hösle, der Jonas schlicht eine
„ontotheologische Begründung der Ethik“ zuspricht67, gerecht noch Micha Werner, der ihm
eine
„objektivistische
Moralbegründung“
unterstellt68.
Ohne
objektivistische
seinstheologische Prämissen will Jonas den naturalistisch monistischen Zug und die
Teleologie der klassischen bzw. thomistischen Ontologie neu denken. Ohne Rückgriff auf
göttliche Autorität oder auf Allmachtsannahmen will er das schöpfungstheologische Erbe der
jüdisch christlichen Tradition, so die „Heiligkeit des Lebens“ und die „Hütung des
Ebenbildes“, in Besitz nehmen:69 „Philosophierend habe ich von Möglichkeiten gesprochen,
nicht von Wirklichkeiten.“70 In der Tat ist ein (hypothetisches) Denken der Möglichkeit eines
Schöpfergottes, der sich gänzlich dem Weltabenteuer der Immanenz überantwortet habe,
etwas grundsätzlich anderes als das (gegenstandsbezogene, Wahrheit beanspruchende)
Schauen bzw. Vernehmen von Gott als tatsächlichem Grund bzw. Prinzip des Seins.
Jonas’ ontologisch-teleologischer Ansatz – er nennt ihn mit Vorliebe „metaphysisch“ und
„ontologisch“ –, bringt ihn von Anbeginn in die Prinzipiendimension und läßt ihn auch das
Ethische aus dieser denken. Außerdem gewinnt er durch den Rückgriff auf die biblisch
priesterschriftliche Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen (1. Buch Mose, 1,26f)
den normativen Gehalt des Grundsatzes der (zu achtenden) Menschenwürde. Dadurch
erweitert er die Perspektive einer bloßen Bewahrung der Gattung, in deren Sinne sich die erste
Formel seines kategorischen Imperativs der Zukunftsverantwortung unter Umständen
verstehen läßt: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der
Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“71 Karl-Otto Apels Kritik hat Jonas
darauf festlegen wollen.72 Unangemessenerweise; denn sie überspringt den Kontext und den
Rekurs auf Menschenwürde, mit dem das Werk auch schließt: „Um die Hütung des
‚Ebenbildes’.“73
Allerdings ist zu fragen: Was trägt Jonas zum Begründungsproblem, d.h. zu einem
Verbindlichkeitserweis des Prinzips der Ethik bei? Und wo wäre ein Verantwortungsprinzip
67
V. Hösle, „Ontologie und Ethik bei Hans Jonas“, in: E.Z., S. 120f. Zur Sache: W. Ch. Zimmerli, „Philosophie
in einer Gott-verlassenen Welt“, in: E.Z., S. 151ff, bes. S. 159ff.
68
Werner 2003a, S. 48.
69
Jonas, P.V., S. 57f, 63, 392f.
70
Jonas, „Im Kampf um die Möglichkeit des Glaubens. Erinnerungen an Rudolf Bultmann und Betrachtungen
zum philosophischen Aspekt seines Werkes“, in: ders., Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 75.
71
Jonas, P.V., S. 36.
72
Apel, „Verantwortung heute...“ in: ders., Diskurs und Verantwortung, S. 179ff, vgl. auch das Gespräch mit
Apel in: Apel und Burckhart (Hg.), Prinzip M.V., S. 97ff.
73
Jonas, PV, S. 392f.
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gleichsam festzumachen – primär im Sein oder primär im Dialog, in welchem auch ein
Seinsdenker, dadurch, daß er denkend etwas geltend macht, sich je schon befindet? Damit
stehen wir wieder vor der mit Apel aufgeworfenen, aber noch offenen Frage nach dem
Geltungs- bzw. Rechtsgrund einer Pflicht zur Verantwortung für das Ganze.
Schließlich stellt sich die Frage, welche differenzierenden Kriterien bzw. normativen
Bedeutungsgehalte (etwa Gerechtigkeit, Öffentlichkeit und Kommunikationsfreiheit) intern
mit dem Verantwortungsprinzip verbunden werden müßten – besser: als mit ihm verwoben
aufzuweisen sind. Müßte Jonas, wenn er diese Frage ernstnimmt, nicht die „doppelte
Vereinfachung“ zurücknehmen, die in den Kollektivierungen der vielerlei Beteiligten zu der
jetzt lebenden Menschheit und den sehr unterschiedlichen Betroffenen zu der künftigen
Menschheit steckt? Darauf insistiert Micha Werner zu Recht.74
Die hier nötigen Differenzierungen sind Diskursdifferenzierungen. Sie ergeben sich mit
innerer Logik, wenn man das Verantwortungsprinzip aus dem Dialogprinzip entwickelt,
nämlich durch Rückgang auf das Sich-im-Diskurs-Verantworten. Das ist der zu Jonas
komplementäre, nicht-metaphysische Prinzipienansatz der Berliner Diskurspragmatik und
Dialogpragmatik: eine sokratische Ethikbegründung durch rationale Beweisführung und
sinnkritische Prüfung im Dialog mit dem Skeptiker, deren Wahrheit jeder aus stichhaltigen
Gründen zustimmen würde – auch der ex professo Ungläubige, der skeptische
Diskursteilnehmer, dem wir mit keiner bloßen Glaubensannahme kommen können.– Führt
von diesem Ansatz eine Brücke zu Jonas?
Folie zu S. 54
Seinen metaphysisch ontologischen Begründungsweg fortsetzend, hat Jonas hingegen den
„Versuch einer ‚metaphysischen Deduktion’ der Verantwortungsethik“ vorgelegt.75
Bemerkenswerterweise geht er dabei in einer sokratisch kantischen Manier zurück auf das,
was Menschen als ethische Fähigkeit mitbringen und was sie als normative Verpflichtung
sinnvoll nicht bezweifeln können: „Der Mensch ist das einzige uns bekannte Wesen, das
Verantwortung haben kann. Indem er sie haben kann, hat er sie. Die Fähigkeit zur
Verantwortung bedeutet schon das Unterstelltsein unter ihr Gebot: das Können selbst führt
mit sich das Sollen. Die Fähigkeit aber zur Verantwortung – eine ethische Fähigkeit – beruht
in der ontologischen Befähigung des Menschen, zwischen Alternativen des Handelns mit
Wissen und Wollen zu wählen. Verantwortung ist also komplementär zu Freiheit.“76
74
Werner 2003b, S. 227ff, hier S. 234 und 240.
Jonas, Brief an H.-G. Gadamer, 9. Nov. 1985, in: Böhler/Brune, 2004, S. 480.
76
Jonas, Philosophische Untersuchungen, S. 130f.
75
55
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Das Manuskript hatte Jonas seinem Studienfreund aus Marburger Tagen, Hans-Georg
Gadamer, mit der Bitte um dessen Urteil zugesandt. Dieser hebt in seiner Antwort hervor77,
daß Jonas seine Deduktion einer Pflicht zur (Mit-)Verantwortung für „die Permanenz echten
menschlichen Lebens auf Erden“ eigentlich durch Rückgang auf ein moralisches
Grundfaktum der Vernunft gewinne. „Im Grunde folgen ja auch Sie Kant, wenn Sie von der
Gegebenheit der Verantwortung reden: das ist das Vernunftfaktum der Freiheit.“78
Gadamer verweist damit auf die Rückzugsposition zu der Frage, ob sich das Moralprinzip als
allgemeinverbindlich erweisen, d.h. als eine Erkenntnis a priori deduzieren lasse, die Kant in
der „Kritik der praktischen Vernunft“ bezieht: Ein solcher Nachweis der Rechtmäßigkeit des
Begriffs eines obersten allgemeinverbindlichen Moralprinzips in „seiner absoluten
Notwendigkeit“79 sei nicht möglich, aber auch gar nicht nötig. Es reiche nämlich hin, zu
zeigen, daß das Zugleich der „Idee der Freiheit“ als „Autonomie des reinen Willens“80 und
der Einsicht in die Unumgänglichkeit samt Anerkennungswürdigkeit des kategorischen
Imperativs „sich selbst nur aufdringt“, nämlich als „synthetischer Satz a priori“. So heißt es in
§ 7 des Ersten Teils der praktischen Vernunftkritik:
„Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes [des kategorischen Imperativs] ein
Factum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der
Vernunft, z.B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher
gegeben), herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt
als synthetischer Satz a priori […]. Doch muß man, um dieses Gesetz ohne
Mißdeutung als gegeben anzusehen, wohl bemerken: daß es kein empirisches,
sondern das einzige Factum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich
gesetzgebend (sic volo, sic jubeo) ankündigt.
Folgerung:
Reine Vernunft ist für sich allein praktisch und giebt (dem Menschen) ein allgemeines
Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen.“81
Kehren wir zu Jonas und Gadamer zurück: In seiner Antwort an Jonas geht Gadamer nicht,
wie das zuvor K.-H. Ilting getan hatte, darauf ein, daß der Rückgang auf die moralische
Verantwortungsfähigkeit als „ursprüngliches Erfahrungsdatum“ in einen naturalistischen
Fehlschluß82 führt oder gar in einen „logischen Zirkeltrug“ nach Art des ontologischen
77
H.-G. Gadamer, Brief an H. Jonas, 21. April 1986 in Antwort auf das Schreiben von Jonas vom 9. November
1985, in: Böhler/Brune, 2004, S. 471-482, hier: 481f.
78
H.-G. Gadamer, Brief an H. Jonas, vom 21. April 1986, a.a.O., S. 481. Gadamer pointiert also die Analogie zu
Kants These einer Verwobenheit der moralischen Autonomie mit der Einsicht in das Sittengesetz als dem
„Faktum der reinen Vernunft“, nach: Kritik der praktischen Vernunft, 1787, S. 55ff und S. 72 ff bzw.
Akademie-Ausgabe S.30ff und 41 ff.
79
Kant, GMS, Ak.-Ausg. S. 463.
80
Ders., GMS, S. 454 und 453.
81
Kant, KpV, 1. Aufl. 1788, S. 55f; bei Vorländer/Meiner, S. 36f.
82
So Karl-Heinz Ilting, „Der naturalistische Fehlschluß bei Kant“, in: M. Riedel (Hg.), Rehabilitierung der
praktischen Philosophie, Freiburg i.Br. 1972, Bd.1, S. 113-130. Wiederum in: K.-H. Ilting, Grundfragen der
praktischen Philosophie, Frankfurt a. M. 1994, S. 277-295.
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Gottesbeweises. Letzterem will Jonas dadurch entgehen, daß er aus der begrifflichen ‚Essenz‘
eines ursprünglichen Erfahrungsdatums (nämlich aus dem Begriff der Menschheit) allein die
Pflicht zur Fortsetzung von deren Existenz ableitet. Das ist, so erläutert er, dann „zwar ein
Schluß von Essenz zu geforderter Existenz, doch kein Zirkelschluß von Essenz zu gegebener
Existenz. Also ist unser Argument kein leeres. Aber es ist auch kein Beweis. Es ist an gewisse
unbewiesene,
axiomatische
Voraussetzungen
gebunden:
nämlich,
daß
Verantwortungsfähigkeit an sich ein Gut ist, also etwas, dessen Anwesenheit seiner
Abwesenheit überlegen ist; und daß es überhaupt ‚Werte an sich‘ gibt, die im Sein verankert
sind – daß letzteres also objektiv werthaltig ist.“83 Als Philosoph, dem die, von Kant als
Selbstverpflichtung
der
Vernunft
geltend
gemachte,
Tugend
der
Wahrhaftigkeit
eingeschrieben ist, zieht Jonas daraus die Konsequenz: „Letztlich kann mein Argument nicht
mehr tun, als vernünftig eine Option begründen [...]. Besseres habe ich leider nicht zu
bieten.“84
In seinem Brief an Gadamer schließt er damit, daß er glaube, über dieses „Wagestück“ nicht
mehr „hinauszukommen (was zwar nötig wäre).“85 Einerseits räumt Jonas damit ein, die
Komplementarität des modernen weltlichen Geistes nicht überwunden zu haben – eine bloße
Option gehört auf die subjektiv existenzielle Seite der Komplementarität. Sein
Begründungsziel, die Subjektivität in Wert- und Normenfragen aufzuheben, hat er demnach
verfehlt. Andererseits transzendiert – darauf weist Gadamer hin – seine sokratisch kantische
Denkweise hier sein metaphysisches Selbstverständnis. Was bedeutet das für uns als
Skeptiker?
Ohne Gefahr der petitio, also der Erschleichung des zu Erweisenden durch Zirkelschluß, und
ohne naturalistischen Fehlschluß können wir Jonas’ Intuition aufnehmen und – in zwei
Schritten – zwingend neu denken: zuerst durch eine Rekonstruktion von Voraussetzungen des
argumentativen Dialogs, sodann durch eine sokratische Dialogreflexion; nämlich durch einen
dialogreflexiven, aktuell im Diskurs mit Skeptikern geführten Erweis einer ursprünglichen,
unhintergehbaren Anerkennung von Verantwortung. Ursprünglich ist diese Anerkennung,
weil sie zugleich mit dem Ins-Spiel-Bringen der eigenen Freiheit entspringt; argumentativ
unhintergehbar ist sie, weil sie bereits dem Etwas-Denken und Etwas-Geltendmachen
zugrunde liegt – eine Sinnbedingung des Denkens als Selbstgespräch und als Gespräch
aufgrund von Argumenten.
Die beiden Begründungsschritte (I) und (II) sind diese:
83
Jonas, Philosophische Untersuchungen, S. 139.
A.a.O., S. 140.
85
Jonas in: Böhler/Brune, 2004, S. 480.
84
57
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I Diskurspragmatische Rekonstruktion des Dialogs:
Im Dialog machen wir von unserer Freiheit Gebrauch, indem wir Ansprüche auf Geltung für
das, was wir vorbringen, erheben. Diese kommunikative Freiheit können wir jedoch nur in
dem Maße verwirklichen, als wir auch zur Verantwortung bereit sind gegenüber den Anderen,
die am Dialog teilnehmen, und gegenüber denen, über die wir reden bzw. um deren
Ansprüche es geht. Gleichursprünglich mit ‚meiner‘ Freiheit ist im Dialog ‚meine‘
Anerkennung dessen, daß ‚ich‘ anderen Rede und Antwort stehen können muß.
II Reflexiver Dialog mit dem Skeptiker, der die argumentative Unhintergehbarkeit dieses
Zugleichs bezweifelt:
Eine Bezweiflung der These, daß Freiheit und Verantwortung gleichursprünglich sind, so daß
‚ich‘ prinzipiell zur Verantwortungsbereitschaft im Dialog und für den Dialog verpflichtet
bin, wäre sinnlos, wäre ein performativer Widerspruch.
Einen solchen Zweifel kann ‚ich‘ nämlich meinen Dialogpartnern gegenüber nicht ernsthaft
vertreten.
Weil ‚meine‘ Diskurspartner nur einen solchen Zweifler hinsichtlich seiner Dialogbeiträge
verstehen und ernstnehmen können, der zugleich seine Freiheit (z.B. jetzt eine Zweifelsthese
zu vertreten) und seine Bereitschaft zur Verantwortung in das dialogische Verhältnis einbringt
und darin auch aufrechterhält.
Im Dialog muß man verantwortlich dafür sein, daß man den Anderen sinnvolle, diskutierbare
Diskursbeiträge vorlegt: Beiträge, für die man glaubwürdig, ohne Selbstwiderspruch, Rede
und Antwort stehen kann. Eben das tut ein Zweifler nicht, wenn er dasjenige in Zweifel zieht,
was er (im Verhältnis zu Anderen und zu sich selbst) notwendigerweise als gemeinsame
Sinnbasis und als Anerkennungsverhältnis beansprucht bzw. vorausgesetzt hat.
Werfen wir zunächst einen Blick auf die diskurspragmatische Rekonstruktion (I):
Kommunikative Freiheit, die wir in Anspruch nehmen, indem wir etwas, das wir geltend
machen wollen, vorbringen (etwa ‚meinen‘ Gedanken über Freiheit jetzt), und Verantwortung
im Dialog, die wir unausdrücklich (zunächst für die Verständlichkeit und Begründbarkeit
‚meines‘ Diskursbeitrags) dadurch übernommen haben, daß wir Anderen gegenüber den
eigenen Beitrag zur Geltung bringen, setzen einander wechselseitig voraus. Sie sind nämlich
von vornherein an dem ebensowohl logischen wie ontologischen Ort verwoben, an dem wir,
die wir etwas denken und wollen, sie notwendigerweise in Anspruch nehmen und ins Spiel
bringen. Dieser Ort ist der Dialog.
58
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Warum? Im Dialog machen wir von unserer Freiheit Gebrauch, indem wir Ansprüche auf
Geltung für das, was wir behaupten, voraussetzen bzw. erheben. Diese kommunikative
Freiheit können wir jedoch nur in dem Maße verwirklichen, als wir auch zur Verantwortung
bereit sind gegenüber den Anderen, die am Dialog teilnehmen, und gegenüber denen, über die
wir reden bzw. um deren Ansprüche es geht. Gleichursprünglich mit ‚meiner‘ Freiheit ist im
Dialog ‚meine‘ Anerkennung dessen, daß ‚ich‘ anderen Rede und Antwort stehen können
muß. In der Dialogsituation ist meine Freiheit gleichursprünglich mit meiner Bereitschaft,
mich zu verantworten für das, was ‚ich‘ frei äußere.
Der erste Begründungsschritt, die rekonstruktive Pragmatik des Diskurses, bestünde also
darin, die Verantwortungsfähigkeit in ihrem Zugleich mit der kommunikativen Freiheit als
diejenige Seinseigenschaft und moralische Erwartung aufzudecken, die jeder implizit schon
anerkannt hat, wenn er überhaupt – sich bzw. anderen – etwas zu verstehen gibt und etwas
geltend macht.
In dem folgenden Begründungsschritt (II) würde dann die rekonstruierte Argumentations- und
Kommunikationsvoraussetzung hinsichtlich ihrer Allgemeingültigkeit und ihrer moralischen
Verbindlichkeit bezweifelt, damit nun – im reflexiven Dialog mit dem Zweifler – die
Möglichkeit dieses Bezweifelns sokratisch sinnkritisch getestet werden kann. Wenn sich in
dieser Prüfung herausstellt, daß der angemeldete Geltungszweifel für die konkreten
Dialogpartner des Skeptikers gar nicht als prüfbarer Dialogbeitrag verstehbar ist, dann kann er
nicht triftig sein, dann trifft der Zweifel nicht das Sein des Zweifelgegenstandes. D.h.: Dann
gehört dieses Sein zum Sein des Dialogs, es ist also ein Stück des Geltungsbodens und des
Seinsbodens, auf dem der Zweifelnde als Etwas-Denkender und Kommunizierender selber
steht. So zeigt sich in einem reflexiv sokratischen Dialog mit dem Skeptiker: Eine
Bezweiflung der These, daß Freiheit und Verantwortung gleichursprünglich sind, so daß ‚ich‘
prinzipiell zur Verantwortungsbereitschaft für den Dialog verpflichtet bin, wäre sinnlos, wäre
ein performativer Widerspruch. Einen solchen Zweifel kann ‚ich‘ meinen Dialogpartnern
gegenüber nicht ernsthaft vertreten.
Warum kann ich das nicht? Weil ‚meine‘ Diskurspartner nur einen solchen Zweifler verstehen
und
hinsichtlich
seiner
Dialogbeiträge
ernstnehmen
können,
der
zugleich
seine
kommunikative Freiheit (z.B. die Freiheit, jetzt eine Zweifelsthese zu vertreten) und seine
Bereitschaft zur Verantwortung in das dialogische Verhältnis einbringt und der beide darin
auch aufrechterhält. Im Dialog muß er verantwortlich dafür sein, daß er den Anderen
sinnvolle, diskutierbare Diskursbeiträge vorlegt: Beiträge, für die er glaubwürdig, ohne
Selbstwiderspruch, Rede und Antwort stehen kann. Eben das tut er nicht, wenn er dasjenige in
59
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Zweifel zieht, was er (im Verhältnis zu anderen und zu sich selbst) notwendigerweise schon
als gemeinsame Sinnbasis beansprucht und vorausgesetzt hat – im Sinne des apriorischen
Perfekts, welches mit der Diskurspartnerrolle gegeben ist.
Ich kann nur hoffen, daß Hans Jonas diese zugleich dialogische (mithin geltungslogische) und
ontologische (auf das Sein des Zweiflers und seiner Gemeinschaft zurückgehende)
Argumentation überzeugt hätte. Leider war ich zu seinen Lebzeiten im sokratisch reflexiven
Denken noch nicht so weit gekommen, daß ich sie ihm klar genug hätte vortragen können.
Jedenfalls läßt sich die Kantische, Hans Jonas durch Gadamer offerierte, Lehre vom Faktum
der Vernunft dialogpragmatisch überführen in die Erkenntnis eines apriorischen Perfekts: des
untrennbaren Anerkannthabens von Verantwortlichkeit und Gewährthabens von Freiheit auf
dem gemeinschaftlichen Seinsboden und Geltungsboden des Dialogs. Problemgeschichtlich
gesehen, wäre das eine dialogreflexive Aufhebung Kants, nämlich seines mißlungenen
Versuchs die metaphysische Vernunftlehre durch das Postulat eines moralisch gehaltvollen
„Faktums“ der reinen praktischen Vernunft aufzuheben.
Den Anstoß zur dialogreflexiven Aufhebung von Kants Postulat hat Karl-Otto Apel schon
1967 bzw. 1973 gegeben, als er Kants Lehre vom Faktum der Vernunft als „Ergebnis
transzendentaler Selbstbesinnung“ interpretierte und vorschlug, sie transzendentalpragmatisch
zu „dechiffrieren“.86 1990 präzisierte er gegenüber Karl-Heinz Ilting und dem Dezisionismus,
daß der Rückgang auf die diskurs- und damit vernunfttragenden Verpflichtungen nicht etwa
ein kontingentes Faktum zutage fördere (mithin auf einen naturalistischen Fehlschluß
hinauslaufe), sondern „ein einsehbares in Freiheit Anerkannthaben“ erschließe, das für „die
Selbstreflexion der Vernunft immer schon ein ‚Faktum der Vernunft‘ (apriorisches Perfekt!)
ist“.87 Der reflexive Rückgang darauf sei weder ein naturalistischer Fehlschluß noch eine
petitio principii, denn er besage: „Wer mit dem Willen zur Selbstkonsistenz argumentiert –
und dies kann man als nichthintergehbar unterstellen –, der hat insofern nicht mehr die
Wahlfreiheit, sich auch gegen das Sittengesetz zu entscheiden; denn dieses hat er ineins mit
dem Willen zur selbstkonsistenten Argumentation – d.h. ineins mit dem Adressieren einer
idealen Argumentationsgemeinschaft – schon notwendigerweise anerkannt“.88
Die Unhintergehbarkeit von Freiheit und Verantwortlichkeit, von Jonas metaphysisch und
von Apel transzendentalpragmatisch angenommen, läßt sich demonstrieren: In einem realen
86
Apel, Transformation II, S. 418.
Ders., Auseinandersetzungen, S. 231.
88
Ebd.
87
60
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Dialog mit einem Zweifler als leibhaftem Dialogpartner, kann ‚ich‘ diesem ‚meinem‘ Partner
demonstrieren, daß er aus dem Dialogverhältnis ausbrechen müßte und von ‚mir‘ (und
anderen möglichen Partnern) nicht mehr als glaubwürdiger Diskurspartner anerkannt werden
kann, wenn er das Verwobensein seiner Freiheit mit seinem Verantwortlichseinwollen und
damit die Verbindlichkeit des Moralprinzips bzw. des Sittengesetzes in Zweifel zu ziehen
versucht. Geht nämlich ein solcher Dialogtest für den Zweifler negativ aus, dann ist
dialogevident, daß die bezweifelte Annahme eines Prinzips in der Tat eine Sinnbedingung
argumentativer Diskurse ist – also ein wahrhaft verbindliches Prinzip.
Die reflexiv sokratische Dialog- bzw. Diskurspragmatik kann also auf der Ebene
allgemeingültiger Kriterien zweierlei nachkantische Errungenschaften in das Gespräch mit
Jonas einbringen. Erstens bietet sie einen Gültigkeitstest der ethischen Intuitionen, die wir aus
der Lebenswelt mitbringen. Mit Recht legt Jonas auf die Erschließung lebensweltlicher
Intuitionen großen Wert. Und es ist der bedeutsame Rückgang auf allgemein einsichtsfähige
Moralintuitionen, der seinem normen- und wertphänomenologischen Ansatz – im Unterschied
etwa zu dem transzendentalphilosophischen Diskursansatz Apels und zu Habermas’
verfahrensförmigem Diskursansatz – eine starke Motivationskraft uns insofern attraktive
Konkretheit verleiht. Beides kann eine Vernunftethik wie die Diskursethik m. E. nur
gewinnen, wenn sie im Anschluß an Jonas zu einer sokratischen Ethik des Sich-im-DialogVerantwortens transformiert wird. Sie würde dann einen sinnkritischen Verbindlichkeitsdiskurs auf der Prinzipienebene etablieren: >Welche lebensweltlichen moralischen Intuitionen
mußt du – der du ein glaubwürdiger Diskurspartner sein willst – als ein solcher anerkennen,
um dich nicht in einen performativen Selbstwiderspruch zu verwickeln und dadurch die von
dir a priori beanspruchte Glaubwürdigkeit des Diskurspartners zu verlieren?<
Denn die sokratisch reflektierende Diskurspragmatik kann Jonas’ Begründungsdefizit
beheben. Sie kann nämlich erweisen, daß Jonas’ kategorischer Imperativ argumentativ
unhintergehbar ist und infolgedessen als verbindliches Prinzip zu gelten hat89 – unbeschadet
erforderlicher kommunikationsethischer Kriterien wie dem der Verständigungsgegenseitigkeit
und der Ebene idealer praktischer Diskurse (für die Jonas Gedankenexperimente einsetzt) und
unbeschadet nötiger erfolgsverantwortungsethischer Strategien zur Durchsetzung in der realen
Welt. Erst ein solcher Erweis kann die innere Herausforderung der praktischen Vernunft
89
Böhler, „Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung“, in: EWD-3, S. 34ff. Ders., „Warum moralisch
sein?“ in: Prinzip M.V., S. 15ff. Ders., „Glaubwürdigkeit des Diskurspartners“, Abschn. 1.4.1 – 1.4.2, in:
Wirtschaft und Ethik. Strategien contra Moral?. EWD-Bd. 12, Münster 2004.
61
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durch die wissenschaftlich-technische Zivilisation annehmen und die Komplementaritätsstruktur des modernen westlichen Geistes dialektisch aufheben. Wie? Durch einen reflexiven
philosophischen Begründungsdiskurs, der einem Skeptiker andemonstriert, daß Jonas’
Imperativ eine Existenzbedingung (Permanenz der Menschengattung) nennt und eine
Moralbedingung (Achtung der Menschenwürde) einschließt, deren normative Verbindlichkeit
ein Diskurspartner nicht sinnvoll bezweifeln kann. Das Schema dieses Erweises nimmt sich
so aus:
Schema des Verbindlichkeitserweises von Jonas’
Imperativ der Verantwortung (I.V.) aus dem argumentativen Dialog/Diskurs
P1:
Was unvereinbar ist mit deiner Glaubwürdigkeit als Diskurspartner, ist als
Diskursbeitrag sinnlos und als Handlungsweise verwerflich.*
P2:
Eine Bezweiflung und Nichtbefolgung des I.V. ist damit unvereinbar.*
C:
Also ist die Anerkennung und Befolgung von I.V. moralisch richtig/verbindlich.
* Warum?
ad P1:
Was du nicht als glaubwürdiger Diskurspartner, also nicht mit einem
ernsthaften Diskursbeitrag bezweifeln kannst, das gilt in seinem normativen
Gehalt prinzipiell, mithin moralisch verbindlich.
ad P2:
Die Bezweiflung des I.V. zerstört deine Diskursglaubwürdigkeit, weil du
einerseits als unser Diskurspartner jetzt Glaubwürdigkeit hinsichtlich deines
Zweifelsakts beanspruchst und damit sowohl das Recht auf Dialogteilnahme
und freie Meinungsäußerung sowie das zugrundeliegende Menschenrecht auf
unbedrohte Existenz in Anspruch nimmst, andererseits aber eine (auch deine)
Mitverantwortungspflicht für die Entwicklung der Bedingungen „echten“, d.h.
menschenwürdigen Lebens auf Erden, mithin für die Entwicklung der
Existenz- und Dialogbedingungen, in Zweifel ziehst.
Eine solche Rückbesinnung auf den argumentativen Dialog und damit auf das SichVerantworten-im-Dialog, kann die Begründungsschwäche von Jonas’ gegenstandszentriertem
Verantwortungsdenken ausgleichen. Mit dem reflexiven Begründungsdiskurs haben wir
übrigens den zweiten Namensgeber der strikten Diskursethik im Sinne des genitivus
62
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obiectivus vor uns. Die dialogpragmatische Form der Diskursethik – nicht zu verwechseln mit
Habermas’
„formalpragmatischer“
bzw.
„diskurstheoretischer“
Schwundstufe
von
Diskursethik – ist eine allgemeine Prinzipienethik. Ihre nicht metaphysische, sondern
dialogreflexive Begründung des Moralprinzips und der moralischen Grundnormen vollzieht
sich in einem Diskurs durch Besinnung auf uns selbst als Diskursteilnehmer. An einem
solchen Begründungsdiskurs kann jeder teilhaben; seine Resultate sind allgemeingültig,
insofern sie jederzeit intersubjektiv nachprüfbar sind. Gemäß des Berliner Dialogdenkens
bedeutet „Diskursethik“ in diesem zweiten Sinn so viel wie: Prinzipienethik aufgrund von
reflexiven Dialogen mit dem Skeptiker, insofern er einen Zweifel an der Gültigkeit und
Verbindlichkeit eines Prinzips vorbringt.
Allerdings ist das, was nach der Prinzipienbegründung – also nach geleistetem
Verbindlichkeitserweis des Prinzips der Mitverantwortung für den Fortbestand der
Menschengattung und für Fortschritte in Sachen Menschenwürde und Gerechtigkeit – noch zu
denken und immer wieder zu tun bleibt, mehr als genug: die Bewältigung der äußeren bzw.
materialen Herausforderungen der praktischen Vernunft durch die technologische Zivilisation,
also die Eindämmung der Menschheits- und Naturgefährdungen – zugunsten nicht allein einer
„Weiterwohnlichkeit der Welt“, sondern auch zugunsten der „künftigen Integrität des
‚Ebenbildes‘“90, wie wir in biblischer Sprache mit Jonas sagen können.
90
Jonas, „Technik, Freiheit und Pflicht“, in ders.: Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 46 und PV, S. 393.
63
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4
Absolute Pflicht zum Dasein der Menschheit?
4.1
Hans Jonas’ orientierende Gedankenexperimente.
In seinem ethischen Hauptwerk „Das Prinzip Verantwortung“ schlägt Jonas, um angesichts
der Menschheits- und Naturgefährdungen zu moralischen Handlungsorientierungen zu
gelangen, zwei Wege ein: die phänomenologische Herausarbeitung ethischer Intuitionen und
die Durchführung von Gedankenexperimenten zu deren Prüfung. Diese „Denkexperimente“
sollen die praktische Diskurs-Frage >Was sollen wir tun?< beantworten, und zwar vor dem
Hintergrund der unvermeidlichen Risikobeladenheit menschlichen Handelns im allgemeinen
und des technologiebasierten bzw. technologischen Handelns im besonderen. Es wird also –
moralintrinsisch – nach richtigen, moralisch legitimierbaren Maximen gesucht.
Folie zu S. 63
In dem ersten Gedankenexperiment, dem der „Heuristik der Furcht“, geht Jonas von der Wertbzw. Orientierungsfrage aus, worin eigentlich das lohnende, allseitiger Mühe werte Endziel
resp. Telos der Menschheit bestehe. In der Sache antwortet er: Die Bewahrung des Menschen,
so wie er ist, sei das lohnende Ziel.91 Diese zukunftsethische Grundintuition scheint er in
einem
aristotelischen
Rahmen
geltend
zu
machen,
im
Sinne
einer
Ethik
des
Wünschenswerten, des wohlverstandenen Wollens, des eigentlich Guten. Die Grundintuition
macht die Zukunftsethik zunächst zu einer Ethik der Menschheitsbewahrung. Und sie verlangt
aus zwei Gründen einen nacharistotelischen Bezugsrahmen: Im Unterschied zu Aristoteles
bezieht sie sich auf die Menschengattung als ganze; zudem orientiert sie sich nicht an einem
(utopieträchtigen, spekulativen) größten oder höchsten Gut, dem summum bonum, sondern an
dem zu fürchtenden moralischen summum malum.92 Insofern vertritt Jonas eine
Vermeidungsethik.
Aus dieser bewahrungs- resp. vermeidungsethischen Zielsetzung ergibt sich der besondere
Bezugspunkt des genannten Gedankenexperiments, nämlich die Frage, welche möglichen
bösen Handlungsfolgen wir, insofern wir das Gute wollen, unbedingt fürchten müßten und als
moralische Subjekte auch fürchten sollten. Das gelte es zu finden (griechisch: ε ρίσκειν,
91
Jonas grenzt sich damit von dem metaphysischen bzw. anthropologischen Utopismus ab, wie er radikal von
Ernst Bloch, die Hoffnung auf ein „Sein wie Utopie“ zum Prinzip des Daseins erklärend, vertreten worden ist.
Vgl. Jonas: PV, S. 340f,371-373,380-387. Ders., Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt a.M. 1985, S. 298ff
(zit.: TME). Ders., Fatalismus wäre Todsünde. Gespräche über Ethik und Mitverantwortung im dritten
Jahrtausend, Münster 2005 (zit.: Fatalismus), S. 110f, 76-80 und 95. Dazu: D. Böhler, „Verstehen und
Verantworten“, Einleitung zu: Fatalismus, S. 15-18.
92
Jonas, PV., S. 63ff.
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heuriskein); wofür er eine Findekunst, eine Heuristik vorschlägt, und zwar ein
Gedankenexperiment. Dieses soll eine Furcht „geistiger Art“, die „altruistische“ Besorgnis
bzw. „Furcht um den Menschen“ in der hochtechnologischen Zivilisation93 allererst konkret
erarbeiten. Denn wir bringen eine konkrete moralische Folgenfurcht in Sachen Technologie
nicht schon mit; auf geschichtliches Erfahrungswissen können wir hierzu kaum zurückgreifen.
Vielmehr müßten wir uns realistischerweise fragen: Wachsen die kumulativen Folgen der
industriegesellschaftlich normalen Konsumpraxis und ihres Fortschritts- und „Wachstums“Gangs den sittlichen Fähigkeiten des Menschen über den Kopf?
Zu dieser, vor allem ökologisch ethischen und bioethischen Furcht tritt eine intern moralische
Sorge. Denn nicht allein die ökologische Ausdehnungsdimension der hochtechnologisch
vermittelten Lebenspraxis ist so gut wie grenzenlos geworden, auch die Tiefendimension der
hochtechnologischen Forschung überschreitet längst jedes gewohnte ethische Maß: Die
molekularbiologischen
Manipulationsmöglichkeiten
und
Konstruktionsmöglichkeiten
menschlichen Lebens überrennen alle Grenzen, welche unsere ethischen Intuitionen und
judäo-christlichen Traditionen vom Menschen als dem unantastbaren Ebenbild Gottes einst
festgeschrieben hatten.
Für die konkrete Risikobeurteilung bringt die „Heuristik der Furcht“ zunächst eine Art
dialogethischen Rollentausch ins Spiel. Jonas nimmt den Standpunkt der Betroffenen ein,
indem er den Lesern einen negativen Wert-Test vor Augen führt, der Gefühl und Dialog
verbindet, derart, daß er einen impliziten Dialog mit möglichen Betroffenen eröffnet; etwa so:
‚Überlege zunächst, welche Folgen deiner Handlung dir, dessen Wollen in die Richtung des
Guten geht, aus dem Blickwinkel der Betroffenen Furcht einflößen würden.’ Insofern werden
hier bereits das normative Kriterium „Einbeziehung der Anderen“ und die Verfahrensweise
einer Antizipation der Lebens- und der Rechtsansprüche künftiger Generationen angebahnt,
welche in dem zweiten Gedankenexperiment, dem von der Wette im Handeln, explizit
werden.
Die Heuristik soll nicht mehr oder weniger als die „moralische Phantasie“ (Günther Anders94)
evozieren, indem sie uns auf die Suche nach dem moralisch (nicht etwa privat und
lebensplanerisch) zu Fürchtenden schickt. Zur Begründung führt Jonas eine bekannte logische
Asymmetrie in der ethischen Urteilsbildung an: Dasjenige, „was wir nicht wollen, wissen wir
viel eher als was wir wollen. Darum muß die Moralphilosophie unser Fürchten vor unserm
93
94
Jonas, PV, S. 65, vgl. 63 f. Ders., Fatalismus, S. 137.
G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution,
München 1956, bes. S. 15ff. und 267 ff.; dazu M. Werner, Kann Phantasie moralisch werden?, in: J.P. Wils
(Hg.), Anthropologie und Ethik, Tübingen 1997, S. 41-63.
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Wünschen konsultieren, um zu ermitteln, was wir wirklich schätzen“.95 Vorsichtig hebt Jonas
hervor, das wertethische Gedankenexperiment der vorgestellten schlechten Fernwirkungen,
gleichsam das worst-case-Szenario, sei kein hinlänglicher Kompaß, sondern bloß eine erste
Klärung. Ihm komme nur der Stellenwert einer Findekunst bzw. eines brain storming zu, eben
einer „Heuristik der Furcht“96.
Das zweite Gedankenexperiment geht von einer sozial realistischen Einsicht aus, die Hannah
Arendt im Sinne einer lebensweltlichen Anthropologie geltend gemacht hat, die Einsicht, daß
alles Handeln in der vielfach verwobenen und zerbrechlichen Welt des Menschen riskant und
nach seinem Risiko schwer einschätzbar ist.97 Jonas pointiert dieses intuitive Lebenswissen
durch den Vergleich des Handelns mit einem Glücksspiel bzw. einer Wette: „Das Prinzip“
auch der neuartigen, der technologischen Handlungs- bzw. Auswirkungsdimensionen könnten
wir erfahren, „wenn wir auf das Element des Glücksspiels oder der Wette reflektieren, das in
allem menschlichen Handeln hinsichtlich des Ausgangs wie der Nebenwirkungen enthalten
ist, und uns fragen, um welchen Einsatz man, ethisch gesprochen, wetten darf.“98 Das
Gedankenexperiment
der
Wette
ist
ein
zur
Abhandlung
stilisiertes
moralisches
Selbstgespräch: Es ähnelt einem praktischen Diskurs, den ein moralisch orientierter und
hinsichtlich der technologischen Folgendimension aufgeklärter Projektbefürworter – ein
Vernunft- und Moralfreund, der seinen Kant gelesen haben mag – mit sich selbst führt. Er
führt seinen Diskurs faktisch zwar allein mit sich – aber logisch geurteilt, vor der
Geltungsinstanz einer unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft. Auf diese Instanz beruft
sich Jonas, indem er stillschweigend das Universalisierungsprinzip Kants zum Leitfaden
nimmt und seinen Vernunftfreund vermittels Selbsteinwänden nach dem besten Argument
suchen läßt.
Komplementär zum vorausgegangenen Denkexperiment nimmt das zweite die Perspektive
eines Handelnden in der technologischen Zivilisation ein, welcher bereits weiß, daß seine
Handlungen eine kaum begrenzbare Auswirkungsdimension haben können, und auch, daß
eine Prognose ihrer Auswirkungen prinzipiell unsicher bleibt.99 In die, von Jonas nur
angespielte, Form des moralischen Selbstgesprächs gebracht, können wir sein DiskursGedankenexperiment folgendermaßen beginnen lassen:
95
Jonas, PV, S. 64.
A.a.O., S. 63 ff.
97
H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 71994, §§ 26-34.
98
Jonas, PV, S. 77.
99
Ebd., S. 76.
96
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‚Du, der du Interesse an einer technischen Innovation hast, überlege dir, welchen Einsatz
deine technologische Wette haben darf und stelle dir die Frage: Darf ich die Interessen
Anderer in meiner Wette einsetzen?’
Die erste Antwort ergibt sich aus der moralischen Intuition, daß „man, streng genommen, um
nichts wetten darf, was einem nicht gehört“100.
Kann es aber damit sein Bewenden haben? Nein. Denn wenn ‚du’ weiter argumentierst,
erkennst ‚du‘ alsbald, daß sich jene Antwort nicht absolut nehmen läßt, weil all dein Handeln
„das Schicksal Anderer in Mitleidenschaft zieht“, so daß ‚du‘, wenn du daraus ein direktes
Handlungsprinzip machtest, gar nicht mehr handeln dürftest. Ein gewisses Risiko gehört zu
den Anfangsbedingungen menschlichen Handelns in der vielfach verflochtenen und nicht (mit
Sicherheit) prognostizierbaren Welt. – Hierin trifft sich Jonas ebenso mit Hannah Arendt wie
mit Popper, Skirbekk101 und der Diskurspragmatik. Daß die erste Antwort gleichwohl eine
gewisse Berechtigung hat, stellt sich dann heraus, wenn eine Qualifizierung des Wettverbots
vorgenommen wird. „Der Einsatz darf nie das Ganze der Interessen der betroffenen Anderen
sein, vor allem nicht ihr Leben“102. Nun kann man hiergegen wiederum einwenden, es gebe
doch Krisen- oder Kriegssituationen, in denen sich das drohende größte Übel nur durch den
höchsten Einsatz, hier des Lebens Vieler, abwenden lasse. Demnach ist also auch das neue
Prinzip, das die Unverfügbarkeit des Gesamtinteresses der Betroffenen geltend macht, nicht
unbedingt gültig, nämlich nicht in der Alternative Sein oder Nichtsein, welche zur Notwehr
und zum höchsten Noteinsatz berechtigt, sondern gleichsam nur in mittleren Problemlagen.
Nun fragt es sich ohnehin, ob das eingewandte Extrembeispiel, welches der Opponent geltend
macht, überhaupt auf denjenigen zutrifft, der das Interesse eines technologischen Fortschritts
geltendmacht. Die heutigen „großen Wagnisse der Technologie“ werden doch nicht, so setzt
Jonas das diskursive Gedankenexperiment fort, „zur Rettung des Bestehenden oder Behebung
des Unerträglichen unternommen, sondern zur stetigen Verbesserung des je Erreichten, das
heißt für den Fortschritt. [...] Also gewinnt hier, wohin der Schutz des Proviso nicht reicht,
der Satz, daß mein Handeln nicht ›das ganze‹ Interesse der mitbetroffenen Anderen (die hier
die Zukünftigen sind) aufs Spiel setzten darf, wieder Kraft.“103
Das damit zu Ende gekommene moralische Selbstgespräch läßt sich als Dialog
zusammenfassen:
100
Ebd., S. 77.
G. Skirbekk, Une Praxéologie de la Modernité, Paris 1999, chap. III, V, VIII. Ders., Praxeologie der
Moderne, Weilerswist 2002.
102
Jonas, PV, S. 78.
103
A.a.O., S. 79.
101
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Proponent:
Man darf „strenggenommen um nichts wetten, was einem nicht gehört“ (1).
Opponent:
Da all dein Handeln „das Schicksal Anderer in Mitleidenschaft zieht“, dürfte
man dann überhaupt nicht handeln (2).
Proponent:
Aber „der Einsatz darf nie das Ganze der Interessen der betroffenen Anderen
sein, vor allem nicht ihr Leben“ (3).
Opponent:
‚Auch das kann nötig und legitim sein: wenn selbstlose Ziele z.B. in
Verteidigungssituationen, im Krieg, zu verfolgen sind‘ (4).
Proponent:
Ja. Doch beim Einsatz von Hochtechnologien geht es nicht um Sein oder
Nichtsein, sondern nur um einen Fortschritt zur „Verbesserung des je
Erreichten.“
„Also gewinnt hier der Satz [… 3] wieder Kraft“ (5).
Dieser Conclusio des Proponenten fügt Jonas in den Abschnitten „Kein Recht der Menschheit
zum Selbstmord“ und „Die Existenz ‚des Menschen‘ darf nicht zum Einsatz gemacht
werden“, eine weiterführende Überlegung hinzu, die allerdings entscheidend ist. Denn erst sie
gibt das moralische Prinzip an, „das gewisse ‚Experimente‘, deren die Technologie fähig ist,
verbietet, und dessen pragmatischer Ausdruck eben die vorher diskutierte Vorschrift ist, für
die Entscheidung Unheilsprognosen vor Heilsprognosen den Ausschlag geben zu lassen.“104
In dem moralischen Selbstgespräch über die Wette im Handeln kommt also der Proponent
nochmals zu Wort: Jetzt grenzt er den zweiten Einwand des Opponenten (Satz 4) ein, indem
er eine moralische Bedingung – Bewahrung der Menschheit – hinzufügt und diese im Sinne
des diskursethischen Legitimationskriteriums der universalen Zustimmungswürdigkeit
geltend macht. Dadurch holt er die Intention von Satz 3 ein.
Zusatz des Proponenten: Auch zur Rettung einer Nation darf man (im Verteidigungsfall)
„kein Mittel verwenden, das die Menschheit vernichten kann.“ Während der Staatsmann bei
einem Schicksalsentscheid über Krieg oder Frieden „idealiter das Einverständnis derer, für die
er entscheidet, als deren Sachwalter annehmen [darf, ist hingegen] kein Einverständnis zu
ihrem Nichtsein oder Entmenschtsein von der Menschheit der Zukunft erhältlich noch auch
supponierbar“ (6).105
104
105
A.a.O., S. 81.
A.a.O., S. 80.
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Also lautet das gesuchte Prinzip der Folgen- bzw. Zukunftsverantwortung: „Niemals darf
Existenz oder Wesen des Menschen im Ganzen zum Einsatz in den Wetten des Handelns
gemacht werden.“106
Bemerkenswerterweise geht Jonas mit diesem Gedankenexperiment über seine kontemplative
Einstellung in phänomenologischer und ontologischer Perspektive hinaus, indem er in der
Dialogform eines argumentativen Selbstgesprächs denkt. Wenngleich er nicht aus dem Dialog
denkt und sich selbst keineswegs diskursethisch versteht, arbeitet er hier (wie auch
anderwärts) im Sinne einer Grundforderung des diskursethischen Prinzips ‚D‘. Denn sein
Moralfreund ist de facto sorgsam darauf bedacht, die Diskursnorm der gleichberechtigten
Berücksichtigung der Interessen aller Anderen zu befolgen, insoweit gute Gründe für sie
geltend gemacht werden können. Damit entspricht er ‚D’. Diesem regulativen Geltungs- und
Orientierungsprinzip zufolge soll man sich eben um eine Handlungsweise und Entscheidung
bemühen,
die
universal
zustimmungswürdig
ist,
so
daß
sie
unter
reinen
Argumentationsbedingungen und unter freien Dialogverhältnissen den Konsens aller
Argumentationspartner erzielen würde.
Solch einen idealen Konsens kann aber keine Handlungsweise oder Entscheidung für sich
beanspruchen, welche die Existenz der Menschengattung und die moralische Idee der
Menschheit, insonderheit das Prinzip der Menschenwürde, in Zukunft gefährden kann. Denn
durch dieses totale Risiko würde just das aufs Spiel gesetzt, was man selbst als
Sinnvoraussetzung für Moral in Anspruch genommen bzw. als normativen Rahmen implizit
anerkannt hat, wenn man eine moralische Entscheidung sucht:
-
ontologisch die zeitlich unbegrenzte Möglichkeit, Ansprüche zu haben und sich zu
verantworten, die auch für zukünftige Generationen gegeben sein muß, also die
Permanenz der Menschengattung als Existenzbedingung für Moral,
-
normativ-ethisch die Verbindlichkeit des Menschenwürdegebots als moralischer
Grundnorm.
Wer sich für dermaßen gefährliche Technologien entscheidet, gefährdet nämlich ebenso die
Menschheit wie den moralischen Rahmen seiner eigenen und jeder ernstzunehmenden
Entscheidung.
Kaum vorstellbar, aber wahr: Wir Heutigen sind es, die in die Entscheidung für solche
verwerflichen Technologien alltäglich mitverstrickt sind – als Konsumenten, Autofahrer,
Strombezieher, Patienten, Ärzte usw. Dieser Seitenblick auf uns in unserer hochtechnologisch
106
A.a.O.., S. 81.
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basierten und energieverschwenderischen Lebenswelt macht das schlagartig deutlich, was
Jonas, wie er immer wieder sagte, in „Furcht und Zittern“ versetzt hat: Eine „Zeitbombe tickt,
während wir einfach so leben, wie wir es tun als Mitglieder der westlichen Zivilisation, und
woran jeder von uns mitwirkt.“107
Richten wir den Blick wieder auf Jonas’ Gedankenexperiment der Wette und befragen es
kritisch: Wo sind seine Grenzen? Dreierlei leistet es nicht, was eine Ethik der
Zukunftsverantwortung erfordert. Erstens gibt es nichts für die Begründung her, daß jeder
und jede überhaupt unabweisbare moralische Verpflichtungen habe und verfolgen solle. Denn
es hebt die Komplementaritätsstruktur der verwissenschaftlichen westlichen Zivilisation nicht
auf, welche einerseits die formelle Rationalität des Kalküls und der wissenschaftlichen
Kausalerklärung zum Paradigma der Vernunft erhebt und andererseits moralische
Verpflichtungen
als
nicht
erweisbar
ansieht, als außervernünftig bzw. arational.
Demgegenüber bedarf es eines Erweises, daß jeder, auch der strikte Wissenschaftler oder der
Vertreter einer strikt formellen Rationalität, zu erkennen vermag, daß er prinzipiell moralisch
verpflichtet ist und daß er sich überdies dem Prinzip der Zukunftsverantwortung nicht
entziehen kann, ohne mit seiner Rolle als Wissenschaftler in Widerspruch zu geraten. Genau
das demonstriert die Diskurspragmatik, indem sie einen Skeptiker, etwa einen formellen
Rationalisten oder Existenzialisten bzw. Dezisionisten, bei seiner Rolle als Diskursteilnehmer
packt und ihm im Dialog sokratisch vor Augen führt:
‚Indem du deinen Zweifel uns Argumentationspartnern gegenüber geltend machst, hast du die
Rolle des Diskurspartners übernommen. Diese deine Dialogrolle, deine Rolle als
Argumentationspartner, der sein Argument (hier: seine Zweifelsthese) universal geltend
macht
und
dadurch
implizit
alle
möglichen
Argumentationssubjekte
sowohl
als
Gleichberechtigte anerkannt wie auch als Diskursverantwortliche in Anspruch genommen hat,
ist unvereinbar mit dem Zweifel an der Gültigkeit und einsehbaren Verbindlichkeit des
Prinzips Verantwortung. Deine Diskursrolle ist nämlich unvereinbar mit einem Zweifel daran,
daß du zur Moralität und zur Zukunftsverantwortung einsehbar verpflichtet bist, wie wir alle
es sind, weil du diese Rolle durch solchen Verantwortungszweifel zerstörtest.‘
Damit haben wir das Begründungsschema der Diskurspragmatik vor uns, den Aufweis eines
performativen Selbstwiderspruchs des Zweiflers an der Allgemeinverbindlichkeit des
Moralprinzips als Verpflichtung zur universalen Mitverantwortlichkeit. Das Schema sieht so
aus:
107
So Jonas in dem Fernsehgespräch Erkenntnis und Verantwortung, in: D. Böhler, P. Brune: Orientierung und
Verantwortung, Würzburg 2004, S.450.
70
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Hat jede/jeder überhaupt einsehbare, ja argumentativ unabweisbare, moralische Verpflichtungen? Die Frage eines Verbindlichkeitserweises bzw. einer Letztbegründung des Moralprinzips
als Pflicht zur Mitverantwortung für Menschengattung und Menschenwürde oder:
»Warum moralisch sein?«
„Ich behaupte, daß das Moralprinzip (vielleicht) nicht verbindlich, sondern bezweifelbar ist.“
-
Indem du uns/allen Argumentationspartnern gegenüber etwas – hier deinen Zweifel an
der Allgemeingültigkeit und das heißt Verbindlichkeit des Moralprinzips – als
Argument geltend machst, also die Diskurspartnerrolle übernimmst, hast du bereits
implizit, nämlich performativ, alle möglichen Argumentationssubjekte anerkannt und
als Mitverantwortliche (zumindest) für diesen Diskurs in Anspruch genommen.
________________________________________________________________________
-
Also ist deine Handlung als Diskurspartner unvereinbar mit deiner Aussage, daß das
Moralprinzip vielleicht nicht verbindlich/bezweifelbar sei.
-
Was man aber nicht als Diskurspartner sinnvoll bezweifeln kann, das ist
allgemeingültig und in seinem normativen Gehalt verbindlich.
-
Folglich ist das Moralprinzip allgemeinverbindlich.
In dieser Vorlesung haben wir den diskurspragmatischen Verbindlichkeitserweis, traditionell
gesagt: die Letztbegründung des Moralprinzips und des Prinzips der Zukunftsverantwortung,
nicht in extenso durchgeführt, weil ich aus Zeitgründen den ursprünglichen Teil „Warum
moralisch sein?“ streichen mußte. Doch haben die Transzendentalpragmatik und
Diskurspragmatik ihre diesbezügliche Schuldigkeit, wie ich hoffe, im wesentlichen getan.
Hier, in Abschnitt II.4.2 und in den Kapiteln zum Menschwürdegebot (II.6 und 7), werden wir
noch Beispiele für die Anwendung dieses Verbindlichkeitserweises finden.∗
Jonas’ Gedankenexperiment der Wette läßt, wie gesagt, keinen Raum für einen
Verbindlichkeitserweis des Verantwortungsprinzips gegen den Skeptiker. Denn es setzt den
Willen zur Moral bereits voraus. Auf dieser Basis folgert es dann nurmehr differenzierend:
∗
Dieser Absatz ist in der Buchversion zu streichen!
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Vorlesung Böhler WS 2009/2010
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‚Wenn du moralisch sein willst, dann mußt du heute, in der technologischen Zivilisation,
zukunftsverantwortlich sein.‘
Zu dem Begründungsdefizit kommt – zweitens – ein moralstrategisches Orientierungsdefizit.
Was dem Denkexperiment der Wette fehlt, ist eine moralstrategische Fortsetzung zur Lösung
von Max Webers Problem einer Verantwortung für den Erfolg des Moralischen in der realen,
nicht moralischen Welt. Ähnlich wie Kants Gedankenexperiment des Kategorischen
Imperativs oder Habermas’ Verfahren des praktischen Diskurses bleibt auch Jonas’
Diskursexperiment der Wette gleichsam auf einer idealisierenden Begründungsstufe A 2
stehen. Drittens gibt es kein Kriterium für die Zuerkennung moralischer Ansprüche her. Es
bleibt stumm, wenn es um die „Inklusionsfrage“ geht, welche Wesen wir als moralisch
Anspruchsberechtigte anerkennen sollen. Eben das ist etwa bei der Diskussion über die Invitro-Fertilisation und die Forschung an embryonalen menschlichen Stammzellen umstritten.
Denn auch ein Rückgriff auf das Menschenwürdeprinzip fruchtet hier nicht, weil ja gerade
strittig ist, von welchem Entwicklungsstadium an Embryonen der Menschenwürdestatus und
der volle Menschenwürdeschutz zukomme.
Angesichts der weltgeschichtlich neuen Situation nicht begrenzbarer, teilweise sogar die
Gattungsexistenz
gefährdender,
Handlungsfolgen
klärt
und
rekonstruiert
das
Gedankenexperiment jedoch den Gehalt einer schon mitgebrachten Verpflichtungsintuition.
Indem Jonas lebensweltliche Moralintuitionen rekonstruiert und sie direkt auf die neuartige
technologische
Problem-
bzw.
Handlungssituation
bezieht,
gewinnt
seine
Verantwortungsethik eine motivierende Kraft. Daran hat es der Diskursethik bislang
gefehlt.108 Kommt es aber nicht darauf an, bereits in der Logik der verantwortungsethischen
Beratungen und Erörterungen die sozialanthropologisch tiefliegenden Fürsorgeintuitionen zu
berücksichtigen, die an den lebensweltlichen Verantwortungsinstitutionen der Elternschaft
und der Regierung haften? Sollte hier die Diskursethik der verantwortungsethischen
Bewahrungsaufgabe nicht besonderen Nachdruck verleihen? In diesem Sinne läßt sich das
erste unserer erfolgsverantwortlichen Kriterien (B 1) folgendermaßen präzisieren: ›Prüft,
108
Vgl. W. Kuhlmann, „‘Prinzip Verantwortung‘ versus Diskursethik“ in: E.Z., S. 277-302. Erstaunlicherweise
hat K.-O. Apel, wiewohl er stets den teleologischen Verpflichtungssinn des Moralprinzips auf der
moralstrategischen Ebene B betont und dabei nicht nur die Herstellung fehlender Bedingungen für moralisches
Handeln, sondern auch die Bewahrung der bereits geschichtlich gegebenen ins Auge fassen konnte, an dieser
Stelle kein Kooperationsverhältnis zu Jonas erkannt. Das mag auch daher rühren, daß Apel auf der Ebene B
keine eigenständige Fragestellung, was denn das zu Bewahrende sei, und also keinen eigenen Diskursschritt B
1 vorgesehen hat.
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welche Institutionen, Traditionen und ethischen Intuitionen dem Moralprinzip (D) gerecht
werden, schützt und entfaltet sie sorgsam!‹109
109
Dazu die Entfaltung der verantwortungsethischen Diskurse auf der moralstrategischen „Ebene B“ in: D.
Böhler, „Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung. Erster Teil“, in: Böhler/Brune, 2004, hier S. 137 ff,
147 f.
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Vorlesung Böhler WS 2009/2010
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Unbezweifelbare Pflicht zur Daseinsbewahrung der Menschheit oder: Als
Diskurspartner hast du dich zur Vereinbarkeit deiner Thesen / Entscheidungen
mit einem unbegrenzten argumentativen Konsensus verpflichtet
Unbeantwortet ist freilich noch die neuartige normative Hauptfrage eines Skeptikers, worin
der durchschlagende, nicht mehr sinnvoll zurückweisbare Grund der Verbindlichkeit für eine
permanente Bewahrung der Menschengattung bestehe; wobei er konzediert, daß sie erstmals
in der Gattungsgeschichte gefährdet ist und auch einräumen dürfte, daß es schade um die
Menschheit wäre, wenn sie zugrundeginge. Doch fragt er unerbittlich: ‚Gibt es für mich/uns
als Argumentationspartner einen unabweisbaren (d.h. allenfalls durch performativen
Selbstwiderspruch zu der eingenommenen Diskurspartnerrolle bezweifelbaren) Grund für die
Norm: Deine Handlungen und deren Folgen sollen mit der Permanenz der Menschengattung
verträglich sein? Ist das die erste, elementare und unwidersprechliche Pflicht, wie Jonas
meint?‘
Zur Begründung führt unser Skeptiker ein Diskursexperiment an. Er sagt etwa: ‚ Nehmen wir
einmal an, daß die jetzt lebende Menschheit – gesetzt den (im Gedankenexperiment
vorstellbaren) Fall, sie fände sich als Diskursgemeinschaft zusammen, – nach sorgsamer
Analyse der sogenannten ökologischen Krise als unaufhaltsamer Naturzerstörung und
Menschheitsgefährdung und nach sorgsamer Erwägung aller vorgebrachten Argumente zu
dem Konsens käme: Wir wollen Schluß machen, wir wollen die Fortpflanzung einstellen und
das zerstörerische Experiment einer Menschheit in der Natur abschließen. – In diesem
Konsensfall gäbe es m. E. keinen Grund, der mich/uns zum Widerstand verpflichtete, also
keinen Grund mehr, der die Forderung, sich für die Fortexistenz der Menschheit einzusetzen,
allgemeinverbindlich machen würde. Und daß es sich so verhält, müßten zuallererst die
Diskursethiker einsehen, weil sie ja die Einbeziehung der Anderen und den allgemeinen
Konsens zum Kriterium dafür machen, ob eine Maxime bzw. Handlungsweise als moralisch
legitim gelten kann.‘
Nicht in dieser Schärfe und in dialogischer Form aber als begründungstheoretische Erwägung
ist dieses Problem zwischen Vittorio Hösle110, jungen „Diskurstheoretikern“ (im Unterschied
zu reflexiv aus dem Dialog denkenden Diskursethikern), Karl-Otto Apel und mir111 bereits
110
V. Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie, München 1990 (2. Aufl. 1994),
S. 257 f., vgl. 249 (auch 192 ff.).
111
K.-O. Apel, „Die ökologische Krise als Herausforderung für die Diskursethik“, in: E.Z., S. 369-404, bes. S.
388 f., 402 f. D. Böhler, „Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung“, in: Böhler/Brune, 2004, S. 97-159,
bes. S. 107, 116 f.
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angesprochen worden, ohne allerdings strikt dialogreflexiv durchdacht und insofern definitiv
gelöst worden zu sein. Auf dem nordnorwegischen Kongreß „Ecology and Ethics“ (1990)112
hatte Apel für die Gültigkeit und Verbindlichkeit von Jonas’ erstem neuen Imperativ, „daß
eine Menschheit sei“, argumentiert. Und zwar so, daß er – im Unterschied zu einem jungen
Diskurstheoretiker
und
in
stillschweigender
Abgrenzung
von
Hösles
Kritik
des
diskursphilosophischen Konsensmaßstabs – die Ableitbarkeit jener gattungsethischen
Bewahrungspflicht aus dem diskursphilosophischen Konsensprinzip behauptet: Jonas’ „erster
Imperativ, daß eine Menschheit sei“, der keine individuelle, sondern eine kollektive Pflicht
zur Fortpflanzung geltend mache, stelle „die kühnste und die in höchstem Maße
paradigmatische Forderung einer neuartigen Ethik der Zukunftsverantwortung [… dar], die
bislang als Antwort auf die ökologische Krise formuliert worden ist. Indem ich das besonders
betone, wende ich mich zugleich gegen die Annahme, die Diskursethik müsse Jonas’
Imperativ
zurückweisen,
einfach
weil
die
jetzt
lebende
menschliche
Kommunikationsgemeinschaft in ihrer Gesamtheit konsensuell den Beschluß fassen könnte,
die Vermehrung menschlichen Lebens einzustellen.
Ein solcher Beschluß würde scheinbar – nämlich im Sinne eines empiristischen
Mißverständnisses der Konsenstheorie der möglichen Einlösung von Geltungsansprüchen –
die entscheidende prozedurale Bedingung der Diskursethik erfüllen: die Bedingung, für alle
Betroffenen akzeptierbar zu sein. Doch in Wahrheit würde er nur die Bedingung erfüllen, von
allen jetzt Betroffenen faktisch akzeptiert worden zu sein. Faktische Konsense aber genügen
in der Diskurs-Ethik dem regulativen Prinzip der Konsens-Forderung genausowenig wie in
der Diskurstheorie der Wahrheit. Denn sie unterliegen dem Fallibilismus-Prinzip und insofern
dem Vorbehalt der Revidierbarkeit.
Nur der letzte, unrevidierbare – daher faktisch nie erreichbare – Konsens einer idealen
Kommunikationsgemeinschaft könnte im Sinne des regulativen Prinzips der Konsensbildung
als definitive Einlösung von Geltungsansprüchen angesehen werden. Der Weg hin zu diesem
idealen Konsens – praktisch der Weg der möglichen Revision jedes bloß faktischen
Konsenses – würde durch den unterstellten Beschluß gerade abgeschnitten. Daher wäre ein
solcher Beschluß – ähnlich einem Beschluß zum kollektiven Selbstmord – zunächst als
Verstoß gegen die moralische Pflicht zur fortschreitenden Annäherung an Verhältnisse einer
idealen Kommunikationsgemeinschaft und damit der Möglichkeit eines idealen Konsenses zu
112
Vgl. den gleichnamigen Kongreßband, herausgegeben von A. Øfsti, Trondheim 1992, S. 219-257, bes. 240 f.
75
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
bewerten.
[…]
Insofern
11.12.2009
schließt
die
Diskursethik
mit
der
Autorität
eines
transzendentalpragmatischen Arguments kollektiven Selbstmord als ethisch falsch aus.“113
Nun ist das eine Begründung aus der transzendentalpragmatischen Theorie, gegeben in
theoretischer Einstellung. Als solche ist sie nicht evident und zwingend für einen Skeptiker.
Man müßte ihm andemonstrieren, daß er sich als unser Diskurspartner widerspricht und
dadurch unglaubwürdig macht, weil seine Bezweiflung von Jonas’ erster Pflicht unvereinbar
mit einem normativen Kernbestand seiner Diskurspartnerrolle ist – jenem Kernstück nämlich,
das Apel als regulatives Prinzip eines idealen Konsenses bestimmt hat. Versuchen wir eine
solche Demonstration, indem wir den Skeptiker in den Dialog ziehen und ihn dabei mit der
von ihm übernommenen Rolle eines Argumentationspartners konfrontieren.
Skeptiker (S):
Habe ich dadurch, daß ich einen Gedanken, etwa einen Zweifel,
anderen gegenüber geltend mache, d.h. als wahr bzw. wahrheitsfähig
denke bzw. vorbringe, mich auf den Geltungsmaßstab Vereinbarkeit mit
der Bemühung um argumentativen Konsensus in einer unbegrenzten
Kommunikationsgemeinschaft verpflichtet? Und folgt daraus die
moralische Verpflichtung, die Menschheit zu erhalten?
Diskurspartner (D): Überleg bitte: Wärest du dir selbst und anderen als Diskurspartner
verständlich, wenn du einen Gedanken so geltend machtest, daß er als
Argument „universal kohärent“114 und universal konsenswürdig sein
kann, zugleich aber in Zweifel zögest, daß Diskurspartner einsehbar
verpflichtet sind, die Möglichkeit eines unbegrenzten argumentativen
Konsensus
und
damit
die
einer
unbegrenzten
Kommunikationsgemeinschaft zu erhalten?
113
114
K.-O. Apel, a.a.O., in: E.Z., S. 388 f.
Vgl. L.B. Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, Darmstadt 1978, S. 162, vgl. S. 205-216,
auch § 5. Puntel vertritt allerdings – er setzt sich ausschließlich mit Habermas’ Konsenstheorie der Wahrheit,
nicht mit der integrativen Konsenstheorie Apels auseinander – die Auffassung, das Kohärenzkriterium könne
das Konsenskriterium ersetzen. Das aber ist nicht möglich. Denn Kohärenzstandards sind selbst geronnene
argumentative Konsensbildungen über das, was als Kohärenz zu gelten hat; sie verkörpern gewissermaßen
einen Konsens apriori. Und dieser läßt sich bei der Anwendung eines Kohärenzstandards aktualisieren.
Insofern nehmen wir das Kriterium eines idealen Konsensus als Metakriterium in Anspruch, wenn wir eine
Kohärenz feststellen: Keine Kohärenz ohne möglichen Konsens darüber, daß eine solche besteht. Puntels
Reduktionsanspruch läuft ähnlich wie Karl R. Poppers Geltungsprimat für eine dritte Welt „der logischen
Gehalte“ auf eine vorkommunikative, zugleich methodisch solipsistische und objektivistische Perspektive
hinaus, welche die Intersubjektivität und den kommunikativen Handlungscharakter der Geltungsansprüche
ignoriert. Ansprüche auf Geltung, etwa der auf Kohärenz, müssen anderen gegenüber erhoben werden
können; und dadurch drängen sie auf Übereinstimmung. Vgl. D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, S. 91 ff.
76
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
S:
11.12.2009
Ja, ich nehme meinen Zweifel ernst und erwarte das auch von dir und
anderen, die ihn bedenken können. Ich melde ihn als Kandidaten für das
Diskursuniversum an.
D:
Also insoweit einverstanden?
S:
Ja, das ist geschenkt. Aber dein Widerspruchsvorwurf hängt in der Luft.
D:
Das tät mich verwundern.
S:
Ganz einfach: Mein Zweifel ist doch ein Argument. Und als solches
stellt es die Möglichkeit eines idealen Konsensus nicht in Frage.
D:
Du flüchtest dich in einen Formalismus. Berücksichtige den Gehalt
deines Arguments und seine Adressaten.
S:
Nun, der Adressat bist du und diejenigen, die mein Argument heute und
morgen bedenken können.
D:
Und übermorgen, überübermorgen, überüberübermorgen usw. bis ins
Unendliche;
d. h.
aber
bis
in
die
unbegrenzte
Kommunikationsgemeinschaft. Eine solche ist die Bedingung der
Möglichkeit dafür, daß du jetzt einen ernsthaften Zweifel vorbringst,
deinen Zweifel also für das Diskursuniversum anmeldest. Kein
Diskursuniversum
ohne
Kommunikationsgemeinschaft;
offene,
daher
ist
auch
unbegrenzte
keine
universale
Kohärenz von Argumenten möglich ohne einen unbegrenzten, insofern
‚idealen‘ Konsens aller Argumentationssubjekte.
S:
Genaugenommen, hast du recht. Bis dahin muß ich zustimmen. Aber du
wolltest mir doch demonstrieren, daß ich Jonas’ materialen ersten
Imperativ ‚Sei mitverantwortlich für die Permanenz der Gattung!‘ als
verbindlich anerkennen müsse, oder daß ich ihn gar schon implizit
77
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
anerkannt hätte. Hast du das vergessen, da du mich in eine bloß
geltungslogische, ganz formale Überlegung hineinziehst?
D:
Keineswegs ganz formal. Und keine Sorge: Es ist nichts vergessen.
S:
Da bin ich gespannt.
D:
Wenn du nicht umhinkommst, die regulativen Gültigkeitsinstanzen
‚unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft‘ und ‚idealer Konsens aller
Argumentationssubjekte‘
als
normative
Voraussetzung
deiner
Diskurspartnerrolle anzuerkennen, dann mußt du auch praktisch dazu
bereit sein, die Möglichkeit beider in der Zeit zu bewahren.
S:
Was soll das heißen?
D:
Du darfst keine Position vertreten und erst recht keine Handlung
vollziehen, die die Permanenz der Menschengattung in Frage stellt.
Denn es ist die reale, permanente Existenzmöglichkeit der Menschheit,
welche deiner Anerkennung des Diskursuniversums erst Sinn verleiht.
Kein
‚Diskursuniversum‘
ohne
Kommunikationsgemeinschaft.
Besser:
pragmatisch
verstehen,
können
reale,
Wir
dich
nicht
fortdauernde
können
als
dich
nicht
glaubwürdigen
Diskurspartner ernstnehmen, wenn du weiterhin tust, was du vorhin
getan hast.
S:
Was hätte ich denn so Unwürdiges getan?
D:
Mach jetzt kein Geplänkel. Du hast dich mit einem Diskursbeitrag
unglaubwürdig gemacht. Denn einerseits hast du – erklärtermaßen –
eine These, deine Zweifelsthese gegenüber Jonas’ erstem Imperativ, als
Kandidaten
für
Konsens
in
der
unbegrenzten
Kommunikationsgemeinschaft angemeldet. Andererseits hast du ein
Gedankenexperiment verteidigt, das einen Suizid der Menschheit
legitimieren soll.
78
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
Weißt du nicht, daß die Fortdauer der Gattung die Existenzbedingung
der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft ist? Weißt du jetzt
immer noch nicht, daß ein, hier dein Anspruch auf Gültigkeit nur
einlösbar ist, wenn auch alle vielleicht entgegenstehenden Ansprüche
auf Leben von Menschen und auf Geltung ihrer vielleicht
entgegenstehenden Thesen, vorgebracht und geprüft werden können?
S:
So scheint es wohl zu sein.
D:
So ist es. Dein Legitimationsversuch eines kollektiven Suizids durch
das
Gedankenexperiment
eines
faktischen
Konsenses
der
gegenwärtigen Menschheit würde nicht allein, wie Apel hervorgehoben
hat, „den Weg der möglichen Revision jedes bloß faktischen
Konsenses“ abschneiden. Er bringt dich selbst in Widerspruch zu deiner
Diskurspartnerrolle. So machst du dich diskursunglaubwürdig und
vertrittst eine moralisch verwerfliche Position.
Bist du nun dazu bereit, Jonas’ erstem Imperativ Verbindlichkeit
zuzuerkennen?
S:
Das muß ich wohl.
D:
Wenn du ein glaubwürdiger Diskurspartner sein willst und wir dich als
unseren Partner im strikt argumentativen Dialog verstehen sollen, und
das heißt, wenn wir dich als Mitglied der moralischen Gemeinschaft
sollen achten können.
S:
Das sollt ihr, in der Tat. Als ernsthaft Denkender, mithin als
Diskurspartner, erwarte ich das von vornherein.
D:
Ja. Und wir erwarten diese Anerkennung notwendigerweise auch von
dir.
79
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
5
Was
heißt
11.12.2009
„moralische
Verantwortung
für
die
Zukunft“
und
was
„Diskursethik“?
Im Dialog mit unserem Skeptiker haben wir die Einsicht gewonnen, daß die Bemühung um
den Erhalt der Menschengattung eine Existenzbedingung des Argumentierens ist: der
möglichen Geltung, kurz des Diskurses, in dem wir uns bereits befinden, wenn wir etwas
bedenken und geltend machen. Daher würden wir uns in pragmatischen bzw. performativen
Widerspruch zu uns als Diskursteilnehmer setzen, wenn wir die Verbindlichkeit dieser
Bemühungspflicht in Zweifel zögen. Diese Einsicht erschließt uns einen materialen Gehalt
des Moralprinzips und damit der Prinzipienebene A der Ethik.
Praktisch kommt es nun darauf an, das Moralprinzip in der realen Welt, welche durchaus
amoralische, ja unmoralische Verhältnisse und Handlungsbedingungen bereithält, auch
umzusetzen.
Hier
stehen
wir
vor
den
Problemen
der
Anwendungs-
und
Folgenverantwortungsebene B der Ethik, die sich in die Oberfrage gießen läßt: »Wie
können/sollen wir Verantwortung für den ›Erfolg des Moralischen‹ unter nicht moralischen
Verhältnissen wahrnehmen?«115
Hans Jonas bietet zwar, wie in Kapitel I 2 bemerkt,116 keine solche Ebenendifferenzierung
oder Begründungs-„Architektonik“, um mit Kant und Apel zu sprechen. Doch wenngleich
ihm eine Begründungsarchitektonik fehlt, die für die realistisch verantwortungsethische, die
moralstrategische Urteilsbildung eine differenzierte Orientierung angesichts moralrestriktiver
Verhältnisse begründet, so behandelt er doch ein Dilemma, das uns zur Bildung politischmoralischer Strategien herausfordert. Vereinfacht lautet es: ökologische Verantwortung
versus demokratische Interessenwahrnehmung. Im Hintergrund steht sein Gedanke:
Verantwortungsfreiheit setze ein Sein voraus, das der Verantwortung Sinn gibt. Insofern
bestehe die unbedingte Pflicht, dieses Sein, nämlich die Existenz der Gattung zu bewahren.
Da Jonas nun eine ontologische Begründung der Ethik sucht, schlägt er dem Sein auch das
ethische Selbstverständnis des Menschen zu, genauer gesagt: Er bezieht in das menschliche
Sein gleich den moralischen Wert- und Normbegriff
der
Menschenwürde
ein.
Dementsprechend erweitert er die Existenzpflicht, die Menschheit zu bewahren, um die
spezifisch moralische Pflicht, die Idee der Menschenwürde zu wahren.
Um diesen Bewahrungspflichten gerecht zu werden, hat Hans Jonas unter bestimmten
Umständen
115
116
einen
zeitweiligen
Dispens
der
Demokratie
zugunsten
eines
Vgl. oben, S. 31 f.
Siehe oben, S. 32 f.
80
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
zukunftsverantwortlichen Notstandsregimes für sinnvoll gehalten. Wenn sich nämlich das
Dilemma
zwischen
Zukunftsverantwortung
und
demokratischer
Politik,
die
zum
Interessenopportunismus neige, dramatisch zuspitze, müsse der Philosoph „durchaus den Mut
haben, zu sagen, Demokratie ist höchst wünschbar, aber kann nicht selber die unabdingbare
Bedingung dafür sein, daß ein menschliches Leben auf Erden sich lohnt.“117
Läßt
sich
dieser
Not-Vorbehalt
als
erfolgsverantwortungsethische
Konter-Strategie
rechtfertigen? Jonas hat dafür heftige Kritik hinnehmen müssen, besonders massiv von Karl
R. Popper118. Unberechtigt ist die Kritik jedenfalls dann, wenn sie nicht genügend zwischen
faktischer öffentlicher Meinung und Mehrheitsentscheidung versus normativer Rechtfertigung
aus guten Gründen differenziert. Denn eine Ethik, der es um normative Legitimität und eine
unbedingte Verpflichtung geht, steht und fällt damit, daß sie keinerlei faktische Übereinkunft,
weder einen empirischen Konsens von Beteiligten noch gar einen Mehrheitsentscheid, als
Geltungsgrund für die gesuchte Verantwortlichkeit oder Richtigkeit akzeptieren darf.
Warum nicht? Wer sich allein auf das Faktum eines Konsenses hier und heute, erzielt von
einer eingeschränkten Gruppe (z.B. der Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland, die
2013 wahlberechtigt sind) und unter den Zufälligkeiten einer Meinungsbildung (z.B. im
Deutschland der Jahre vor 2013) beriefe und daraus dann ein Sollen ableitete, der vollzöge
einen naturalistischen bzw. faktizistischen Fehlschluß: Er schlösse eben aus dem bloßen
Faktum einer Übereinkunft auf deren Sollensgeltung. Erforderlich ist hingegen ein
nichtrelativierbarer Maßstab, damit sich ein irgendwie zustandegekommener Konsens und
erst recht eine Mehrheitsentscheidung jeweils auf die moralische Zustimmungswürdigkeit hin
überprüfen läßt.
Gerade die Suche nach einem Verbindlichkeitskriterium jenseits von Subjektivismus und
Relativismus ist es, die Jonas’ ontologische und intuitionistische Wertethik mit der
dialogreflexiv begründeten, normativen Diskursethik vereint. Beide Ansätze kommen darin
überein, daß der gesuchte Maßstab in dem Umkreis zu finden sein müßte, der sich mit den
normativen Begriffen „Idee der Menschenwürde und des moralfähigen Menschen“ und
„Verantwortung dafür, daß künftige Generationen diesen Ideen noch gerecht werden können,
indem sie sich ihrerseits verantwortlich und moralisch verhalten“ beschreiben läßt. Diese
Konzepte enthalten nämlich eine in ihrer Verbindlichkeit unbedingte, doch gleichsam
regulative Pflicht, die die Richtung des Verhaltens angibt, der immer nachzustreben sei.
Wenn aber die Durchsetzung kurzfristiger Nahinteressen mittels Demokratie jener
Richtungspflicht gefährlich zuwiderläuft, dann gehört – genau insoweit – auch eine
117
118
Gespräch mit E. Gebhardt, in: E.Z., S. 210, 211. Vgl. Jonas, P.V., S. 254 f., 259-270, 302-305.
Vgl. das Interview mit K. R. Popper in: DIE WELT, 8. Juli 1987.
81
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
Demokratie auf den Prüfstand; entweder müßte sie verändert werden, oder es stünde, falls die
Veränderung scheitert, als ultima ratio ein zeitweiliger Dispens der Demokratie an. „Was ich
[aber] mit der potentiellen Möglichkeit einer Tyrannei als äußerste Rettungsmaßnahme
gemeint habe, ist einzig dem vergleichbar, was sein wird, wenn ein Haus brennt oder ein
Schiff untergeht. Dann nämlich kann man keine Abstimmung mehr machen, und dann kann
man nicht die normalen Gesetzesverfahren laufen lassen, sondern es müssen gewisse
Notmaßnahmen ergriffen werden ...“ Freilich würde Jonas die Demokratie „mit großem
Kummer verschwinden sehen und würde ausschließlich akzeptieren, daß sie zeitweilig, sagen
wir mal, suspendiert würde.“119 Um für dieses Problem klare Kriterien zu erarbeiten, ergänzen
die Diskursethiker Jonas’ Ansatz durch die moralstrategische Perspektive der Ebene B und
fragen nach einer moralischen Erfolgsverantwortung in der Gefahrenzivilisation.120
Die Kritik an Jonas’ Relativierung der demokratischen Staats- und Regierungsform ist aus
mehreren Gründen nicht abwegig. Ein Grund liegt darin, daß Jonas die begründungslogisch
zuerst anstehende verantwortungsethische Frage dessen, der eine moralische Maxime gegen
Widerständigkeiten durchsetzen will, hier überhaupt nicht stellt: die Frage, welche
Institutionen und Traditionen einer Demokratie dem Moralprinzip gerecht werden, also
bewahrt und möglichst weiterentwickelt werden sollten. Dieser erste Prüfauftrag der
verantwortungsethischen Diskurse, gleichsam Stufe B 1, fehlt bei Jonas. Er bezieht sein
Verantwortungsprinzip unmittelbar auf mögliche Widerstände, die aus der Demokratie als
Mehrheitsherrschaft entstehen können. Hier fehlt eine Diskursdifferenzierung, die nötig ist,
damit die Anwendung des Verantwortungsprinzips nicht rigoristisch wird, sondern damit sie
sich ihrerseits verantworten läßt; so nämlich, daß nach Maßgabe verantwortungsethischer
Kriterien Rechenschaft über die möglichen Folgen abgelegt wird.
Ein zweiter Grund ergibt sich direkt daraus: Weil die Frage nach der moralischen
Bewahrungswürdigkeit geschichtlicher Institutionen von ihm nicht als eigenständige
verantwortungsethische Stufe berücksichtigt wird, nimmt Jonas unmittelbar die Demokratie
als Mehrheitsherrschaft ins Visier, ohne den (moralisch hoch relevanten) rechtsstaatlichen
Rahmen der Demokratie, den modernen Verfassungsstaat mit den menschenrechtlichen Ideen
der französischen und der amerikanischen Revolution, eigens zu berücksichtigen. Beziehen
wir die moralische Bewahrungsfrage hingegen auf den modernen Verfassungsstaat, so
leuchtet ein, daß eine Demokratiekritik weithin als immanente Kritik zu üben ist: geleitet von
verfassungsrechtlichen Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaats selbst. Dazu gehören
119
120
E.Z., S. 210, 211.
Dazu D. Böhler, „Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung“, in: EWD-3, hier bes. S. 63 ff.
82
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
solche, deren normativer Kerngehalt reflexiv letztbegründbar ist, so daß sie als Momente bzw.
Konkretionen des Diskurs-Moralprinzips erwiesen werden können. Läßt sich dieser Erweis
erbringen, dann ist hier bei der Entwicklung einer moralischen Konter-Strategie äußerste
Vorsicht geboten. Deren Grenze zeichnet sich dann klar ab: Die Strategie darf nicht pauschal
‚Dispens der Demokratie‘ heißen, sofern wir unter „Demokratie“ den modernen westlichen
Verfassungsstaat mit demokratischer Herrschaftsform verstehen.
Läßt sich aber ein Moralitätserweis tragender normativer und prozeduraler Elemente der
rechtsstaatlichen Demokratie antreten? Ja, durch den sokratischen Rückgang der
Diskurspragmatik auf die dialogförmige Argumentationssituation121, in der man sich auch
dann befindet, wenn man die begründete Verbindlichkeit eines Prinzips bezweifelt. Dieser
Rückgang führt über eine dialogische Sinnprüfung des Zweifels als eines Beitrags im
argumentativen Dialog, um die Verbindlichkeit des bezweifelten normativen Gehalts zu
testen. Denn dasjenige, was sich in einer aktuellen Argumentation unter Diskurspartnern nicht
sinnvoll bezweifeln läßt, das ist prinzipiell gültig, so daß sein normativer Gehalt als
verbindlich, als einsichtige Pflicht, zu gelten hat und daher befolgungswürdig ist. Auf diese
Weise kann die Dialog- bzw. Diskurspragmatik zeigen, daß alle, welche überhaupt die Rolle
eines Denkenden und damit eines Argumentationspartner einnehmen können – einzig auf die
Potentialität kommt es in Geltungsfragen an –, daß also wir alle bereits gewisse
demokratisch-rechtsstaatliche Grundnormen von vornherein dadurch als befolgungswürdig
vorausgesetzt haben, daß wir ernsthafte Diskurspartner sein wollen. Denn als solche haben
wir gewisse rechtsstaatliche Prinzipien (notwendigerweise) für uns selbst in Anspruch
genommen – also impliziert.
Welche Prinzipien sind das? Einmal ist es das rechtsethische Prinzip, die Würde, nämlich die
Unverletzlichkeit und Freiheit allen menschlichen Lebens zu achten.122 Sodann ist es das
Prinzip, keine Beschlüsse und Maßnahmen in Kraft zu setzen oder anzuerkennen, die im
Geheimen zustande kommen, sondern allein solche, die der öffentlichen Kritik ausgesetzt und
der öffentlichen Zustimmungsfähigkeit unterworfen worden sind; also das Prinzip der
121
Der aktuelle Forschungsstand der Diskurspragmatik spiegelt sich in den Büchern Prinzip Mitverantwortung,
2001 (s.o. Anm. 6); sowie Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik, hrsg. v. H.
Burckhart u. H. Gronke, Würzburg 2002; in den Studien Böhlers, Brunes, Gronkes, Rähmes und Werners in:
Böhler, Kettner, Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel.
Frankfurt a. M. 2003; in: Böhler u. Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung, 2004; in: Böhler, Bausch,
Rusche (Hg.), Wirtschaft und Ethik, EWD-Bd. 12, 2004; in: Böhler u. H. Gronke, „Hic Rhodus, hic salta: SichVerantworten im Diskurs. Grundriß der Diskursethik“, in: U. Borelli/M Kettner (Hg.), Filosofia
transcendentalpragmatica. Transzendentalpragmatische Philosophie. Cosenza 2007, S. 499-589.
122
Vgl. D. Böhler: „Diskursethik und Menschenwürdegrundsatz zwischen Idealisierung und
Erfolgsverantwortung“, in: K.-O. Apel und M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik,
Recht, Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1992, S. 201-231. Ders., „Menschenwürde und Diskursethik“, Nachwort
zu: Thomas Rusche, Aspekte einer dialogbezogenen Unternehmensethik, EWD-4, hier S. 247 ff.
83
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
Öffentlichkeit.123 Verbunden mit dem Grundrecht der Kommunikationsfreiheit, impliziert
dieses
Prinzip
den
dritten
Grund
einer
unabweisbaren
Kritik
an
Jonas’
Geltungseinklammerung der Demokratie.
Warum? Dieses Prinzip bezeichnet eine Bedingung der Möglichkeit moralischer
Rechtfertigung, weil eine zureichende Beurteilung der Handlungen Anderer ebenso wie eine
wahrheitsfähige Einschätzung der Bedürfnisse bzw. Interessen Anderer nur in dem Maße
möglich ist, als man sich dabei auf die freie Artikulation ihrer Interessen stützen kann.
Wahrheitsfähig, nämlich situationserkennend, und (darauf aufbauend) legitim, also durch gute
Gründe gerechtfertigt und in diesem Sinne ›gerecht‹, können moralische Urteile, Maximen
oder Normen einzig dann sein, wenn sie nicht bloß auf der subjektiven Vermutung eines
einsamen Gedankenexperimentators oder einer Experten-Elite beruhen, sondern wenn sie die
wirkliche Situation der Betroffenen berücksichtigen, indem sie an deren Selbstverständnis
anknüpfen.
Aus dieser (hermeneutischen) Überlegung hatte ich in der Entstehungszeit der Diskursethik,
und
zwar
während
einer
kontroversen
Diskussion
des
„Funkkollegs
Praktische
Philosophie/Ethik“ im Jahre 1980, die geltungslogische Folgerung abgeleitet:124 Keine
Gültigkeit ohne argumentative Geltungsgegenseitigkeit unter möglichen Dialogpartnern,
keine Geltungsgegenseitigkeit ohne Verständigungsgegenseitigkeit zwischen den möglichen
Dialogpartnern. Der zweite Teil dieser Folgerung bezieht sich auf die konkreten Diskurse, die
sich auf eine bestimmte Situation beziehen, indem sie diese einschätzen und interpretieren.
Für solche situationsbezogenen Diskurse gelte: Ohne „Verständigungs-Gegenseitigkeit“
(über die Bedeutung der Situation und der situationskonstitutiven Interessen) keine Wahrheit
und Gerechtigkeit, also keine „Geltungs-Gegenseitigkeit“ für moralische Urteile und für
moralische Normen bzw. Handlungsorientierungen.
Zusammenfassend halten wir fest:
123
Vgl. D. Böhler, „Kritische Moral oder pragmatische Sittlichkeit“, in: ders. u. K.-O. Apel, Funkkolleg:
Studientexte, Bd. 3, Weinheim und Basel 1984, S. 845-886.
124
Ich beziehe mich auf die aufschlußreiche Kontroverse zwischen dem Personalismus Manfred Riedels mitsamt
dem Quasi-Kantianismus Otfried Höffes auf der einen Seite und dem transzendentalpragmatischen Ansatz bei
der realen Kommunikationsgemeinschaft und deren kontrafaktischen Normen auf der anderen Seite: Apel,
Böhler, Rebel (Hg.), Funkkolleg: Studientexte, Bd. 1, S. 269-277. Hier konnte das Hintergrundsproblem der
traditionellen Philosophie, der methodische Solipsismus, kontrovers herausgearbeitet werden.
Vor diesem Hintergrund ließ sich dann eine kommunikativ hermeneutische Vorstufe für praktische Diskurse
als unabweisbar begründen: D. Böhler, „Transzendentalpragmatik und kritische Moral“, in W. Kuhlmann und
D. Böhler (Hg.), Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik, Frankfurt am
Main 1982, hier S. 108ff, S. 206 und 243f. Dazu: Jon Hellesnes, „Ethischer Konkretismus und
Kommunikationsethik“, in: D. Böhler, T. Nordenstam und G. Skirbekk (Hg.), Die pragmatische Wende,
Frankfurt am Main 1986, bes. S. 183f.
84
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Erweisbare Verbindlichkeit oder legitime Dispensierbarkeit von verfassungsrechtlichen
Grundlagen der modernen Demokratie?
Ein solcher Dispens wäre moralisch illegitim.
Warum?
Zumindest zwei verfassungsrechtliche Grundlagen entsprechen den moralisch gehaltvollen
Sinnbedingungen eines argumentativen Diskurses:
(a) Achtung der Würde, d.i. Unverletzlichkeit und Freiheit des menschlichen Lebens und
(b) Prinzip
der
Öffentlichkeit,
im
demokratischen
Rechtsstaat
für
politische
Entscheidungsbildung verbindlich,
sind für Diskurspartner (einsehbar) verbindlich,
weil nicht sinnvoll (d.h. ohne pragmatischen Selbstwiderspruch = Widerspruch zur
Diskurspartner-Rolle) bezweifelbar.
Die
diskurspragmatische
Begründung
der
Gültigkeit
und
Verbindlichkeit
des
Öffentlichkeitsprinzips führt, wie wir gesehen haben, zur Verpflichtung, sich als
Diskurspartner
um
Verständigungsgegenseitigkeit
mit
den
möglichen
Entscheidungsbetroffenen zu bemühen. Diese Bemühungspflicht – um nicht mehr aber auch
nicht weniger geht es – ist es, die Jonas selbstwidersprüchlich, nämlich in Widerspruch zu
seiner moralischen Absicht einer Einbeziehung der Interessen der mitbetroffenen Anderen125,
überspringt, weil er als traditioneller Phänomenologe und als methodisch einsamer
Gedankenexperimentator ansetzt. Hingegen hat diese Begründungsreflexion in der
Weiterentwicklung der Transzendentalpragmatik zur Begründung und diskursethischen
Anwendung einer „phänomenologisch-hermeneutischen Maxime“ (Böhler) geführt.126
Ist aber eine Verständigungsgegenseitigkeit unabdingbar, so folgt eine tiefgreifende Kritik
des, von Jonas noch ein gutes Stück geteilten, Selbstverständnisses der traditionellen
Philosophie als theoria.127 Die theoria-Tradition dachte zugleich objektivistisch und
methodisch solipsistisch; und sie konnte das Eine tun, weil sie das Andere tat. Sie setzte
125
Jonas, PV, S. 78f. Dazu hier: Kap. 4.
D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, S. 123ff.
127
Jonas überschreitet dieses klassisch theoretische Selbstverständnis der Philosophie jedoch mit Argumenten,
die auf ein „Leib-Apriori“ (M. Merleau-Ponty) der Erkenntnis und auf eine Sinnkritik hinzielen, indem sie –
gegenüber Descartes und Husserl – das Sinnkriterium einer, wie Gronke formuliert, leibpragmatischen
Widerspruchsfreiheit geltend machen. Vgl. Jonas, Organismus und Freiheit, Göttingen 1973, S. 32ff – Das
Prinzip Leben, Frankfurt a.M. 1994, S. 38f. Dazu Gronke, Das Denken des Anderen, Würzburg 1999, S. 161f.
Vgl. in diesem Zusammenhang die differenzierte diskursethische Kritik an Jonas von M. Werner:
„Dimensionen der Verantwortung“, in: E.Z., S. 303-340, bes. S. 324ff.
126
85
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11.12.2009
nämlich voraus, daß die Seinsstrukturen (Platons Ideen) und die Kriterien richtigen Handelns
(Platons Paradigmen) eigentlich durch eine geistige Schau (theoria) erkennbar seien, zu der es
einer Kommunikation mit Anderen nicht bedürfe – Erkenntnis des Seins unabhängig von
Verständigung und Sprache, jenseits einer Kommunikationsgemeinschaft. Eine grundsätzliche
Kritik an dem seither wirksamen methodischen bzw. transzendentalen Solipsismus der
Philosophie, ja des abendländischen Geistes, hat als erster Apel sprachphilosophisch und
problemgeschichtlich vorgetragen128. Habermas hat sie in seinem Ansatz einer „Theorie des
kommunikativen Handelns“ fruchtbar gemacht.129 Ich selbst hatte bereits in den 68er Jahren
aus der theoria-Kritik die Konsequenz einer radikalen Metakritik des Historischen
Materialismus gezogen. Dieser stellt nämlich eine theoria der Gesellschaftsgeschichte dar,
welche von vornherein inkommunikativ verfährt, so daß sie eine dogmatische, ja
selbstimmunisierte Ideologiekritik an den Akteuren und Institutionen der kapitalistischen
Gesellschaftsform übt.130 Infolge ihrer gänzlich zeitgeistverqueren Radikalität – damals
herrschte links der Mitte die Parole „Anschlußfähigkeit an den Historischen Materialismus“
vor – ist diese Grundlagenkritik am Marxismus auch von Habermas nicht aufgenommenen
worden.
Jene transzendental-hermeneutisch begründete kommunikative Einsicht und die daraus
folgende Traditionskritik der theoria-Tradition (von Platon über Marx bis zum modernen
Szientismus,
zur
analytischen
Philosophie
und
zur
Phänomenologie)
gab
einen
weitreichenden Anstoß für die Entwicklung einer neuen, einer kommunikativen Ethikform –
nämlich der Diskursethik als Ethik, welche zur Führung konkreter, situationsbezogener
Diskurse verpflichtet und verbindliche Maßstäbe, wie diese zu führen seien, an die Hand gibt.
Diese erkennt erstmals an, daß die Gültigkeit moralischer Sätze von der Kommunikation mit
den betroffenen Interessensubjekten abhängt; infolgedessen verpflichtet sie die moralisch
Urteilenden dazu, sich um eine solche Kommunikation zu bemühen.
In diesem Sinne haben Habermas und Apel, Kuhlmann und ich seinerzeit die Diskursethik
pointiert als Ethik der Kommunikation eingeführt – etwa gegenüber Kants und Rawls
Moralfindung durch pure Gedankenexperimente, die vermeintlich ein einsames Subjekt
anstellen könne; demgemäß auch in Opposition zu Kohlbergs universalistischer Moralstufe
128
Apel, Transformation II, daraus die Studien „Sprache als Thema und Medium der transzendentalen
Reflexion“, a.a.O., S. 311-329; sowie „Der transzendentalhermeneutische Begriff der Sprache“, a.a.O., S. 330357.
129
Habermas, Theorie des Kommunikativen Handelns. 2 Bde, Frankfurt a. M. 1981; ders.,
Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1973, bes. S. 96 ff.
130
Böhler, Metakritik der Marxschen Ideologiekritik. Prolegomenon zu einer reflektierten Ideologiekritik und
‚Theorie-Praxis-Vermittlung‘, Frankfurt a. M. 1971, ders., „Kritische Theorie – kritisch reflektiert“, in: Archiv
für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol. LVI/4, 1970, S. 511-525.
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11.12.2009
6,131 in Opposition zum ethischen Kantianismus und Personalismus, schließlich in Opposition
zum Naturrecht und zur objektiven Wertethik. Praktisch politisch führt dieser kommunikative
Ansatz – das haben wir in Teil I schon dargelegt132 – zur Opposition gegen jede
Expertokratie: von Platons Philosophenherrschaft bis zur modernen Technokratie.
Glücklicherweise hat sich die zugrundeliegende kommunikativ hermeneutische Einsicht in
Politik und Recht der Bundesrepublik Deutschland soweit durchgesetzt, daß – bis hin zur
Ermöglichung von Verbandsklagen der Umweltverbände – Anhörungsprozeduren und andere
Verfahren der Verständigung mit Betroffenen institutionalisiert worden sind. Leider Gottes
hat es nach der deutschen Vereinigung zum Zwecke einer beschleunigten Modernisierung von
Ökonomie und Infrastruktur im Rahmen des „Aufbaus Ost“ zahlreiche Rücknahmen und
Einschränkungen
dieser
Partizipationsrechte
gegeben,
die
sogenannten
„Beschleunigungsgesetze“.133
Was die Ethikbegründung anbelangt, haben wir hier einen dritten Bedeutungsaspekt von
‚Diskursethik‘: Ethik, die zur Kommunikation mit den (an einer Situation) Beteiligten und
den Handlungsbetroffenen verpflichtet – und das bereits, um die Erkenntnis der Situation zu
gewährleisten. Keine Situationserkenntnis ohne Sinnverständigung mit den Menschen. Für
den diskursethischen Begründungsweg habe ich daraus eine architektonische Konsequenz
gezogen, die auch die Differenz zu Jonas augenfällig macht: Direkt nach der dialogreflexiven
Letztbegründung des Moralprinzips, der transzendentalpragmatischen Begründungsstufe (A
1), müsse als erster Konkretionsschritt die öffentliche Verständigung (oder ersatzweise ein
hermeneutisches Verfahren zum Zweck einer möglichen Verständigung) über den konkreten
Sinn der Interessen und Bedürfnisse möglichst aller Betroffenen vorgesehen werden:
Sinnverständigung mit den möglichen Betroffenen als Diskursstufe eigenen Rechts (A 2).134
Erst nach einer solchen Verständigungsbemühung fänden konkrete situationsbezogene
Diskurse ihren logischen Ort. Zunächst wären in theoretischen Diskursen die Fragen ‚Wie ist
die Situation beschaffen?‘ und: ‚Ist die vorgeschlagene Situationsinterpretation zutreffend?‘
zu beantworten (A 3). Darauf baut dann der praktische oder moralische Diskurs auf, der die
gewissermaßen idealisierende Frage stellt, was wir in der so beschaffenen bzw. so
131
Vgl. J. Habermas, Moralentwicklung und Ich-Identität, in: ders., Zur Rekonstruktion des historischen
Materialismus, Frankfurt a. M. 1976, S. 63-91, bes. S. 84 f.
132
Siehe oben, Kapitel I.1, S. 11 f.
133
Dazu: W. Erbguth u. B. Wiegand-Hoffmeister, „Umweltrecht im Gegenwind? Ein ethisch orientiertes
Umweltrecht ist nötig“, in: EWD-3, S. 411 ff, bes. 422 ff.
134
D. Böhler, „Kritische Moral oder pragmatische Sittlichkeit?“, in: Funkkolleg Studientexte, Bd. 3, bes. S. 855870.
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11.12.2009
interpretierten Situation eigentlich tun sollen, oder ob die vorgeschlagene Situationsnorm
legitim ist, ob ihr argumentative „Geltungs-Gegenseitigkeit“ zukommt (A 4).
Freilich steht in Frage, ob konkrete situationsbezogene Diskurse nicht zugleich die realen
Widerständigkeiten gegen moralische Handlungsweisen berücksichtigen müßten, so daß
bereits hier die harten Erfolgsverantwortungsprobleme der Ebene B in den Blick kommen
sollten. Dann sind die hier vorgeschlagenen Diskursstufen A 3 und A 4 nurmehr von
analytischem und regulativem Wert; sie können der begrifflichen Präzision dienen und die
ideale Prinzipienorientierung aufrechthalten. Zumal darauf kommt es an, um dem Sog
entgegenzuwirken,
strategische Kompromisse einzugehen, anstatt strikt moralische
Strategien zu suchen: moralisch legitime ‚Notwehrstrategien‘ und langfristige Moralstrategien
zur strukturellen Veränderung moralwidriger Verhältnisse.
Damit haben wir die vierte Funktion der Diskursethik vor Augen, nämlich eine Ethik der
Verantwortungsdiskurse für die nur teilweise moralgemäße, teilweise aber moralwidrige
Sozialwelt. Diese Verantwortungsdiskurse verknüpfen beide Perspektiven miteinander: den
moralisch idealen Blickwinkel, der auf das eigentlich Gesollte und letztlich Anzustrebende
gerichtet ist, und den moralisch strategischen, der das Verantwortungsmögliche sucht. Erst
beides zusammen gibt dem Begriff ‚Verantwortungs-Ethik‘ Sinn: die reale Erfolgsfähigkeit
und die Moralität. Als Verantwortungsethik fragt die Diskursethik nach moralgemäßen
Erfolgsstrategien. Daher verwirft sie die Lehre, daß der gute Zweck die Mittel heilige, als
widermoralisch: eine Rezeptur aus Teufels Küche.
Die bisher eingeführten Bedeutungsaspekte von ‚Diskursethik’ können wir folgendermaßen
zusammenfassen:
88
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Was heißt Diskursethik?
Die vier tragenden Aspekte und Aufgaben.
α)
Diskursethik als Ethik für Geltungsdiskurse: Wozu sind wir, mögliche Diskurspartner,
eigentlich verpflichtet?
Ethik der konkreten, moralisch-praktischen Geltungsdiskurse, die nach
Genitivus
subiectivus (1)
Maßgabe des Diskursprinzips der argumentativen Konsensbildung
angesichts einer Situation mit dem Ziel der (idealiter) richtigen
Handlungsweise zu führen sind.
β)
Diskursethik als reflexiv philosophische Begründung der Ethik – letztlich in dem je
anhängigen Diskurs: Welche Prinzipien (Geltungskriterien und Bemühungspflichten)
lassen sich wie als unhintergehbar erweisen?
Genitivus
obiectivus (1)
γ)
Prinzipienethik auf der Basis von reflexiven Dialogen mit einem
argumentierenden Prinzipienskeptiker.
Diskursethik als Ethik der Kommunikation angesichts einer Situation: Was sollen wir
vor dem konkreten moralisch-praktischen Diskurs (α) tun? Wie erkennen wir die
Situation?
Ethik, die zur Kommunikation mit den Beteiligten und möglichen
Genitivus
obiectivus (2)
Betroffenen (resp. zu deren hermeneutischer Simulation) ebenso
verpflichtet wie zur Bemühung um freie globale Öffentlichkeit.
δ)
Diskursethik als Ethik für Diskurse der moralischen Erfolgsverantwortung: Welche
situationsbezogene Strategie, die der Durchsetzung eines moralischen Prinzips (β)
dienen soll, können wir im argumentativen Diskurs als erfolgsfähig und für die
gegebene (moralrestriktive) Handlungslage als moralisch verantwortbar begründen?
Genitivus
subiectivus (2)
Ethik,
die
zu
verantwortungsethischen
Diskursen
(unter
Diskurswilligen, also Moralfreunden) verpflichtet, welche jeweils nach
Strategien fragen: nach einer kurzfristigen Situationsstrategie und einer
langfristigen Strategie zur Veränderung moralwidriger Verhältnisse.
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Gut und schön? Mag sein. Aber den Skeptikern unter Ihnen, meine Leser, bzw. dem Kritiker
in uns stellt sich angesichts der Aspekte γ und δ die Vereinbarkeitsfrage: Wie sollen wir die
Verpflichtung auf das universale Prinzip der Öffentlichkeit und globalen Partizipation (γ)
beachten, zugleich aber moralstrategische Diskurse (δ) führen? Denn diese setzen sich mit den
realen Moralwiderständen und also auch mit Gegnern der moralischen Diskurse bzw. ihrer
Ergebnisse auseinander. Können diese Gegner, welche nicht selten gewalthabende und
gewalttätige
Feinde
des
moralischen
Diskurses
sind
oder
diskurszerstörerische
Gewaltstrukturen repräsentieren, in den Diskurs einbezogen werden? Verlangt aber das aktive
Öffentlichkeitsprinzip, so wie wir es eben anerkannt haben, nicht eine solche Einbeziehung?
Wenn ja, dann wäre doch eine Platonische oder, recht verwandt, eine Jonassche Position viel
plausibler: Platon und Jonas setzen sich gar nicht erst dem Risiko resp. dem Verdacht einer
solchen Widersprüchlichkeit aus. Denn ihr Ansatz ist nicht kommunikationsbezogen und
daher öffentlichkeitsbemüht. Stattdessen geht es hier klassisch um eine Betrachtung des
Seins, von der unterstellt wird, sie ließe sich, bei aller methodologisch begründeten Subtilität,
in der kontemplativ einsamen Einstellung des Experten zum Ziel führen, zur Wahrheit und
Richtigkeit.
Nun haben wir aber eingesehen, daß diese Unterstellung irrig ist; und zwar deshalb, weil eine
Erkenntnis von sozialen Situationen allein dann wahrheitsfähig ist, wenn sie den Sinn der
Wertvorstellungen, Interessen etc. der beteiligten Menschen samt ihrer Institutionen und
Traditionen verstehend erschließt; d.h. wenn sie sich methodisch in Kommunikation mit den
Beteiligten begibt, also Gebrauch vom Öffentlichkeitsprinzip macht. Folglich führt an der
Kohärenzklippe oder der möglichen Widersprüchlichkeit, die unser Kritiker der DiskursVerantwortungsethik vorhält, kein Weg vorbei. Läßt sie sich umschiffen, wenn wir sowohl
dem genuin diskursethischen, also direkt kommunikativen, Prinzip der Einbeziehung der
Anderen, welches das Öffentlichkeitsprinzip impliziert und somit eigentlich begründet,
gerecht werden wollen, als auch der spezifisch verantwortungsethischen Vorsichts- oder gar
Notwehrpflicht zum strategischen Umgang mit diskursgefährdenden und moralwidrigen
Anderen Genüge tun wollen? – Ja. Hier liegt nur auf den ersten Blick ein unlösbares Dilemma
vor. Inwiefern?
Erstens tragen wir den gesamten Begründungsdiskurs mit den direkt kommunikativen, also
spezifisch
diskursethischen
Elementen
(der
Ebene
A)
und
den
moralstrategisch
verantwortungsethischen Stücken (der Ebene B) in aller Öffentlichkeit vor: Wir laden alle
und jeden ein, sich an diesen Überlegungen zu beteiligen. Zweitens zeigen wir ihnen, daß es
sich dabei um nichts anderes als um Erläuterungen ihrer eigenen Ansprüche und
90
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11.12.2009
Verpflichtungen handelt, welche sie selbst, sie als Denkende, bereits ins Spiel gebracht und
unausdrücklich anerkannt haben; als gültig vorausgesetzt haben, weil es normative
Voraussetzungen der Diskursrolle sind, die alle Fragenden, Denkenden, Behauptenden, indem
sie etwas fragen, bedenken, behaupten übernommen haben. Mithin kommt – so lautet die
erste Richtigstellung des, von unserem Kritiker vorgebrachten, Widerspruchsverdachts – ein
grundsätzlicher Ausschluß von Gegnern gar nicht in Betracht. Auch sie sind Denkende und
als solche einbezogen in den Begründungsdiskurs, den sie im Prinzip ebenso führen oder
mitvollziehen können wie wir.
Das nämliche trifft für solche Gegner zu, die nicht bereit sind, sich an konkreten Diskursen
über den Erfolg des Moralischen, insonderheit den der Zukunftsethik, zu beteiligen und dann
auch an der Umsetzung der Diskursergebnisse mitzuwirken: Die Überlegungen, wie wir als
Diskurspartner mit den Diskurs- und Moralwiderständen und den Diskurs- bzw.
Moralverweigerern verantwortlich umgehen sollten, finden vor aller Augen statt und sind für
alle vorgebrachten Argumente offen. Mithin – und das ist der dritte Grund dafür, daß sich das
Dilemma auflöst – werden auch sie als (mögliche) Argumentationspartner anerkannt und
einbezogen. Sofern sie jedoch zu Diskursfeinden und Zerstörern von Moralbedingungen
werden,
verwirken
sie
ihre
Diskursrechte
und
zerstören
das
moralische
Anerkennungsverhältnis.
Was
daraus
folgt,
erkennen
wir
wohl
am
besten
mit
Blick
auf
Jonas’
Verantwortungsimperativ, wenn wir diesen diskursethisch präzisieren. So nämlich, daß wir
den normativen Gehalt des Öffentlichkeitsprinzips so stark wie möglich machen, indem wir es
zu einem Prinzip der universalen Zustimmungswürdigkeit unter globalen öffentlichen
Diskursbedingungen substantiieren: ‚Verhaltet euch so, daß eure Verhaltensweisen die
begründete Zustimmung aller verdienen und – mithin – der Permanenz menschenwürdigen
Lebens auf Erden dienlich sind.‘ (D-Z)
Anhand der Richtschnur dieses Prinzips D-Z eröffnet sich folgender Lösungsweg für unser
Problem: Wenn massive soziale Widerstände bestehen – von Personen bzw. Gruppen, die
eigensinnig ihre Nahinteressen durchsetzen wollen, oder von Systemen, die machtvoll ihre
funktionale Systemrationalität behaupten –, dann ist folgendes zu tun. Zuallererst muß eine
Vorbedingung für sinnvolle moralische Diskurse erfüllt bzw. gewährleistet werden: der
Moraldiskurs benötigt nicht nur einen diskursförderlichen gesellschaftlichen Ort sondern
zumal diskurs- und moralwillige Teilnehmer. Eine moralstrategische Beschränkung der
Diskursteilnehmer auf solche, die das diskursbezogene Zukunftsverantwortungsprinzip als
unbedingt verpflichtend anerkennen, ist unvermeidlich. Der so beschränkte Teilnehmerkreis,
91
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gewissermaßen
ein
Kreis
11.12.2009
zukunftsverantwortlicher
Moralfreunde,
hätte
dann
verschiedenartige Diskurse zu führen, um das Problem zu lösen: ‚Wie läßt sich der Erfolg der
Zukunftsethik ermöglichen, und wie lassen sich die dazu nötigen Strategien rechtfertigen?‘
Zunächst stehen jedoch die genannten moralstrategischen Vorfragen an:
(B 0) Welche Personen bzw. gesellschaftlichen Orte und Systemfunktionen kommen für
diesen Diskurs infrage? Offenbar nur mit D-Z einverstandene Personen und damit
kompatible gesellschaftliche Organisationen und Systeme. Doch ist ein solcher
Ausschluß berechtigt?
Die Antwort liegt auf der Hand, wenn wir aus dem Dialog denken. Sie lautet: im
Prinzip ja; und zwar auf sokratisch dialogreflexive Weise. Denn jener Ausschluß ist
nur die Konsequenz aus dem Grundversprechen jedes Diskursteilnehmers, das dem
Grundanspruch eines argumentativen Diskurses an dessen Teilnehmer entspricht.
Dieser folgt aus der Idee des Diskurses als kommunikativer Vernunft und als
Möglichkeit des Sich-Verantwortens. Denn er fordert von allen und jedem, alle
möglichen guten Gründe aufzusuchen und zu berücksichtigen, indem man sorgsam
forscht, ernsthaft diskutiert und schließlich einzig diejenigen Verhaltensweisen gelten
läßt, welche die begründete Zustimmung aller Teilnehmer eines rein argumentativ
geführten Diskurses verdienen.
Aus diesem moralischen Grundanspruch des argumentativen Diskurses ergibt sich das
Prinzip ‚D-Z‘, auf das alle Diskursteilnehmer als solche von vornherein verpflichtet
sind. Infolgedessen geht es hier nicht um einen gesondert begründungsbedürftigen
Ausschluß, sondern um den Nachvollzug der vorausgegangenen Selbstexklusion eines
Diskursunwilligen oder einer diskursunfähigen Gewaltinstanz. Freilich kommen hier
Situationseinschätzungen und Personeneinschätzungen ins Spiel. Diese aber entbehren
letzter Sicherheit und müssen als fallibel angesehen werden. Es kommt daher darauf
an, sie revisionsfähig zu halten und selbst zur Revision bereit zu sein.
(B 1) Sodann ist zu bedenken, daß eine Durchsetzungsstrategie Bestehendes verändern soll.
Von einer solchen Strategie können ebenso Menschen betroffen sein wie bestimmte
Realisierungsbedingungen argumentativer Diskurse und im Extremfall auch die Idee
des
argumentativen
Diskurses
selbst.
Man
denke
nur
an
revolutionäre
Durchsetzungsstrategien jakobinischer oder leninistischer Art. Demgegenüber kommt
es auf eine Sensibilität für die zu bewahrenden bzw. zu erschließenden
lebensweltlichen Rahmenbedingungen von Diskursen an. Dazu gehören ethische
Intuitionen, moralisch motivationsfähige (z.B. tendenziell universalistische religiöse)
92
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11.12.2009
Traditionen, schließlich moralförderliche bzw. diskursförmige Institutionen in Recht
und Politik.
Nach Maßgabe von D-Z hat die Schonung und Entwicklung solcher Diskurs- und
Moralbedingungen
den
Primat
vor
einer
verändernden
und
riskanten
Durchsetzungsstrategie, auch wenn diese unter dem legitimationsheischenden Namen
„Reform“ eingeführt bzw. „verkauft“ wird. Aus dem Zukunftsverantwortungsprinzip
D-Z folgt eine besondere Umsichts- und Vorsichtsverpflichtung für die Entwicklung
von Durchsetzungsstrategien, wozu in einer Demokratie auch die meisten
„Reformprojekte“ gehören. Die Verpflichtung lautet: ‚Prüft, welche Institutionen,
Traditionen
und
ethischen
Intuitionen,
die
von
einer
(gesuchten)
Durchsetzungsstrategie tangiert werden können, dem Moralprinzip gerecht werden.
Hütet bzw. entfaltet sie sorgsam. Verschüttet die kulturellen Motivationsquellen nicht,
sondern erschließt sie. Wählt daher nur eine Strategie, die mit der Bewahrung und
Entfaltung der gegebenen moralförderlichen Randbedingungen für argumentative
Diskurse vereinbar ist.‘
(B 2) Nunmehr ist in konkreten strategisch-zweckrationalen Diskursen, geführt in möglichst
vielfältigem und kompetentem Kreis von Diskurs- und Moralwilligen, die das Prinzip
‚D-Z‘ praktisch umsetzen wollen, zu prüfen, mit welchen Situationsstrategien
gesellschaftliche und personale Widerstände gegen Zukunftsverantwortlichkeit und
Menschenwürde überwunden werden können. Gesucht werden hier also spezifische
Maßnahmen, die wie eine Notwehraktion eine bestimmte moraldefizitäre Situation
verändern sollen.
Der Blick der Diskursteilnehmer wird hier zwiefach eingeschränkt. Er konzentriert
sich nicht nur auf eine vorliegende Problemsituation, sondern er wird auch von einer
lediglich instrumentellen Sichtweise geleitet. Denn zunächst geht es bloß darum, für
die moraldefizitäre Situation X eine erfolgsfähige Veränderungsstrategie zu finden.
(B 3) Der moralentlastete Blick muß dann wieder von einem moralischen Blick abgelöst
werden. Letztlich kommt es darauf an, in – möglichst ebenso besetzten –
situationsbezogenen moralischen Diskursen zu prüfen, welche der nach bestem
Wissen erfolgsfähigen Strategien sich in folgenden Hinsichten rechtfertigen läßt.
Welche Strategie kann ausgezeichnet werden
(B 3.1) als zumutbar für die jetzt im Handlungszusammenhang Beteiligten,
(B 3.2) aber auch als verantwortbar gegenüber den (jetzt und künftig) Betroffenen und
93
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(B 3.3) als moralverträglich, nämlich sowohl vereinbar mit den normativen Gehalten von ‚DZ‘, dem argumentativen Konsenskriterium und der ebenso moralischen wie
ontologischen Idee des Menschen?
(B 4) Die in B 3 diskutierten Fragen weisen über die Kurzzeitperspektive einer einfachen
Situationsveränderung hinaus. Sie verlangen bereits eine große Zukunftsperspektive.
Diese gilt es nunmehr eigens zu entfalten. Gesucht wird jetzt, indem eine moralische
Langzeitstrategie entworfen wird.
Der gesuchte Entwurf muß die Frage beantworten, auf welche Weise die
moraldefizitären,
bislang
eine
zukunftsverantwortliche
Praxis
verhindernden,
Handlungsbedingungen à la longue durch moralförderliche ersetzt werden können. In
diesem Sinne gilt es, in wiederum möglichst vielfältig und kompetent besetzten, teils
zweckrational-strategisch, teils moralisch fragenden Diskursen zu erarbeiten, welche
Langzeitstrategie erfolgsfähig und moralisch legitim, nämlich mit ‚D-Z‘ vereinbar ist.
Diese Vereinbarkeit liegt vor, wenn die moralische Forschrittstrategie dem Fernziel
dient, sowohl die persönliche Akzeptanz für ‚D-Z‘ zu erhöhen, als auch die
institutionellen und systemischen Bedingungen für die Befolgung von ‚D-Z‘ in der
Wirtschaft, der Politik und dem Recht zu optimieren.
(B 5) Ist die Diskursarbeit soweit geleistet, dann haben wir einerseits eine moralisch
gerechtfertigte Kurzzeitstrategie, vergleichbar einer legitimen Notwehraktion oder
Polizeiaktion,
und
andererseits
eine
langfristig
angelegte
moralische
Verbesserungsstrategie. Nun können und müßten wir den konkreten moralischen
Diskurs (B 3) evaluieren, indem wir fragen: ‚Ist die Kurzzeitstrategie wirklich mit
dem Prinzip ‚D-Z‘ vereinbar?‘
Die gesuchte Moralverträglichkeit muß sich nun daran messen, ob sich die kurzzeitige
Situationsstrategie zwanglos und stimmig einbetten läßt in die gewonnene
Langzeitstrategie
zur
Verbesserung
der
Handlungsbedingungen
und
Akzeptanzbedingungen, die die Moralfreunde, welche ‚D-Z‘ in der sozialen Welt
umsetzen wollen, tatsächlich vorfinden. Je nachdem wie diese moralische
Verträglichkeitsprüfung ausfällt, müßte die jeweils entworfene Kurzzeitstrategie
überprüft und gegebenenfalls verändert werden; so wie es von (B 3.3) bereits
vorausgesetzt oder vorweggenommen worden ist.
Diese verantwortungsethische Orientierung und Differenzierung wird in allen Stücken dem
Diskursgrundsatz
der
universalen
Konsenswürdigkeit
gerecht,
aus
welchem
das
Öffentlichkeitsprinzip abgeleitet, ja aufgrund dessen es als allgemeingültig erwiesen werden
94
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kann. Und damit sind wir wieder bei Jonas’ Dilemma: Zukunftsverantwortung versus
Demokratie. Dessen Lösung liegt jetzt auf der Hand:
Insofern eine Demokratie dem Prinzip der Öffentlichkeit Rechtsgeltung verschafft und es
durch politische Partizipationsrechte aktiviert, ist sie eine Realisierungsbedingung für
Diskurse überhaupt und für praktische Diskurse insbesondere. Stellt sie damit doch den
institutionellen Rahmen für eine freie Sinnverständigung mit den Adressaten moralischer
Normen und den ‚Gegenständen‘ moralischer Urteile bereit. Aus diesem Grunde und in dieser
Hinsicht läßt sich ein pauschaler Dispens der Demokratie nicht rechtfertigen. Wohl aber kann
– auf der verantwortungsethischen Ebene B – in Form einer moralischen Konter-Strategie
Widerstand gegen einzelne Mehrheitsbeschlüsse und Regierungsmaßnahmen in einem
bestimmten demokratischen Staat legitimiert werden.
Jonas’ kontemplative Einstellung, angelehnt an die antike theoria und Edmund Husserls
Phänomenologie, kann dem Prinzip der Öffentlichkeit eine solche grundlegende Rolle nicht
einräumen. Sein Selbstverständnis und seine Methoden, zumal die ontologische wie die
intuitionistische, stehen dem entgegen. Er denkt nicht in erster Linie kommunikativ sondern
betrachtend und intuitiv. So kommt es dazu, daß er „die universale Verantwortung gegenüber
allem lebendigen Sein ‚monologisch‘ aus dessen werthafter Struktur selbst“ gleichsam abliest
bzw. intuitiv abschaut.135 „Sieh hin und Du weißt“136, wofür Du verantwortlich bist, nämlich
für das schutzbedürftige, werthafte, organische Leben um Dich herum – sagt Jonas
intuitionistisch: Du weißt es, so wie Eltern von ihren schutzbedürftigen Kindern
‚normalerweise‘ (!) wissen, daß sie ihnen Fürsorge und Vorsorge zu gewähren haben.
Handlungs- und gefühlsphänomenologisch ansetzend, nimmt Jonas allein das asymmetrische
Verhältnis der Ausgangs- und Handlungsbedingungen eines Verantwortlichen in den Blick.
Einzig diese praktische und intuitive Asymmetrie sei es, die den Verantwortungsbegriff
konstituiere. Trifft das zu? Recht hat Jonas als Phänomenologe, insoweit er zeigt, worin die
Ausgangslage und die direkte praktische Aufgabe der Verantwortung besteht – nämlich
stellvertretend, mithin fürsorgend für ein wertvolles, um seiner selbst willen schutzbedürftiges
Wesen zu handeln. Diesen Fürsorgeaspekt der Verantwortung stellt das folgende Schema der
Verantwortungsaspekte auf der rechten Seite dar, während dessen linke Hälfte den
dialogförmigen, mithin symmetrischen Rechtfertigungsaspekt veranschaulicht:
135
136
Vgl. Micha Werner: „Dimensionen der Verantwortung“, in: E.Z., S. 332, vgl. 314-318.
Jonas, PV, S. 235.
95
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Verantwortungsaspekte
Rechtfertigungsbezug
Fürsorgebezug
symmetrisch:
Sich-Verantworten im
argumentativen Dialog
asymmetrisch:
Handlungsbedingungen und
fürsorgendes Handeln
S1 mit
GeltungsAnspruch
S2 mit
EinlösungsErwartung
macht-volles
Subjekt S1
ohn-mächtiges,
wertvolles
Gegenüber
Diskurspragmatisch beurteilt, greift Jonas’ Bestimmung der Verantwortung als eines
asymmetrischen Verhältnisses zu kurz. Denn logisch hat sowohl die Diskurssituation der
Prinzipienbegründung, in der einer dem anderen im argumentativen Dialog demonstriert, daß
man prinzipiell zur Mitverantwortung für schutzbedürftige Wesen verpflichtet sei, eine
symmetrische Form, als auch die konkrete Rechtfertigungssituation einer oder eines
Verantwortlichen, die bzw. der über seine Praxis befragt wird oder sich selbst Fragen stellt.
So befragt oder fragend, muß sie bzw. er in einem symmetrischen Dialog mit Argumenten
begründen können, daß die fürsorglichen Handlungsweisen den legitimen Ansprüchen gerecht
werden bzw. gerecht geworden sind, die man im Namen seines Betreuten geltend machen
kann oder die jener – später einmal – selbst gegenüber den Verantwortlichen vorbringen kann,
etwa das herangewachsene Kind gegenüber den Eltern. Dann sind die Verantwortlichen
gefordert, die Asymmetrie des fürsorgenden Handelns zu verlassen und sich auf die
Symmetrie des argumentativen Dialogs einzulassen, auf das Rede- und Antwort-Stehen.
Es ergeben sich dann zweierlei Diskurs-Symmetrien: sowohl die im engen Sinne logische
oder semantisch-syntaktische Symmetrie zwischen Rede und Gegenrede (als Aussagen
betrachtet) wie auch die dialogpragmatische bzw. kommunikationsethische zwischen Frage
und Antwort, Gründefordern und Gründegeben, Anerkennungserwartung und Anerkenntnis,
96
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wie sie sich in der Interaktion gleichberechtigter Diskurspartner einstellen. Das ist die Form
der
Verantwortung
als
Rechtfertigung:
das
Sich-im-Dialog-Verantworten.
Keine
Verantwortung ohne mögliche Rechenschaft. Das veranschaulicht unser nächstes Schema:
Verantwortung:
Verwobenheit von Fürsorge und Rechtfertigung
rechtfertigt sich
dialogische
Symmetrie
Subjekt 2
im Dialog
anerkennt GeltungsanSubjekt 1
sprüche von bzw. für
Fürsorgegegenstand
als mögl.
Subjekt
praktische
Asymmetrie
behandelt
Fürsorgegegenstand
Beide Aspekte, das Rede-und-Antwort-Stehen und das stellvertretende Handeln des
Fürsorglichen sind miteinander verwoben. Das eine verlöre ohne Bezug auf das andere seinen
Sinn. Das Verwobensein der Fürsorgebeziehung mit der Rechtfertigungsbeziehung zeigt sich
schon daran, daß ‚ich’, der Fürsorgende, bei Fragen nach dem Warum meiner
Handlungsweise sowohl zum ‚Gegenstand’ meiner Fürsorge als auch zu dem Fragenden die
symmetrische Stellung eines Diskurspartners werde einnehmen müssen. ‚Ich’ komme dabei
nämlich nicht umhin, sowohl dem Frager Geltungsansprüche für seine Frage (als
ernstgemeint, verständlich und wahrheitsdienlich) zuzubilligen und ernsthaft, verständlich,
wahrheitsbemüht darauf einzugehen, als auch analog meinen Fürsorgegegenstand
anzuerkennen und mich seinen möglichen Geltungsansprüchen zu stellen. ‚Ich’ muß zur
Rechtfertigung, zum Geltungsdiskurs über meine Fürsorge bereit sein.
Warum? Ich bin einerseits Handelnder, ein faktisches Subjekt (Ich I), aber ‚ich’ bin zugleich
virtueller Diskurspartner, der zu seinen Handlungen Stellung nehmen kann (Ich II). Daher
kann ‚ich’ als Diskurspartner meinem Fürsorgegegenstand nicht einerseits (in der
Fürsorgerelation) Seins- und Zuwendungswert beimessen resp. unterstellt haben und
97
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andererseits (in der Rechtfertigungsbeziehung) bezweifeln oder gar bestreiten, daß man ihn
als mögliches Subjekt von Geltungsansprüchen anerkennen soll. Wer einen solchen Zweifel
geltend machte, also diese Zweifelsthese behauptete, verstrickte sich in einen performativen
Widerspruch. Hinsichtlich dieser These verlöre er seine Glaubwürdigkeit als Diskurspartner.
‚Ich’ müßte über meinen Schützling vielmehr sagen können, daß man für ihn mit Recht Wert
und Schutzwürdigkeit beanspruchen könne und daß ihm dieser moralische Anspruch
zukomme, so daß ‚ich’ ihn aus guten Gründen ernstnehmen solle.
Der von Jonas verabsolutierte Fürsorgeaspekt bezieht sich auf die appellative wertethische
Ausgangssituation eines Handlungsmächtigen im Verhältnis zu einem wertvollen,
vergleichsweise ohnmächtigen Gegenüber, während sich der Geltungsaspekt aus der, damit
von vornherein verbundenen, dialogischen und allein deshalb schon moralisch geladenen
Rechtfertigungssituation ergibt. Erst beide Aspekte, miteinander und ineinander, machen den
vollen Sinn von ‚Verantwortung’ aus. Zur Verantwortung gehört von vornherein das SichVerantworten, die Rechtfertigung ggf. des Warum und des Wie, der Mittel und Wege: der
Fürsorgende muß sich mit Argumenten, also im Diskurs, konkret verantworten können
gegenüber den Ansprüchen des Adressaten seiner Fürsorge. Das gilt auch dann, wenn der
‚Fürsorgegegenstand’ faktisch selbst keine Ansprüche erheben aber ein „moralisches Mandat“
beanspruchen kann.137 – Wie weit dieses moralische Mandat trägt, ob es z.B. auch den
Menschenwürdeanspruch bzw. den (vollen) Menschenwürdeschutz kleinster Menschlein
einschließt, jedenfalls auch den von Embryonen, ist aber in der Öffentlichkeit umstritten und
bedarf dringend der Klärung. Was hat eine Ethik aus dem Dialog hierzu beizutragen?
137
Jens Peter Brune, „Menschenwürde und Potentialität: Eine diskursethische Skizze“, in: Burckhart u. Gronke
(Hg.), Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik, Würzburg 2002, S. 425-446, hier S.
443.
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Verbindlichkeitserweis der Achtung der Menschenwürde im Dialog mit einem
Zweifler.
Doch langsam! Ein skeptischer Diskurspartner kann hier mit Recht einwenden, daß es fast auf
eine
Erschleichung
hinausliefe,
wenn
wir
gleich
den
Anwendungsbereich
der
Menschenwürdenorm absteckten, ohne überhaupt demonstriert zu haben, daß dem Gebot
>Achte die Würde jedes menschlichen Wesens!< prinzipiell Verbindlichkeit zukommt. Zuerst
einmal, so der Kritiker, wäre zu erweisen, daß diese Norm als moralische Grundnorm zu
gelten verdient. Diesem Einwand sollten wir um so mehr Folge leisten, als die Achtung der
Menschenwürde einen Kerngehalt des Moralprinzips und insonderheit des Diskursprinzips
bildet. Daher hängt dessen ethische Bedeutung und Orientierungskraft von einem
Verbindlichkeitserweis der Menschenwürdenorm ab. Gelingt dieser freilich nicht, dann
schiene das Moralprinzip ziemlich leer und formal zu sein, ein bloßes Verfahrensprinzip für
Teilnehmer an moralischen Diskussionen...
Die Menschenwürdenorm ist der Grundsatz, daß dem menschlichen Leben eine nicht
anzutastende Würde zukomme, die in zwei ursprünglichen moralischen Rechten, dem Recht
auf (mögliche) Selbstbestimmung und dem auf Unverletzlichkeit des eigenen Lebens
Ausdruck findet. Ihr zufolge darf die mögliche Selbstbestimmung und die im weitesten Sinne
leibliche Integrität eines Menschenwesens, unabhängig von seinem Entwicklungsstadium und
seinen konkreten Fähigkeiten, weder seitens eines Staates noch anderer Institutionen oder
anderer Menschen angetastet werden.138
Nicht erst angesichts der postmodernen Relativierung und der liberalistischen sowie
existentialistischen Subjektivierung von ethischen Normen bis hin zu dem Prinzip der Ethik
selbst, sondern bereits angesichts des Kantischen „Gerichtshofs der Vernunft“, vor dem
lediglich sinnvolle Argumente zählen, ist es uns auferlegt, die einsehbare Verbindlichkeit des
Menschenwürdegebots zu erweisen, – auch wenn wir es aus uralter Glaubenstradition
irgendwie ‚haben‘. Können wir das, was uns glaubenstraditionell oder verfassungspatriotisch
motivieren mag, auch rational einholen?
Entstanden ist das Grundgebot der Menschenwürde aus der biblischen Überzeugung, daß Gott
den Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe (1. Mose 1, 26f), woraus sich das sechste
bzw. nach katholischer und lutherischer Zählung das fünfte der Zehn Gebote „Du sollst nicht
morden“ (2. Mose 20, 13 und 5. Mose 5, 17; präzisiert im Noah-Bund: 1. Mose 9, 6) ableiten
läßt. Noch jener säkulare Geist, der sich heute in Menschenrechtsdeklarationen und etwa in
138
Dazu J.P. Brune, ebd., ders., Moral und Recht. Zur Diskurstheorie des Rechts und der Demokratie von Jürgen
Habermas; Diss. Phil. FU Berlin, 2008, Teil B: Menschenwürde und Potentialität.
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dem deutschen Grundgesetz objektiviert hat, steht in der Wirkungsgeschichte dieses
Bekenntnisses zu Gott, dem Schöpfer, und zu seiner Schöpfungsordnung. So haben sich die
Mütter und Väter des „Grundgesetzes“ bei der Formulierung des Ersten Artikels, der
Menschenwürdenorm,
teils
direkt
von
deren
schöpfungstheologischem
und
bundestheologischem Hintergrund leiten lassen, teils von Kants säkularer ‚Übersetzung‘ der
Lehre von der Gottesebenbildlichkeit. Kant hatte versucht, deren normativ-ethischen Gehalt
einzuholen,139 indem er eine Menschenwürde- bzw. Selbstzweckformel, eine „praktische“
Formel des kategorischen Imperativs aufstellte: Es bestehe die unbedingte Verpflichtung, ein
menschliches Wesen niemals ausschließlich als Mittel sondern stets zugleich als Zweck zu
brauchen, damit der absolute Wert der Menschheit als vernunftfähiger, mithin moralfähiger
Natur geachtet werde: „Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du
die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit
zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“140
Von
der
biblischen
und
kantischen
Tradition
motiviert,
haben
die
deutschen
Verfassungsmütter und -väter seinerzeit einen Beschluß gefaßt, der das Gebot der
Menschenwürde zur obersten Richtschnur staatlichen Handelns erhebt. Infolgedessen gilt es
im deutschen Rechtsraum faktisch: kraft förmlicher, verfassungsgebender Entscheidung und
deren staatlich-rechtlicher Anerkennung. Den Standpunkt des Geltens von Normen allein
kraft Entscheidung, einer Art Glaubensentscheidung, vertritt auch die große politisch-ethische
Koalition des modernen Pluralismus – von den Popperianern über die Existentialisten bis zu
(liberalen) Theologen. Der Standpunkt, daß sich moralische Normen letztlich nicht rational
begründen lassen, ihre Geltung also nicht aus allgemein einsehbaren Gründen ziehen können,
sondern bloß aus der Tatsache, daß sich eine Gemeinschaft für sie entschieden hat, ist ja der
eine Pol des westlichen „Komplementaritätssystems“. Den anderen Pol bildet, wie wir
gesehen haben, die „wertfreie“, nicht moralisch orientierende bzw. orientierungsfähige,
formale Rationalität der Wissenschaft und der ökonomischen bzw. effizienten Mittelsuche.
Tertium non datur? Jedenfalls können die allermeisten Vertreter der Menschenwürdenorm für
deren Geltung nicht mehr als eine Glaubensentscheidung – logisch also eine Arationalität –
ins Feld führen. Es herrscht eine Dürftigkeit des Denkens vor. Sie bedeutet einen Skandal von
universell politischer und rechtsethischer Tragweite: Einerseits gründen die Menschenrechte
einschließlich der Kinderrechte und die Menschenrechtsdeklarationen, die Charta der
139
Es handelt sich bei diesem Versuch allerdings eher um eine Setzung als um eine argumentative Einholung,
weil sich diese materiale und soziale Norm in Kants Denkrahmen – Ansatz bei dem am a-sozialen Singular
gedachten Vernunftsubjekt und Lokalisierung der Moralität samt ihrer Sinnbedingung, der sittlichen
Selbstbestimmung (Autonomie) – überhaupt nicht begründen läßt.
140
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg. S. 429.
100
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Vereinten Nationen und rechtsethisch so differenzierte Verfassungen wie eben das deutsche
Grundgesetz auf der Verbindlichkeit der ‚Menschenwürde‘ und setzen deren universale
Einsehbarkeit voraus. Andererseits nimmt der Zeitgeist unter Einschluß der allermeisten
Wissenschaftstheoretiker und Philosophen entweder direkt an, daß sich deren Verbindlichkeit
strenggenommen
nicht
einsehen,
d.h.
erweisen
lasse,
oder
man
stellt
diese
Letztbegründbarkeit zumindest in Frage…
Dieser Skandal wäre in der Tat ein Skandal der Vernunft, wenn selbst die Diskursethik,
genauer gesagt deren Begründungsreflexion, nicht zu einem Verbindlichkeitserweis des
Menschenwürdegebots in der Lage wäre. Diesen Eindruck muß man freilich haben, wenn
man sich allein an Jürgen Habermas orientiert: sei es an seinen anfänglichen Arbeiten zur
„Diskursethik“,141 worin er noch anspruchsvoll diesen Titel verwendete, sei es an seiner
späteren Rückzugsposition einer bloßen „Diskurstheorie“.142 Schon die Lektüre seiner noch
diskursethischen Schriften kann in der Tat – und Matthias Lutz-Bachmann, inzwischen der
Frankfurter philosophische Nachfolger von Habermas, ist gewiß ein unverdächtiger Zeuge –
zu folgendem Schluß führen: Die Diskursethik, wie sie Habermas, nicht Apel, vertreten hat,
ist nur eine Verfahrensethik der rationalen Diskussion konfligierender Interessen. Und ihr
normatives Kriterium besteht bloß in einem formalen Konsensprinzip, nämlich in dem
Verfahrensprinzip
einer,
wie
Lutz-Bachmann
formulierte,
„interessensgeleiteten
Zustimmung“.143
Ohne hier die Auseinandersetzung zwischen Habermas’ formalpragmatischer Diskursethik
und
der,
von
Apel
eingeführten,
transzendentalpragmatischen
Begründung
eines
verbindlichen Moralprinzips samt seiner ethischen Gehalte eigens zu führen,144 müssen wir
doch den Hauptaspekt klären. Prüfen wir, ob ein solcher Formalismus, eine bloße
Verfahrensförmlichkeit, sprich eine moralische Orientierungsunfähigkeit das letzte Wort einer
Diskursethik sein muß, oder ob sie sich auf ein materialethisches Fundament stützen kann –
141
J. Habermas, „Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm“, in: ders., Moralbewußtsein und
kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main 1983, S. 53-126. Ders., „Was macht eine Lebensform
‚rational‘?“, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1992, S 31-48. Vgl. auch: A.a.O., S.
119-226.
142
J. Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen
Rechtsstaates, Frankfurt a.M. 1992. Vgl. kritisch dazu: J.P. Brune, Moral und Recht. Zur Diskurstheorie des
Rechts und der Demokratie von Jürgen Habermas; Diss. Phil. FU Berlin, 2008.
143
M. Lutz-Bachmann, „Praktischer Diskurs und sittliche Vernunft“, in: B. Irrgang u. M. Lutz-Bachmann (Hg.),
Begründung von Ethik, Würzburg 1990, S. 109.
144
Dazu K.-O. Apel, „Grenzen der Diskursethik? Versuch einer Zwischenbilanz“, in: Zeitschrift für
philosophische Forschung, Bd.. 40, 1986, S. 3-31. Ders., „Auflösung der Diskursethik? Zur Architektonik der
Diskursdifferenzierung in Habermas’ Faktizität und Geltung. Dritter, transzendentalpragmatisch orientierter
Versuch, mit Habermas gegen Habermas zu denken“, in: ders., Auseinandersetzungen, S. 727-839.
J. Habermas, „Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung. Kleine Replik auf eine große
Auseinandersetzung“, in: D. Böhler, M. Kettner u. G. Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung, Frankfurt
a.M. 2003, S. 44-64.
101
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z. B. auf den reflexiven Erweis des Menschenwürdegebots aus dem Argumentieren, das
virtuell immer ein Miteinander-Argumentieren, ein Diskurs ist.
Begeben wir uns dazu in die Diskurssituation zwischen einem Opponenten und einem
Proponenten, der die Diskursethik durch „aktuelle Dialogreflexion“ begründet.145
O:
Ich behaupte erstens, daß die Diskursethik, weil sie zur Begründung moralischer
Normen und Werturteile nichts als den Rückgang auf den Diskurs zu bieten hat, keine
prinzipielle moralische Orientierung ermöglicht, wie sie der Grundsatz, die Würde
jedes Menschen sei unbedingt zu achten, enthält. Der Ansatz bei dem Diskurs kann –
zweitens – bloß zu einem Konsensbildungsverfahren gelangen, dem das Kriterium
einer interessegeleiteten Zustimmung zugrundeliegt. Das ermöglicht selbstredend
keine unbedingte Verpflichtung und Verbindlichkeit.
P:
Mit Blick auf eine strikte, transzendentalpragmatische Begründungsreflexion – nicht
im Blick auf Habermas, der ja bereits die Situation des praktischen Diskurses
voraussetzt, auf die aber ein Skeptiker sich nicht einlassen muß, weil er deren
Zumutung mit der Frage kontern kann „Warum soll es vernünftig sein, sich als
praktischer Diskurs-Teilnehmer (statt z. B. rein zweckrational bzw. strategisch als
homo oeconomicus) zu verhalten?“ – werde ich dir durch Reflexion auf den Diskurs
im Dialog zu zeigen versuchen, daß deine Ausgangsthese (1) nicht zutrifft und daß
deine Kriterienannahme (2) nicht folgt.
O:
Wie das?
P:
Bedenke, was du als gültig und für dich als meinem Partner im Diskurs, jetzt zunächst
in dieser realen Kommunikationsgemeinschaft, voraussetzen und als verbindlich
anerkennen mußt,
-
damit deine Rede von mir (und anderen) als Argument mit kritisierbarem
Geltungsanspruch
aufgenommen
und
diskutiert
werden
kann,
mußt
du
voraussetzen, daß sie als argumentativer Beitrag im Dialog mit anderen
verständlich ist (spezifische, nämlich kognitive Sinnbedingung);
145
D. Böhler, „Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik…“, 1998, S. 126-178, bes. S. 143-163; ders. u. M.H.
Werner, „Alltagsweltliche Praxis und Rationalitätsansprüche der Kulturwissenschaften“, in: F. Jäger und J.
Straub (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 2, Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart 2004, S. 6683, bes. S. 72 ff.
102
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-
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damit du von mir (und ggf. anderen) jetzt als Argumentationspartner im Dialog
über Wahrheit und Richtigkeit ernst genommen werden kannst, mußt du den
Anspruch auf Wahrhaftigkeit, d.h. die eigene Bereitschaft, mit den Anderen
dialogpartnerschaftlich zusammenzuarbeiten, mitbringen und als verbindlich
anerkennen (praktische Glaubwürdigkeitsbedingung);
-
damit wir schließlich deine und meine Beiträge hinsichtlich ihrer Ansprüche, allein
kraft ihrer Begründbarkeit und freien Einsehbarkeit zu gelten, hier in einem
Diskurs prüfen, ggf. verbessern und zur Geltung bringen können, müssen wir uns
bemühen,
alle
sinnvollen
Argumente
in
unseren
Dialog
einzubringen
(Gültigkeitsbedingung).
Denn du wirst doch zugeben: wir können wissen, daß der argumentative Dialog
eine verbindliche (Meta-)Institution für dich, mich und für alle möglichen
Anspruchssubjekte ist, so daß er als Diskursuniversum etwas Ideales an sich hat, da
er alle performativ und propositional widerspruchsfreien Argumente und deren
mögliche Vertreter, und zwar als Gleichberechtigte, einschließt.
O:
Das ist geschenkt. Aber daraus folgt doch nicht, daß die Diskursethik die
Verbindlichkeit der Menschenwürde (1) und damit auch – im Unterschied zur
interessierten Zustimmung – ein absolutes Kriterium für Gültigkeit (2) begründen
kann.
P:
Nicht eigentlich die Diskursethik, wohl aber die argumentative Dialogreflexion, auf
die sie aufbaut und deren Resultate sie als normative Gehalte der Ethik präsentiert
bzw. auf moralische Konflikte anwendet.
O:
Und wie soll die Begründung vor sich gehen?
P:
In zwei Schritten. Im ersten Schritt rekonstruiert man, an sein intuitives und
wissenschaftsvermitteltes Vorverständnis von Dialog anknüpfend, notwendige interne
Bedingungen, die bei der Durchführung eines Dialogs, in dem allein nach Wahrheit
und Richtigkeit gesucht wird, erfüllt werden müssen. Man deckt Sinnbedingungen
eines argumentativen Diskurses auf. Dann setzt der zweite Schritt ein: die reflexive
Prüfung, ob die aufgesuchten Sinnbedingungen sich wirklich als solche erweisen
lassen. Zu diesem Zweck bezweifelt man den Status einer dieser rekonstruierten
103
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Bedingungen: Ist die vermeintliche Sinnbedingung in der Tat eine solche? Ist sie
wirklich schlechthin konstitutiv für das Argumentieren, mithin allgemeingültig und
allgemeinverbindlich?
O:
Ein solcher Zweifel ist allerdings angebracht. Denn dein Ausgang von einem
Vorverständnis und dein „Rekonstruieren“ bzw. „Aufdecken“ von Sinnbedingungen
hängt ab vom Horizont und Standpunkt desjenigen, der die Rekonstruktion durchführt.
Daher kann das Verfahren sehr fehlerhaft sein.
P:
Jedenfalls muß man mit solchen Fehlerquellen rechnen. Aus diesem Grunde zeichnet
die
Diskurspragmatik
die
Prüfung
des
Zweifels
als
den
entscheidenden
Begründungsschritt aus.
Im Sinne einer sokratischen Prüfung, eines reflexiven Elenchos wird geklärt, ob sich
dieser skeptische Einwand überhaupt als sinnvolle Argumentation in einem Dialog
vertreten läßt. Für einen solchen Elenchos ist vor allem zweierlei erforderlich146:
Erstens dürfen die Dialog-Teilnehmer nicht nur ihre Aussagen, sondern müssen ihre
ganze performativ-propositionale Rede betrachten; und sie müssen diese wiederum
(hinsichtlich ihrer Geltungsansprüche) als Beiträge zu einem jetzt stattfindenden
Dialog in Augenschein nehmen.
Zweitens ist zu klären, ob sich diese Dialogbeiträge von den anderen Diskurspartnern
als argumentative Dialogbeiträge verstehen und prüfen lassen oder aber nicht.
O:
Aber was hast du als Kriterium für Unverständlichkeit im Diskurs zu bieten? Wann
tritt der dialogische Unverständlichkeitsfall ein?
P:
Er tritt genau dann ein, wenn jemand eine skeptische Behauptung vorbringt, die etwas
bezweifelt, was sie selbst in Anspruch nehmen muß, um als Diskursbeitrag für Partner
in der Diskussion jetzt verständlich und prüfbar zu sein.
Wollen wir so verfahren? Läßt du dich auf eine solche dialog-praktische Prüfung ein?
O:
Ja. Probieren wir einmal, was dabei herauskommt.
146
Das Verhältnis von 'Vorverständnis', 'Rekonstruktion' und 'Dialogreflexion' wird näher bestimmt in: Böhler,
Strategik, „Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik…“, 1998 S. 143 ff.
104
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P:
Gut.
Das
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Verfahren
ist
der
dialogische
Test,
ob
ein
Gültigkeits-
und
Verbindlichkeitserweis des Menschenwürdegrundsatzes, genauer: seines normativen
Gehalts, überhaupt möglich ist.
O:
Woran würden wir erkennen, ob ein solcher möglich ist, ja, ob er gelungen ist?
P:
Daran,
daß
es
Sinnbedingungen
des
Diskurses
gibt,
die
mit
dem
Menschenwürdegrundsatz normativ deckungsgleich sind, und daran, daß diese sich –
jetzt von dir – nicht durch einen sinnvollen, weil prüfbaren, Diskursbeitrag in Zweifel
ziehen lassen.
O:
Und woran soll ich bemessen, ob der Zweifel ein sinnvoller Diskursbeitrag ist oder
nicht?
P:
Du ermißt es daran, ob ein Zweifel pragmatisch widerspruchsfrei ist. Das
diskurspragmatische Sinnkriterium besteht in der Reflexionsfrage: >Ist ein Zweifel
vereinbar mit den Sinnvoraussetzungen unserer Rolle als Partner im argumentativen
Dialog?<
Sokratisch elenktisch gesagt: Wenn sich die Unvereinbarkeit des Zweifels mit
Rollenvoraussetzungen des Diskurspartners herausstellt, dann ist der
Zweifel
als
sinnlos erwiesen. Positiv gewendet, heißt das: Wenn eine Skeptikerwiderlegung durch
Reflexion auf Sinn- und
Geltungsbedingungen des Diskurses in dem gerade
geführten Dialog gelingt, dann ist das Bezweifelte als letztgültig bzw. als
uneingeschränkt verbindlich erwiesen.
O:
Einverstanden. Prüfen wir zunächst meine These (2), die Kriterienannahme. Ich
präzisiere sie jetzt, indem ich behaupte:
(3) Durch argumentationsreflexiven Rückgang auf den Diskurs kommt man nicht zu
einer verbindlichen Orientierung, sondern nur zum Kriterium einer interessegeleiteten
Zustimmung.
P:
Laß uns untersuchen, ob dies ein sinnvoller argumentativer Dialogbeitrag ist.
Schließlich bringst du diese These in einem Diskurs (nämlich gerade jetzt im Dialog
mit mir) und mit Anspruch auf Geltungsfähigkeit vor. Im zweiten Teil deiner These
105
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sprichst du von dem Kriterium einer interessegeleiteten Zustimmung, auf welches
allein die Diskursreflexion führen könne. Ich konzentriere mich zunächst auf diesen
Punkt: Bist du der Ansicht, daß in einem Diskurs nicht nur Argumente, sondern auch
schon Interessen als Gültigkeitsinstanzen zählen?
O:
Laß mich diese Ansicht hier einmal vertreten.
P:
Gut. Dann wollen wir prüfen, ob sie sich in einem Diskurs vertreten läßt. Um den
Beweisgang abzukürzen, stelle ich dir eine Frage, die auf die vorhin getroffene
Unterscheidung von Sinnbedingungen der Rede (a) und Glaubwürdigkeitsbedingungen
der Partnerintention (b) zurückgreift.
O:
Nur zu!
P:
Ist es eine sinnvolle Rede (a) und bist du für mich (bzw. deine Partner im Dialog – wer
immer sie sein mögen) ein glaubwürdiger, ernstzunehmender Diskurspartner (b), wenn
du behauptest: ‚Nicht nur Argumente gelten im Diskurs, sondern auch bloße
Interessen. Daher kann eine Zustimmung, die aus Interessen erfolgt, ein Kriterium für
Gültigkeit sein‘?
Kannst du selbst als wahrhaftiger Diskurspartner, der nach Wahrheit und Richtigkeit
sucht und der als solcher von mir (bzw. deinen Partnern) ernst genommen sein will
(b), diese ‚Interessen-Kriterien-These‘ als These mit kritisierbarem Geltungsanspruch
(a) verstehen und in einem argumentativen Dialog vertreten?
O:
Das ist in der Tat heikel.
P:
Es ist vielmehr unmöglich. Bedenke doch: Wenn du (und wann immer du) wirklich
nach Wahrheit bzw. Richtigkeit suchst, kannst du im Diskurs Interessen nicht einfach
gelten lassen, weil sie halt vorliegen, sondern lediglich als Kandidaten für gute
Gründe, als Ansprüche auf mögliche Geltung. Diese Ansprüche müßten jedoch erst
eingelöst werden, nämlich durch triftige, allgemeine Zustimmung verdienende
Argumente, welche bestimmte Interessen hinreichend begründen können. Andernfalls
wärest du nicht, wie du vorgibst, ein nach Gültigkeit suchender Diskurspartner,
sondern ein (raffinierter) Interessendurchsetzer, der sich einer Diskursveranstaltung
106
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bloß als Mittel bedient und der die Würde seiner Partner verletzt, indem er sie nur
scheinbar als Partner eines Dialogs der Argumente ernstnimmt und...
O:
Offenbar spielst Du auf die Menschenwürde an.
P:
Ja. Denn die nimmst du, jetzt im Dialog mir gegenüber, für dich in Anspruch, und
ebenso nehme ich sie für mich in Anspruch.
O:
Und inwiefern verletze ich sie?
P:
Wenn du letztlich nicht nach dem besten Argument suchst, nach Gründen, die gelten
können, dann nimmst du mich nicht als Argumentationspartner ernst, sondern machst
mich zum Mittel deines Kalküls. Du achtest mich nicht in meiner Würde als
gleichberechtigtem Verunftsubjekt. Vielmehr erniedrigst du mich. Denn du machst
mich zum Mittel deiner eigenen partikularen Zwecke macht, d. h. du manipulierst
mich.
O:
Wohl wahr.
P:
Langsam. Gibst du damit zu, daß die Suche nach Gültigkeit, also nach Wahrheit (von
Sachverhaltsbehauptungen) und Richtigkeit (von Normbehauptungen bzw. von
Normen und Handlungsweisen) an die Achtung der Würde all jener (als
Argumentationspartner) gebunden ist, die an der Gültigkeitssuche teilnehmen?
O:
Das folgt offensichtlich. Aber diese Achtung bezieht sich ausschließlich auf die
Diskursteilnehmer, nicht auf die da draußen und nicht auf ‚meine‘ Praxis außerhalb
von Diskursen. Die Diskursverpflichtungen gelten eben auch nur für Diskurse; ihre
normative Geltung überträgt sich nicht nach ‚draußen‘ auf die diskursexterne Praxis in
Lebenswelt und Gesellschaft. Diesen Vorbehalt haben zuerst Karl-Heinz Ilting und
dann Habermas geltend gemacht. Ist er nicht durchschlagend?
P:
Das bleibt zu prüfen. Zuvor aber müssen wir festhalten, was wir geklärt haben und
worin wir inzwischen übereinkommen.
107
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O:
Gut, mein Herr Pedant.
P:
Wir müssen einräumen, daß sich sowohl ein theoretischer Diskurs (über die Wahrheit
von Sachverhaltsaussagen, etwa von Situationsbeschreibungen) als auch ein
praktischer Diskurs (über die Richtigkeit eines normativen Urteils, die Legitimität
einer Norm oder die Berechtigung zu einer bestimmten Handlung) nur dann führen
läßt, und daß ein Diskursergebnis nur dann gültig sein kann, wenn die Teilnehmer
allein nach guten Gründen suchen und einander als gleichberechtigte Partner mit
unantastbarer Würde achten, so daß sie dem Verfahren als vernunftgemäß und dem
Ergebnis als (nach bestem Wissen) zutreffend bzw. richtig würden zustimmen können.
Kannst du dem beipflichten?
O:
Insoweit bin ich einverstanden. Denn wahr oder richtig kann schlechterdings nur etwas
sein, das alle, die sich sachkundig machen und ausschließlich Argumente gelten
lassen, prüfen können und dem sie frei, aus Einsicht, zustimmen können.
P:
Eben; genau darauf kommt es an. In diesem Sinne können wir jetzt das Kriterium der
Zustimmung näher bestimmen und deine Vermutung prüfen, die Diskursethik könne
bloß eine interessegeleitete Zustimmung ins Auge fassen.
O:
Ja. Mehr kann sie nicht bieten. Geht sie doch von realen Diskursen aus. Und in
wirklichen Diskursen machen die Leute natürlich ihre Interessen geltend.
P:
Nun frage ich dich, der du in diesem realen Diskurs mein Partner bist, der du als
Diskurspartner ausschließlich sinnvolle Argumente gelten läßt und nach dem besten,
eben dem wahren theoretischen bzw. dem richtigen praktischen Argument suchst: Bist
du eigentlich einverstanden, und kannst du in deiner Suche zufriedengestellt sein,
wenn dir gesagt wird: ‚Deine Wahrheits- und Richtigkeitssuche ist am Ziel, wenn
deine Gesprächspartner deiner Argumentation zustimmen, weil sie von ihren
zufälligen Interessen dazu motiviert werden, dir ihre Zustimmung zu geben?‘
O:
Das wohl nicht.
108
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P:
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Bestimmt nicht. Denn wenn du dich darauf einließest, müßtest du immer argwöhnen,
von Interessenten, vielleicht auch liebedienerisch oder sonst korrumpierend,
fehlgeleitet zu werden oder dich auch selbst zu betrügen, weil du, genaugenommen,
gar nicht mehr nach Gültigkeit strebtest sondern bloß nach Übereinstimmung in
deinem Kreise. Du könntest nicht im Einklang, in „Homologie“, sagt Sokrates, mit dir
als ernsthaftem Argumentationssubjekt und als Diskurspartner (b) sein. Du nähmest
einen Widerspruch in Kauf zwischen dem Anspruch auf argumentative Gültigkeit, den
du selbst mit deiner Behauptung oder einem anderen Beitrag im Diskurs erhoben hast,
und einem Gültigkeitskriterium, das dich mit Interessen abspeist bzw. mit einer
interessegeleiteten Zustimmung.
O:
Damit hast du wohl Recht. Doch inwiefern soll damit meine These widerlegt sein?
P:
Als sinnlos erwiesen, mithin restlos widerlegt ist deine Annahme, daß sich in einem
Rückgang auf den argumentativen Diskurs, durch den sich die Diskursethik begründet,
keine verbindliche Orientierung gewinnen lasse, sondern nur das Kriterium – sagen
wir jetzt besser: das Scheinkriterium – der interessegeleiteten Zustimmung. Und ...
O:
Ja, das Kriterium 'interessegeleitete Zustimmung' läßt sich in Wahrheit nicht durch
eine Besinnung im Dialog auf den argumentativen Diskurs begründen. Das sehe ich
ein. Aber...
P:
Gemach. Schritt für Schritt. Mein Gedanke ist noch nicht zum Schluß gebracht. Also:
Durch die Widerlegung dieser deiner Kritik der Diskursethik wird auch die
transzendentalpragmatische bzw. diskurspragmatische Generalthese der Diskursethik
bestätigt. Denn an der Unhaltbarkeit deiner Kritik – jetzt können wir präziser sagen:
an ihrer Unvertretbarkeit in einem Dialog der Argumente – zeigt sich, daß genau das
zutrifft, was deine Kritik bestreitet.
O:
Und das wäre?
P:
Das ist zweierlei. Erstens, daß es für materiale Normen wie das Menschenwürdegebot
sehr wohl strikte Gültigkeit und Verbindlichkeit gibt – eine Gültigkeit und
Verbindlichkeit aus allgemein einsichtigen Gründen.
109
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O:
Und was für Gründe sollen das sein?
P:
Eben diejenigen Gründe, die wir alle haben bzw. erkennen, wenn wir uns besinnen auf
die vorgängige (primordiale) Rolle eines Dialogpartners, die wir mit jeder ernsthaften
Behauptung und mit jeder ernstgemeinten Frage bereits übernommen haben.
O:
Du meinst also, eine rationale Letztbegründung moralischer Grundnormen sei in der
Tat möglich?
P:
Du hast sie vor dir.
O:
Und was ist mit der von dir beschworenen diskurspragmatischen Generalthese?
P:
Sie besagt: Die Suche nach einem bzw. die Bemühung um einen rein argumentativen
Konsens, damit einhergehend die Geltungseinklammerung von bloßen Interessen und
der Geltungsvorbehalt gegenüber einer faktischen Zustimmung, schließlich die (dazu
logisch erforderliche) gleichberechtigte Berücksichtigung aller sinnvollen Argumente
zur Sache, die irgend jemand vorbringen könnte, ist nicht irgendeine Orientierung
neben möglichen anderen. Sie ist die einzige argumentativ unhintergehbare
Erkenntnisorientierung: das absolute Erkenntnisprinzip schlechthin.
O:
Warum so unbescheiden?
P:
Es geht nicht um Bescheidenheit oder Unbescheidenheit. Es geht um Gültigkeit oder
Ungültigkeit. Und das Diskursprinzip ist deshalb absolut gültig, weil du es überhaupt
nicht in Zweifel ziehen kannst, ohne durch diese Zweifelshandlung dir selbst als
Argumentationspartner zu widersprechen.
O:
Und ich müßte mir widersprechen, weil ich a priori diese Rolle übernommen habe,
indem ich etwas – und sei es einen Zweifel – zur Geltung bringe?
P:
Ja. Wenn du ernsthaft etwas geltend machen und nicht eine Story erzählen oder dir gar
in die Tasche lügen willst, dann hast du kraft deiner eigenen Gültigkeitsansprüche die
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Verpflichtung anerkannt, alle sinnvollen Argumente zum Thema sowohl zu suchen als
auch zu prüfen und alle möglichen Träger sinnvoller Argumente als gleichberechtigte
Partner zu achten.
O:
Das versteht sich wohl. Durch die Übernahme meiner Erkenntnisrolle, die du als
Diskurspartnerrolle
rekonstruierst,
habe
ich
unausdrücklich
alle
anderen
Erkenntnissubjekte anerkannt, bin gewissermaßen in die unbegrenzte Gemeinschaft
der Vernunftsubjekte oder Diskursteilnehmer oder Erkenntniswilligen im strengen
Sinne eingetreten. Und damit habe ich zugleich die Verbindlichkeit des
argumentativen Dialogprinzips als das Prinzip der Moral anerkannt. Wie könnten wir
es formulieren?
P:
Hinsichtlich seines normativen Gehalts etwa so: Bemühe dich um die Argumentation
und um diejenige Handlungsweise, die die begründete Zustimmung aller als
Diskurspartner verdient.
O:
Aber das ist doch formal und schließt nicht die Pflicht zur Achtung der Würde jedes
menschlichen Wesens ein.
P:
Genau diese Pflicht schließt das letztbegründbare Diskursprinzip ein.
O:
Weshalb und inwiefern?
P:
Weil das Diskursprinzip unwiderleglich verlangt, sich um die gleichberechtigte
Berücksichtigung aller sinnvollen Argumente zu bemühen, die von irgend jemandem
für irgend etwas vorgebracht werden könnten, schließt es in erster Linie die
Verpflichtung ein, das Leben und darüber hinaus die kommunikative Freiheit, mithin
die Denk- und Dialogchancen all derer zu achten und zu schützen, die Ansprüche
haben könnten.
Und
besteht
nicht
eben
darin
der
materiale
normative
Gehalt
des
Menschenwürdegrundsatzes, der das Ur-Recht bzw. das ursprüngliche moralische
Recht jedenfalls aller möglichen Mitglieder der Menschengattung zum Ausdruck
bringt?
111
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
O:
11.12.2009
So ist es wohl. Allerdings treten auch Skeptiker auf, gerade in postmodernen Zeiten
bzw. kulturrelativistischen Stimmungen, welche bezweifeln, daß die Pflicht, den so
verstandenen Menschenwürdegrundsatz nach Kräften zu befolgen, absolut gültig und
verbindlich sei. Was dann?
P:
Nun, diesen Zweifel und diesen Zweifler würden wir wiederum in einen reflexiven
Diskurs ziehen, um diesen Gültigkeitszweifel mit der Diskurspartnerrolle des
Zweiflers zu konfrontieren. Auf diese Weise können wir ja sinnkritisch zeigen, daß
sich die prinzipielle Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der kommunikativen
Freiheit
und
der
Lebensmöglichkeiten
von
Anspruchssubjekten
in
einem
argumentativen Dialog gar nicht sinnvoll bezweifeln läßt.
O:
Und „nicht sinnvoll“ hieße soviel wie „nur in Widerspruch zu eigenen
Diskurspartnerrolle“?
P:
Ja. Und das, was du als Diskurspartner nicht mehr sinnvoll bezweifeln kannst, das
bindet dich unwiederbringlich.
O:
Also wäre die Pflicht zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde absolut
verbindlich… Das sehe ich jetzt ein.
Doch wie steht es mit meinem vorhin, in Analogie zu Ilting und Habermas, gebrachten
Einwand, daß sich ein Begründungsversuch der Menschenwürdenorm aus dem
Diskurs auch bloß auf die Teilnehmer an einem Diskurs und strenggenommen nur
solange, wie der Diskurs dauert, erstrecken könne? Dann wäre ja der universale und
uneingeschränkte Geltungsanspruch des Menschenwürdegebots gerade verfehlt. Denn
"Menschenwürde" ist unteilbar und für jeden in jedem Kontext verbindlich, oder sie ist
nichts.
P:
Richtig. Laß uns also deinen Einwand prüfen. Bringe ihn nochmals vor!
O:
Ja: Ich bezweifle, daß ich oder jeder x-beliebige ernsthafte Diskurspartner dazu
verpflichtet ist, auch außerhalb von Diskursen die Würde aller Menschen zu achten.
P:
Meinst du das ernst?
112
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
O:
11.12.2009
Ja; das sage ich dir als dein ernsthafter Diskurspartner. Ich treibe kein Spiel mit dir
sondern achte, auch indem ich diese These vorbringe, deine Würde als Diskurspartner.
Und ich selbst halte meinen Anspruch hoch, dir ein glaubwürdiger Diskurspartner zu
sein.
P:
Letzteres kannst du aber nicht, wenn du zugleich diese These mir gegenüber
behauptest.
O:
Das verstehe ich nicht. Ich werde doch noch zweifeln dürfen.
P:
Gewiß. Doch es gibt sinnvolle und sinnlose Zweifel. Und der deine ist zwar in
gewisser Weise nützlich, weil wir etwas an ihm lernen können; aber als
Diskursbeitrag zwischen Dialogpartnern ist er sinnlos, weil er sich nicht mit dem
Anspruch vereinbaren läßt, ihr Vertreter sei ein wahrhaftiger, ein glaubwürdiger
Diskurspartner
und
achte
(als
ein
solcher)
unbedingt
die
Würde
seiner
Gesprächspartner.
O:
Wieso? Ich kann doch – praktisch – dir ein glaubwürdiger Diskurspartner sein und –
theoretisch – Zweifelsexperimente anstellen.
P:
Zieh dich nicht aufs Theoretische zurück; denn deine Theorien mußt du mit deiner
aktuellen Praxis als Dialogpartner vereinbaren können. Eben daran bemißt sich deine
Wahrhaftigkeit bzw. Glaubwürdigkeit als Partner im argumentativen Diskurs. Sinnvoll
ist eben einzig der Gedanke und derjenige Zweifel, den du als glaubwürdiger
Diskurspartner vertreten kannst; die Anderen müssen dich hinsichtlich deiner Meinung
als ihren Partner – jetzt im Diskurs mit dir – ernstnehmen können. Eine vermeintlich
radikale Theorie oder Skepsis, die mit glaubwürdiger Dialogpraxis nicht vereinbar ist,
erweist sich im Dialog als sinnlos.
O:
Langsam, langsam! Warum soll eine radikale theoretische Perspektive nicht mit
ernsthafter Praxis vereinbar sein? Betreibst du nicht eine unerlaubte Vermengung von
Theorie und Praxis? Springst du nicht aus dem Diskurs in die Welt der Praxis?
113
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
P:
11.12.2009
Nein; ich demonstriere, daß eine dialogbezogene, rechtfertigungsfähige Vermittlung
von Theorie und Praxis besteht. Dieser weichst du aus. Du entziehst dich gewissen
Dialognormen,
gewissen
Diskurspartnerrolle,
indem
Verbindlichkeiten
du
einer
unverbindliche
–
und
theoretische
jetzt
–
deiner
Spekulationen,
freischwebende Zweifel, anstellst. Das ist sinnlos. Laß die Spielerei!
O:
Du gehst zu weit. Was soll das? Wie kommst Du dazu?
P:
Ich komme dazu, weil du mich als deinen Diskurspartner in Anspruch nimmst. Daher
will auch dich als meinen Diskurspartner bei den – jetzt deinen – Verbindlichkeiten
der Diskurspartnerrolle nehmen. Komm aus deiner Verschanzung hinter einer bloß
theoretischen Perspektive hervor; vergiß nicht bei deinem Theoretisieren, daß du jetzt
mit mir im Diskurs bist!
O:
For the sake of argument. Was soll ich tun?
P:
Steh Rede und Antwort; verantworte dich jetzt im Diskurs! Laß dich als meinen
Diskurspartner direkt befragen: Wie ist es um deine Glaubwürdigkeit als
Diskurspartner bestellt, wenn du mir diese zwar ebenso versicherst wie deine
Bereitschaft, meine Würde als Diskurspartner zu achten, aber zugleich in Zweifel
ziehst, daß du meine Würde wie die anderer auch außerhalb des Diskurses zu achten
verpflichtet bist? Ich denke, es ist um deine Glaubwürdigkeit geschehen, denn wenn
du das bezweifelst, sagst du mir damit, du wissest nicht, daß du dazu verpflichtet bist.
Eine nicht gewußte, eine nicht frei eingesehene Verpflichtung ist freilich keine –
jedenfalls keine moralische, keine verbindliche, auf die man bauen kann.
Also kann ich außerhalb des Diskurses nicht auf dich als moralische Person zählen.
Und da soll ich im Diskurs auf dich zählen?
O:
Genauer bitte. Warum denn nicht?
P:
Versetze dich in meine Situation, in die dein Zweifel mich bringt (als deinen
Diskurspartner) und laß dich fragen: Wenn dir jemand so käme – nämlich am Sonntag,
im Diskurs, sagte er dir zu, die Menschenwürde der anderen Sonntägler, der
Diskursteilnehmer, zu achten; doch darüber hinaus, im Alltag, wisse er sich nicht auf
114
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
das Menschenwürdegebot verpflichtet- könntest du ihn aufgrund dieser Rede als
glaubwürdigen, als wahrhaftigen Partner im Diskurs anerkennen?
O:
Wohl eher nicht.
P:
Mit Sicherheit nicht. Bedenke nur zweierlei: Einmal die Verwobenheit von Diskursen
und Alltagswelt. Denn Diskurse finden ja nicht auf einem anderen Stern statt, sondern
müssen in der realen Welt geplant, organisiert, durchgeführt und ihre Ergebnisse auf
diese angewandt bzw. in dieser realisiert werden. Überall da ist die Glaubwürdigkeit
und die Menschenwürde der Diskurspartner als Menschen in der Praxis gefragt. Und
genau das weißt du als Diskurspartner ebensogut wie ich.
O:
Da muß ich dir zustimmen.
P:
Bedenke zum anderen, daß sich die Grenze zwischen den Teilnehmern und den NichtTeilnehmern an einem Diskurs der Argumente nicht empirisch festlegen läßt: Eine
solche Grenze wäre immer zufällig und willkürlich. Denn sie läßt sich nur von außen
bzw. durch zufällige Umstände festsetzen und bleibt dem argumentativen Diskurs
äußerlich. So könntest du Teilnehmer aber auch Außenstehender sein, Beteiligter oder
Zaungast oder Betroffener. Doch diese empirische Zufälligkeit tut nichts zur Sache.
O:
Was ist denn hier die "Sache"?
P:
Die Sache des Diskurses sind die Argumente und die Suche nach möglicher Wahrheit
bzw. Richtigkeit, also die Suche nach den besten, d. h. universal geltungsfähigen
Argumenten. Solche Argumente müßten alle berechtigten Ansprüche und die Gründe,
die für diese sprechen können, berücksichtigen und einschließen. Folglich müssen die
jeweiligen Diskursteilnehmer auch die Würde aller achten, die an diesem faktischen
Diskurs nicht teilnehmen, die aber Diskursteilnehmer sein könnten, werden könnten
oder gewesen sein könnten.
O:
Das wären freilich alle Menschen.
115
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
P:
11.12.2009
Ja, zumindest alle Menschen. Denn von diesen Wesen wissen wir, daß ihnen die
Möglichkeit, Diskursteilnehmer zu werden, von Natur mitgegeben ist.
O:
Das ist ein anthropologisches Faktum.
P:
Ja, eine Fähigkeit, die zumindest unserer Gattung zukommt, die Fähigkeit, Ansprüche
zu haben und auch geltend zu machen.
O:
Aber auch diese Fähigkeit ist ein natürliches Faktum. Schließt du dann nicht von einer
bloßen Tatsache auf eine Norm, von einem Sein auf ein Sollen?
P:
Ein solcher Fehlschluß, der „naturalistische Fehlschluß“, läge dann vor, wenn wir
allein aus kontingenten Fakten eine Norm ableiten würden – genauer gesagt, aus
zufälligen Tatsachen, welche nicht zugleich Voraussetzungen dafür sind, daß sich ein
ohnehin allgemeinverbindliches moralisches Prinzip überhaupt befolgen läßt.
O:
Aber du setzt hier doch ein bloßes Faktum voraus: die Tatsache, daß ein Wesen die
Potentialität besitzt, Ansprüche haben oder anmelden zu können.
P:
Sieh doch! Eben diese Tatsache ist nicht irgendeine Zufälligkeit, welche deiner und
meiner Fähigkeit, zu denken, zu urteilen und moralisch zu handeln äußerlich wäre.
Vielmehr ist sie eine interne Voraussetzung dafür: die Bedingung der Möglichkeit,
überhaupt Normen bilden zu können, moralische Erwägungen anzustellen usw.
Also ist die in der Menschengattung biologisch angelegte Potentialität, Ansprüche zu
haben und diese zu äußern, was ja auch der Taubstumme kann, eine
Existenzbedingung der Moral, jeder möglichen Norm, jeder möglichen Erörterung und
Erkenntnis von Normen. Die Anlage zur Diskursfähigkeit ist eben kein kontingentes
Faktum, sie gehört selbst zur Möglichkeit der Moral – ontologisch und logisch.
O:
Du meinst, sie gehöre ontologisch dazu, weil sie die Existenzbedingung von Moral,
von Normen und einer Normendiskussion ist?
P:
Genau. Zudem ist der Begriff der Diskursfähigkeit logisch verwoben mit den
Begriffen ‚Moral‘, ‚Norm‘ etc.
116
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
O:
Wie das?
P:
Überlege doch: Würde deine Rede von Moral und Normen irgendeinen Sinn ergeben,
wenn du dabei nicht voraussetzen könntest und vorausgesetzt hättest, daß die
Adressaten der Moral oder einer Norm – auch du selbst, der du davon redest – die
Anlage zur Diskursfähigkeit mitbrächten?
O:
Nein. Wenn wir diese Existenzbedingung nicht als Sinnvoraussetzung unserer
möglichen Rede von Normen, Moral usw. ins Spiel gebracht hätten, liefe diese unsere
Rede leer. Sie bliebe unverständlich. Und daher, so geht das diskurspragmatische
Argument, gehört die Annahme dieser Fähigkeit selbst zum Begriff von Moral, Norm
etc.?
P:
Exakt. Damit aber nicht genug. Denn die biologisch vorgegebene Diskursfähigkeit ist
weder die einzige noch die ausschlaggebende Voraussetzung. Und als ein Faktum darf
sie das auch nicht sein.
O:
Allerdings nicht; denn was wir benötigen, ist der Grund für eine Verbindlichkeit, wie
Kant sagt, also für eine prinzipielle Verpflichtung.
P:
Genau. Und den haben wir auch. Wir haben einen einsichtigen Grund, der uns
moralisch von vornherein verpflichtet. Es ist ein gar nicht sinnvoll bezweifelbarer
Geltungsgrund. Er gilt absolut.
O:
Nur, woher nehmen wir einen solchen starken Grund?
P:
Die allgemein einsehbaren, daher allgemein verbindlichen Gründe für eine unbedingte
Verpflichtung
kommen
aus
unserem
praktischen
Vorwissen,
das
wir
als
Diskurspartner mitbringen. Denn dessen mögliche Wahrheit können wir durch
Reflexion auf interne Voraussetzungen des Diskurses, auf dessen normative
Sinnbedingungen, prüfen bzw. validieren.
117
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
O:
11.12.2009
Und eine dieser Sinnbedingungen, dieser Diskursnormen, wäre die Verpflichtung, die
Würde aller anderen möglichen Diskursteilnehmer zu achten, also zumindest die
Würde aller menschlichen Wesen?
P:
Ja. Und weil das eine Diskursnorm ist, ist es zugleich eine Norm, die für die Praxis
verpflichtend ist. Das gehört zu unserem Verpflichtungswissen als Diskursteilnehmer.
O:
Diskurspartner jedoch, die den Verpflichtungsgehalt dieses Wissens bezweifeln,
bringen einen sinnlosen Diskursbeitrag vor, weil sie sich dadurch zu dem
grundlegenden Glaubwürdigkeitsanspruch in Widerspruch setzen, den sie durch
Übernahme der Diskurspartnerrolle erhoben haben. Das heißt, daß sie durch diesen
Zweifel ihre eigene Glaubwürdigkeit als Diskurspartner erschüttern? Verhält es sich
so?
P:
So ist es.
O:
Dann habe ich verstanden. Der Menschenwürdegrundsatz läßt sich als verbindlich
erweisen, läßt sich letztbegründen durch Reflexion auf den argumentativen Diskurs im
Dialog mit dem Zweifler.
118
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
7
11.12.2009
Die Grundnorm Achtung der Menschenwürde im Streit um ‚verbrauchende
Embryonenforschung’ und PID.
Nun haben wir – hoffentlich – erwiesen, daß dem Menschenwürdegrundsatz absolute
Verbindlichkeit zukommt. Doch wie weit diese reicht, welche Wesen also unter seinen Schutz
fallen, bleibt noch zu klären. Hilft das Jonassche Gedankenexperiment der Wette, das zur
Verantwortung für menschliches Leben verpflichtet, in dieser Sache weiter? Es liegt nahe,
diese Argumentation auf die Problematik der Präimplantationsdiagnostik (PID) und
‚verbrauchender Forschung‘ an embryonalen menschlichen Stammzellen anzuwenden.
Ein solcher Anwendungsversuch zeigt zunächst dieses: Wenn gilt, daß die genannten
Technologien bzw. Forschungstätigkeiten das Ganze der möglichen künftigen Interessen der
von ihnen betroffenen Embryonen aufs Spiel setzen, ohne daß sie zur Rettung der Menschheit
beitragen, dann sind sie moralisch nicht zu rechtfertigen. So weit so gut. Allerdings wird ein
umsichtiger Kritiker sich gleich zu Wort melden. Drängt sich hier doch, wie Jens Peter Brune
in einem Colloquium des Hans Jonas-Zentrums bemerkte, der Einwand auf, daß die
umstandslose Anwendung des Gedankenexperiments zum Zweck der Überprüfung von PID
und ‚verbrauchender Embryonenforschung‘ das eigentliche Problem überspringe. Denn in der
öffentlichen ethischen Diskussion ist es gerade umstritten, ob Jonas’ Kriterium der
Berücksichtigung und Hütung des Ganzen der betroffenen Interessen auch auf die künftigen
Interessen von Embryonen, einschließlich der Embryonen „in vitro“ unbedingt anzuwenden
sei. Der Streit geht ja darum, ob Embryonen ein moralischer Status mit Anspruch auf
Menschenwürde etc. zukomme. Und dieser Streit ist umso tiefer, als bereits über die Frage
nach dem Anfang menschlichen Lebens im öffentlichen Diskurs Dissens besteht.
Wenn aus guten Gründen über den Gegenstandsbereich der Verantwortung Uneinigkeit
herrscht, dann hilft Jonas’ Verantwortungsbegriff, der sich ganz auf den Gegenstand der
Verantwortung konzentriert und sich mit der schwachen Argumentationskraft eines
metaphysischen Glaubens auf einen motivationsfähigen Wert des Seins verläßt, nicht weiter.
Eine metaphysische Theorie, die dem Leben, zuhöchst dem menschlichen Leben, Seinswürde
und Schutzanspruch zuschreibt, also an eine „Ehrfurcht vor dem Leben“ (Albert Schweitzer)
appelliert, begründet hier letztlich nichts. Sie artikuliert nur den eigenen Wert- und NormenStandpunkt, eine schon mitgebrachte Motivation. Auch eine Differenzierung der Motivation
durch Entfaltung von ethischen Intuitionen führt kaum weiter, da der Skeptiker deren
universale Verbindlichkeit (für diesen Fall) in Zweifel ziehen dürfte.
119
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
Was wir an diesem Dissenspunkt benötigen, ist ein Verbindlichkeitserweis, der den
Andersmeinenden
und
den
argumentationsbereiten
Skeptiker
einbezieht
und
die
Gegenargumente entkräftet. Für die Begründungsarbeit würde das zweierlei bedeuten:
Erforderlich ist – erstens – ein nicht-metaphysischer und nicht-intuitionistischer Weg.
Schließlich kann jede metaphysische oder intuitionistische Theorie vom Skeptiker mit Recht
als fallibel gekennzeichnet werden; und dieser schwache Status macht sie unfähig zur
Allgemeinverbindlichkeit, die hier vonnöten ist. Das hat auch Hans Jonas eingeräumt, als er
feststellte, seine ontologische Begründung des „Prinzip Verantwortung“ stelle bloß „eine
Option [...] zur Wahl“.147
Zudem darf – das ist das zweite logische Erfordernis – der Argumentationsweg nicht deduktiv
sein. Denn alle Ableitungen einer moralischen, also verbindlichen, Sollensvorschrift verlieren
sich in der Ausweglosigkeit eines Begründungstrilemmas, wie Hans Albert nachdrücklich in
Erinnerung gebracht hat.148 Was bleibt, ist eine sinnkritisch sokratische Besinnung darauf, daß
auch der Skeptiker mit seinem Etwas-Bezweifeln jeweils schon in einem argumentativen
Dialog mit Anderen ist und daß er in diesem Dialog die eigene Zweifelsthese müßte verantworten können.
Hier kommt wieder der in der Umgangssprache verwurzelte Tätigkeitsbegriff der
Verantwortung ins Spiel, der bei Jonas keine Erwähnung findet, obwohl er sich implizit
darauf stützt: Verantwortung als ein Sich für die eigene These bzw. Zweifelsbehauptung
Verantworten. Dieser responsorische Verantwortungsbegriff steht bei Sokrates im
Hintergrund, er findet sich mehr oder weniger bei Wilhelm v. Humboldt und dem frühen Karl
Löwith. Jonas zehrt zwar an wichtigen Stellen von ihm149, holt ihn jedoch nicht in seinen
primär gegenstandsorientierten phänomenologischen Denkansatz ein.
Die
sokratisch-postkantianische
Diskurspragmatik
rekonstruiert
zunächst
das
Beziehungsgeflecht des Sich-Verantwortens als sechsstelliges Verhältnis des Rede-undAntwort-Stehens: Eine Person (1) legt durch Dialogbeiträge (2) Rechenschaft ab über eine
Handlung (3) und deren Wirkung (4); nämlich gegenüber (realen oder möglichen) Anderen
(5)
und
kraft
ihrer
Geltungsansprüche
vor
der
Instanz
einer
unbegrenzten
147
H. Jonas, Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik, in: ders., Philosophische
Untersuchungen, 1992, S. 140. Vgl. Jonas’ selbstkritische Äußerung in: E.Z., S. 39.
148
Vgl. H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1968. S. 11-15; W. Kuhlmann, Ist eine
philosophische Letztbegründung moralischer Normen möglich?, in: Funkkolleg Studientexte, Bd. 2, S. 572605.
149
Z.B. TME, S. 200. Ferner: H. Jonas, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität? Das Leib-Seele-Problem
im Vorfeld des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1981, Einleitung, S. 13-18. Dazu Böhler, „Ethik der
Zukunfts- und Lebensverantwortung“, in: Böhler/Brune, 2004, S. 97-160.
120
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
Argumentationsgemeinschaft (6). Dieses sechsstellige dialogbezogene Verhältnis ermöglicht
jeweils ‚meine’ Selbsteinholung als eines Diskurspartners.
Nun ist, wie wir inzwischen wissen, der Witz der sokratisch-dialogreflexiven Begründung
dieser: Bei sich selbst als jetzt Denkendem, als Diskursteilnehmer ansetzend, besinnt man sich
darauf, daß man selbst mit seinem Zweifel einen Dialogbeitrag gegenüber anderen als
Partnern im argumentativen Dialog geltend macht bzw. gemacht hat. So geht man reflexiv auf
das zurück, was beide Seiten, die ja als Diskurspartner ernst genommen sein wollen, in
Anspruch nehmen müssen – nämlich, daß sie sich als irrtumsfähige Menschen für ihr Projekt
im Dialog der Argumente verantworten können. Durch eine solche Besinnung sowohl auf den
Diskurs als auch auf ‚mich‘ und ‚dich‘ als Partner in einem Diskurs kann die
Diskurspragmatik dem Metaphysiker Jonas beispringen, kann sie seine moralphilosophische
Absicht fundieren.
Wie? Die Diskurspragmatik macht mit der von ihm eingeklagten „Anerkennung der
Unwissenheit“ im Diskurs ernst. Sie bezieht nämlich diese Anerkennung so auf die offene
Frage nach dem moralischen Status von Embryonen, daß die Antwort mit ihrer (nun
anerkannten) Fallibilität von Situationseinschätzungen und konkreten Diskursen moralisch
vereinbar ist: Wer etwas behauptet und sich damit anderen gegenüber rechtfertigen will, ist
einsehbar und unbestreitbar dazu verpflichtet, die Möglichkeit der Rechtfertigung zu
bewahren, d.h. die Möglichkeit einer Verantwortung vor dem Handeln als die Möglichkeit,
sich mit Argumenten dialogförmig für ein Projekt oder eine These zu verantworten. Das aber
heißt,
er
ist
zunächst
gehalten,
„das
Ganze
der
Interessen“
von
(möglichen)
Anspruchssubjekten nicht aufs Spiel zu setzen, sondern deren Rechte im Diskurs zu
berücksichtigen. Und letztlich ist er verpflichtet, die zugleich normative und ontologische
Idee des Menschen, welche nicht allein die Bewahrung der Gattungsexistenz sondern auch die
Hütung von Menschenwürde und Moralfähigkeit einschließt, in seinen Entscheidungen zur
Geltung zu bringen.
Solange wir nicht mit Sicherheit ausschließen können, daß gravierende moralische Einwände
gegen eine Handlungsweise möglich sind – etwa aus der Perspektive von Embryonen, deren
moralischer Status jetzt faktisch noch offen sein mag –, gilt i.S. von Jonas’ „Heuristik der
Furcht“ die Vorsichtsregel des „Vorrangs der schlechten vor der guten Prognose“.150 Und
geltungslogisch stärker: Genau so lange stehen wir, die wir zugleich Akteure und (mögliche)
Diskurspartner sind, unter der Diskursverpflichtung, den Rechtfertigungsdialog und das
150
Vgl. H. Jonas, PV, S. 63 f., 70 ff., vgl. 66 ff.
121
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
Irrenkönnen in concreto ernst zu nehmen, statt in eine folgenirreversible Handlungsweise, die
nicht irren dürfte, weil ihr Fehlschlag absolut unverantwortbar, also moralisch verwerflich
wäre, direkt und revisionsunfähig überzugehen. Mithin gilt: Im Zweifel für die Verantwortung
als Sich-im-Dialog-Verantworten-Können. Ergo im Zweifel für das Leben und die
Menschenwürde.
Diese Pflicht zur Vorsicht beim Sich-im-Dialog-Verantworten und vor dem Machen erstreckt
sich auch auf den, faktisch noch umstrittenen, moralischen Status menschlicher Embryonen.
Mit Blick auf Jonas’ Gedankenexperiment über die Wette im technologischen Handeln ergibt
sich dieser Verbindlichkeitserweis:
− (Moralisch:) Eine Technologie, deren Einsatz mit dem Risiko verbunden ist, das Ganze
der möglichen Interessen moralisch anspruchsberechtigter Wesen aufs Spiel zu setzen,
ohne dadurch zur Rettung der Menschheit beizutragen, ist moralisch nicht zu
verantworten.
− (Realistisch:) PID und ‚verbrauchende Embryonenforschung‘ setzen das Leben von
Menschen-Embryonen aufs Spiel, ohne zur Rettung der Menschheit beizutragen.
− (Skeptisch:) Zwar akzeptieren gemeinhin sowohl die Befürworter als auch (naturgemäß)
die Gegner von PID und ‚verbrauchender Embryonenforschung’ das Prinzip der zu
achtenden Menschenwürde. Ob jedoch Embryonen moralisch anspruchsberechtigte
Wesen sind und daher den (vollen) Menschenwürdeschutz beanspruchen können, ist noch
nicht eindeutig geklärt und faktisch umstritten (faktischer Dissens, faktisches Unwissen
im öffentlichen Diskurs).
− (Dialog-reflexiv:) Solange nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, daß
gravierende moralische Einwände gegen eine Handlungsweise möglich sind, vor allem,
daß eine Handlungsweise gegen das Prinzip der zu achtenden Menschenwürde verstößt,
bleibt die Diskursflicht in Kraft, die Instanz des argumentativen Dialogs und die
Irrtumsfähigkeit in konkreten Fragen ernst zu nehmen, statt eine folgenirreversible, nicht
irren dürfende Handlungsweise zu wählen.
Folglich gilt: Im Zweifel für das Leben und für die Nichtverfügbarkeit von Embryonen.
Indem ‚wir‘ – z.B. mit dieser Argumentation – zwar die Streitsache selbst offen lassen, uns
aber auf unsere Rollenpflichten im Diskurs besinnen, erkennen wir als Diskurspartner das,
was ‚wir‘ absolut nicht dürfen – absolut nicht, solange ein Sachstreit besteht, in dem das
menschliche Ganze auf dem Spiele steht bzw. stehen kann. Denn die Achtung der
Menschenwürde ist ein unbedingtes Prinzip. Es gebietet, menschliches Leben als „Zweck an
122
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11.12.2009
sich selbst“ (Kant) zu achten, mithin jegliche Instrumentalisierung dessen zu unterlassen.151
Eine solche hat man freilich schon begonnen, wenn man hier bloß, wie es zeitgeist- und
politiküblich geworden ist, im landläufigen Sinne ‚pragmatisch‘ verfährt: statt streng zu
argumentieren, vermischt man entweder die argumentationstragende Besinnung auf die
Verantwortungsbedingungen von Argumentationspartnern sofort mit einer Kalkulation von
Nutzen und Nachteil hinsichtlich besonderer Interessen, oder man springt gleich in ein solches
Nutzenkalkül, das die Vernunft zusammen mit der Moral erledigt.
Für Klarheit, Strenge und Verantwortbarkeit einzustehen, ist des Denkens Pflicht. Ohne eine
Wachsamkeit über jene Prinzipien, die auch das Denken tragen, verkäme es selbst – und
damit die Menschenwürde, welche die Denkenden je schon in Anspruch genommen haben
und welche sie als unbezweifelbare Verpflichtung einholen können. Es gilt heute mehr denn
je, sie als Prinzip zu hüten und in ihrer Unbedingtheit zu achten.
151
Kant, GMS, AA, S.428f.: Aus der „Vorstellung dessen, was notwendig für jedermann Zweck ist, weil es
Zweck an sich selbst ist“, mithin „ein objektives Prinzip des Willens ausmacht“, so daß es zum „allgemeinen
praktischen Gesetz dienen kann“, leitet Kant die materiale Formel des kategorischen Imperativs ab. Diese
nennt er „den praktischen Imperativ“: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der
Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“
123
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
III Zukunftsverantwortung und Atomenergie
Die Kapitel des Teils „Zukunftsverantwortung und Atomenergie“ …
1
Mit Jonas gegen Jonas: Gedankenexperiment der Wette versus „pragmatische“
Einstellung zur Atomenergie
2
Atomkraft als verantwortungsethische Notwendigkeitsstrategie?
3
Spaemanns metaphysisch wertethisches Verdikt über die Atomenergie diskursiv
eingeholt
4
Dialogpragmatische Kohärenzprüfung als kurzer Verantwortungsdiskurs. Keine
Zukunftsverantwortung mit Atomkraft
… sind aus urheberrechtlichen Gründen nicht Teil der frei zugänglichen Version der
Vorlesung. Sie können nachgelesen werden in:
Dietrich Böhler, Zukunftsverantwortung in globaler Perspektive, Bad Homburg 2009
im Kapitel 2: Zukunftsverantwortung und Atomenergie, S. 39-69.
124
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
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IV Idee des Diskurses und moralische Urteilsstufen.
Systematische und historische Grundlagen.
1 „Wo bist du?“
„Wo bist du?“ So läßt in der hebräischen Bibel der jahwistische Erzähler Gott, den Schöpfer,
Adam, den Menschen anrufen (1. Mose 3, 9), als dieser sich dem Dialog mit ihm entzogen
und sich schließlich vor ihm verborgen hatte – wissend, daß er Gottes Verbot mißachtet hatte.
Nach 1918 wurde diese Frage eher am Rande der Philosophie, aber in emphatischer Kritik des
methodischen und z. T. ontologischen Solipsismus, den ihre neuzeitlichen Hauptströmungen
von Descartes über Kant und Fichte bis Husserl verkörpert hatten, zum Losungswort Franz
Rosenzweigs und Martin Bubers. In der geradezu „vesuvischen“ Krisis nach dem brutal und
hochtechnisch geführten europäischen Bruderkrieg von 1914-1918152 suchten die beiden
biblisch jüdisch inspirierten Denker – Rosenzweig war auch durch den Neukantianismus
Hermann Cohens hindurchgegangen und mit Heideggers Faktizitätsanalyse des menschlichen
Daseins vertraut – vor allem zweierlei: einen Ansatz diesseits der transzendentalen
Subjektivitätsphilosophie, diesseits ihrer „Lehre von der Konstitution der Welt aus der
Subjektivität“153, und einen „Mythos des Ich und Du, des Berufenen und des Berufenden, des
Endlichen, der ins Unendliche eingeht, und des Unendlichen, der des Endlichen bedarf.“154
Nicht in dem vorgenannten Sinne, weder existentiell noch religiös sei die Frage hier gestellt.
Vielmehr soll sie anthropologisch und sprachbezogen, von einer ersten Person zu der
angeredeten zweiten Person gefragt, das in den Lebensaktivitäten meist unbemerkte,
zwiefältige elementare Verhältnis erschließen, welches wir Menschen von vornherein in der
Welt und zu uns selbst unterhalten. Gefragt sei, wo wir uns (logisch unvermeidlicherweise)
immer schon befinden: wir Menschen, jeder ein „Du“ und ein „Ich“, das sich sprechend bzw.
handelnd zu „etwas“, dem Thema seiner möglichen Rede, verhält. Wo sind wir? Offenbar
sind w einerseits immer schon in Situationen, die wir, sofern wir noch oder schon oder schon
wieder bei Bewußtsein sind, als etwas Bestimmbares oder Bestimmtes verstehen, indem wir
uns zu ihnen verhalten. Andererseits aber sind wir zugleich in einem gewissen
Selbstverhältnis, insofern wir zu unseren Verhaltensweisen, unseren Handlungen Stellung
152
Vgl. Martin Bubers Nachwort: Zur Geschichte des dialogischen Prinzips, in: Ders., Das dialogische Prinzip,
Heidelberg 1973, S. 301ff., bes. S. 304-310.
153
Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin 1965, S. 246.
154
M. Buber, a. a. O. , S. 307 (Selbstzitat aus Buber, Die Legende des Baalschem, 1907).
125
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11.12.2009
nehmen können. Beides zusammen genommen, bildet unser ursprüngliches In-der-Welt-sein.
Dieses hat immer zwei einander wechselseitig bedingende Elemente, ein primär semantisches
und ein vorzüglich pragmatisches: Die bedeutungstragende Beziehung auf die jeweilige
Situation unseres Etwas-Erlebens bzw. Etwas-Tuns und, dieser schon zugehörig, unsere
ebenso sprachlich verstehende wie beurteilende bzw. bewertende Stellungnahme – so
unausdrücklich, ja unvermerkt diese auch sein mag. Ohne Situationsbezug wäre unser Dasein
bedeutungsleer; ohne möglichen Rückbezug, ohne begleitenkönnende Stellungnahme, bliebe
es orientierungsblind.
Die hier gestellte Wo bist du?-Frage ist mithin sprach- und erkenntnisanthropologischer Art.
Der Versuch, sie zu beantworten, führt zunächst in eine „Rekonstruktive Pragmatik“.155 Deren
Auskunft ist zweistufig und lautet grob:
Du bist immer schon in verstandenen Situationen bzw. im Handeln als einem Antworten auf
verstandene Situationen, also in einem quasi-dialogischen Bezug auf Situationen (a).
Dieses Quasi-Dialogische manifestiert sich darin, daß du in einem Begleitdiskurs zu deiner
Handlung mit Geltungsansprüchen Stellung nehmen kannst (b).
Insofern besagt die ganze Antwort: Du bist immer schon sowohl in verstandenen Situationen
und tendenziellen Handlungen als auch in einem impliziten, doch grundsätzlich
explizierbaren, Begleitdiskurs.
Vergleichen wir diesen Ansatz einer philosophischen Pragmatik mit dem Rückgriff der
„Dialogiker“ auf das biblische Angeredetwerden Adams durch seinen Schöpfer, so zeigen
sich Analogie und Differenz. Denn eine sprachpragmatische Rekonstruktion des In-der-Weltseins fragt weder existentiell nach der Mensch-Gott-Beziehung, noch untersucht sie die IchDu-Beziehung als Begegnung.156 Wohl aber bildet auch hier wie dort das Zugleich der
Erfahrung von Welt und Miteinandersprechen samt Aufsichzurückgehenkönnen, insofern die
Gleichursprünglichkeit von „Teilnahme am Sein“ und „Du-Sagen des Ich“, den
Ausgangspunkt der Überlegungen. Und beide Ansätze suchen letztlich nach Verbindlichkeit
ohne daß freilich die transzendental fragende Pragmatik eine Glaubensentscheidung
voraussetzte oder geltend machte: die Entscheidung, sich als von Gott angerufen zu verstehen.
Die Suche nach Verbindlichkeit führt jedoch über eine bloße Rekonstruktion hinaus, weil ein
Skeptiker deren Ergebnissen mit dem Fallibilismusvorbehalt begegnen kann. Und dann
155
D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion:
Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie. Frankfurt a. M. 1985, V. Kapitel.
156
Dazu: M. Theunissen, op. cit.
126
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
kommt die »Wo bist du?«-Frage geltungslogisch zum Zuge. Dann wird nämlich der Skeptiker
ebenso wie die anderen Diskursteilnehmer gefragt, ob seine Skepsis gegenüber einem
bestimmten normativen Gehalt der sprachpragmatischen Rekonstruktion verträglich ist mit
den normativen Gehalten seiner Diskurspartnerrolle. Sofern die philosophische Pragmatik
also auf eine Verbindlichkeit abzielt, muß ihre theoretische Erkenntniseinstellung zugunsten
einer aktuell reflexiven Einstellung verlassen werden. Denn nicht durch eine theorieförmige
Explikation läßt sich Einsicht in Verbindlichkeit gewinnen, sondern allein durch die, im
Streitgespräch mit dem Skeptiker zu vollziehende, Besinnung auf das Wechselverhältnis von
Situation und Begleitdiskurs, insbesondere aber auf die Sinnbedingungen des Diskurses
selbst. Einzig hier lassen sich unwiderlegbare Argumente finden.
Es ist gut möglich, daß sich unter Ihnen mittlerweile Widerspruch regt und das in der
Kapitelüberschrift angefragte „Du“ kritisch zu Wort kommen will. Vielleicht, geneigte
Leserin, geneigter Leser, würden Sie hier – als Opponentin bzw. Opponent "O" – etwa diesen
Einwand machen und dadurch folgenden Dialog mit mir als Proponenten „P“ eröffnen:
O: In der Lebenswelt befinde ich mich keineswegs von vornherein in einem Diskurs,
sondern in mancherlei Tätigkeiten. Und darunter sind auch solche, die sich ohne
Kommunikation und stumm vollziehen lassen. Zum Beispiel: wenn ich angle oder wenn
ich rechne, dann pflege ich zu schweigen und keinen Diskurs zu führen.
P: Abgesehen davon, daß du auch dann in gewisser Weise kommunizierst, wenn du stumm
bleibst aber doch etwas Bedeutsames tust, indem du Sprachzeichen und Begriffe einer
Sprache beim Tun gebrauchst oder sie als Sinnhintergrund deiner Handlungsweise
voraussetzt, – also davon ganz abgesehen, triffst du mit diesen Beispielen nicht ins
Schwarze. Es sind keine wirklichen Gegenbeispiele zu meiner These, daß du auch in der
Lebenswelt, zugleich immer schon im Diskurs bist.
O: Nanu, das sollte mich wundern!
P: Was du vorbringst, stimmt zwar auf den ersten Blick; doch auf den zweiten stimmt es
allenfalls 'zur Hälfte'. Denn auch wenn du angelst, mußt du dich fragen können, ob du es
jeweils richtig oder erfolgversprechend usw. anstellst, so wie du es gerade (und an dieser
Stelle, zu dieser Zeit, mit diesem Gerät usw.) machst; also mußt du mit dir in eine
Überlegung, einen Diskurs über dein jeweiliges Angelverhalten treten können. Und du
127
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
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mußt diesen deinen Begleitdiskurs mit guten Gründen bestreiten; d.h. mit solchen, denen
auch die anderen kompetenten Angler beistimmen würden.
O: Hm. Das hört sich plausibel an. Aber was, bitte, ist mit dem Rechnen?
P: Für das Rechnen gilt das gleiche. Auch hier mußt du dich fragen können, ob du es richtig
machst, und mußt dir diese Frage beantworten können; und zwar so, daß die
Rechenmeister dir beipflichten können. Auch wenn du, ohne dabei ein Wort zu verlieren,
demonstrierst, daß du den Rechenregeln wirklich folgst, führst du einen Diskurs und löst
durch dein 'Es Vormachen und die Probe Machen' den Geltungsanspruch deiner
Rechenhandlungen ein.
O: Das würde aber bedeuten, daß man nicht immer schon 'im Diskurs ist', sondern in einer
bestimmten (auch Regeln folgenden) Tätigkeit bzw. Praxis, und daß man zu dieser auch
einen Diskurs führen können muß. Also wäre man zuallererst in der Praxis. Müßte
demnach nicht die Praxis der Ausgangspunkt einer Grundlegung der Philosophie sein
anstelle des Diskurses?
P: In gewisser Hinsicht ist der Ausgangspunkt, den ich vorschlage, auch die Praxis: die
Praxis mit Hinsicht auf den Diskurs; oder andersherum: der Diskurs als Begleitphänomen
der Praxis, ohne das eine Praxis gar nicht möglich wäre. Keine Praxis ohne
aktualisierbaren Begleitdiskurs! Er ist die Bedingung der Möglichkeit einer Praxis. Denn
eine Praxis mußt du dir erschließen und aneignen, zudem mußt du deinen Vollzug der
Praxis kontrollieren und kritisieren können usw.
O: Aber ich bin ja nicht immer in einer Praxis, sondern ruhe mich vielleicht aus, betrachte
etwas, meditiere vielleicht, bin in einer Stimmung oder in einer Leidenschaft, oder mir
passiert wer weiß was … Dann gibt es auch keinen Diskurs.
P: Nun, wenn du eine Praxis vollziehst und wenn es 'klappt', dann benötigst du freilich
keinen Diskurs. Aber du hast ihn als Möglichkeit stets in petto; er ist die
geltungsrelevante Hintergrundserfüllung deiner Praxis. Analog verhält es sich mit allen
anderen Verhaltensweisen – und auch Widerfahrnisse sind solche, solange du sie erleben
bzw. später darüber reden und dich somit in ein Verhältnis dazu setzen kannst. Und
128
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11.12.2009
genau das hast du soeben ansatzweise bereits getan, indem du solche Begebnisse
sprachlich ausgedrückt und als etwas charakterisiert hast, das dir widerfahren kann ('ich
bin in einer Stimmung oder in einer Leidenschaft, oder mir passiert etwas'), oder indem
du sie als etwas bestimmt hast, was du selber unternimmst wie eine Meditation. Du selbst
hast diese Beispiele schon als Verhaltensweisen charakterisiert, an die sich Diskurse
anschließen lassen; und zwar von innen, aus der Perspektive der Betroffenen. Denn diese
erfahren ein Widerfahrnis nur insofern und handeln selbst nur insofern, als sie sich,
Stellung nehmend, zu diesem Begebnis oder zu ihrer Aktion verhalten. Dieses Stellung
nehmende Sich Verhalten ist bereits ein Begleitdiskurs.
O: Ist das der Grund für deine These, wir seien immer schon zugleich im Diskurs?
P: Ja, da kein Erlebnis und keine Handlung ohne eine mögliche Stellungnahme denkbar ist,
trifft es zu, daß wir entweder jeweils zugleich im Diskurs sind oder betreffbar und
befragbar sind als Diskursteilnehmer. Der Diskurs ist das ständige Begleitphänomen
unseres Lebens, der Ort des Verstehens, des Sich-Verstehens und des EtwasVerantwortens bzw. Rechtfertigens.
129
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1.1
11.12.2009
Sokratische Dialogreflexion. Begründungsweg der Berliner Diskurspragmatik
Die Begründung der Diskursethik hat, jedenfalls im Rahmen der Berliner Diskurspragmatik,
in den letzten zehn Jahren eine Wende zur Dialogreflexion vollzogen.157 Die Pointe steckt in
folgendem.
1) Zuallererst wird die Verwobenheit von Erlebnis bzw. Handlung und Diskurs mit
Geltungsansprüchen dargetan, indem dieser als unbezweifelbares Begleitphänomen
menschlicher Regungen aufgewiesen wird, als Begleitdiskurs. Dieser Begriff und die
zugrundeliegende Einsicht in dessen Unhintergehbarkeit ergibt sich, wenn man – das ist das
2)
Zweite
–
die
alltäglich
und
wissenschaftlich
dominante
Einstellung
einer
sachkonzentrierten Aufmerksamkeit und Betrachtung von etwas als etwas verläßt und sie
ergänzt durch eine komplementäre reflexive Einstellung des Sich Befragens: die Besinnung
auf die internen Voraussetzungen des Etwas als etwas-Erlebens bzw. des Etwas als etwas (in
bezug auf eine Situation und mit Blick auf einen Zweck)-Tuns, die der Handlungsweise erst
ihren Sinn geben. Diese Sinnbedingungen einer Handlung sind
aber zugleich die des
Begleitdiskurses: Keine Handlung ohne Begleitdiskurs.
Genaugenommen, ist diese Besinnung freilich ein Zwitter: teils reflexiv und teils betrachtend.
In betrachtend analytischer Haltung – terminologisch wird von „theoretischer Einstellung“
gesprochen – versucht der so Fragende die notwendigen Sinnvoraussetzungen eines (Begleit-)
Diskurses ja aufzudecken und zu erläutern. Diese gewissermaßen rekonstruktive Leistung ist
aber wie alle möglichen theoretischen Leistungen, perspektivisch interpretierend; und das
macht ihre Ergebnisse fallibel.
3) In einem dritten Schritt unterscheidet die Diskurspragmatik demgemäß streng zwischen der
Rekonstruktion, die früher von den Transzendentalpragmatikern mit der eigentlichen oder
strikten
Reflexion
fast
zusammengeworfen
wurde,
und
der
eigentlichen
Begründungsreflexion. Sie wird folgendermaßen neu bestimmt:
(a) als sokratisch sinnkritische Konfrontation der Rolle eines Diskursteilnehmers mit
einer von ihm bezweifelten Sinnbedingung des Diskurses, d.h. seiner Zweifelsthese,
(b) als der ausschließlich beweisfähige, einzig und allein gültigkeitsverbürgende
Begründungszug (Letztbegründung als Gültigkeits- und Verbindlichkeitserweis durch
Reflexion in einem Dialog auf Präsuppositionen des Diskurses),
157
Darüber berichtet Horst Gronke in: Die Praxis der Reflexion, in: H. Burckhart und H. Gronke: Philosophieren
aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik. Würzburg 2002, S. 21-44, bes. S. 38ff.
130
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11.12.2009
(c) als Besinnung von Diskursteilnehmern darauf, was sie tun müssen, um ein
glaubwürdiger Diskurspartner zu werden; was es nämlich heißt, diskurskonstitutiven
Verpflichtungen der Rolle eines Partners in einem Dialog der Argumente gerecht zu
werden.
4) Erst wenn diese Begründungsschritte getan und die zugehörigen Begriffe gewonnen bzw.
dialogreflexiv gesichert worden sind, kommt – als vierte Einsicht – die „zweigestufte
Systemidee“ ins Spiel, welche den Transzendentalpragmatikern anfänglich als Ansatz
vorgeschwebt hatte:158 Reflexive Letztbegründung des Moralprinzips und alsdann praktische
Diskurse; jedoch wird das Prinzip ‚D’ jetzt zugleich als Handlungsprinzip eingeführt. Der
fünfte
Schritt
besteht
nunmehr
in
dieser
Einsicht:
Den
Kerngehalt
jener
Diskurspräsuppositionen, deren Gültigkeit und Verbindlichkeit sich nicht ohne pragmatischen
Widerspruch in Zweifel ziehen lassen, bildet das Dialogmoralprinzip ‚D’, das zugleich
regulatives Handlungsprinzip ist:159 ›Bemüht euch jeweils um eine Argumentation und eine
Handlungsweise, die die begründete Zustimmung aller (als Diskurspartner) verdienen.‹ (‚D’)
5) Das Prinzip ‚D’ ist also die oberste regulative Diskursidee, das grundlegende
Geltungskriterium für Diskurse – zugleich aber das oberste regulative Handlungsprinzip:
Grundnorm für Praxis und Sich-Verhalten. So begründet und so verstanden, bildet es – das ist
die fünfte Systemeinsicht der Diskurspragmatik – den zugleich geltungslogisch und moralisch
verbindlichen Rahmen für situationsbezogene „praktische Diskurse“, in denen die rationale,
allerdings fallible Begründung konkreter Normen für eine jeweilige Situation zu leisten
wäre.160
Ist dieser Begründungsgang, so mögen Sie, geneigte Leser, hier einwerfen, nun ausschließlich
von geltungslogischer Bedeutung, ein Beweisverfahren und Begründungsverfahren für
Normen? Wo blieben dann wir in der Lebenswelt und Alltagspraxis, die eine Motivation
suchen oder doch deren Klärung und Präzisierung? Wir bringen ja aus unserer Lebenswelt
und Sozialisation schon ethische Intuitionen mit, spüren aber, es sei klärungsbedürftig,
wonach wir letztlich streben, was wir eigentlich wollen und was jeweils konkret das Gute sei,
158
Vgl. meine Ableitung und Konkretion von ‚D’ in: Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung:
Hans Jonas und die Dialogethik – Perspektiven gegen den Zeitgeist, in: Bausch, Böhler u. a. (Hrsg.),
Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft, EWD-Band 3, Münster 2000, S. 34-69, bes. S. 50ff.
159
Der dialogreflexive Neuansatz und dessen kritische Integration des transzendentalpragmatischen
Systementwurfs findet sich im Zusammenhang erstmals in meinem skeptikerkritischen Essay:
„Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik versus kulturalistische (Unternehmens-)Strategik. Besteht eine Pflicht
zur universalen Dialogverantwortung?“. In: H. Steinmann und A. G. Scherer (Hrsg.), Zwischen
Universalismus und Relativismus, Frankfurt am Main 1998, S. 126-178. Systematisch erhellend und
kontexterschließend: H. Gronke, Die Praxis der Reflexion, in: H. Burckhart und H. Gronke (Hrsg.),
Philosophieren aus dem Diskurs, Würzburg 2002, S. 21-44, bes. S. 36.
160
Gleichsam die Systemurkunde jenes Ansatzes ist das Funkkolleg „Praktische Philosophie/Ethik“ von
1980/81.
131
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also das, was der Mühe des Strebens und Handelns jeweils wert ist. Sind wir mit der Suche
nach Motivierung bei der Diskursphilosophie an der falschen Adresse? Müßten wir uns
vielleicht an die Wertethiker wenden, also nicht an die kantische sondern an die aristotelische
Tradition? Dazu folgendes Schema:
132
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Ethikformen
Tradition
Ethiktyp
Fragen
Kompetenz
(Klärung der)
Was wollen wir
aristotelisch im weiten
Sinn
teleologisch,
glücksethisch,
wertethisch
Ziel
Motivation.
eigentlich? Was ist der
Mühe wert und
Praktische Klugheit mit
wertvoll?
Zweckrationalität
Was ist das Gute bzw.
Auszeichnung von
Tugenden und Werten.
Rat für gutes Leben
(hypothetischer
das gute Leben?
Imperativ)
Einsicht in Prinzip der
Moral. Begründung
Was kann als richtig
kantisch bis
diskursphilosophisch
deontologisch,
normativ ethisch,
moralisch (i.S. Kants)
bzw. legitim gelten?
Was sollen wir wollen
und tun?
Wozu sind wir
verpflichtet?
Praktische Vernunft
letztlich aufgrund von
Dialogreflexion und
argumentativen
Dialogen, Diskursen
moralischer Normen
und Kriterien für
‚guten‘ Willen und
richtiges Handeln
(kategorischer
Imperativ). Indirekte
Motivation: „Wo bist
du?“
133
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
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In der Tat: Die Motivationsfrage ist die starke Seite der Wertethik und der AristotelesTradition, nicht die der Normenbegründung und der normativen oder deontologischen Ethik à
la Kant. So ist es auch ein streckenweise aristotelischer Wertethiker gewesen, der aber
zugleich quasi kantisch nach dem Moralprinzip fragt, der mich von der Bedeutung der
Motivationsfrage überzeugt hat: Hans Jonas. Höchst aufmerksam für die Lebens- und
Wertbedrohungen
unserer
technischen
Zivilisation,
hat
er
auch
sorgsam
den
phänomenologischen Blick auf die ethischen, zumal die naturethischen Intuitionen aus
Lebenswelt und Religion gerichtet. Tief davon beeindruckt, entwarf ich in der Laudatio zur
Ehrenpromotion der Freien Universität Berlin 1992 eine Arbeitsteilung, gewissermaßen ein
komplementäres Kooperationsverhältnis von dessen intuitionistischer Ontologie und der
Diskursphilosophie.161 Denn als intuitionsbezogene „Heuristik ist eine ontologische Wertlehre
gut für das diskursive Zusammenspiel mit einer Sollensethik geeignet: Die ontologische
Wertheuristik würde für Verantwortung empfänglich machen; die normative Ethik würde
Maßstäbe dafür aufstellen, zu welcher Verantwortung wir verpflichtet sind, und
Dialogverfahren entwickeln, um diese Maßstäbe anwendbar zu machen. Beide Seiten wären
aber
nicht
unabhängig
voneinander
anzusetzen,
um
erst
nachträglich
in
ein
Kooperationsverhältnis zu treten; vielmehr müßten sie von vornherein im Verhältnis
wechselseitiger Ergänzung und Erläuterung stehen. Dabei käme der ontologischen
Wertheuristik das inhaltliche und das Motivationsprius zu, während die Prinzipienreflexion
und die Normenbegründungsdiskurse den logischen Primat beanspruchen könnten.“162
Während Jonas besondere sittliche Intuitionen aus der Lebenswelt geltend macht, wie die der
elterlichen Fürsorge und der staatsmännischen Verantwortung, geht die sokratische
Diskursethik auf allgemeine moralkonstitutive Intuitionen und Wollensrichtungen zurück, die
sich aus dem Dialog und der Diskurspartnerrolle erschließen. Auf diese reflexive Weise
motiviert auch sie: Sie motiviert Menschen zu ihrer eigenen Identität, insofern Menschen
zugleich Akteure und Subjekte im Begleitdiskurs ihrer Handlung sind. Die sokratische
Dialogreflexion spricht uns im Begleitdiskurs an. Und hier wollen und sollen wir zugleich.
Jonas lehrt hingegen den sorgsamen Umgang mit konkreten lebensweltlichen ethischen
Intuitionen, wie ihn allein die phänomenologische Schule methodisch anleiten kann.163 Dabei
ist sein normativer Bezugspunkt das Kohärenzkriterium des Wertethikers, demzufolge der
Einklang von Person und Handlungsweise mit (verallgemeinerbaren) lebensweltlichen
161
D. Böhler, Hans Jonas – Stationen eines Denkens, in: ders., R. Neuberth (Hrsg.), Herausforderung
Zukunftsverantwortung. Hans Jonas zu Ehren. EWD-Band 1, Münster 1992 S. 27-36, hier: S. 33.
162
Ebd., S. 33.
163
H. Jonas, Philosophie. Rückschau und Vorschau am Ende des Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1993, S. 12.
134
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Verantwortungsgefühlen und paradigmatischen Verantwortungsinstitutionen (wie der
Elternschaft oder des Staatsmanns) zu einem wertvollen Leben gehöre. In diesem Sinne zielt
Jonas’ „wertethischer Diskurs auf die Explikation dessen, was wir [...] eigentlich wollen und
wozu wir als ‚eigentliche Menschen‘ motiviert sein würden.“ (Gronke) Allein, was ist das?
Lassen sich gültige Kriterien dafür erweisen? Was sollen wir vernünftigerweise wollen?
Unterminiert diese scharfe Frage nach der Prinzipienbegründung die sanfte Motivationskraft
der Kohärenzargumentation? Oder gibt es einen Ort, an dem das wohlverstandene Wollen und
das
letztbegründbare
übereinkommen?
Sollen
Indem
die
zusammenfallen,
Diskurspragmatik
wo
Motivation
den
und
Erkenntnis
transzendentalpragmatischen
Begründungsanspruch durch aktuelle Dialogreflexion einlöst,164 führt sie auf diesen Ort: den
Diskurs der sinnvollen Argumente als Dialog gleichberechtigter Partner; und damit motiviert
sie die Akteure zu ihrer Identität als Subjekten im Begleitdiskurs. Denn sie stellt vor Augen,
daß alle Menschen in ihren konkreten Begleitdiskursen zugleich etwas je Besonderes wollen
und etwas Dialogallgemeines sollen. Das ist eine indirekte Motivation: ‚Ich‘ werde nicht
direkt als Mensch mit seinen besonderen Wünschen, Interessen und sonstigen
Wertdispositionen angesprochen, d.h. als Mensch in seiner jeweiligen Situation, sondern als
Mensch, der sich darüber Rechenschaft ablegen, der zu sich Stellung nehmen und einen
Begleitdiskurs führen kann, d.h. als möglicher Diskurspartner.
Auf der Seite des Wollens bringen wir im Begleitdiskurs dadurch, daß wir etwas Besonderes,
z.B. ‚mein’ aktuelles Interesse I. geltend machen, ein Stück Freiheit ins Spiel und erkennen
dabei zugleich, auf der Sollensseite, Verantwortungspflichten an.165 Wir wollen eine
Auffassung geltend machen, wollen ein Problem lösen, wollen andere überzeugen etc. Das
aber sollen wir verständlich und wahrheitsfähig – diskutierbar – tun; dabei sollen wir die
Anderen als gleichberechtigte Partner achten, sollen ernsthaft und diskursverantwortlich mit
ihnen kooperieren. Und diese drei Dinge wissen wir: unser je besonderes Wollen, unser
diskurspartnerschaftliches Sollen und das Zugleichsein beider.
Mithin entspringt die Freiheit des Diskursteilnehmers nicht etwa allein aus dem Eigenwillen
(als Willkürfreiheit), sondern geht zumal aus dem Wissen über diese kommunikative
Interaktion und deren interne Bedingungen hervor. Es handelt sich um kommunikative
Freiheit; sie basiert auf einer reziprok-kommunikativen Erfahrung, auf die ‚meine‘ jeweiligen
164
D. Böhler, Dialogreflexive Sinnkritik als Kernstück der Transzendentalpragmatik, in: ders., Kettner,
Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, Frankfurt a.M.
2003.
165
Inwieweit man diese Pflichten konterkarieren kann, wird in den Erörterungen des offenen und verdeckten
strategischen Handelns diskutiert. Jüngst: J. P. Brune 2001, S. 100-116 und M. H. Werner 2003a.
135
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Anderen sich ‚mir‘ gegenüber berufen können. Daher ist sie moralisch von Belang und kein
bloßes kontingentes Faktum.166
In diesem Sinne sehe ich das philosophische wie überhaupt das legitimatorische A und O in
dem reflexiv sokratischen Rückgang auf die Verbindlichkeiten eines Diskurspartners. Dieser
Rückgang mündet in die Aufforderung, die immer zugleich die Selbstaufforderung eines
Diskursteilnehmers ist: >hic Rhodus, hic salta!<, oder: >sei ein glaubwürdiger Diskurspartner,
gleich in welchem Typ eines argumentativen Diskurses du dich befindest!<. Die Reichweite
dieser Aufforderung ist schlechterdings universal: Kein Denkender kann sich ihr mit guten
Gründen entziehen. Denn jeder kann wissen, daß er, was er auch tue und erlebe, zugleich dazu
Stellung nehmen kann und daß er, zumindest virtuell, auch schon dazu Stellung nimmt: mit
den Geltungsansprüchen der Wahrhaftigkeit und Verständlichkeit, der Wahrheit und der
normativen Richtigkeit. Das Geltung beanspruchende Stellungnehmen zu einem jeweiligen
Tun und Erleben, das sich von diesem nicht wegdenken läßt, ist schon Diskurs.
Auch diejenigen, die bis über den Kopf in ihrer Praxis stecken, sind zugleich virtuell in einem
Begleitdiskurs. Die Rolle des Diskurspartners begleitet alle anderen Lebensrollen und
Berufsrollen... Die sokratisch reflexive Aufforderung besagt, daß sie dieses Zugleich-Sein
ausdrücklich und konsequent praktizieren sollen – als glaubwürdige Diskurspartner.
Freilich mag sich hier folgender Einwand nachlegen: ‚Aber bleibt es nicht offen, wie der
Begleitdiskurs geführt wird? Öffnet sich hier nicht eine ganze Skala von Verhaltensweisen
und Rationalitätstypen? Und zwar von einem losgelassen zweckrational-strategischen
Erfolgskalkül, dem alle Mittel recht sind – man denke an Terroristen oder an
Spekulantengesindel in Großbanken –, bis hin zur strikt argumentativen, reziprok
dialogischen Wahrheits- und Richtigkeitssuche?‘
Ja und Nein: Sicher kann jeder versuchen, seinen Begleitdiskurs undialogisch und
unmoralisch zu führen. So ist der Mensch. Und vielleicht hat er damit empirisch auch Erfolg,
vor allem dann, wenn er durch die Systemgrenzen wirkungsmächtiger Institutionen, etwa
166
Dazu die Analyse in Böhler 1985, R.P., S. 296 ff., S. 374.
Zum ‚Faktum der Vernunft‘ ohne
naturalistischen Fehlschluß vgl. D. Böhler, Zukunftsverantwortung, Moralprinzip und kommunikative
Diskurse. Die Berliner Auseinandersetzung mit Hans Jonas, in: Th. Bausch, D. Böhler, Th. Rusche (Hrsg.),
EWD-Bd. 12, Münster 2004, S. 215-288 2004a, bes. S. 233 ff.
136
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einer Großbank im globalen Finanzsystem, abgeschirmt ist von öffentlicher Kritik. Logisch
gilt jedoch zweierlei: Erstens kann man den Begleitdiskurs nicht prinzipiell ausschalten,
sondern ist auf ihn angewiesen. Zweitens setzt er a priori moralisch gehaltvolle
Geltungsansprüche voraus. Das heißt: Diejenigen, die ihr Verhalten bloß strategisch und
zweckrational orientieren, können einen Begleitdiskurs nicht glaubwürdig führen, weil sie die
vorausgesetzten universalen Geltungsansprüche der Wahrhaftigkeit, der Wahrheit und der
Richtigkeit bzw. Gerechtigkeit überhaupt nicht einlösen können.
So beansprucht der Banker, der z. B. mit hohem Geldwert Spekulationsgeschäfte auf dem USamerikanischen Immobilienmarkt betreibt, es sei wahr, daß die dabei eingegangenen Risiken
weder gefährlich für seine Kunden, für seine Bank noch gar für Dritte und die
Volkswirtschaft seines Landes oder Europas seien. Wenn er jedoch über keine
Risikokontrolle verfügt, kann er diesen Wahrheitsanspruch überhaupt nicht einlösen. Nun
kann er aber wissen, daß ihm eine solche Kontrolle fehlt.
Außerdem weiß der Banker von vornherein, daß von ihm generell das Geschäftsgebaren eines
ordentlichen, verläßlichen Haushaltens (mit Einlagen der Bankkunden) erwartet wird. Sein
Anspruch auf Wahrhaftigkeit bzw. Glaubwürdigkeit steht und fällt damit, daß er seinem
Haushalterdienst durch ein vorsichtiges und kontrollierbares Gewinnstreben gerecht wird,
statt in Roulettespiel zu verfallen.
Wenn der Banker wissen kann, daß er keine Kontrolle über seine Risiken besitzt, dann ist es
unwahrhaftig so zu tun, als tätige er ein normales Anlagegeschäft und nehme keine
gefährlichen Risiken in Kauf. Dann spielt er anderen und sich selbst nur etwas vor, agiert
nicht als Haushalter sondern als Hochstapler und Vabanque-Spieler. Im Begleitdiskurs fällt er
hoffnungslos durch; da er weder seinem Anspruch auf Wahrhaftigkeit (bei Wahrnehmung
seiner Berufsrolle) gerecht wird, noch den Wahrheitsanspruch seiner Risikoübernahme
einlösen kann, ist er kein glaubwürdiger Diskurspartner. Er hat sich disqualifiziert.
Das können wir alle durchschauen, auch ohne Philosophie studiert zu haben. Weshalb? Weil
wir alle schon ein implizites Wissen von den Geltungsansprüchen mitbringen, welche den
argumentativen Diskurs tragen – den Diskurs, der alle menschlichen Handlungen virtuell
begleitet. Auf der Basis dieses moralisch gehaltvollen Vorwissens vom Diskurs, mithin auch
von den internen Rechtfertigungsbedingungen des menschlichen Tuns und Lassens, können
137
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
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wir ebensowohl begründete Urteile fällen, auch moralische Urteile, wie intersubjektiv
geltungsfähige Handlungsorientierungen gewinnen. Will sagen: Wir können uns auf den Weg
der praktischen Vernunft machen, den genau zu vermessen, Aufgabe der Philosophie ist.
Die Philosophie hat die sokratische Chance der praktischen Vernunft. Sie kann und sollte
bohrend unerbittlich zweierlei versuchen: Erstens zu ergründen, ob bzw. welche moralischen
Verbindlichkeiten wir als Denkende durch unsere Begleitdiskurse a priori in Anspruch
genommen haben; und zweitens, was daraus folgt – welche Kritik, welche Legitimation und
gar Verpflichtung zur Verurteilung bzw. zur empörten Gegenwehr –, wenn Personen oder
Institutionen den Diskurs zweckrational-strategisch umfunktionieren. Das wird uns sehr
beschäftigen, wird uns in das Selbstdenken hineinziehen. Dazu lädt die Vorlesung ein.
138
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
2
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Praktische Vernunft oder: Was heißt und warum brauchen wir (argumentativen)
Diskurs?
Im öffentlichen Sprachgebrauch hat die Verwendung des Wortes Diskurs seit den siebziger,
achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts teil an einer „Neuen Unübersichtlichkeit“167, die nicht
allein das politisch philosophische sondern auch das medial öffentliche Selbstverständnis der
Postmoderne schillern läßt. Bald alles und jedes, das irgendwie einen Sinnzusammenhang
darstellt, kann heute „Diskurs“ genannt werden. Doch die Wortbedeutung geht auf
>discurrere< („hierhin und dorthin laufen“) zurück, woraus sich in der Philosophie
>discursiv< als Charakteristik des schlußfolgernden, analysierenden Denkens bzw.
Verstandes, in der Bildungssprache hingegen >discorso< bzw. >discours< und >Diskurs< als
Bezeichnung für einen essayistischen Vortrag oder einfach für Rede und Gespräch entwickelt
haben. An diese Verwendungsweise schließt sich der gegenwärtig dominante Gebrauch von
>Diskurs<
an:
semiotischer
Universalausdruck
für
allerlei
Sinnzusammenhänge,
Diskussionen bzw. Debatten, Textsorten und Zeichenkontexte.
Terminologisch begegnet er in der empirisch gerichteten Semiotik von Ch. Morris168, der
linguistischen Diskurspragmatik169 und in postmodernen Diskursanalysen – psychoanalytisch
bei J. Lacan, historisch genealogisch und machtkritisch bei M. Foucault, sprachkritisch bzw.
semiotisch dekonstruktivistisch bei J. F. Lyotard, J. Derrida und P. de Man. Dieser
philosophisch neutrale, nicht normative Gebrauch setzt ein gleichrangiges Nebeneinander
zahlloser >Diskurse< voraus.
Im
Gegensatz
dazu
steht
der
von
Jürgen
Habermas170
in
Vorbereitung
einer
sprachpragmatischen „Theorie des kommunikativen Handelns“171 und von Karl-Otto Apel, D.
Böhler und Wolfgang Kuhlmann im Rahmen der „Transzendentalpragmatik“172 eingeführte
philosophische Diskursbegriff. Kommunikationsbezogener Nachfolger des traditionellen
Vernunftbegriffs und seines moralischen Anspruchs, bezieht er sich auf argumentative
167
J. Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1985.
Ch. Morris, Signs, Language, and Behavior, New York 1946; dt. Zeichen, Sprache und Verhalten, Frankfurt
a. M. 1981.
169
Vgl. D. Wunderlich, Studien zur Sprechakttheorie, Frankfurt a. M. 1976, dort bes.: Entwicklungen der
Diskursanalyse, 293 ff.; ders., Sprechakttheorie und Diskursanalyse, in: K.-O. Apel (Hg.): Sprachpragmatik
und Philosophie. Frankfurt a. M. 1982, 463-488; T. A. van Dijk (Hg.), Handbook of Discourse Analysis, 4
Bde. London 1985.
170
J. Habermas u. N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a. M. 1971.
171
J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1981. Ders., Vorstudien und
Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1984.
172
K.-O. Apel, D. Böhler u. a. (Hg.), Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: 1980/1981 als
Studienbegleithefte und 1984 als Studientexte, 3 Bde., Weinheim u. Basel; dort 13-137, 313-433, 545-634 und
845-888.
168
139
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Kommunikation und entfaltet deren kritischen Sinn, der von Sokrates bis Kant durch die
Gerichtshofmetapher umschrieben worden ist. >Diskurs< steht für die dialogförmige Prüfung
der in der lebensweltlichen Rede und Interaktion immer schon enthaltenen bzw.
vorausgesetzten, aber nicht explizierten noch gar problematisierten Geltungsansprüche auf
Wahrhaftigkeit und Verständlichkeit, Aussagenwahrheit und normative Richtigkeit.173
Den Rahmen und die Begründung lieferte zunächst Apels Ansatz einer „Transformation der
Philosophie“ zu einer kommunikativen Vernunftphilosophie, die auf eine Selbstaufklärung
der Vernunft und eine Selbsteinholung des Denkens zielt. Der diesem Ansatz eigene
dialektische
Aufhebungsanspruch
läßt
sich
überdies
zwanglos
auf
die
implizit
universalistischen Orientierungen in lebensweltlichen moralischen Intuitionen und deren
religiöse Ausbildungen beziehen, die generell auf die „Achsenzeit“174 (Karl Jaspers) und
speziell auf Teile der hebräischen Bibel und der Jesus-Überlieferung zurückgehen. Sie
gehören nämlich zu dem Sinnhorizont, in dem sich unser Vorverständnis jener
Verpflichtungen
traditionsgeschichtlich
ausgebildet
hat,
welche
Teilnehmer
eines
argumentativen Dialogs implizit anerkannt haben: Universalität des Moralischen, Achtung der
Würde jedes Menschen u.a.m.
173
Vgl. J. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie des kommunikativen Kompetenz, in: ders. u.
N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a. M. 1971, 101-141; ders., Was
heißt Universalpragmatik?, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns,
Frankfurt a. M., 1984, 353-440.
174
Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949 und Frankfurt a. M. 1955.
140
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2.1
11.12.2009
Diskurs als Befreiung aus dem tragischen Neben- und Gegeneinander von
Institutionen. Metakonventionelles Bewußtsein in der „Achsenzeit“ zwischen 800
und 200 v. Chr.
In seinem geschichtsphilosophischen Werk „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“175 hat
Karl Jaspers gezeigt, daß sich gleichsam eine Achse über die Weltgeschichte legen läßt,
welche die hochkulturellen Aufbrüche aus den archaisch mythischen Lebenswelten umfaßt.
Es sind Aufbrüche in Asien und im östlichen Mittelmeerraum, und zwar entlang der Zeitachse
von 800 bis 200 vor Christus. In diesem Zeitraum entwickelten die Hochreligionen und
Hochkulturen in China, Indien – nicht Hinduismus, sondern Buddhismus – und in Israel –
dort zumal die Propheten – und dann in Athen die Philosophie ein neues, ein reflektierendes
Bewußtsein: Man fragt jetzt ebenso nach dem Sein im Ganzen und der Stellung des Menschen
darin wie auch nach dem eigentlich Guten und (in Israel) auch deontisch nach dem
einsehbaren Sollen, dem moralisch Richtigen. Im Konflikt mit den mythischen, rigiden
Weltanschauungen und Institutionen spielt sich ein geistiger Entwicklungsprozeß ab, von dem
Jaspers sagt, er sei der tiefste Einschnitt in der Geschichte176:
„In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten
Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie
[…], – in Indien entstanden die Upanischaden, lebte Buddha, wurden alle
philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur
Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt, – im Iran lehrte
Zarathustra das fordernde Weltbild zwischen Gut und Böse, in Palästina traten die
Propheten auf von Elias über Jesaias [scil: – nicht zu vergessen die kühnen sozialund kulturkritischen Propheten Amos, Hosea und Micha –] und Jeremias bis zu
Deutetrojesaias – Griechenland sah Homer, die Philosophen – Parmenides,
Heraklit, Plato – und die Tragiker, Thukydides und Archimedes. […]
Das Neue dieses Zeitalters ist in allen drei Welten, daß der Mensch sich des Seins
im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewußt wird. […] Er stellt radikale
Fragen. Er drängt vor dem Abgrund [scil: der chtonischen und archaischen Mächte,
vor denen man nur Angst haben kann, und die man durch magische Kräfte mehr
oder weniger zu bannen versucht] auf Befreiung und Erlösung. […] Er erfährt die
Unbedingtheit in der Tiefe des Selbstseins und in der Klarheit der religiösen
Transzendenz.
Das geschah in Reflexion. Bewusstheit machte noch einmal das Bewusstsein bewusst. Das
Denken richtete sich jetzt auf das Denken.“177
175
Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Frankfurt a.M/Hamburg, 1955.
Ebd., S. 14.
177
Ebd., S. 14 f.
176
141
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In der Folge konnte es freilich welteinmalig in der pluralistisch bewegten Stadtkultur Athens
– und dort wunderbarerweise innerhalb von knapp sieben Generationen zwischen 600 und
320, zwischen Anaximander und Aristoteles –zur Philosophie kommen: Liebe zur Weisheit
als Denken des Denkens, als Diskurs über das Denken und als begrifflicher Begleitdiskurs des
Handelns. Wenngleich die Philosophie eine griechische Sondererscheinung war, so zeigt sich
doch auch in Asien und Israel eine gewisse Hinwendung zum Logos als Gegeninstanz zum
uneinholbaren, dunklen und unheimlichen Mythos. Denn die entstehenden Hochreligionen
interpretierten das Göttliche logosnah, mithin dem Geist nachvollziehbar. Das Göttliche
wurde nicht mehr als eine Unzahl unheimlicher Dämonen und natürlicher Wesenheiten
gedacht, sondern als der Eine oder das Eine. Es entbrannte ein Kampf um die Transzendenz
des Einen Gottes gegen die Dämonen, die es nicht „gibt, – und der Kampf gegen die
unwahren Göttergestalten aus ethischer Empörung gegen sie die Gottheit wurde gesteigert
durch Ethisierung der Religion.“178
Der ethische Aufbruch der „Achsenzeit“ sprengt die fraglose Orientierungs- und
Geltungsmacht der archaischen Institutionen. Er erobert kulturellen Freiraum für eine
tiefsitzende Tendenz des sich kultivierenden Menschen: Selbstverständigung durch Reflexion
und Begründung. Vor dem Hintergrund der Achsenzeit zeichnen sich Strukturmerkmale des
Gattungswesens Mensch als eines Lebewesens ab, das offenbar von Natur zur Kultur genötigt
ist. Hinsichtlich seiner dürftigen Organausstattung und seiner Instinktreduktion geradezu ein
Mängelwesen, führt er eine riskierte, von Antriebsüberschuß und von Einbildungskraft fast
überflutete Existenz. Um sich im Dasein zu halten, ist der Mensch auf verläßliche
Verhaltensregulationen angewiesen, auf Institutionen, die die fehlenden Instinkte ersetzen.
Zugleich bedarf er, um soziale und personale Identität zu gewinnen, einer metainstitutionellen
Selbstverständigung: Diskurs als Reflexion im sinnhaften Medium der Sprache.
Lassen Sie uns das durch einen Rückblick zunächst auf Herders Pioniertat der
Philosophischen Anthropologie, dann auf deren institutionalistische Transformation durch
Arnold Gehlen und auf Karl-Otto Apels sprach- und diskursbezogene Auseinandersetzung
damit vor Augen führen.
In seiner Preisschrift über den Ursprung der Sprache179, mit der er 1772 auf die von der
Berliner Akademie der Wissenschaften (auf Französisch) gestellte Frage antwortete, ob die
178
Ebd., S. 15.
J.G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 1772. Zit. nach J.G. Herders sprachphilosophische
Schriften, hg. und eingeleitet von Erich Heintel, Hamburg 1960, S. 3-87.
179
142
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Menschen, bloß auf ihre Naturfähigkeiten gestützt, sich wohl selbst Sprache erfinden können,
entwarf Johann Gottfried Herder die Theorie vom Menschen als einem Mängelwesen. Im
Unterschied zu den Tieren, die von der Natur (z.B. mit Klauen, Zähnen und Fell) reich
ausgestattet und durch ihre Instinktsteuerung stabil in einen überschaubaren „Wirkungskreis“
eingepaßt seien, stelle der Mensch ein riskiertes, dynamisches Wesen mit lauter „Lücken und
Mängeln“ dar:180
Der Mensch lebt nicht in einer „einförmigen und engen Sphäre, wo nur eine Arbeit auf ihn
wartet. Eine Welt von Geschäften und Bestimmungen liegt um ihn.“181
Demgegenüber habe „jedes Tier […] seinen Kreis, in den es von der Geburt an gehört […], in
dem es lebenslang bleibt und stirbt; nun ist es aber sonderbar, daß je schärfer die Sinne der
Tiere und je wunderbarer ihre Kunstwerke sind, desto kleiner ist ihr Kreis: desto einartiger ist
ihr Kunstwerk. […] Die Spinne webt mit der Kunst der Minerve; aber alle ihre Kunst ist auch
in diesen engen Spinnraum verwebt; das ist ihre Welt! Wie wundersam ist das Insekt und wie
enge der Kreis seiner Wirkung!“182 Der Mensch hingegen – „nackt und bloß, schwach und
bedürftig, schüchtern und unbewaffnet“ – stehe dazu in dem größten Mißverhältnis, weil er
„offenbar auf tausend Bedürfnisse verwiesen, zu einem großen Kreise bestimmt“ sei183 und
Vorstellungskräfte habe, die ihn in offene Welten hineinstellen, weil seine Vorstellungs- und
Seelenkräfte sich über die ganze Welt verbreiteten.184
Je kleiner nun, folgert Herder, „die Sphäre der Tiere ist, desto weniger haben sie Sprache
nötig. Je schärfer ihre Sinne, je mehr ihre Vorstellungen auf Eins gerichtet, je ziehender ihre
Triebe sind: desto zusammengezogener ist das Einverständnis ihrer etwaigen Schälle,
Zeichen, Äußerungen. Es ist lebendiger Mechanismus, herrschender Instinkt, der da spricht
und vernimmt. Wie wenig darf er sprechen, daß er vernommen werde!“185
Hingegen müsse der Mensch das ihm eigentümliche Mißverhältnis von dynamisch offener
Wirksphäre und natürlicher Mängelausstattung kompensieren: durch Sprache und
Vernunftkräfte. In dem Mißverhältnis von Mängelausstattung und Weltoffenheit erkennt
Herder „den notwendigen genetischen Grund zur Entstehung einer Sprache“186 und ebenso
das Angewiesensein auf Vernunft bzw. Reflexion in Form – hier schließt er an Aristoteles an
– einer „Besonnenheit“, welche seine Kräfte mäßige und leite187:
180
Ebd., S. 17 und 19.
Ebd., S. 17.
182
Ebd., S. 15 f.
183
Ebd., S. 18.
184
Ebd., S. 17.
185
Ebd.
186
Ebd., S. 19.
187
Ebd., S. 22 f.
181
143
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„Der Mensch in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese
Besonnenheit (Reflexion) zum ersten Mal frei wirkend, hat Sprache erfunden. […] Diese
Besonnenheit ist ihm charakteristisch eigen und seiner Gattung wesentlich: so auch
Sprache und eigne Erfindung der Sprache. Erfindung der Sprache ist ihm also so
natürlich, als er ein Mensch ist!“188
Während nach Herder der Mensch seinen Mängelcharakter und die Herausforderung seiner
Weltoffenheit durch die Entwicklung von Reflexion als Besonnenheit und in eins damit durch
die Erfindung von Sprache bewältigt, deutet der konservative Anthropologe Arnold Gehlen
die menschliche Kompensationsleistung primär als Entwicklung von Institutionen. Diese aber
schneidet er von Reflexion ab, indem er sie allein nach der Funktion des Instinktersatzes
bestimmt: „Zucht-“ und „Führungssysteme“. Aus der (noch schärfer als von Herder
ausgestellten) „Riskiertheit“ der menschlichen Lebensform, die sich ebenso aus seinem
Instinktverlust wie aus seinem „Antriebsüberschuß“ ergebe, leitet Gehlen – in Anlehnung an
den Lebensfunktionalismus Nietzsches und Paretos wie auch an die Zucht- und
Führungsideologie der Nazis – „eine letzte Definition des Menschen“ ab. Er bestimmt den
Menschen als „Zuchtwesen“ und gibt dazu folgende Erklärung:
„Diese
Bezeichnung
umfaßt
alles,
was
man
unter
Moral
verstehen
kann,
im
anthropologischen Aspekt: die Zuchtbedürftigkeit, den Formierungszwang, unter dem ein
‚nicht festgestelltes Tier‘ steht“.189
Im Sinne dieses Zuchtgedankens entfaltet Gehlen eine institutionalistische Anthropologie:
wie das Verhalten der Tiere durch die Instinkte reguliert werde, so müsse das Verhalten des
instinktarmen Menschen durch Institutionen formiert werden. „Angesichts der Weltoffenheit
und Instinktentbindung des Menschen ist es durch nichts gewährleistet, daß ein gemeinsames
Handeln überhaupt zustande kommt oder daß es, einmal vorhanden, nicht morgen wieder
zerfällt. Gerade in diese Lücke tritt ja die Institution, sie steht an der Stelle des fehlenden
automatischen Zusammenhangs zwischen Menschen, und gerade sie verselbständigt sich zur
188
Ebd., S. 23 f.
A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Bonn 4. Aufl. 1944, S. 60. In der 6.
Aufl. von 1958, in der auch die Rede von den Führungssystemen äußerst zurückgenommen ist, spricht Gehlen
nunmehr von „einer Definition des Menschen als Zuchtwesen“: ebd., S. 64. Zu dem zeitgeschichtlichen
Hintergrund, zum Begriffsrahmen und zu den philosophischen Voraussetzungen der Gehlenschen
Anthropologie im Kontext des Historismusproblems und des Nietzsche-Pareto-Pragmatismus: D. Böhler, A.
Gehlen: Handlung und Institution, in: J. Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie
der Gegenwart II, Göttingen 3. Aufl. 1991, S. 231-284.
189
144
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Sollgeltung“.190 Gehlen bleibt nicht bei der These stehen, „daß der Mensch aufgrund seiner
Instinktreduktion und mangelhaften Organausstattung […] zur Institutionalisierung seines
Handelns konstitutionell, also von Natur, gezwungen ist. Er unterstellt, auch das Wie des
Handelns und seiner Institutionalisierung sei ‚aus der Natur des Menschen‘ ableitbar: daß sich
nämlich die Institutionen ‚verselbständigen zu einer Macht, die ihre eigenen Gesetze
wiederum bis in ihr (scil.: der Menschen) Herz hinein geltend macht’ und daß die Menschen
sich von diesen ‚historisch gewachsenen Wirklichkeiten konsumieren lassen‘ müssen“.191
Vor dem Hintergrund seiner frühen Auseinandersetzung mit Gehlen192 hat Karl-Otto Apel im
„Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik“193 den Aufbruch der Achsenzeit anthropologisch
und ethisch rekonstruiert: Die diskursbezogene Tendenz in der Achsenzeit stellt er dem
rigiden Institutionenbegriff Gehlens gegenüber. Lassen Sie uns die für mehrere Sprecher
eingerichtete Radiosendung ein Stück weit verfolgen:
Prof. Apel:
In vieler Hinsicht erscheinen mir Arnold Gehlens Thesen als plausibel. Ihren
Wahrheitskern sehe ich darin, daß Institutionen in der Tat eine notwendige
Vermittlungs-Bedingung der instinkt-kompensativen Motivation und Regulation
menschlichen Verhaltens darstellen. Als problematisch erschien mir allerdings das
Verhältnis von Institution und Vernunft, wie Gehlen es sieht, und im Zusammenhang
damit die These, daß faktisch wirksame Institutionen in ihrem mehr oder weniger
zufälligen Nebeneinander, ja gerade als irrationale Gegeninstanzen zur kritischen
Vernunft,
die
zureichende
Bedingung
menschlicher
Moral
bilden
können.
Problematisch ist insofern auch die Vermutung einer vollständigen Analogie zwischen
der Funktion menschlicher Institutionen und der automatischen Auslöse-Funktion der
Instinkt- und Dressur-Mechanismen bei Tieren. Wir machen uns dies am besten durch
einige Beispiele klar.
2. Sprecher:
Im tierischen Bereich kommt es oft vor, daß eine bestimmte, auf Instinkt oder Dressur
beruhende stereotype Verhaltensform sehr abrupt von einer anderen, oft
190
A. Gehlen, Unmensch und Spätkultur, Bonn 2. Aufl. 1964, S. 157.
So Böhler, ebd., S. 276 mit Hinweis auf Gehlen, Unmensch und Spätkultur, S. 8.
192
K.-O. Apel, Arnold Gehlens Theorie der Institutionen und die Meta-Institution der Sprache, in: ders.,
Transformation der Philosophie, Bd. I, Frankfurt a.M. 1973, S. 197 bis 222.
193
K.-O. Apel, Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft, in: ders., D. Böhler u. G.
Kadelbach (Hg.), Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge 1, 1984, S. 74-80.
191
145
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11.12.2009
entgegengesetzten Verhaltensweise abgelöst wird, wenn das auslösende Signal durch
ein anderes ersetzt wird, das einem anderen Funktionskreis des Instinktverhaltens
angehört. So etwa kann es nach K. Lorenz vorkommen, daß ein Buntbarsch-Männchen
ganz plötzlich das Verhalten des Rivalenkampfes durch das der Balz- bzw.
Paarungszeremonien ersetzt, wenn es im letzten Moment vor dem Rammstoß in dem
zunächst vermuteten Rivalen ein Weibchen erkennt. Der Fisch wechselt bei diesem
Umspringen des Verhaltens sogar seine Farbe – so, als ob ein Schlachtschiff seine
Flaggen
wechselt. Ein genau analoges Phänomen läßt sich beim Haushund
beobachten: Hier kann es vorkommen, daß der eifrige Wachhund seinen nach Hause
kommenden Herren zunächst mit einem fremden Eindringling verwechselt und
wütend ankläfft; plötzlich aber erkennt der Hund sein Mißverständnis, und sein
Verhalten ändert sich nun abrupt im Sinne einer besonders demütigen und
gewissermaßen schuldbewußten Begrüßungszeremonie.
1. Sprecher:
Um mit diesem Beispiel etwas anfangen zu können, müßten wir es auf menschliches
Verhalten übertragen. Das scheint mir aber nicht einfach zu sein. Wenn ich die
Analogie richtig verstehe, müßte man also davon ausgehen können, daß Menschen
immer dann ihr Verhalten abrupt wechseln, wenn sie jeweils anderen institutionellen
Ansprüchen unterworfen sind. Gibt es denn so etwas tatsächlich?
Prof. Apel:
Gehlen bezieht seine Vergleiche ja vor allem auf archaische Kulturen. Und für diese
läßt sich Ihre Frage durchaus mit „Ja“ beantworten – und zwar aufgrund zahlreicher
Überlieferungszeugnisse. So berichtet z.B. Halldor
Laxness in seinem Buch
„Islandglocke“ über eine Saga, deren Inhalt der folgende ist: Eine junge Frau verbringt
eine Nacht mit ihrem Geliebten in ihrem Haus. Am nächsten Morgen nehmen die
beiden Liebenden zärtlichen Abschied voneinander, und der junge Mann reitet davon.
Nach Ablauf einer bestimmten Frist jedoch sendet die junge Frau ihre bewaffneten
Knechte hinter dem Geliebten her mit dem Auftrag, ihn zu töten. Der Grund für diese
Verhaltensänderung der jungen Frau lag nicht in irgendeiner Änderung ihrer
affektiven, also instinktresidualen Einstellung gegenüber ihrem Geliebten, sondern
darin, daß zwischen ihrer Familie und der Familie des Mannes ein noch
unabgegoltenes Verhältnis der Blutrache bestand. Nach Inanspruchnahme durch das
146
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
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persönliche Liebesverhältnis mußte sie in unvermitteltem Wechsel des Verhaltens der
Familien- bzw. Sippen-Pflicht der Blutrache gehorchen. Zahlreiche, im Prinzip
ähnliche
Fälle
einer
von
Institutionen
quasi-automatisch
ausgelösten
Verhaltensänderung sind uns aus allen Kulturen überliefert. So etwa aus dem
nomadischen Bereich die typische Erklärung des Beduinenscheichs gegenüber seinem
Sippenfeind „Im Zelt bist du mein Gast, hernach sieh dich vor, daß du meinen Leuten
entgehst“. Hier ist es ganz deutlich der Konflikt zwischen der göttlichen Autorität des
Gastrechts und der ebenso unerbittlichen Blutrachepflicht, der sogar die ausdrückliche
Ankündigung einer rational unvermittelten Verhaltensänderung bestimmt.
2. Sprecher:
Aber nicht nur im (vorstaatlichen) Bereich archaischer Blutverwandtschaftsordnung
ist der rational
unvermittelte Verhaltenswechsel aufgrund des Wechsels der
normativen Verbindlichkeit von Institutionen vorstellbar. Fast noch mehr ist damit ein
großes Thema der Göttersagen bezeichnet, die uns vom Kampf verschiedener Kulte
um die Inpflichtnahme des menschlichen Verhaltens in den frühen Hochkulturen
berichten. Dabei geht es oft darum, daß die Ansprüche älterer Götter oder
Göttergeschlechter von späteren Autoritäten bestritten werden – so etwa in der
griechischen Sage die Ansprüche der Erinnyen als der alten Rachegöttinnen, von dem
Anspruch der Göttin Athene, die den Aeropag als staatliche Institution des Strafrechts
repräsentiert. Charakteristisch für den griechischen Mythos ist aber auch die
Bestreitung der quasi-rationalen Ansprüche Athenes und Apollons durch die
rauschhaft-ekstatischen Kulte des Dionysos.
Prof. Apel:
In einem gewissen Sinn läßt sich verallgemeinernd sagen: alle Berichte über die
verschiedenen Charaktere der Götter, über die Kämpfe der Götter und Göttinnen
gegeneinander und über die Aufeinanderfolge verschiedener Göttergeschlechter
repräsentieren nichts anderes als den Kampf der verschiedenen Institutionen der
frühen Hochkulturen um die verbindliche Inpflichtnahme des menschlichen Verhaltens
in den verschiedenen Lebensbereichen – und nicht zuletzt auch im Bereich von Tod,
Bestattung und Verkehr mit den Toten.
Und das große Thema der griechischen Tragödie ist im wesentlichen der Austrag
dieser Götter- und Institutionenkämpfe in einer mehr und mehr vom Menschen
147
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bestimmten Beurteilung – so etwa der Konflikt zwischen Königsrecht bzw.
Staatsräson und vorstaatlicher Pietät des Totenkults in der „Antigone“ des Sophokles.
Das Tragische erscheint hier als Konflikt zwischen göttlichem Recht und anderem
göttlichem Recht, den der Mensch – so wenigstens im Anfang bei Aischylos – als
Verhängnis des Schicksals zu ertragen hat.
Schließlich ist auch noch zu bedenken, daß das rational unvermittelte Nebeneinander
und oft Gegeneinander institutionell normierter Verhaltensweisen auch in der
aufgeklärten Kultur der Gegenwart durchaus nicht seine Funktion verloren hat.
Vielmehr ist es überall da zu beobachten, wo Menschen ihr Verhalten nicht aufgrund
gefühlsmäßiger Neigungen oder rationaler Überlegungen, sondern einfach aufgrund
ihrer sozialen Rolle motivieren und regulieren – so etwa aufgrund der
Rollenverteilung in der Familie, oder im öffentlichen Lebensbereich vor allem
aufgrund von Status und Berufsrolle. Und auch hier kann es durchaus noch immer zu
rational kaum bewältigbaren Konflikten zwischen den moralischen Ansprüchen der
verschiedenen Rollen kommen, Konflikten also, die tragisch genannt werden können.
2. Sprecher:
So etwa wird aus dem Ersten Weltkrieg der Fall eines deutschen Jagdfliegers
berichtet, der – nach einer gewissen Zeit des gegenseitigen Ausweichens – einen
Luftkampf mit seinem britischen Vetter nicht mehr vermeiden kann. Er bringt die
Maschine des Vetters zum Absturz und schreibt seiner britischen Tante einen
Beileidsbrief – so wie es sich nach dem bürgerlichen Anstandskodex zwischen
Verwandten gehört.
Prof. Apel:
Ähnliche Fälle eines rational unvermittelten, aber von außen durch konventionelle
Rollenpflichten erzwungenen oder jedenfalls entscheidend
motivierten
Nebeneinanders von sehr unterschiedlichen Verhaltensweisen lassen sich keineswegs
nur im militärischen Bereich vorstellen. […] unsere Beispiele [sollen vor allem dies
deutlich machen:] Die institutionelle bedingten Rollen – und Statuspflichten können
miteinander in Konflikt geraten. So die Berufspflichten mit Familienpflichten oder
schließlich auch mit den weniger genau institutionalisierten Pflichten mitmenschlicher
Verantwortung – etwa in der Politik. Das moralische Gewissen des modernen
Menschen ist eben nicht identisch mit der jeweils institutionell bedingten Rollen- und
148
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Statusehre; es kann angesichts einander widersprechender Rollenansprüche in
tragische Konfliktsituationen geraten; und es kann eben dadurch zur kritischen
Reflexion der miteinander nicht vermittelten moralischen Autoritätsgrundlagen der
verschiedenen Institutionen motiviert werden.
Prof. Apel:
Die Beispiele, die wir zur Illustration der GEHLENschen
Philosophie der
Instinktmoral der Institutionen herangezogen haben, legen, soweit ich es sehe,
Schlußfolgerungen in verschiedener Richtung nahe:
Einerseits läßt sich ein begrenztes Recht der GEHLENschen Analogie-These kaum
bestreiten: Der Mensch kann im Alltag nicht unmittelbar seine subjektive Vernunft als
normative Kompensation der Instinktreduktion zur Geltung bringen; er bedarf einer
Vermittlungsinstanz. Die Institutionen müssen ihn davon entlasten, alles und jedes
immer wieder entscheiden zu müssen, und sie müssen zugleich das Verhalten anderer
Menschen einigermaßen erwartbar machen: dadurch, daß es – wie das eigene –
konventionellen Mustern gehorcht.
Andererseits wird jedoch durch die Berichte über die Konflikte der verschiedenen
Institutions- bzw. Rollenmoralen, die uns durch die Sagenliteratur und die griechische
Tragödie überliefert sind, folgendes bezeugt: die Menschen haben offenbar das
rational unvermittelte Nebeneinander und Gegeneinander der institutionsbedingten
Verhaltensnormen von vornherein anders erfahren als die Tiere das Umspringen der
Verhaltensauslösung von einem Funktionskreis in den
von Gehlen postulierte Analogie zwischen der I
anderen. Insofern hat die
nstinktregulation
des
tierischen
Verhaltens und der normativen Funktion der Institutionen offenbar schon in
archaischen Zeiten nicht wirklich funktioniert. Die Menschen haben offenbar den
Konflikt der normativen Ansprüche der verschiedenen Institutionen – und der
verschiedenen Götter – als Problem erfahren und als Verhängnis erlitten.
3. Sprecher:
Tatsächlich hat diese leidensvolle Erfahrung in einer weltgeschichtlichen Periode, die
Karl Jaspers die „Achsenzeit“ nennt, in allen Hochkulturen, von China und Indien
über den Vorderen Orient und Ägypten bis Griechenland, zu einer Art Aufstand des
religiös-ethischen und philosophischen Denkens gegen die fraglose Autorität der
Institutionen geführt: Im indischen Buddhismus führte dieser Aufstand zu dem
149
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Versuch, die brahmanische Kastenordnung der Gesellschaft und die sie begründende
Religion des Kreislaufs der Wiederverkörperungen durch Selbsterlösung im Sinne des
Nirwana zu überwinden. In Griechenland begann die Infragestellung aller
institutionellen Normen durch die radikale philosophische Frage, ob die Geltung
dieser Normen von Natur aus (physei) oder bloß kraft menschlicher Setzung (thései
bzw. nómo) bestehe. Im Monotheismus der israelitischen Bibel-Religion wurde sie als
unmittelbar göttlich gedachte Ordnung der archaischen
Institutionen
durch
die
„außerweltliche“ Autorität eines Gottes überwunden, der die Idee göttlicher Institution
abschwächt und den Menschen zum Herrn einer profanen Welt einsetzt.
In der abendländischen Tradition verband sich die im Christentum radikalisierte
monotheistische Transzendierung alle innerweltlichen Autoritäten durch das
philosophische Denken; und nach der Bewährung der wissenschaftlichen Rationalität
im Zuge wachsender Naturerkenntnis begann die neuzeitliche Aufklärung, die soziale
Welt der Institutionen grundsätzlich zum
Gegenstand
der
Kritik
und
der
revolutionären Veränderungen zu machen. Vernunftprinzipien (nach KANT:
vorgestellte Gesetze) sollten jetzt unmittelbar normativ die Moral und die positiven
Institutionen des Rechtsstaats und schließlich des Sozialstaats bestimmen.
Zusammenfassend können wir feststellen:
„In
Kulturen,
deren
›achsenzeitlichen‹
alltagsweltlich
Übergänge
zu
institutionalisierter
einer
Sinn
noch
›postkonventionellen‹
keine
(besser:
metakonventionellen) Geltungsrechtfertigung freigibt, verstricken sich Akteure in
unauflösliche, weil an widerstreitende Götter bzw. Schicksalsmächte gebundene,
Dilemmata als Alternativen ohne Diskurs: in Tragödien. Hier stehen Menschen
rettungslos zwischen konträren Normen, weil ihnen noch nicht die befreiende,
übergeordnete Instanz einer Geltungsrechtfertigung durch Verallgemeinerbarkeit der
Gründe offen steht. So erscheint das Tragische in Sophokles’ ›Antigone‹ als
unauflöslicher ›Konflikt zwischen göttlichem Recht und anderem göttlichem Recht‹
(dem Königsrecht).“
So D. Böhler u. M. Werner, Alltagsweltliche Praxis und Rationalitätsansprüche der
Kulturwissenschaften, in: F. Jaeger u. J. Straub (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften,
Bd. 2, Stuttgart u. Weimar, 2004, S. 74.
150
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
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Für unsere Frage, warum der Mensch den argumentativen Diskurs benötigt, können wir
daraus eine anthropologische Antwort ableiten: Offenbar sind die Menschen auf eine
Selbstverständigung durch Reflexion, Kritik und Begründung angewiesen, um nicht zu
Opfern des tragischen Gegeneinanders/Nebeneinanders von Institutionen zu werden. Allein
im Diskurs lassen sich die Konflikte der widerstreitenden institutiona-lisierten Normen und
individuellen Ansprüche so lösen, daß Frieden gewahrt und die Identität der Personen nicht
verletzt wird. Denn das Ergebnis eines Diskurses, einer Suche nach dem besten Argument,
kann jeder mit seiner Identität vereinbaren, wenn er sein Vernunftvermögen kultiviert, wenn
er sein zweites ‚Ich‘ zur Sprache bringt: das des Diskurspartners, der auf der
Basis guter,
d.h. zustimmungswürdiger, Gründe mit sich selbst, mit seinem Tun, in Einklang sein will.
Wie Sokrates.
151
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2.2
11.12.2009
Die unbegrenzte Auswirkungsdimension menschlichen Verhaltens in der
hochtechnologischen Zivilisation. Kein Begriff der Menschheits-Verantwortung
ohne die Geltungsidee des Diskursuniversums
Als
Karl-Otto
Apel
und
ich
1979
das
Projekt
eines
„Funkkollegs
Praktische
Philosophie/Ethik“ vorbereiteten, haben wir uns die Frage, warum der Mensch eigentlich
Ethik und damit einen Diskurs über praktische Fragen brauche, also über moralische
Anspruchs- und Normenkonflikte, auch und zumal im Blick auf das Heute, die
weltgeschichtlich neuartige Situation des hochtechnisch lebenden Menschen gestellt. Daher
eröffneten wir die erste Kollegstunde folgendermaßen:
Prof. Böhler:
Meine Damen und Herren, liebe Kollegiaten, die erste Stunde des Funk-Kollegs
„Praktische Philosophie/Ethik“ trägt den Titel „Die Situation des Menschen als
Herausforderung an die praktische Vernunft“. Durch eine philosophische
Charakteristik der Situation des menschlichen Daseins überhaupt möchten wir eine
Antwort auf die Frage geben: „Warum benötigt der Mensch überhaupt so etwas wie
Ethik?“ Diese Themenstellung wird sicherlich manche unter Ihnen überraschen. Ist
es nicht fürchterlich abstrakt, über „den“ Menschen zu sprechen, wo sich doch eine
Fülle konkreter Probleme jedem, der über ethische Fragen nachdenkt, unmittelbar
und unabweisbar aufdrängen?
Wer heutzutage versucht, sich selbst unsere Ausgangsfrage versuchsweise zu
beantworten, der wird an sehr verschiedenartige aktuelle Situationen denken, z. B.
Situationen, in denen sich die Frage nach verbindlichen Regeln oder Normen
unseres Handelns stellt. Er denkt vielleicht zunächst an die Problematik der
zwischenmenschlichen
Beziehungen
im
Nahbereich
von
Ehe,
Familie,
Nachbarschaft und Beruf und an andere ethische Probleme, etwa an die Diskussion
um den § 218, an die moderne Sexualerziehung, an die Ehescheidung, an
Partnerschaft und Konkurrenz im Berufsleben, an die Behandlung der alten
Menschen und schließlich an das Verhältnis zum eigenen Tod.
Möglicherweise wird man aber auch sogleich an Fragen menschlicher Beziehungen
im Bereich der Politik denken, z.B. an die schwierigen Probleme der sozialen
Gerechtigkeit einerseits und der Freiheitsgarantien in unserem Lande andererseits,
152
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
oder aber an die ebenso komplexen Probleme einer verantwortlichen Vertretung
nationaler Interessen im Spannungsfeld der Weltpolitik.
Schließlich
mag
man
heutzutage
sogar
in
erster
Linie
an
Probleme
gesamtmenschlicher Verantwortung für die planetare Ökosphäre denken, wie sie
z.B. durch den Club of Rome der Menschheit als Problem einer solidarischen
Verantwortung vor Augen gestellt wurden. Man kann in diesem Zusammenhang
bemerken, daß die ethischen Probleme heute zum ersten Mal eine weltweite
Dimension der Auswirkung und des Risikos gewonnen haben. Denken wir nur an die
Notwendigkeit internationaler Institutionen und Konferenzen etwa über Fragen der
Bevölkerungspolitik, der Energie- und Entwicklungspolitik, vor allem aber an die
ständige Bedrohung durch die Möglichkeit eines mit nuklearen „Waffen“ geführten
Vernichtungskrieges.
Es zeigt sich also, daß ethische Probleme in der Gegenwart in drei verschiedenen
Auswirkungsbereichen menschlicher Handlungen auftreten:
1. in einem Nah- oder Mikrobereich des zwischenmenschlichen Verhaltens im
Privatleben;
2. in einem Mittel- oder Mesobereich der Interaktion der politisch Handelnden,
die etwa Gruppeninteressen oder Nationalinteressen vertreten, und
3. in einen Groß- oder Makrobereich der solidarischen Verantwortung für das
Lebensinteresse der menschlichen Gattung in der Zukunft.
Darüber hinaus zeigt sich weltgeschichtlich erstmals, daß ethisch bedeutsame
Entscheidungs- und Regelungsprobleme des Mikro- und des Mesobereichs
heutzutage die Tendenz haben, zu ethischen Problemen des Makrobereichs, also der
weltweiten Dimension menschlicher Verantwortung, zu werden. So wird z.B. das
scheinbar private Intimsphärenproblem der Geburtenregelung zu einer Streitfrage
internationaler
Konferenzen,
die
sich
über
die
Gefahren
einer
Überbevölkerungskrise auf der Erde auseinandersetzen. Andererseits reichen die
Probleme der Staatsräson in die planetare Dimension hinein, nehmen doch
Abrüstungskonferenzen der Weltmächte eine Dimension an, die nicht nur
machtstrategisch, sondern auch ethisch relevant ist, weil von den politischen
Entscheidungen das Überleben der Menschheit abhängt.
153
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
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1. Sprecher:
Es leuchtet ein, daß sich die ethischen Probleme heute in den drei von Ihnen
unterschiedenen Ebenen bewegen. Wie kommt man aber von diesen Beobachtungen
[…] zu der eingangs hypothetisch aufgeworfenen Frage, warum der Mensch ganz
allgemein so etwas wie Ethik benötigt? Wo steckt das Gemeinsame dieser so
unterschiedlichen Herausforderungen an die Ethik? Sie, Herr Apel, haben sich doch
offensichtlich etwas Besonders davon versprochen, gleich zu Beginn des FunkKollegs mit der sehr allgemeinen Frage nach der Situation des Menschen
schlechthin einzusetzen.
Prof. Apel:
Ja, das ist tatsächlich das Ausgangsproblem, das ich in den ersten Stunden unseres
Funk-Kollegs aufnehmen und mit Ihnen durchdenken möchte. Sollte es nicht
möglich sein, die verschiedenartigen aktuellen Herausforderungen der praktischen
Vernunft als Differenzierung einer Herausforderung zu begreifen – einer
Herausforderung, die durch die Situation des Menschen überhaupt, durch die
Tatsache des menschlichen Daseins schlechthin, bedingt ist? Genauer: sollte es nicht
möglich sein, sogar die aktuelle Differenzierung der ethischen Probleme nach drei
Auswirkungsbereichen menschlicher Handlungen und ihrer dramatische Zuspitzung
in
dem
neuartigen
Risiko-Bereich
planetarischer
Verantwortung
auf
ein
anthropologisches Grundfaktum zurückzuführen, durch das unser Verständnis aller
weiteren, geschichtlich differenzierten Herausforderungen der ethischen Vernunft
gewissermaßen von vornherein festgelegt wird? – Versuchen wir, die hier
angedeutete Vermutung durch eine radikale Verfremdung der Gegenwartsituation
des Menschen im Lichte der Geschichte der Menschwerdung einzulösen.
In christlich-theologischer Perspektive drängt sich uns Abendländern an dieser
Stelle die Rede vom Sündenfall auf. Er soll mit dem Ereignis der Menschwerdung
unabtrennbar verknüpft sein: die Menschwerdung soll zugleich in einem ersten Akt
der Sünde und in dem damit verbundenen Erwerb des Gewissens bestanden haben.
In einer philosophischen Perspektive – wie sie z.B. von Kant in seiner kleinen
Schrift „Vom mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte“ eröffnet wurde –
könnte man etwa folgende Interpretation des biblischen Mythos ins Auge fassen:
Durch die Menschwerdung – wie immer man diesen qualitativen Sprung in der
Evolution des Lebens zu erklären hat – wurde einerseits der Funktionsbereich
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automatischer Verhaltensregeln durch Naturgesetze – zuletzt durch solche der
tierischen Instinkte und bedingten Reflexe – prinzipiell überschritten. Darin liegt
gewissermaßen ein kosmischer Sündenfall. Denn die Sicherheit und Verläßlichkeit
der naturgesetzlich-automatischen Form der Verhaltensregulation wurde zumindest
punktuell zugunsten der menschlichen
Handlungsfreiheit durchbrochen.
1. Sprecher:
Wenn ich Ihre Interpretation der biblischen Geschichte vom Sündenfall richtig
verstehe,
dann
muß
gleichzeitig
mit
diesem
Wegfall
automatischer
Verhaltensregulierung eine neue Instanz entstanden sein, die die Religion
„Gewissen“ nennt. Es geht wohl um die Ersetzung eines naturgesetzlich
determinierten Verhaltens durch eine Situation, in der der Mensch vieles und
Gegensätzliches tun kann, zugleich aber auch einen Maßstab gewinnt, seine
möglichen Handlungen kritisch zu beurteilen; damit entgeht er der Gefahr, wahllos
zwischen alternativen Verhaltensmöglichkeiten hin und her zutreiben. Wäre dieses
Zusammenspiel von Handlungsfreiheit und der Entstehung einer kritischen
Beurteilungsinstanz die „Geburtsstunde“ der Ethik?
Prof. Apel:
So kann man es ausdrücken. Wir sprechen ja von ethischen Normen nur unter der
Voraussetzung, daß sie nicht als Naturgesetze im Sinne von Instinkten und Reflexen
zu verstehen sind. Normen sind gewissermaßen Zumutungen gesetzesanaloger
Verhaltensregulationen, die sich nicht automatisch und ausnahmslos durchsetzen,
sondern hinsichtlich ihrer Befolgung an eine
gewisse
Vernunft-Einsicht
und
Entscheidungsfreiheit des Willens appellieren.
Anders gesagt: Normen und normativ anspruchsvolle Erwartungen fordern uns als Freie und
als Einsichtsfähige zur Prüfung ihrer Zumutungen heraus. Sie fordern uns dazu heraus, gute
Gründe für oder gegen ihre Befolgung oder für ihre Veränderung zu finden. Das heißt: Sie
provozieren uns zum Diskurs.
Dieser Provokation können wir heute, angesichts der unbegrenzten Dimension, in der sich
unser Verhalten nunmehr räumlich und zeitlich auswirkt, nur in dem Maße gerecht werden,
wie wir nach allen Gründen suchen, die gegen unsere Verhaltensweisen und unsere
Institutionen bzw. gesellschaftlichen Systeme vorgebracht werden können – von wem auch
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immer: von Zeitgenossen in einem fernen Winkel der Welt, dessen Lebensbedingungen
tangiert werden von unserer Lebensweise bzw. einem unserer Projekte, oder von künftigen
Generationen, auf deren Kosten wir heute, sei es Schulden machen, sei es Energie
verschwenden, das Klima zerstören oder anderes anrichten, was irreversibel ist und als
unverantwortlich gelten kann.
Die Rolle des Diskurspartners ist, wie wir bereits gesagt haben, später aber genau entfalten
und begründen müssen, an universale Geltungsansprüche gebunden: Wer nicht den guten und
ebenso selbstkritischen wie gegenwartskritischen Willen aufbringt, sich um das beste
Argument (für die Situation) zu bemühen und eben deshalb auch alle Ansprüche zu
berücksichtigen, die (für die Situation) von Bedeutung sein können, der widerspricht den
Universalitätsansprüchen
seiner
Diskurspartnerrolle.
Keine
Vernunft
ohne
den
Geltungsrahmen des Diskursuniversums! Kein glaubwürdiger Diskurspartner, der nicht das
Universum
der
sinnvollen
Argumente
zur
Sache
oder
eine
ideale
Kommunikationsgemeinschaft anerkennen würde – als die letzte Instanz in Sachen Wahrheit
und Richtigkeit. Dazu gleich mehr.
Heute,
im
Blick
auf
die
Unbegrenztheit
der
Auswirkungsdimension
unserer
hochtechnologisch vermittelten Lebensweise oder Handlungen und Systeme, beginnen wir zu
erkennen,
daß
wir
die
Idee
eines
Diskursuniversums
bzw.
einer
idealen
Kommunikationsgemeinschaft benötigen, wenn wir jener Unbegrenztheit gerecht werden
wollen. Wollen wir die neue Verantwortung denken, welche uns die hochtechnologische
Zivilisation auferlegt, dann muß der Bezugs- und Geltungsrahmen der Verantwortung
deckungsgleich sein mit der Auswirkungsdimension unseres Verhaltens. Daher gilt: Kein
Verantwortungsbegriff für die hochtechnologische Zivilisation ohne die regulative
Geltungsidee des Diskursuniversums i. S. einer idealen Kommunikationsgemeinschaft, in der
die Ansprüche jedes Betroffenen gleichermaßen zur Geltung gebracht und geprüft würden.
Die Verantwortungskrise unseres Zeitalters, diese Herausforderung zu einer unbegrenzten
Mitverantwortung all derer, die denken und handeln können und unbegrenzte Wirkungen
mitverursachen können oder schon mitverursachen, gibt uns den Anstoß,. diese Idee
einzuholen, die logisch von vornherein mit den Begriffen der Vernunft, der Wahrheit und der
Philosophie verwoben ist. Jetzt müssen wir sie ausdrücklich machen und ihr auch praktisch zu
entsprechen versuchen, wenn wir nicht den Kopf in den Sand stecken, die neuartige
Menschheitsverantwortung nicht ignorieren und verfehlen wollen. Gerade eine Einleitung in
die Praktische Philosophie hat allen Anlaß, diese Idee zu denken. Das wird uns tiefer in den
Diskursbegriff hineinführen.
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Doch lassen sie uns zuvor die Dimensionen des (postmodernen) menschlichen Handelns
präzisieren, indem wir die Analyse des Jahres 1980 aktualisieren und vertiefen:
Mikro-, Meso-, Makro- und Tiefendimension des zu Verantwortenden
Situation 1980 nach Apel und Böhler, Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik:
Ethische Probleme treten gegenwärtig in drei verschiedenen Auswirkungsbereichen
menschlicher Handlungen auf: in einem Nah- oder Mikrobereich der unmittelbaren
Interaktion zwischen Menschen im sog. Privatleben, in einem Mittel- oder Mesobereich der
Interaktion politischer Handlungssubjekte, welche Gruppen- oder Nationalinteressen
vertreten, und schließlich in einem Groß- oder Makrobereich solidarischer Verantwortung der
Menschheit für das Lebensinteresse der menschlichen Gattung, bezogen auf die Gegenwart
und auf die kommenden Generationen. Darüber hinaus zeigt sich weltgeschichtlich erstmals,
daß ethisch bedeutsame Entscheidungs- und Regelungsprobleme des Mikro- und
Mesobereichs heutzutage die Tendenz haben, zu solchen des Makrobereichs zu werden: Z.B.
wird das scheinbar private Intimsphären-Problem der Geburtenregelung zu einer Streitfrage
internationaler Konferenzen über die Gefahren einer Überbevölkerung der Erde; und die
klassischen Probleme der politischen Staatsräson – so etwa die der Diplomatie und ihrer
militärischen Fortsetzung nehmen im Atomzeitalter auf den Abrüstungskonferenzen der
Weltmächte eine neue Dimension an, die schon deshalb nicht nur machtstrategisch, sondern
auch moralisch relevant ist, weil das Überleben der Menschheit davon abhängen kann.
Situation 2008 – mit Blick auf Jonas: „Das Prinzip Verantwortung“, 1979:
Dramatisierung des Atomproblems von der Mesoebene her: Konflikt der nördlichen
Atommächte mit Iran, zuvor mit dem Irak Sadam Husseins und mit Nordkorea. Weitere
atomare Rüstung der Großmächte!
Dramatisierung der Durchsetzungsstrategien von Gruppeninteressen durch unkontrollierte
(finanzkapitalistische) Bank- und Börsenspekulationen. Diese gefährden auch Bedingungen
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langfristiger Entwicklung und Zukunfts- bzw. Umweltinvestitionen, verstärken also
Makroprobleme.
Dramatisierung ökologischer und ökonomischer Makrobereichsprobleme (z.B. Ozon, sog.
Klimawandel, Wasserprobleme und –mangel, Feinstaub, Welthunger).
Ein vierter Verantwortungsbereich, die Tiefendimension der Verantwortung für Gehalt und
Verbindlichkeit des Moralprinzips, ergibt sich aus der faktischen Unterordnung allgemeiner
moralischer Orientierungsbegriffe wie >Menschenwürde< und Intuitionen wie >Ehrfurcht vor
dem Leben< unter partikulare Interessen des Mikrobereichs (Heilungs-, Kinderwunsch) oder
des Mesobereichs (technologisches Industrieinteresse).
158
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2.3
11.12.2009
Diskurs und Vernunft: ideale versus reale Kommunikationsgemeinschaft und
Normen der Diskurspartnerrolle.
Den Diskursbegriff philosophisch zu bestimmen, heißt zumal „Vernunft“ zu rekonstruieren.
Bezieht sich der Vernunftbegriff doch auf die Kompetenz (traditionell: das Vermögen)
sowohl zu sinnvoller, nachprüfbarer Argumentation zwischen (einem Plural von)
vernunftfähigen, leibhaften und individuierten Wesen194 wie auch auf die Fähigkeit einer
reflexiven Selbsteinholung der internen Voraussetzungen des argumentativen Handelns. Erst
eine solche Selbsteinholung eröffnet auch die praktische Dimension der Vernunft. Das ist
einmal die Selbstverantwortung195 der Argumentationsteilnehmer für ihre Beiträge und für die
dialogischen Beziehungen, die sie aufgenommen haben, indem sie (möglichen oder
anwesenden) anderen gegenüber etwas als etwas Bestimmtes geltend machen. Das ist zudem
die (damit verwobene) Mitverantwortung von Diskursteilnehmern196 unmittelbar für den
Diskurs selbst, mittelbar auch für dessen weltweite (gesellschaftliche, aber auch ökologische)
Realisierungsbedingungen und schließlich für die Bemühung, die Diskursergebnisse praktisch
umzusetzen – im Alltag wie in Recht, Politik und Wirtschaft.
Zu den grundlegenden Einsichten besagter Selbsteinholung gehört es, daß die
kommunikative Argumentationssituation unhintergehbar ist – nicht in dem empirischen, hier
nachgerade absurden Sinne einer permanenten Festlegung menschlicher Praxis auf nichts
anderes als auf ein faktisches Argumentieren, vielmehr im geltungslogischen Sinne. Das
heißt, die Argumentationssituation ist unhintergehbar auf der logischen Ebene dessen, was
gültig sein kann; unhintergehbar ist sie, wenn es darum geht, Ansprüche auf Verständigung
und Geltung einzulösen. Um das zu erkennen, bedarf es freilich einer Umstellung des
Denkens: von der theoretisch eingestellten Betrachtung oder Rekonstruktion zu einer
194
Vgl. H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960 und Münster o. J., §§ 24, vgl. § 32; dies.,
Vom Leben des Geistes, München 1979: Das Denken, 182-190; vgl. Das Wollen, 426 f.; vgl. W. Kuhlmann,
Beiträge zur Diskursethik. Studien zur Transzendentalpragmatik. Würzburg 2006, 9 ff., passim.
195
Klassisch bei Edmund Husserl, der den Skeptiker sinnkritisch mit dem Anspruch auf Selbstverantwortung
seines Denkens konfrontiert: „Aller echter Skeptizismus […] zeigt sich durch den prinzipiellen Widersinn an,
daß er in seinen Argumentationen implizite, als Bedingungen der Möglichkeit ihrer Geltung, eben das
voraussetzt, was er in seinen Thesen leugnet.“ (E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und
phänomenologischen Philosophie Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Bd. III/1
der Husserliana, hrsg. v. K. Schuhmann, Den Haag 1976, § 79). Kritisch zu Husserls subjektphilosophischer
Fassung des Selbstverantwortungspostulats: K.-O. Apel, Auseinandersetzungen in Erprobung des
transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt a. M. 1998, 72 ff. Für eine durchgeführte
sprachpragmatische Kritik: H. Gronke, Das Denken des Anderen. Führt die Selbstaufhebung von Husserls
Phänomenologie der Intersubjektivität zur transzendentalen Sprachpragmatik? Würzburg 1999.
196
Vgl. die Beiträge von Apel und Böhler, in: K.-O. Apel u. H. Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung.
Grundlage für Ethik und Pädagogik. Würzburg 2001.
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„Reflexion auf den Diskurs im Diskurs“197 – will sagen: in dem gerade strittig geführten
Diskurs, dem aktuellen argumentativen Dialog. Allein eine sokratisch sinnkritische Reflexion
auf den Diskurs und seine konstitutiven Voraussetzungen, sofern sie in dem jeweiligen
argumentativen Dialog mit dem Skeptiker durchgeführt wird, vermag zu demonstrieren, daß
„reine Vernunft für sich praktisch“, nämlich moralisch verpflichtend sein kann198. Und erst,
wenn das erwiesen ist, darf man eigentlich von der Einheit der Vernunft sprechen, nämlich
der praktischen und der theoretischen, als auch von der Einheit der Philosophie mit der
theoretischen, worauf wir wiederholt zurückkommen werden.
Kommunikationsbezogen gewendet, bedeutet das: Vernunft ist eine Kompetenz, die ‚ich’
(auch als skeptisch Argumentierender) nur ausüben kann, insofern ‚ich’ schon in das ethisch
geladene und moralisch verpflichtende Verhältnis, nämlich in das des argumentativen Dialogs
und der reziproken Anerkennung von Argumentationspartnern, eingetreten bin. Rationalität
ist demzufolge nicht bloß als Verstand, als formelle Diskursivität („theoretische“,
„instrumentelle“, „strategische“ Vernunft) zu denken, sondern nachkantisch, nachpeircisch
und posthusserlsch als eine im Grunde „kommunikative Kompetenz“199, deren Wahrnehmung
ein mehrstelliges Dialogverhältnis mit moralischen Verbindlichkeiten voraussetzt. Diese
werden von jedem, der überhaupt etwas zu verstehen gibt und geltend macht, selbst dann
implizit in Anspruch genommen, wenn er sie bloß formell, logisch, technisch oder
funktionalistisch versteht, also mißversteht.
Das formelle, vielfach zweckrationalistisch verengte Rationalitätsverständnis, wie es in der
hochtechnologischen Phase der Wissens-, Medien- und Wissenschaftsgesellschaften
vorherrscht, müßte in dem Diskursbegriff als Begriff des argumentativen Dialogs ebenso
kritisch aufgehoben werden wie die Intersubjektivitäts- und Kommunikationsvergessenheit
des traditionellen Vernunftbegriffs. Das ist der Anspruch der sprachpragmatischen Entfaltung
des
Diskursbegriffs
zwischen
Jürgen
Habermas’
sprachtheoretischem
und
sozialwissenschaftlichem Rekonstruktionsansatz (im Sinne einer formalpragmatischen
„Theorie des kommunikativen Handelns“) und der transzendental angesetzten Pragmatik
Karl-Otto Apels200, aus der sich eine gestufte Diskurspragmatik entwickelte201: theoretische
197
K.-O. Apel, Auseinandersetzungen, S.179.
I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft (AA, 218), vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA, 461).
199
J. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen (Vgl. Anm. 7), S.101 ff.
200
K.-O. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in: ders.,
Transformation der Philosophie, Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt a. M. 1973,
358-435; ders., Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen, in: ders.,
Auseinandersetzungen (Vgl. Anm. 10), S.281 ff.
201
W. Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung. Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik, Freiburg/München
1985, bes. Kap. 2, vgl. Kap. 5; ders., Systemaspekte der Transzendentalpragmatik, in: ders.,
Sprachphilosophie – Hermeneutik – Ethik. Studien zur Transzendentalpragmatik, Würzburg 1992, S.270 ff.;
198
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Rekonstruktion von Sinnvoraussetzungen des Diskurses als vorläufige, weil fallible Stufe, und
sinnkritische sokratische Reflexion im Dialog als definitive Stufe einer Selbsteinholung –
definit, weil sie einen reflexiven Verbindlichkeitserweis der rekonstruierten Sinnbedingungen
und ihres moralischen Gehalts leisten kann.
Die Rekonstruktion des je schon mitgebrachten tacit knowledge oder Handlungswissens
vom Diskurs202 entfaltet und systematisiert jenes lebensweltliche und geistesgeschichtlich
vermittelte (resp. in der Philosophiegeschichte schon explizierte!) Vorverständnis des
Dialogs, von dem ‚wir’ in der Kommunikation zehren, wenn wir anderen gegenüber etwas
geltend machen wollen. Die Rekonstruktion von Diskurspräsuppositionen kann plausibel
machen – aber als theoretische, daher fallible Leistung nicht außer Zweifel stellen –, daß
menschliche Tätigkeit überhaupt und das damit verwobene kommunikative Handeln nur im
Blick auf bestimmte Geltungsansprüche verständlich ist, die auf mögliche Diskurse
verweisen:203 Als Ansprüche auf intersubjektive Gültigkeit transzendieren sie ebenso die
faktische Situation samt Kontext wie den subjektiven Horizont des Handelnden bzw.
Denkenden. Beziehen sie sich doch auf reale und virtuelle andere Anspruchssubjekte als auf
(mögliche) Argumentationspartner.
Eine selbsteinholende Klärung des Diskursbegriffs sieht sich vor eine Reihe von
Herausforderungen gestellt: Läßt sich in terms of discourse die Einheit der Vernunft in ihren
Differenzen erschließen – im Spannungsfeld von Logik und Ethik, von instrumenteller versus
praktisch verbindlicher Vernunft, strategischer versus dialogischer Einstellung usw.? Lassen
sich die beiden Eckpunkte des Diskursbegriffs, der transzendentale Rückbezug des Denkens
auf die argumentative Kommunikation und die Idee der Selbsteinholung, als verbindliches
normatives Telos des Diskurses erwiesen?204 Das wäre umso nötiger, als ihr kritischer
D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion.
Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie, Frankfurt a. M. 1985, bes. Kap. V.4 und 5
sowie VI; ders., Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik versus kulturalistische (Unternehmens-)Strategik.
Besteht eine Pflicht zur universalen Dialogverantwortung?, in: H. Steinmann, A. G. Scherer (Hg.), Zwischen
Universalismus und Relativismus, Frankfurt a. M. 1998, S.126 ff.; dazu H. Gronke, Die Praxis der Reflexion,
in: H. Burckhart u. H. Gronke (Hg.); Philosophieren aus dem Diskurs, Würzburg 2002, bes. S.34-40.
202
A. Damiani, Handlungswissen. Eine transzendentale Erkundung nach der sprachpragmatischen Wende. Phil.
Habilitationsschrift, Freie Universität Berlin, 2007.
203
D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik (Vgl Anm. 16), bes. S.120 ff., S.296-299, S.328-348, S.359 ff.; D.
Böhler, M. Werner, Alltagsweltliche Praxis und die Rationalitätsansprüche der Kulturwissenschaften, in: F.
Jaeger, J. Straub (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen,
Stuttgart/Weimar 2004, 69-84; J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a. M.
1981, bes. Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, S.25-71, S.163-200.
204
Ein Gegenexempel zu unserer Vorgehensweise bildet Peter Kohlhaas’ Studie zur Wort- und
Begriffsgeschichte von ‚Diskurs’, die theoretisch distanzierend verschiedene Verwendungsweisen von
‚Diskurs’ erläutert. Sie unterstellt offenbar, man könne hierbei einen neutralen Beschreibungsstand-punkt
einnehmen. Folglich disqualifiziert sie eine normative Entwicklungsperspektive als „rigide“ – unabhängig
davon, ob diese sich rechtfertigen läßt oder nicht. Vgl. P. Kohlhaas, Diskurs und Modell. Historische und
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Orientierungssinn in methodisch grundsätzlicher Differenz zu allen Lebenswelten, allen
Handlungswelten oder Systemwelten, ja auch zu jeder Geistesgeschichte steht, so daß sie sich
nicht einfach daran „anschließen“ lassen. Diese Differenz ist prinzipiell, also unaufhebbar,
weil jene Eckpunkte regulative Ideen bzw. Kriterien für Gültigkeit einschließen, die einen
idealen Maßstab formulieren: Einen ‚Maßstab‘, den man nicht in der Hand hat, weil er eine
nie abschließbare Aufgabe bezeichnet – etwa die Aufgabe einer reinen Argumentationspraxis
und eines Konsenses auf der Basis aller geprüften Argumente zur Sache. Allerdings
erscheinen
regulative
Ideen
den
nach
Wittgenstein
und
Heidegger
verbreiteten
kontextualistischen Spielarten eines Neo-Pragmatismus (ohne Peirce) als sinnlos bzw. als
metaphysisch205. Denn ein solcher Neopragmatismus läßt nur das gelten, was innerhalb eines
gegebenen Sprach- und Handlungskontextes entweder vorfindlich ist (wie etablierte Regeln),
oder was sich innerhalb dieses Rahmens rekonstruieren läßt, etwa mit John R Searle. Er
unterscheidet „konstitutive Regeln“, die die richtige Handlungsweise z.B. eines Spiels
angeben,
wie
etwa
„Elfmeterschießen“,
von
zusätzlich
vereinbarten
regulativen
Konventionen, wie etwa Anstandsregeln.206 Ganz anders die regulativen Geltungsideen: Sie
transzendieren einen empirischen Kontext grundsätzlich. So überschreitet die Idee eines rein
argumentativen Konsenses jede faktische Diskussion und jeden empirisch erreichten Konsens.
Die Transzendentalpragmatik macht geltend, daß solche kontextüberschreitenden Ideen
gleichwohl denknotwendig sind, auch wenn nirgendwo in der Welt ein rein argumentativer
Konsens (auf der Grundlage aller relevanten Argumente zur Sache) auffindbar sein kann.
Darauf kommen wir zurück.
Die Idee des Diskurses und die ersten Ansätze zur Entfaltung der in ihm angelegten
Gegenseitigkeitsstruktur haben im Athen des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts
Schule gemacht, ja sie haben eine Kultur des Miteinander-Denkens und Miteinander-Streitens
eröffnet – nach dem Urbild des Sokratischen Dialogs als Institution des Gründe-Gebens, des
λόγον διδόναι (logon didonai). Denn Sokrates sucht nach dem geltungslogisch Allgemeinen,
nach Wahrheit und richtiger Definition, und führt diese Suche in Form eines dem
Gerichtsverfahren entlehnten έλεγχος (elenchos) durch. In Europa entwickelte sich daraus das
systematische Aspekte des Diskursbegriffs und ihr Verhältnis zu einer anwendungsorientierten Diskurstheorie.
In: H. U. Nennen (Hg.), Diskurs. Begriff und Realisierung. Würzburg 2000, 29-56.
205
Vgl. A. Wellmer, Der Streit um die Wahrheit. Pragmatismus ohne regulative Ideen, in: D. Böhler, M.
Kettner, G. Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel,
Frankfurt a. M. 2003, 143-170; kritisch dazu: K.-O. Apel, Wahrheit als regulative Idee, a.a.O., S.171-196; H.
Gronke, Die Relevanz von regulativen Ideen zur Orientierung der Mit-Verantwortung. Eine Verteidigung von
Apels transzendentaler Transformation des Pragmatismus, a.a.O., S.260-282. Vgl. auch M. Sandbothe (Hg.):
Die Renaissance des Pragmatismus. Aktuelle Verflechtungen zwischen analytischer und kontinentaler
Philosophie, Weilerswist 2000.
206
John R. Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt a.M. 1971, S. 54 ff.
162
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Paradigma kritischer Vernunft, in dem die Gerichtshofmetapher – am pointiertesten in Kants
„Kritik der reinen Vernunft“207 – eine ausgezeichnete Rolle spielt. Dank seiner Kritik eines
Scheinwissens, das unfähig ist, die naiv behaupteten Interessen und Meinungen als
Geltungsansprüche einzulösen, und dank seiner Aufnahme juridischer Verfahrenselemente
weist das Modell des Sokratischen Dialogs noch über Kant hinaus auf ein kommunikatives
Verständnis von „Kritik“ und „Vernunft“, von „Geltung“ aus Gründen und „Gewißheit“
durch Rechtfertigung.
Bis auf die Gegenwart nur unterschwellig wirksam oder gar, wie bei Descartes,
solipsistisch ausgeklammert, blieben der egalitär kommunikative Verständigungsaspekt und
die dialogische Ethik des Diskurses, obzwar beide schon in Platons sokratischen Dialogen,
auch durch deren dialogische Gestaltung208 angelegt oder unterstellt sind. Maßgeblich dafür
war die ontologische, und zwar ideentheoretische Überformung der freien Verständigung
unter Gleichberechtigten und ihrer gemeinsamen moralischen Basis als Dialogpartner: Der
Seinstheologe Platon verdrängte den Dialog zunehmend durch eine spekulative Wesensschau,
die theoria. Ineins damit überformte und verdrängte er den, in der „Apologie“ und den
Dialogen „Kriton“, „Gorgias“ und „Thrasymachos“ spürbaren Ansatz einer Moralbegründung
durch dialogische Besinnung auf normative Orientierungen, die ein Dialogteilnehmer in
Anspruch nehmen muß, wie Gerechtigkeit als Anerkenntnis der Gleichberechtigung bei der
Wahrheitssuche.209 Platon zwängte den Sokratischen Richtungsstoß zu einem Denken aus
dem Dialog in den undialogischen Rahmen einer Seinsschau – einer geistigen Schau des
Ganzen und seines Urgrundes. Diesen bestimmte er als das ewig in sich ruhende Gute und
Eine. Den Diskursansatz des Sokrates, dessen konsequente Durch- und reflexive
Weiterführung ein Denken jenseits einer uneinholbaren Metaphysik erlaubt hätte, ersetzte
Platon durch eine spekulative Kosmostheologie.
Das ontologische Paradigma der antiken theoria ist in der Neuzeit kraft eines
Reflexionsfortschritts von dem subjektphilosophischen bzw. mentalistischen Paradigma der
Bewußtseins- und Transzendentalphilosophie abgelöst worden. Nun fragte die Philosophie
nach Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis. Diese neue, von Kant „transzendental“
genannte Fragestellung weist jedoch über den Rahmen des Bewußtseins oder subjektiven
Geistes (mens) hinaus auf eine sprachlich erschlossene Welt (Humboldt, Wittgenstein und
Heidegger) und auf das Selbstverhältnis des Erkenntnissubjekts, welches nicht prinzipiell
207
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (A S.XI f; B S.697, S.767 f, S.779f.)
Vgl. zur literarischen Form des philosophischen Dialogs: V. Hösle, Der philosophische Dialog, München
2006.
209
Zur impliziten Sprach- und Dialogethik bei dem (noch) sokratisch orientierten Platon: V. Hösle, Wahrheit
und Geschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1984, 314-359.
208
163
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11.12.2009
einsam sondern ein Verhältnis des Dialogs ist. Nur als leibhafter, daher ‚interessierter’
Teilhaber an einer (bereits Sinn erschlossen habenden) Welt kann ein Bewußtsein überhaupt
Perspektiven entwickeln und selber Sinn ‚haben‘, so daß es Bewußtsein von etwas als etwas
wird: verständliche Intentionalität, handlungsleitendes Interesse, motivierender Wert.
Keinerlei Interesse an etwas und kein Verstehen von etwas als etwas Bestimmtem ohne das
„Leibapriori“
einer
Sprach-
und
Handlungsgemeinschaft
als
realer
Kommunikationsgemeinschaft.210 Das ist die eine Seite von Apels zwiefältigem „Apriori der
Kommunikationsgemeinschaft“; sie schließt zumal an die transzendentalen Einsichten der
sprachhermeneutischen
Tradition
zwischen
dem
römisch-italienischen
rhetorischen
Humanismus und der Linie Humboldt – Dilthey – Heidegger – Gadamer an.
Es kommt hinzu, daß ein Denkender sein Gedachtes nicht etwa als ein absolut einsames
Subjekt – ein pures „Ich denke“ – geltend machen kann, sondern allererst als
Kommunikationsteilnehmer: als „Ich behaupte euch gegenüber“, d.h. in einem dialogischen
Verhältnis zu realen Adressaten und zu möglichen Diskursteilnehmern. Denn immer dann,
wenn ‚ich‘ einen Gedanken als richtige Antwort auf ..., als zutreffende Beschreibung von ...
ansehe, dann habe ‚ich’ diesen damit implizit gegenüber all denen als gültig behauptet, die
‚meinen’ Gedanken würden prüfen und ihm würden zustimmen bzw. ihn kritisieren können.
Insofern hat sich das, empirisch vielleicht nur im Selbstgespräch denkende, Erkenntnissubjekt
auch auf eine „ideale Kommunikationsgemeinschaft“ (Apel) bezogen. Daraus ergibt sich die
dialektische Aufhebung des Ansatzes bei einem methodisch solitären Vernunftsubjekt in das
Konzept des argumentativen Dialogpartners.
Das rekonstruktive Konzept eines zwiefältigen Aprioris der Kommunikationsgemeinschaft,
von Apel als Kernstück einer sprach-, leib- und diskursbezogenen „Transformation der
[sprach-, leib- und daher z.T. auch dialogvergessenen] Philosophie“ eingeführt, läßt sich
folgendermaßen zusammenfassen:
Die transzendentalpragmatische Dialektik diskurspragmatisch expliziert211
210
Vgl. M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, bes. Kap. VI. Der Leib als
Ausdruck und die Sprache, S.207 ff.; dazu A. Podlech, Der Leib als Weise des In-der-Welt-seins, Bonn 1956.
Vgl. auch K.-O. Apel, Transformationen (Anm. 15), Bd. 1: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik, S.25 und
S.96-100, S.111 ff.; ders., Das Leibapriori der Erkenntnis. Eine erkenntnisanthropologische Betrachtung im
Anschluß an Leibnizens Monaden-Lehre, in: Archiv für Philosophie 12 (1963), S. 152-172. In
Auseinandersetzung mit Karl Marx und Ludwig Feuerbach: D. Böhler, Metakritik der Marxschen
Ideologiekritik. Prolegomenon zu einer reflektierten Ideologiekritik und Theorie-Praxis-Vermittlung. Frankfurt
a. M. 11971, 2. korr. Aufl. 1972. S.93-102, S.255-268 und S.200-217.
211
Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Bd. II, Frankfurt a.M. 1973, bes. S.423-435.
164
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
Wenn du zurückgehst auf dich als Denkenden/Sprechenden bzw. Diskurspartner,
erkennst du in deinem Gedachten/Gesagten, da du geltend machst/implizit behauptest,
zugleich partikulare Bedingtheiten (a) und universal
Gültiges/Verbindliches (b).
1. Reale Kommunikations- und Praxisgemeinschaft
Sinnkonstitution (W. v. Humboldt: „Weltsicht“) durch Sprache als geschichtlich
vorgebildetem aber stets bildsamem Sinnhorizont und partikulare Praxisperspektive durch
Selbstbehauptungsinteressen (a) versus argumentativer Diskurs als kommunikativer
Metainstitution,
welche
Begründung
und
Verständigung
gemäß
vorgängiger
Geltungsansprüche und Dialogversprechen ermöglicht (b).
(a) Geschichtliche Situierung in einer partikularen „Lebenswelt“ (Husserl, Heidegger,
Wittgenstein)
samt
„Geworfenheit“
(Heidegger)
in
vorgegebene
Ausgangsbedingungen des Daseins mit dem basalen Interesse an Daseins- bzw.
Selbsterhaltung samt Tendenz zu strategischer Durchsetzung und mit der
einschränkenden Perspektivität des Etwas-vor-einem-bestimmten Erfahrungs-
und
Bewertungshintergrundes- Wahrnehmens und Verstehens.
(b) Tendenz zur Transzendierung von (a) durch Reflexion und argumentative Diskurse:
Schon eine Sinnverständigung (auch als Konkretion des Sinnhorizonts einer Sprache)
schließt Ansprüche auf virtuell universale Geltung ein: auf Verständlichkeit der Rede,
Wahrhaftigkeit der Absicht, Wahrheit der Beschreibung und moralische Richtigkeit
der Aufforderung/Norm. Werden diese Ansprüche nicht mehr bloß als eingelöst (bzw.
als von Institutionen garantiert) unterstellt, sondern auchproblematisiert, was seit der
„Achsenzeit“ (Karl Jaspers) der Hochkulturen212 zunehmend der Fall ist, dann nimmt
die lebensweltliche Verständigung die kritische und begründende Form des
argumentativen Diskurses (Habermas) an.213
212
Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Frankfurt a.M. 1955, bes. Kap. 1 und 5.
Jürgen Habermas, Was heißt Universalpragmatik? In: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie
kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1984, S. 353 ff., bes.S. 353-358, S.404-423.
213
165
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11.12.2009
2. Ideale Kommunikationsgemeinschaft
Kraft jener Geltungsansprüche sind Menschen virtuelle Diskurspartner und damit Mitglieder
einer idealen Kommunikationsgemeinschaft, in der nur sinnvolle Argumente zählen, und in
der jedes sinnvolle Argument zur Sache aufgesucht und geprüft würde.
Einlösbar sind Geltungsansprüche durch oder in bezug auf Argumente; und zwar bei
Erfüllung einer Reihe von vorgängigen Dialogversprechen, die man bereits durch Übernahme
der Rolle eines Diskurspartners implizit abgegeben hat; z.B. das Versprechen
–
der Beachtung der Instanz einer unbegrenzten, strikten Argumentationsgemeinschaft
als Geltungsinstanz aller faktischen Kommunikationsbeiträge und
–
der gegenseitigen Anerkennung als gleichberechtigter Mitglieder einer
Argumentationsgemeinschaft, d.h. als Geltungsansprucherheber oder –prüfer mit
Anspruch auf Achtung ihrer Menschenwürde.
Aus der Dialektik von (1) und (2) lassen sich zwei grundlegende regulative Prinzipien für eine
langfristige moralische Handlungsstrategie jedes Menschen, jeder Institution etc. ableiten: In
allem Tun und Lassen soll es darum gehen,
1.
das Überleben der menschlichen Gattung als der realen Kommunikationsgemeinschaft sicherzustellen und
2.
in der realen Kommunikationsgemeinschaft solche Verhältnisse anzustreben, die
denen einer idealen möglichst nahekommen, also dialogische Verhältnisse unter
gleichberechtigten und möglichst solidarisch mitverantwortlichen
Partnern.
Die Rede von Approximation oder gar von Verwirklichung ist hier jedoch mißverständlich,
weil sie aus der Geltungslogik in die Utopie springt (als könne der utopische Zustand einer
idealen Kommunikationsgemeinschaft ein Handlungsziel sein). Das wäre unvereinbar mit
dem Sinn einer „regulativen Idee“ als einer Geltungs- bzw. Diskursperspektive und eines
Metakriteriums der Gültigkeit von Diskursbeiträgen.
Wir „verwirklichen“ jedoch die Idee der idealen Argumentationsgemeinschaft jetzt und hier
im Diskurs insoweit, als wir die Rolle des Diskurspartners ausfüllen und als es uns einzig um
sinnvolle, geltungsfähige Argumente zur Sache geht. Und wir werden dieser Idee in der
Praxis
insoweit
gerecht,
als
wir
solche
Beratungs-,
Anerkennungs-
und
166
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
Entscheidungsverhältnisse bewahren, entwickeln oder erst herbeiführen, die ihrem
dialogischen Sinn möglichst entsprechen.
Fassen wir diesen Punkt zusammen: Das Konzept der idealen Kommunikations-gemeinschaft
ist eine regulative Idee, die als Geltungsidee eine indirekte Orientierung für das Handeln,
nämlich als letzthinnige Richtungsbestimmung gibt. Das, was zu ihrer Befolgung unabdingbar
nötig ist, erschließt sich durch eine aktuelle Reflexion im Diskurs auf den Diskurs. Und was
ist – geltungslogisch und moralisch – absolut erforderlich? Jeweils unsere Bemühung, vier
Geltungsansprüche und die damit verwobenen Dialogversprechen einzulösen. Es sind die
folgenden:
167
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Sinnbedingungen eines Dialogbeitrags als Normen der Diskurspartnerrolle und
Elemente des Diskursprinzips.
Diskurspragmatisch sinnvoll, d.h. diskutierbar als Beitrag zu einem argumentativen
Dialog, ist eine Rede, ein Gedanke als Versuch der Einlösung bzw. Erfüllung von
vier Geltungsansprüchen (a):
einlösbar durch:
Selbstverantwortung
Selbst- und
Mitverantwortung
erfüllbar
durch:
Selbstverantwortung
Selbstund
Mitverantwortung
a1) Anspruch auf Verständlichkeit der Redehandlungen (R) als
Nachvollziehbarkeit ihres Sinns mit Widerspruchsfreiheit
des propositionalen Gehalts (P) als P, als Teil von R und von
R als Diskursbeitrag (Voraussetzung für Andere, mit dem
Sprecher (S) über R kommunizieren zu können),
a2) Anspruch auf Wahrhaftigkeit der Sprecherintention samt
Glaubwürdigkeit der Diskursbereitschaft (Voraussetzung
für Andere, mit S über R kommunizieren zu wollen, sich auf
R einlassen zu können),
a3) Anspruch auf Wahrheit bzw. Wahrheitsfähigkeit meiner
Proposition, so daß sie im Diskurs ernsthaft (s.o.: a2)
vorgebracht und intersubjektiv geprüft werden kann,
a4) Anspruch auf Legitimität bzw. Richtigkeit von Normen und
Handlungsweisen (auch ‚meiner’ in der Diskussion),
woraufhin sie im Diskurs geprüft werden können;
konstitutive
Bedingung für
Kommunikation
überhaupt
teils konstitutive
Bedingung, teils
regulative Idee
mit konstitutiver
Funktion für
Dialoge und
Kooperationen
und sechs vorgängigen Dialogversprechen (b):
Sinngeltung
b1) sich den Anderen mit prüfbaren Diskursbeiträgen als
autonomer Diskurspartner zur Verfügung zu stellen, also
sich um widerspruchsfreie und sachlich wahrheitsfähige
Dialogbeiträge zu bemühen,
b2) die nicht begrenzbare Gemeinschaft aller möglichen
Anspruchssubjekte, mithin das Universum der sinnvollen
Argumente bzw. der sinnvoll argumentierbaren
Lebensansprüche als letzte Sinn- und Gültigkeitsinstanz,
(selbst- und ergebniskritisch) zu berücksichtigen, also auch
nach möglichen besseren Argumenten zu suchen,
b3) allen Anderen gleiche Rechte als möglicher Dialogpartner
zuzuerkennen und ihre Würde zu achten:
Diskursgerechtigkeit (mit Fairneß) und Menschenwürde,
b4) mitverantwortlich zu sein für den Diskurs (als Möglichkeit
der Verantwortung, jetzt und in Zukunft,
also auch für die (in konkreten, falliblen Diskursen zu
ermittelnden) menschen-rechtlichen, ökologischen, sozialen
und kulturellen Realisierungsbedingungen öffentlicher
Diskurse,
b5) die Fallibilität von Situationsanalysen und
situationsbezogenen Diskursen zu berücksichtigen, also
deren Ergebnisse revisionsfähig zu halten und keine
irreversiblen Handlungsweisen zu empfehlen, deren Folgen
mit (b1) bis (b4) unverträglich sein können,
b6) auch in diesem Sinne (b5) mitverantwortlich zu sein für die
tendenzielle Umsetzung der Diskursergebnisse in die
alltagsweltlichen und gesellschaftlichen Praxisfelder.
diskursbezoge
ne regulative
Ideen mit
konstitutiver
Funktion für
Dialoge und
Kooperationen
168
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Kehren wir zurück zu unserer Skizze der Philosophiegeschichte! Unsere entwicklungslogische Interpretation von Haupttendenzen bzw. Paradigmen der Philosophie in ihrer
Geschichte – nämlich Sein versus Subjekt versus Sprache und argumentativer Diskurs – legt
sich nach der sprachpragmatischen Wende nahe und erfährt heute mehr und mehr
Zustimmung,
so
daß
sie
in
unterschiedlichen
Varianten
vertreten
wird.214
Die
diskurspragmatische Version sieht folgendermaßen aus:
214
Als partes pro toto: E. Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie,
Frankfurt a. M. 1976; E. Tugendhat u. U. Wolf, Logisch semantische Propädeutik, Stuttgart 1983, 8 f., 17 ff. u.
ö.; H. Schnädelbach, Philosophie, in: E. Martens u. H. Schnädelbach (Hg.), Philosophie. Ein Grundkurs, Bd.
1, Reinbek 1991, 37-76; T. Lücke, Mit skeptischen Fragen durch die Philosophiegeschichte, in: H. Burckhart
und H. Gronke (Hg.), Philosophieren aus dem Diskurs (Anm. 16), 45-69. Vgl. D. Böhler, T. Nordenstam und
G. Skirbekk (Hg.), Die pragmatische Wende. Sprachspielpragmatik oder Transzendentalpragmatik? Frankfurt
a. M. 1986.
169
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
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Die drei (Haupt-) Paradigmen der Philosophiegeschichte
(idealtypisch in diskurspragmatischer Sicht)
Hauptepoche
Klassische Antike
(Platon, Aristoteles)
Erkenntnishaltung/Methoden
Gegenstand
Schau mit Analyse (der
Das „Sein“ (Seiendes als
Strukturen des Seienden):
Wesenheit/Substanz/Idee und
theoria
im Ganzen bzw. Kosmos)
Das vom „Subjekt“
Erkennbare und das Subjekt
als
Neuzeit
(seit Descartes)
Reflexion (auf das Subjekt)
Erkenntnisinstanz
mit transzendentaler
Erkenntnisanalyse
Kant: Bedingungen der
Möglichkeit der
Erfahrung/Erkenntnis
Sprache/Handlung und
kontextualistische Praxis-
Erkenntnissubjekt/Sprecher in
Moderne (seit W.v.
oder Diskurs-Rekonstruktion
Sinnwelt als
Humboldt, Ch. S.
versus
realer Kommunikations-
Peirce, Heidegger u.
transzendentalpragmatische
gemeinschaft (KG) und in
Wittgenstein II)
Rekonstruktion und
bezug auf das
Reflexion
Diskursuniversum bzw. die
ideale KG
Die Interpretation der Philosophiegeschichte im Sinne einer Sukzession von drei Paradigmen,
von denen das je folgende den Anspruch erhebt, das voraufgegangene dialektisch „aufheben“
(Hegel), eröffnet eine entwicklungslogische Sicht und Beurteilung des Labyrinths, das wir
„Philosophiegeschichte“ nennen. Diese Sicht- und Beurteilungsweise hat die normative,
moralphilosophisch aufgeladene Pointe, welche die Grundlagen der Theoretischen und der
Praktischen Philosophie, die theoretische Vernunft und die praktische, miteinander verbindet,
170
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11.12.2009
so nämlich, daß wir überhaupt die Befugnis erlangen von der Philosophie als Disziplin im
Singular zu sprechen – und auch von Vernunft als einer Kompetenz, zugleich des Erkennens
wie auch des Beurteilens und Orientierens. Wenn es eine Entwicklungslinie der Philosophie
gibt, und wenn das Zu-sich-selbst-Kommen der Vernunft in ihrer Selbsterkenntnis als
Vermögen des argumentativen Dialogs besteht, dann trifft sich unsere entwicklungslogische
Interpretation der Philosophie als sich aufstufender Disziplin der Vernunft mit der von
Lawrence Kohlberg erarbeiteten kognitivistischen Entwicklungslogik des moralischen
Urteils.215 Denn in der Auseinandersetzung zwischen Kohlberg und Habermas sowie Apel hat
sich gezeigt, daß das ausdifferenzierte moralische Urteil den kommunikativen Diskurs und
dessen Prinzip voraussetzt: die verallgemeinerbare Gegenseitigkeit.216 Dazu gleich.
215
L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt a. M. 1974; ders., Die Psychologie der
Moralentwicklung. Frankfurt a. M. 1996. Dazu: D. Garz, Lawrence Kohlberg zur Einführung, Hamburg 1996.
216
J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt a. M. 1976, S.63-91; ders.,
Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983, S.127-206; ders., Erläuterungen zur
Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991, bes. S. 92 ff.; K.-O. Apel, Geschichtliche Phasen der Herausforderung
der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen des moralischen Bewußtseins, in: Funkkolleg Studientexte
(Vgl. Anm. 6), (Erstausgabe als „Studienbegleitbrief 1“ im Jahre 1980), hier S.59-65, vgl. S.53 ff. und S.66153; D. Böhler, Verbindlichkeit (Vgl. Anm. 24) Kap. I.2.
171
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3
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Woher wir kommen: Biblisches Dialog- und Moral-Erbe, Erblasten der theoriaTradition
Es ist frappant, wird aber von den Philosophen so gut wie nicht bedacht, daß es zu dem
Paradigma der Kommunikation bzw. des Dialogs, in welches die Entwicklung der
Philosophie zu münden scheint, schon in der Achsenzeit zwei entscheidende Anstöße gegeben
hat: nicht allein den Sokratischen, der sogleich von der griechischen theoria-Tradition und
Kosmosmetaphysik abgefangen wurde, sondern den hebräischen biblischen des Sinai-Bundes
zwischen Israel und einem Gott, mit dem das Volk Israel kommuniziert, so sehr, daß die
biblische Religiosität geradezu auf der Kommunikation mit Gott als Bundespartner und als
Inbegriff (verstehbarer) Gerechtigkeit beruht.
Denn die hebräisch biblische Bundestheologie, insbesondere ihr Konzept des zwischen Gott
und Israel auf dem Sinai geschlossenen Bundes (hebräisch b’rit), entwickelt eine moralische
Vertrags-
und
Prinzipienorientierung,
die
das
(von
Kohlberg
als
Stufe
5
der
Entwicklungslogik rekonstruierte Urteilsniveau) des Sozialvertrags zwiefach überbietet: mit
ethisch universalistischer Tendenz, deren Zielpunkt die Idee der Menschenwürde, und zwar
im Rahmen eine Kommunikation mit Gott, die eine zunehmende Tendenz zum
argumentativen Dialog aufweist. Beides sowohl in der biblischen Überlieferung vom NoahBund Gottes mit der Menschheit und deren rechtsethischer Entfaltung im Talmud als auch in
den biblischen Überlieferungen vom Sinaibund zwischen dem einen Gott und Israel.
Erstens wird der Verpflichtungsgehalt des Sinaibundes durch das Gebot der Nächstenliebe
und Fremdlingsliebe ins Universale geweitet.217 Nicht eine Nutzenerwartung bzw. eine
utilitaristische Binnenmoral bestimmt in der Bundestheologie das, was gilt, sondern eine
intrinsisch moralische Orientierung. Hermann Cohen hat sie überzeugend herausgearbeitet.218
Dabei hat er gezeigt, daß der Monotheismus die – jedenfalls entwicklungslogische – Basis
einer universalistischen Ethik ist, die allererst zur Anerkennung aller Menschen als
Ebenbilder des Schöpfers verpflichtet und dazu überhaupt verpflichten kann.219
Zweitens: Es ist die besagte innermoralische Orientierung, die zum Abschluß bzw. zum
Einhalten des Bundes mit dem Gott motiviert, der einsehbar gerechte, folglich den Gerechten
und Weisen erfreuende Weisungen gibt: 1. Mose 1,27 und 9,5f; 5. Mose 10,12-21 und 32,1-4;
Josua 24; Micha 6,8; Psalm 119 etc.
217
So in dem priesterschriftlichen Buch Leviticus: 3. Buch Mose, 19,18 und 19,33
H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Darmstadt 1978, Kap. VIII, bes. S. 144155.
219
Ebd., S. 138 ff., 173 f., 276-284, 291-297, 468-474.
218
172
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Jedenfalls in den jüngeren, den nachexilischen Überlieferungen der Sinai-Bundestheologie, so
im Deuteronomium (5. Buch Mose), im Buche Josua und in Psalm 119, wird das Moment der
Einsicht und freien Anerkennung des Bundes durch Israel betont. Wenngleich die theonome
Motivation, das Vertrauen auf und die Ergebenheit in die Gerechtigkeit und die gute Macht
Gottes, weiterhin den Ton angibt220, wird eine gewisse autonome Motivation freigesetzt. So
sehr, daß der Bund mit Gott nicht länger als Unterwerfungsvertrag, sondern als freie
Übereinkunft verstanden wird und das Gottesverhältnis als Dialog mit einem absolut
verläßlichen, absolut gerechten Partner. Gottes Glaubwürdigkeit ist seine erkennbare
Gerechtigkeit. Das Verhältnis zu ihm soll weder eines der Unterwürfigkeit noch eines der
instrumentellen Tauschgegenseitigkeit i. S. eines „do ut des“ sein. Das eine wie das andere
findet im Opferkultus und in der priesterlichen Sühnetheologie Ausdruck, die im Buche
Micha geradezu ad absurdum geführt werden: Micha 6, 1-8 (diese Kapitel wohl um 400
v.Chr. hinzugefügt).221
Ich gebe hier die (formgeschichtlich gegliederte) Übersetzung Helmut Utzschneiders222, deren
fünftletztes Wort in Vers 8 („achtsam“) ich durch „einsichtig“ ersetzt habe. Der dramatisch
Text – das von dem Opferkultus belastete Volk führt einen Rechtstreit mit Gott, der zuerst
knapp auf seine geschichtlichen Heilstaten (6,3-5) verweist und dann die Quintessenz der
biblisch-jüdischen Ethik zu Bewußtsein bringt – lautet demgemäß so:
6,1 Erster Auftritt: Der Prophet ruft zum Rechtsstreit
Micha:
(an die Leser bzw. das Publikum)
1 Hört doch, was YHWH sagt!
(an YHWH)
Auf, führe einen Rechtsstreit mit den Bergen,
daß die Hügel deine Stimme hören!
(an die Berge)
2 Hört, ihr Berge, den Rechtstreit YHWHs,
und [merkt auf] ihr Grundfesten der Erde!
Ja, YHWH hat einen Rechtstreit mit seinem Volk,
und mit Israel wird er sich auseinandersetzen!
220
Vgl. Matthäus 22, 36-40 bzw. Markus 12, 28-31.
Analoge Stellen sind: 5.Mose 10,a; 1. Samuel 15,22; Hosea 12,7 und 10,12 sowie Amos 5,24. In der JesusÜberlieferung: Matthäus 23,23 und Lukas 11,42.
222
Helmut Utzschneider, Micha. In: Züricher Bibelkommentare, Zürch 2005, S. 129 ff.
221
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6,3-5 Zweiter Auftritt: Gottes Streit- und Rechtfertigungsrede
YHWE:
3 Mein Volk, was habe ich dir angetan
und womit habe ich dich ermüdet?
Antworte mir!
4 Ja, ich habe dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt
und aus dem Hause der Sklaverei habe ich dich erlöst;
und ich habe dann Mose, Aaron und Mirjam vor dir her gesandt.
5 Mein Volk, erinnere dich doch:
Was hat Balak, der König von Moab, beratschlagt
und was hat ihm Bileam, der Sohn des Beor, geantwortet?
[Erinnere dich] von Schittim bis Gilgal,
damit Wissen sei um die Heilstaten YHWHs!
6,6f Dritter Auftritt: Der Vorwurf des Volkes
Ein Repräsentant des Volkes:
6 Womit soll ich YHWH entgegentreten,
mich beugen vor dem Gott der Höhe?
Soll ich ihm mit Brandopfern entgegentreten,
mit einjährigen Kälbern?
7 Wird YHWH an Tausenden von Widdern Gefallen haben,
an Zehntausenden Bächen von Öl?
Soll ich meinen Erstgeborenen geben für meine Verfehlung,
die Frucht meines Leibes für mein Sündenleben?
6,8 Vierter Auftritt: Bescheid für das Volk
Micha:
8 Es ist dir verkündet, o Mensch, was gut ist
und was YHWH von dir fordert:
[nichts als] Recht üben,
und Güte lieben
und einsichtig wandeln mit deinem Gott.
Überdies wird von dem „prophetischen Katechismus“ Micha 6,8 bis zu Hillel und Jesus den
Gläubigen ein autonomes Prinzipienurteil (zumal bei Unsicherheit und in Normenkonflikten)
174
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gewissermaßen abverlangt223; am deutlichsten, wenn Hillel und Jesus die Gesetzgebung der
Thora und die Forderungen der Propheten zusammenfassen in der Goldenen Regel.224 In
logischer Zuspitzung würde daraus folgen: Unabhängig davon, wie die Gebote zustande
gekommen sein mögen, sie sind einsehbar gerecht; daher kann man sich auch kraft autonomer
Erkenntnis ihrer Geltungsgründe, mithin wie ein freier Diskurspartner, mit den Geboten
Gottes identifizieren, als habe man sie selbst gegeben. Diese Annäherung an die Kantische
Autonomie hat Cohen zu Recht zum Angelpunkt seiner moralischen Rekonstruktion „der
Quellen des Judentums“ gemacht.225
Die hebräisch biblische Annäherung an dialogische Autonomie wird von der christlichen
Metaphysik freilich mehr oder weniger preisgegeben. Zeigt sich hier doch die starke Tendenz,
das Gott-Mensch-Verhältnis weniger im Sinne einer „Korrelation“ (H. Cohen) oder gar der
Reziprozität eines Bundes zu bestimmen, als vielmehr gemäß einer einsinnigen Teleologie,
welche den Menschen unabhängig von seinem Willen in den Heilsplan Gottes einfügt. Damit
verbindet sich eine intellektualistische, neuplatonisch subjektbezogene Perspektive, die den
Menschen in einem Dualismus von Seele contra Körper zwängt, dort seine gottoffene
Innerlichkeit ansiedelt und hier seine sündenträchtige Äußerlichkeit. Dieser geradezu
gnostisch-manichäische Dualismus ist hoch ambivalent. Einerseits setzt er eine, ganz und gar
unbiblische, tragische Leibfeindschaft frei, andererseits ermöglicht er die Entdeckung der
Innerlichkeit des Menschen und seines Subjektcharakters, mithin einer Sphäre, die vom
Begriff der Autonomie vorausgesetzt ist, in der hebräisch biblischen Tradition aber kaum eine
Rolle spielt.
Klassiker dieses Dualismus und jener heilsgeschichtlichen Teleologie ist Aurelius
Augustinus (354 – 430), der Denkfiguren des Manichäismus und Neuplatonismus samt einem
quasi-aristotelischen Telosbegriff im Christentum verankert, zu dem er sich schließlich
bekehrt hat. Sein entjudaisiertes Christentum ist von dem hebräisch geschichtlichen Denken
des Bundesvolkes, welches in Kommunikation mit seinem Gerechtigkeits-Gott wandeln
wollte226, und von dem biblischen Liebesbegriff, der die Achtung aller Menschen als
223
Dazu D. Flusser, Jesus, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 68 ff., bes. S.73-78.
Matthäus 7, 12 bzw. Lukas 6, 31; vgl. Römerbrief 13, S.8-20.
225
H. Cohen, Religion (Vgl. Anm. 32), bes. S. 218 f., 377, 395, 401 f.. vgl. S. 235 f., 276 f., 308.
226
Vgl. die Sinaiüberlieferung der Bundestheologie, den prophetischen Katechismus Micha 6,8 und dessen
Anverwandlung durch Jesus: Matthäus 23,23 und Lukas 11,42; schließlich die moralische bzw. liebesethische
Korrelation von Mensch und Gott in Lukas 6,36 und Matthäus 5,48; aber auch die Gleichsetzung des
Sinaigesetzes (Thora) und der prophetischen Ethik mit der „Goldenen Regel“ in Matthäus 7,12 und Lukas
6,31.
224
175
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Ebenbilder Gottes einschließt227, kaum weniger weit entfernt, als der neuplatonische und gar
der manichäische Dualismus. Selbst die, von Hannah Arendt hervorgehobene, christliche
Errungenschaft seines Denkens, der Liebesbegriff,228 ist entleiblicht. So zwingt Augustinus
das Liebesvermögen in den Dualismus Seele contra Körperlichkeit, eine Welt ersehnend, in
der die Menschen auf den Beischlaf verzichteten229. An die Stelle der biblischen Korrelation
von Gott und Volk Gottes – „ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott“ (3.
Mose 19,2; vgl Matth. 5, 48) – setzt er eine heilsgeschichtliche Teleologie. Diese verlangt,
Gott als den einzigen, daher vollkommen zu liebenden Selbstzweck anzusehen, die Welt und
alle Menschen aber als Mittel – im Dienst der ‚Liebe’ zu Gott. Dadurch werden freilich die
Menschheit, die Natur und die Kultur eines eigenständigen Wertes beraubt, sie gelten bloß als
Mittel. Daher gibt es weder für Naturethik einen Boden, noch für eine Moral der
Menschenwürde. Da Gott der einzige Selbstzweck ist und es einzig ihn zu lieben gilt, ist es
recht, wenn mit den Menschen und der Welt als mit bloßen Mitteln verfahren wird. Eine
absolute moralische Grenze gibt es nicht, ‚Menschenwürde’ kann in diesem Rahmen nicht
gedacht werden. Der Abweg zu einem heilsgeschichtlichen Totalitarismus öffnet sich. Und in
der Tat: Der Kirchenpolitiker Augustinus hat ihm letztlich nicht widerstanden.
Als
die
moralisch
rigorose,
tendenziell
sozialrevolutionäre
nordafrikanische
Mehrheitsgemeinde um den Bischof Donatus das Märtyrertum und das heiligmäßige Leben
gegen die junge katholische Staatskirche und das christianisierte Kaisertum zu
unumstößlichen Kriterien erhob und die Katholiken als frevelhafte Gemeinschaft angriff,
verfuhr Augustinus zweideutig. Einerseits protestierte er gegen die Todesstrafe, die der
römische Staat über die Donatisten verhängte und engagierte sich unermüdlich in
Diskussionen und Verhandlungen mit ihnen.230 Andererseits machte er den wahren Glauben
abhängig von der disciplina catholica und ihren Institutionen231, und er dachte nicht daran,
die kaiserlichen Religionsgesetze oder auch nur die 405 von Kaiser Honorius befohlene
zwangsweise Katholisierung der Donatisten zu kritisieren. Ketzer sind zu verfolgen.232
Augustinus versteht es, die staatlichen Gewaltmaßnahmen in Religions- und Gewissensdingen
mit dem christlichen Liebesgebot zusammenzuzwingen, indem er – wir sehen, daß nicht ein
227
Vgl. 1. Mose 1,26-28 und 9,5 f. (ff.), dann z. B. die Jesus-Worte Markus 12,28-31, Matthäus 22,35-40, Lukas
10,25-37 sowie Matthäus 23,23, Lukas 11,42 und Matthäus 5,43-48, Lukas 6,27-36 sowie die vierte Bitte des
Vaterunsers: Matthäus 6,12 / Lukas 11,4.
228
H. Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, Berlin 2003 (Diss.
von 1928). Nachdruck: L. Lütkehaus (Hg.), Berlin/Wien 2003. Dies., Vita Activa (Vgl.Anm. 9), S.52 f.; dies.,
Vom Leben des Geistes (Vgl. Anm. 9), 329 f., 336 ff.
229
Dazu: K. Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980. (zit. als Augustin)
230
Vgl. H. Fr. von Campenhausen, Lateinische Kirchenväter, Stuttgart 1960, bes. S. 185-193.
231
K. Flasch, Augstin., S. 160.
232
Vgl. H. Fr. von Campenhausen, op.cit., S. 191-194.
176
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11.12.2009
argumentativer Diskurs mit Achtung der Meinungsfreiheit und Menschenwürde, sondern ein
um das Seelenheil besorgter Großinquisitor die Leitidee bildet – die kirchliche Heilsfürsorge
tendenziell mit christlicher Liebe gleichsetzt.
Das Interesse an einer, nicht durch unbedingte moralische Normen wie die der zu
achtenden Menschenwürde und Gewissensfreiheit eingegrenzten, kirchlichen Heilsfürsorge
läßt ihn voraussetzen, daß sich jede Liebe auf das schlechthin und wahre Gute richte, auf
Gott. Nur wisse das die alltägliche Liebe nicht. Daraus leitet er eine Maxime ab, die die
Autonomie des moralischen Urteils einklammert und der Fremdbestimmung einer
christianisierten Teleologie unterwirft: „contra voluntatem tuam sed propter salutem tuam“233
– verhängnisvoll für die katholische Praxis, zerstörerisch für die Sinnbedingungen eines
realen praktischen Diskurses. Im Sinne dieser Maxime konnten Lehre und Praxis der
katholischen Kirche autoritär werden. Schlägt hier doch die „Liebes- und Gesinnungsethik um
in die Rechtfertigung von Gewalt“, wie Kurt Flasch pointiert.234 Wenn nämlich den
Betroffenen nicht zugetraut wird, zu erkennen, worauf sich ihre Intention eigentlich richtet,
wohl aber Augustinus selbst sich dieses Zielwissen zuschreibt und in der Heilsinstitution
Kirche verankert, dann bedarf es eigentlich keines Diskurses mit den Menschen mehr sondern
nur eines solchen über sie und der Etablierung einer Sanktionsmacht für den (unterstellten)
Regelfall: Sie verhalten sich ihrem Willen entsprechend aber in Widerspruch zur Liebe zu
Gott.
In der weit gespannten Wirkungsgeschichte Augustins leidet der Diskursgedanke zudem
unter der unklaren und inkohärenten Weise, in der der christliche Philosoph die Dialektik
Ciceros mit einem neuplatonischen Dualismus und Spiritualismus verbindet.
Die christliche Philosophie der Scholastik nimmt ebensowenig wie Augustinus, den
dialogischen, leibfreundlichen und geschichtsbezogenen Grundton der hebräischen Bibel auf
– schon vor Augustinus war so gut wie kein Kirchenlehrer überhaupt des Hebräischen
mächtig –, und auch die sokratische Diskursorientierung spielt hier keine zentrale Rolle,
wenngleich die Scholastik eine universitäre Diskussions- und apologetische Streitkultur
entwickelt. Leitend ist die theoria-Tradition mit aristotelischen Ober- und neuplatonischen
Unterströmen. Sie durchherrscht zumal die Erkenntnisauffassung der Scholastik. Deren
„Vater“, der Benediktiner Anselm v. Canterbury (1033 bis 1109), gab die Melodie vor. Mit
Bezug auf die Paulinische Entgegensetzung einer bloß stückweisen, spiegel- und
233
Augustinus, Epistulae CLXXIII 4, in: Migne, Petrologiae Cursus Completus, Series Latina, Bd. 33, Paris
1861/62, S.803. Zur Sache die vorzügliche Analyse von Kurt Flasch, Augustin 1980, 164-172.
234
K. Flasch, Augustin, S. 165.
177
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11.12.2009
rätselähnlichen Welterkenntnis zu der himmlischen Schau „von Angesicht zu Angesicht“235
erneuerte er den neuplatonischen Begriff von Intuition als unmittelbarer Erkenntnis Gottes
und stellte sie der Erkenntnis endlicher Dinge gegenüber.236 Auf dem Höhepunkt der
Scholastik versteht Thomas von Aquin (1225 bis 1274) nicht allein die schauende Vernunft
sondern auch den diskursiven Verstand als ein kommunikationsunabhängiges Vermögen.
Entweder erkenne der Mensch „discursive“ oder „simplici intuitu“237; beide Modi, so
unterstellt er, seien akommunikativ und prinzipiell einsam realisierbar.
Dazu passend, vermittelt er einen bis heute, etwa vom kritischen Rationalismus Karl R.
Poppers und vom Hauptstrom der analytischen Philosophie238, bewahrten Kern der
alteuropäischen Erkenntnis- und Sprachauffassung: Das Wesen der Erkenntnis (gleichviel ob
man ihr einen intuitiven oder diskursiven Vollzug zuschreibt) liege im semantischen Aspekt
des Logos, der „Aussage“ über Sachverhalte und der schlußfolgernden Verknüpfung von
„Aussagen“. Demgegenüber habe der kommunikative (bzw. virtuell kommunikative) Aspekt
des Logos, die pragmatische Dimension der Verständigung mit anderen über den Sinn und die
Geltung von Aussagen, keine erkenntnis- und geltungskonstitutive, sondern nur eine
instrumentelle Funktion.
Eine solche instrumentalistische Pragmatik setzt die Möglichkeit eines kommunikationsunabhängigen Habens von Sinn und Bedeutung ebenso voraus wie die Möglichkeit einer
konsensunabhängigen Wahrheit – und damit den methodischen Solipsismus. So kann man,
wie etwa Bocheński pointierte, durchaus „eine sozusagen individuelle Wissenschaft (denken),
die von einem einzigen Menschen aufgebaut und nur von ihm gekannt wäre“.239 Noch jüngste
erkenntnistheoretisch orientierte Argumentationstheorien berufen sich einzig und allein auf
eine „semantische Wahrheitstheorie“. Sie machen die Gültigkeit einer Argumentation von
„konsensunabhängigen sekundären Wahrheitskriterien“ abhängig und sehen den „Sinn von
Wahrheit [...] nicht [in der] Übereinstimmung mit anderen Personen, sondern [in der]
Orientierung in der Welt.“240
Die Hintergrundsphilosophie des traditionellen Schemas „diskursiv versus intuitiv“, die
den Diskurs nicht auf eine Gemeinschaft von Argumentierenden bezieht, sondern ihn als
235
1. Kor. 13,12.
Anselm, Monologium LXVI; vgl. C. Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande, 4 Bde., Leipzig 1855-1870,
Neudruck Darmstadt 1957, Bd. III, S.332 u. S.746 Anm.
237
Th. v. Aquin, Summa theologica II. II, 180, 6 ad 2, zit. nach R. Eisler, Wörterbuch der philosophischen
Begriffe I, Berlin 1927, S.286, Artikel „discursiv“.
238
Vgl. K.-O. Apel, Transformation (Anm. 15), Bd. 2, 326 ff.; ders., Die Logos-Auszeichnung der menschlichen
Sprache. Die philosophische Relevanz der Sprechakttheorie, in: H.-G. Bosshardt (Hg.), Perspektiven auf
Sprache, Berlin/New York 1986, 45-87.
239
I. M. T. Bocheński, Die zeitgenössischen Denkmethoden, München 31965, S.19.
240
C. Lumer, Argumentation/Argumentationstheorie, in: H. J. Sandkühler (Hg.), Europäische Enzyklopädie zu
Philosophie und Wissenschaften, Bd. 1, Hamburg 1990, S.246 ff.
236
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bloßes Resultat monologischen Schließens ansieht, hat das Diskursverständnis nachhaltig
bestimmt – ebenso wie die von Thomas fortgeschriebene neuplatonische Auffassung der
Reflexion als einer kommunikationsunabhängigen Intuition. Für eine systematische Reflexion
auf kommunikative Grundbedingungen der Argumentation (als Erhebung und dialogische
Prüfung von Geltungsansprüchen) bietet der alteuropäische Denkrahmen keinen Raum. Weil
Sprache nur zur nachträglichen Bezeichnung des vorsprachlich Erkannten nötig sei, galt
Erkenntnis als im Grunde akommunikativ – sei es als Vorgang des „discursiven“ Verstandes,
sei es (auf der Linie Augustinus-Descartes-Idealismus-Husserl) als primär intuitives
Reflexions- und Zweifelsverfahren, dem eigentlichen Geschäft der Vernunft. Die
traditionsbeherrschende
Bezeichnungstheorie
der
Sprache
erscheint
dem
„geradeausblickenden“ natürlichen Bewußtsein so plausibel, daß Karl-Otto Apel sie geradezu
als „Commonsense-Auffassung der Sprache“241 charakterisieren kann.
Es
ist
kein
Zufall,
Auseinandersetzung
mit
daß
sich
der
aktuelle
der
hermeneutischen
philosophische
und
analytischen
Diskursbegriff
Philosophie,
in
den
„komplementären Spielarten der linguistischen Wende“242 und dem transzendentalsemiotisch
orientierten Pragmatismus von Charles Sanders Peirce243 herausgebildet hat – ursprünglich
aber aus dem nonmetaphysischen Ursprung der antiken Metaphysik: dem Sokratischen
Dialog.244
241
K.-O. Apel, Transformation (Anm. 15), Bd. 2, S.334 ff.
J. Habermas, Hermeneutische und analytische Philosophie. Zwei komplementäre Spielarten der
linguistischen Wende, in: ders., Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt a. M., 1999, S.65-101.
243
K.-O. Apel, Einführung: Peirce’s Denkweg vom Pragmatismus zum Pragmatizismus, in: ders. (Hg.), Charles
Sanders Peirce, Schriften, Bd. II, Frankfurt a. M. 1970, S.11-211; ders., Von Kant zu Peirce: Die semiotische
Transformation der transzendentalen Logik, in: ders., Transformation (Anm. 15), Bd. 2, S.157-177; ders.,
Szientismus oder transzendentale Hermeneutik? Zur Frage nach dem Subjekt der Zeicheninterpretation in der
Semiotik des Pragmatismus, ebd., S.178-219.
244
K.-O. Apel, Das Sokratische Gespräch und die gegenwärtige Transformation der Philosophie, in: D. Krohn,
D. Horster, J. Heinen-Tenrich (Hg.), Das Sokratische Gespräch – Ein Symposion, Hamburg,S. 55-77. D.
Böhler, Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und Praxis, in: Funkkolleg Studientexte
(Anm. 6), Bd. 2, S.313-355, bes. S.328 ff, S.339 ff.; H. Gronke, Die Grundlagen der Diskursethik und ihre
Anwendung im sokratischen Gespräch. Ein unvollendeter Klärungsversuch zum Verhältnis von Philosophie,
Philosophiedidaktik und Praxis, in: D. Krohn, B. Neißer, N. Walter (Hg.): Diskurstheorie und Sokratisches
Gespräch. Frankfurt a. M. 1996,S. 17-38; ders., Mit Ariadne im Labyrinth der Verständigung. Sokratische
Argumentation und Sokratisches Analysegespräch, in: D. Krohn, B. Neißer (Hg.), Verständigung über
Verständigung. Münster, 2004, S.12-62.
242
179
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4
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Diskurs- und Moralstufen
Dort, wo es zu einer kommunikationsphilosophischen Rekonstruktion der pragmatischen
Dimensionen des Denkens kommt, insbesondere seit der Transzendentalpragmatik K.-O.
Apels und der Formalpragmatik bzw. Diskurstheorie von J. Habermas, erscheint der
argumentative Diskurs als die Existenzbasis und Realisierungsform der Vernunft.245 Das
bedeutet eine Entmetaphysizierung – oder sollten wir sagen, eine Entmythisierung? – der
Vernunft. Abgelöst von den uneinholbaren Glaubensannahmen der theoria-Tradition,
entledigt sie sich ihrer metaphysischen Maskierung. Sie tritt nicht länger als nous (νούς) auf,
als methodisch einsames Vermögen, den göttlichen Kosmos und das Ansichsein der Dinge zu
erschauen. Nunmehr zeigt sie sich als die dialogförmige Praxis, Geltungsansprüche zu
erheben und diese an dem ihr eigenen kommunikativ ethischen Maßstab zu prüfen: dem der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Denn eine dialogische Praxis bildet ein normativ
verpflichtendes und kriterial bestimmendes Anerkennungsverhältnis. Als Diskursverhältnis
von Gleichberechtigten, gehalten, den sinnvollen Argumenten zur Sache nachzugehen und
das beste Argument zu suchen, ist die Vernunft moralisch geladen. Es gibt keine Vernunft, sei
sie theoretisch, funktionalistisch oder ästhetisch gerichtet, die nicht in sich praktisch wäre,
weil sie stets ein dialogisches Verhältnis ist. So führt die Rekonstruktion der konstitutiven
Bedingungen des Argumentierens mit innerer Notwendigkeit zu einer normativen
Diskursethik.246
Traditionell gesagt, besteht eine Einheit der theoretischen und der praktischen Vernunft.
Wenn Vernunft nichts anderes ist als das Verhältnis und die Praxis des argumentativen
Dialogs, dann ist das Vernunftkriterium nicht bloß das logisch Allgemeine, sondern auch
etwas au fond Sittliches und Soziales: Gerechtigkeit als verallgemeinerbare Gegenseitigkeit.
Dann ist es auch kein bloßes Kriterium der Gültigkeit, sondern ebenso eine moralische
Grundnorm. Warum? Weil jeder, der nach Gültigkeit sucht, seine Glaubwürdigkeit als
Diskurspartner verlöre und den möglichen Argumentationspartnern nicht die geschuldete
Anerkennung gewähren könnte, wenn er die Verbindlichkeit des Diskursprinzips in Frage
245
K.-O. Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in:
Transformation, Bd. II (1973), S. 358-435. Ders., Studieneinheit 4 und 20, vgl. auch 1-3, in: Funkkolleg
Studientexte (1984), I und II.; J. Habermas, Was heißt Universalpragmatik?, in: ders., Vorstudien (1984), S.
353-440.; D. Böhler, Studieneinheit 11 und 26, vgl. auch 12 und 13, in: Funkkolleg Studientexte (1984), II und
III. Ders., R.P. (1985), bes. S. 296ff, 335ff und 359ff.
246
K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung, Frankfurt a. M. 1988 (zit.: Diskurs (1988)); ders., Das Apriori
der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in: ders., Transformation., II (1973), S. 358435. D. Böhler, R.P. (1985); J. Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders.,
Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1983), S. 53-125; ders., Erläuterungen zur Diskursethik,
Frankfurt a. M. 1991; W. Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung (1985).
180
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stellte, welches fordert: ›Suche einzig nach solchen Urteilen und Handlungsweisen, die selbst
in einer idealen Argumentationsgemeinschaft, worin alle Stimmen zur Beurteilung der realen
Situation gleichermaßen gehört worden wären, begründete Zustimmung fänden.‹
181
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
4.1
11.12.2009
Lawrence Kohlberg und die Entwicklungslogik der ethischen Urteile
In der soeben formulierten Norm der moralischen Normen, dem zugleich kriteriologischen
und deontologischen Diskursprinzip, sehe ich auch die eigentliche, weil allererst konsequente
Schlußpointe einer „Entwicklungslogik des moralischen Urteils“ oder sagen wir genauer: der
praktischen Alltagsdiskurse. Eine solche verdanken wir dem kognitivistischen Psychologen
Lawrence Kohlberg, der sie auf den Schultern Jean Piagets und mit Blick auf George Herbert
Mead sowie John Dewey erarbeitet hat.247 Kohlberg hat seine Probanden, Kinder, Jugendliche
und Erwachsene, zu praktischen Diskursen provoziert, indem er ihnen sittliche Dilemmata,
d.h. Normenkonflikte, vorgelegt und eine begründete Lösung verlangt hat.
Den Rahmen jener Dilemmata bilden vor allem zwei „entwicklungsphilosophische“
Annahmen. Von G.H. Mead entlehnt er die sozialisationstheoretische Annahme, daß die
Menschen lernen, sich zur Welt in der Weise eines role taking zu verhalten und daß sie über
diese, symbolisch vermittelte, Gegenseitigkeit auch ein Selbstverhältnis aufbauen: „Wir
besitzen ein Selbst gerade insoweit, als wir die Einstellungen der anderen zu uns einnehmen
können.“248
Die Reziprozitätsrelation gilt auch als Strukturbedingung ‚meiner’ Beurteilung praktischer
Fragen und Konflikte. Darüberhinaus enthält sie – und das ist die zweite, nunmehr normativ
moralische, entwicklungsphilosophische Annahme – den Kern des Beurteilungskriteriums:
die Orientierung an Gegenseitigkeit als (Vor-)Verständnis von Gerechtigkeit, das sich von
kruden unmittelbaren und egoistischen Formen bis zu abstrakt reflektierten und ethisch
universalistischen Formen entwickele. Die Pointe von Kohlbergs Entwicklungslogik ist die
stufenförmige Ausdifferenzierung und Vervollkommnung der Reziprozität als Kriterium
moralischer Urteile.
Methodologisch stützt sich diese Entwicklungslogik auf den hermeneutischen Zirkel
zwischen philosophischem Moralbegriff und empirischen Untersuchungen, also viel eher auf
Abduktion im Peirceschen Sinne denn auf Induktion.249 Das Verhältnis von idealtypischer
247
L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt a. M. 1974 (zit.: Zur kognitiven
Entwicklung (1974)). Dazu: D. Garz, Lawrence Kohlberg zur Einführung, Hamburg 1996 (zit.: Kohlberg
(1996)). K.-O. Apel, Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und
Entwicklungsstufen des moralischen Bewußteins, in: Funkkolleg Studientexte (1984), I (Erstausgabe als
„Studienbegleitbrief 1“ im Jahre 1980), S. 59-65, vgl. auch 66-153.
248
G. H. Mead, Die Genesis des sozialen Selbst und die soziale Kontrolle, in: ders., Philosophie der
Sozialität. Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie. Hg. v. H. Kellner, Frankfurt a. M. 1969, S. 95, vgl. 84ff.
Vgl. ders., Geist, Identität und Gesellschaft (1968), Kap. 9-11 und 19-25.
249
Die strukturelle Verwandtschaft des ‚Zirkels (im vorgreifenden) Verstehen’ und des abduktiven
Schlusses bzw. der „Hypothesis“ bei Peirce hat Apel in seiner Peirce-Ausgabe hervorgehoben. Ders., Peirce,
182
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11.12.2009
Rekonstruktion und empirischer Bestätigung hat Kohlberg als komplementäres Verhältnis
beschrieben, das zu einer wechselseitigen Korrektur führt: „Die Wissenschaft kann
überprüfen, ob die Moral, so wie sie von einem Philosophen konzipiert wurde,
phänomenologisch mit den psychologischen Fakten übereinstimmt. Die Wissenschaft kann
jedoch nicht so weit gehen, diese Konzeption der Moral im Hinblick darauf zu rechtfertigen,
was Moral sein sollte.“250 Diesen „hermeneutischen Rekonstruktionismus“ hat Habermas als
„Arbeitsteilung zwischen der rationalen Rekonstruktion moralischer Intuitionen (Philosophie)
und der empirischen Analyse von Moralentwicklung (Psychologie)“ gewürdigt.251
Moralphilosophisch ist Kohlbergs Entwicklungslogik so angelegt, daß sie sich als zwanglose
Verbindung der drei Hauptfragen nach der Moral bzw. nach der moralischen
Diskurskompetenz interpretieren läßt. Es sind dies: die genetische Entwicklungsfrage ‚Wie
wird man moralisch?’, die Erläuterungs- und Definitionsfrage ‚Was heißt moralisch bzw.
moralisch zu sein?’ und die deontologische Begründungsfrage ‚Warum soll man moralisch
sein bzw. sein wollen?’.
Kohlberg teilt nämlich mit der Diskursphilosophie die – letztlich auf Sokrates zurückgehende
– Einsicht, daß praktische Urteile mit Stellungnahmen zu sich selbst verwoben sind. Genauer
gesagt: derjenige, der ein moralisches Urteil fällt, nimmt implizit noch einmal zu diesem
Urteil Stellung, indem er ein Verständnis dessen ins Spiel bringt, was es heißt, moralisch zu
sein: „H tun, ist moralisch, weil H den Kriterien für ‚moralisch’ entspricht, und weil wir
implizit den Geltungsanspruch haben, gemäß der (von uns vorausgesetzten und für uns
einsehbaren) verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit handeln zu wollen.“
Nun läßt sich die sokratische „Was-ist“-Frage nicht von der Entwicklungsfrage „Wie wird
man etwas?“ abtrennen. Eine Entwicklungsgeschichte und gar eine Entwicklungslogik liefe
leer, wenn sie nicht begleitet und gestützt würde von der sachlichen Bestimmung und
Erläuterung dessen, was sich da entwickelt. Im Blick darauf greift Kohlberg auf Chomskys
Unterscheidung von Kompetenz und Performanz und auf dessen Idee der linguistischen
Kompetenz zurück. „Wir behaupten, daß die empirische Untersuchung der moralischen
Entwicklung sich nicht stark von der empirischen Untersuchung der grammatischen
Entwicklung unterscheidet; diese geht aus einer linguistischen Theorie grammatischer
Schriften I, Entstehung des Pragmatismus, Frankfurt a. M. 1967, S. 81ff, vgl. 139ff; und: Peirce, Schriften II,
Vom Pragmatismus zum Pragmatizismus, Frankfurt a. M. 1970, S. 153ff und ebenda: Vorlesung 7:
Pragmatismus und Abduktion, S. 365ff.
250
L. Kohlberg, From Is to Ought: How to commit the naturalistic fallacy and get away with it in the
study of moral development, in: Th. Mischel (Hg.), Cognitive Development and Epistemology, New York
1971, S. 151-235 (zit. bei D. Garz, Kohlberg (1996), S. 38).
251
J. Habermas, Moralbewußtein u. kommunikatives. Handeln (1983), S. 42. Dazu: D. Garz, Kohlberg
(1996), S. 37-42 und 49ff.
183
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Kompetenz hervor, führt dann aber zurück und revidiert die formale linguistische Theorie.
Dies ist eine neue Formulierung der Ansicht Sokrates’, daß man keine psychologische
Antwort auf die Frage ›Wie wird Tugend erworben?‹ vor einer philosophischen Antwort auf
die Frage ›Was ist Tugend?‹ geben kann.“252 Logisch geht die Erläuterungsfrage, was denn
moralisch sei bzw. heiße, der Entwicklungsfrage in der Tat voraus. Und es ist jene
Erläuterungsfrage, auf welche die Probanden, denen ein moralisches Dilemma aufgegeben ist,
jeweils antworten, sei es auch nur implizit. Kohlbergs Entwicklungslogik ist letztlich die
systematisierte Aufstufung von Antworten auf die Frage, was es heiße, moralisch zu sein.
An Kant geschult, erkennt Kohlberg überdies, daß sich die Was-ist-Frage, wenn sie im Blick
auf Moral gestellt wird, letztlich nur beantworten läßt, wenn man zugleich die Frage ‚Warum
moralisch sein?’ beantworten kann. Als transzendental Fragender, die quaestio iuris stellender
Philosoph hat Kant eine moralische Verhaltensweise als diejenige bestimmt, die „den Grund
einer Verbindlichkeit“ bei sich führe.253 Eben in diesem Sinne versteht Kohlberg den
Höhepunkt und das Ziel der moralischen Entwicklung als Selbsteinholung des moralischen
Sollens – als autonome Einsicht des praktisch Urteilenden in die Verpflichtung zur
Gegenseitigkeit, und zwar zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit.
Philosophischer Rekonstrukteur, der sich an Sokrates, Kant und Rawls orientiert, sieht
Kohlberg eine solche Begründung als die eigentlich moralische an, weil sie das
Prinzipienniveau einer verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit erreicht haben würde. Eben darin
erkennt er das Telos einer Entwicklungslogik des moralischen Urteils, wenngleich dieses
Urteilsprinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit von den meisten Menschen offenbar
nicht erreicht bzw. von den Begründungen ihrer moralischen Urteile verfehlt werde. Freilich
verstand er dieses Urteilsniveau zunächst, wie Kant und Rawls, gewissermaßen im Sinne der
methodisch akommunikativ denkenden Traditionslinie: als Gedankenexperiment und somit
als methodisch einsame Erkenntnis eines Vernunftsubjekts, das aus kommunikativen Bezügen
herausgelöst wäre. Das bleibt zu diskutieren.
Den Begründungen, die Kohlbergs Probanden für die von ihnen je bevorzugte
Handlungsweise zur Lösung eines Normenkonflikts – etwa in dem „Heinz-Dilemma“ –
angeben, entsprechen charakteristische Gegenseitigkeits- und Gerechtigkeitsorientierungen
aus der (modernen) Lebenswelt. Diese ließen sich nach „regelmäßigen Alterstrends der
Entwicklung“ differenzieren und beruhten auf einer ebenfalls gestuften „kognitiven Basis“.254
In den gegebenen Urteilsbegründungen stufe sich das Niveau der Gegenseitigkeit sukzessive
252
Vgl. das Manuskript Kohlbergs: General Preface, in: Essays in moral development, 1978 (zit. bei D.
Garz, Kohlberg (1996), S. 44).
253
I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (zit.: GMS), Akademie-Ausgabe, S. 389.
254
L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung (1974), S. 59f.
184
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auf: von der gleichsam asozialen, vorkonventionellen instrumentellen Gegenseitigkeit (Stufe
2), deren Ausschließlichkeit typisch für das Kleinkind ist, über die konkret konventionelle
Gegenseitigkeit der Tugenderwartungen einer Primärgruppe und ihrer Autoritäten als
Vorbilder (Stufe 3), die sich im Kindergarten- und Grundschulalter zu bilden pflegt, zu der
abstrakt konventionellen Gegenseitigkeit der Normenerwartungen einer Sozialordnung, die
um ihrer selbst anerkannt wird („law and order“ – Stufe 4). Hier und sonst besteht die
stufenweise Sukzession darin, daß jede weitere Form der Gegenseitigkeit „differenzierter und
verallgemeinerter als die vorausgehende ist“.255 Der Aufriß dieser Sukzession läßt sich, wenn
wir verschiedene Veröffentlichungen Kohlbergs zusammenführen, in dieses Stufenschema
der moralischen Urteilsentwicklung fassen:
255
Ebd., S. 100f.
185
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Ebene
Basis der moralischen Wertung
Entwicklungsstufen
I Prämoralische und
präkonventionelle
Ebene
Quasi physische
Geschehnisse/Handlungen und
Bedürfnisse
1 Orientierung an Lustgewinn oder an Bestrafung und
Gehorsam
2 Naiv egoistische Orientierung an instrumenteller
Gegenseitigkeit (do ut des)
1. Reifungskrise mit Regressionsrisiko
II Konventionelle
Ebene/Moral der
Rollenkonformität
Übernahme guter und richtiger Rollen,
Einhalten der konventionellen
Ordnungen und Erwartungen anderer
3 Orientierung an Vorbildern und konkreten Tugenden
meiner Gruppe. Konformität
4 Orientierung an der Aufrechterhaltung von Recht
und sozialer Ordnung um ihrer selbst willen.
Rücksicht.
(Übergangsstufe 4 ½)
III Postkonventionelle
Ebene der selbstakzeptierten moralischen Prinzipien
mögliche Regressionstendenzen
Entwicklungslogik hin zur verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit
Stufen der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg
2. Reifungskrise mit Risiko von Regressionen
Übereinstimmung des ‚Ich‘ mit faktisch 5 Legalistische Orientierung am Sozialvertrag i. S. des
oder potentiell (→ Gedankenexperiment,
Nutzens einer Gesellschaft (Gemeinwohl)
Empathie) gemeinsamen Werten und
6 Orientierung am Gewissen, an gegenseitigem
Ansprüchen, Grund-Rechten und
Respekt/Vertrauen und an der verallgemeinerbaren
Pflichten
Gegenseitigkeit: idealer Rollentausch durch
einsames Gedankenexperiment (z. B. kategorischer
Imperativ)
Frei nach: Lawrence Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt a. M. 1974, S. 60 f; ders., Moralische Entwicklung (1968), in: ders., Die Psychologie der
Moralentwicklung, Frankfurt a.M. 1996, S. 7-40, hier S. 16; ders., From Is to Ought, in: Th. Mischel (Hg.), Cognitive Development and Epistemology, New York 1971, S. 151-235.
Vgl. Kohlberg, Boyd u. Levine, Die Wiederkehr der sechsten Stufe: Gerechtigkeit, Wohlwollen und der Standpunkt der Moral, in: W. Edelstein u. G. Nunner-Winkler, Zur
Bestimmung der Moral, Frankfurt a. M. 1986, S. 205-240, hier S. 223 f. Vgl. Kohlberg, Essays on Moral Development, Vol. I, San Francisco 1981, S. 411.
186
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Die von Kohlberg rekonstruierte Sukzession ist eine logische Abfolge, kein empirisch
soziales Kontinuum, das vor Rückfällen und Abbrüchen gefeit wäre. Sie hat kritische
Schwellen zu überwinden, so daß (nach Kohlberg) zumindest zwei charakteristische
Reifungskrisen zur sozialen und moralischen Urteils- bzw. Diskursentwicklung gehören. Das
Kleinkind hat (von Stufe 2 zu 3) die Emanzipation vom Elternhaus und den Sprung in die
Sozialität mit Gleichaltrigen durchzumachen. Erfordert ist jetzt zunächst die Anerkennung
gemeinschaftsbezogener Tugenden und die einvernehmliche Erfüllung von Erwartungen
anderer (Autoritätspersonen, Gleichaltrige): Stufe 3.
Für die Heranwachsenden ist hingegen eine Krise infolge allseitiger Relativierung typisch; ein
Anspruch auf Urteilsautonomie und das Bedürfnis nach (mehr oder weniger) allgemeinen
Werten bzw. Normen treten in den Vordergrund. Sie können aber nicht ohne weiteres erfüllt
werden, sondern changieren im Zwielicht relativistischer Stimmungen. Im günstigen Falle,
bei glücklichem Ausgang dieses Lernprozesses, eröffnet die „Adoleszenzkrise“ das
prinzipienbezogene, metakonventionelle Diskursniveau einer nunmehr prinzipienbezogenen
Urteilsbildung.
Bereits die erste Reifungskrise führt zu einer im engeren Sinn moralischen Einsicht. Es ist
„die Erkenntnis (Stufe 3), daß familiäre und andere positive Sozialbeziehungen Systeme der
Reziprozität sind, die auf Dankbarkeit und auf der reziproken Einhaltung der Erwartungen
zweier Sozialpartner beruhen. Auf Stufe 4 entwickelt sich dies zu einem Verständnis der
Sozialordnung, bei dem die Erwartungen durch Arbeit und Konformität erfüllt werden und bei
dem Versprechen und Vertrag eingehalten werden müssen.“
Wenngleich sich „die logische Ordnung“ der Stufen unter dem Gesichtspunkt der
Differenzierung von „Reziprozität und Gleichheit“, zumal nach „Kategorien der
Gerechtigkeit“ weiter fortsetzt,256 gilt die nun folgende Fortschrittsmöglichkeit als dramatisch
kritisch und außerordentlich regressionsträchtig. Denn jetzt tut sich die Kluft auf zwischen
einer lebensweltlichen Konsensorientierung an etablierten Konventionen, welche durch
einfache Rollenübernahme erfolgt, und der Distanzierung, Infragestellung und kritischen
Gewichtung der eingelebten Sitten und Normen mit Hilfe von Prinzipien und diskursiven
Erwägungen. Der jetzt durchzumachende Lernprozeß ist derart heikel, daß Kohlberg, sein
Mitarbeiter Elliot Turiel und Karl-Otto Apel diese Adolenszenzkrise sogar als eine eigene
Krisenstufe 4 ½ charakterisieren können: anarchistische Obertöne, eine grenzenlose
Relativierungstendenz
und
ein
regressives
„,Aus-dem-Gleichgewicht-Geraten‘“,
das
Rückfälle auf egoistische Orientierung (Stufe 1) und den Strategismus des „wie du mir, so ich
256
Ebd., S. 101.
187
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dir“ (Stufe 2) befördert, durchherrschen eine zwielichtige Stimmung, in der alles möglich ist,
weil alles als erlaubt gilt. 257
Erst wenn, und in dem Maße wie es gelingt, diese anarchistisch relativistische, im günstigsten
Falle negativ aufklärerische Krise durch Reflexion auf Prinzipien und durch deren Aneignung
zu überwinden, so daß sowohl die Tugendkonventionen (Stufe 3), die politisch etablierten
Normen- und Verfahrenskonventionen (Stufe 4) als auch die vorkonventionellen Lust- und
Selbstbehauptungsorientierungen auf ihre Legitimität und Verantwortbarkeit hin geprüft
werden können, erst dann kann die eigentlich moralische Orientierung greifen: so daß die
Urteilenden nicht allein die Erläuterungsfrage, was moralisch heiße, sondern auch die
Begründungsfrage, warum man moralisch sein solle, mehr oder weniger beantworten können.
Die
Prinzipienorientierung
charakterisiert
Kohlberg
als
„postkonventionelle“
bzw.
„nachkonventionelle Ebene“. Das halte ich freilich für unangemessen. Suggeriert diese
Bezeichnung doch, die hier entwickelte Prinzipien- und Diskursorientierung bzw.
Gewissensorientierung könne jemals die bestimmten Inhalte ersetzen, die uns immer schon
aus unseren Ego-Interessen (Stufen 1 und 2) und aus den sittlichen sowie politischen
Konventionen (Stufe 3 und 4) gegeben sind. Aber das wäre eine lebensfremde, idealisch naive
Vorstellung, die nicht allein der Wirksamkeit bzw. Orientierungsfunktion des Moralprinzips
in der gemischten Alltagswirklichkeit widerspricht, sondern auch von Kohlbergs
Untersuchungen widerlegt wird. Darum kann es also nicht gehen. Vielmehr ist eine
prinzipienbezogene moralische Orientierung allein als Auseinandersetzung mit den sozialen
bzw. konventionellen und mit den vorkonventionellen bzw. egozentrierten Orientierungen zu
denken. Auch besteht ja die kriteriale Funktion eines Prinzips gerade in der Klärung der
Frage, welche Relevanz autonom Urteilende dem einen oder dem anderen Interesse, der einen
oder der anderen sittlichen Konvention begründeterweise und verallgemeinerbarerweise
zusprechen
sollten.
Aus
diesem
Grunde
ist
es
angemessen,
immer
dort
von
„metakonventionell“ zu reden, wo Kohlberg unvorsichtig von „postkonventionell“ spricht.
Was nun die Sukzession auf der metakonventionellen Ebene anlangt, so möchte ich mit
Kohlberg sagen, daß auf Stufe 5 „das Verständnis der Sozialordnung zu einer Auffassung
vom flexiblen Sozialvertrag oder -abkommen zwischen freien und gleichen Individuen“
257
Vgl. L. Kohlberg, The Philosophy of Moral Development, San Francisco 1984, S. 440ff; E. Turiel,
Adolescent conflict in the development of moral principles, in: Robert L. Solso (Hg.), Contemporary issues in
cognitive psychology: The Loyala symposium, Washington D. C. 1973, S. 231-249; ders., Conflict and
transition in adolescent moral development, in: Child Development, 45. Jg., 1974, S. 14-29, dt. in: R. Döbert,
J. Habermas, G. Nunner-Winkler (Hg.), Entwicklung des Ichs, Köln 1977, S. 253-269. Dazu in einer vor allem
phylogenetischen und zeitgeschichtlichen Perspektive: K.-O. Apel, Diskurs (1988), bes. S. 387ff, 410 und
430f.
188
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ebenfalls „eine Form der Reziprozität (und Gleichheit)“ ist. Und auf „Stufe 6 werden
moralische Prinzipien als universelle Prinzipien der reziproken Rollenübernahme formuliert,
z.B. die Goldene Regel oder der Kategorische Imperativ: ‚Handle so, wie du handeln würdest,
nachdem du erwogen hast, wie jedermann handeln würde [mit Apel besser: ‚sollte‘], wenn er
in der Situation wäre.‘ Mit anderen Worten, auf konventionellem Niveau wird angenommen,
daß die Sozialordnung die Strukturen der Reziprozität beinhaltet, welche ‚Gerechtigkeit‘
definieren, während auf prinzipiellem Niveau die Sozialordnung aus den Prinzipien der
Gerechtigkeit abgeleitet wird, der sie dient. Die Prinzipien der Gerechtigkeit oder die
moralischen Prinzipien sind selbst wesentlich Prinzipien der Rollenübernahme, d.h. sie
schreiben vor, ‚so zu handeln, daß man die Standpunkte aller an der moralischen
Konfliktsituation Beteiligten in Rechnung stellt‘ (Mead, 1934).258 Auf prinzipieller Ebene
besteht also eher eine Verpflichtung gegenüber den [...] Prinzipien der Gerechtigkeit als
gegenüber der Sozialordnung selbst. Diese Prinzipien sind Prinzipien der verallgemeinerten
Reziprozität oder Rollenübernahme.“259
Führt
man
Kohlbergs
Programm
einer
Sukzession
der
Ausdifferenzierung
und
Verallgemeinerung der Gegenseitigkeit strikt durch, dann ergeben sich freilich drei
Änderungen. Zunächst ist die Orientierung am Sozialvertrag (5) aufzustufen, indem man das
metakonventionelle biblische Verständnis der mosaischen Sitten- und Rechtsordnung in
seiner Bedeutung für die moralische Urteilsbildung würdigt. Denn die hebräisch biblische
Bundestheologie, insbesondere ihr Konzept des zwischen Gott und Israel auf dem Sinai
geschlossenen Bundes (hebräisch b’rit), entwickelt eine moralische Vertrags- und
Prinzipienorientierung, die das von Kohlberg als Stufe 5 rekonstruierte Urteilsniveau deutlich
überbietet. Und das sowohl in der biblischen Überlieferung vom Noah-Bund und deren
rechtsethischer Entfaltung im Talmud als auch in den biblischen Überlieferungen vom
Sinaibund zwischen Gott und Israel, dessen Verpflichtungsgehalt durch das Gebot der
Nächstenliebe und Fremdlingsliebe ins Universale geweitet wird. Hier ist ein höheres
moralisches Urteilniveau gegeben, als es von einem binnenmoralischen und primär
nutzenorientierten Sozialvertrag, abgeschlossen zwischen Interessensubjekten, oft gesagt
werden kann. Zunächst Gegenstand und zugleich die Vertragsurkunde ist das „Bundesbuch“
mit den Zehn Geboten.
Nicht mehr die Nutzenerwartung unserer Gruppe, also eine utilitaristische Binnenmoral,
bestimmt das, was gilt, sondern eine intrinsisch moralische Orientierung, und zwar in dem
258
Vgl. G.H. Mead, Mind, Self and Society, Chicago 1934 (dt.: Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt
a.M. 1968).
259
L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung (1974), S. 102.
189
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universalistischen Bezugsrahmen der Menschheit – jedenfalls in der Entwicklungstendenz.
Hermann Cohen hat sie entschlossen herausgearbeitet.260
Die moralintrinsische Perspektive zeigt sich als Orientierung an dem, was gerecht und gut ist:
der Achtung des menschlichen Lebens, der Nächstenliebe und dem Vertrauen auf einen Gott,
dessen Gerechtigkeit man anhand seiner Gebote einsehen und auf dessen Treue man sich
verlassen kann.
Eben jene innermoralische Orientierung ist es, die zum Abschluß bzw. zum Einhalten des
Bundes mit dem Gott motiviert, der gerechte Weisungen gibt: 1. Mose 1,27 und 9,5f; 5. Mose
10,12-21 und 32,1-4; Josua 24; Micha 6,8; Psalm 119 etc. Wir haben betont, daß jedenfalls in
den jüngeren, den nachexilischen Überlieferungen der Sinai-Bundestheologie, so im
Deuteronomium (5. Buch Mose), im Buche Josua und in Psalm 119, das Moment der Einsicht
und freien Anerkennung des Bundes durch Israel betont wird. Die anfängliche
Fremdbestimmung durch den machtvollen Gott, der Israel das Gesetz nach Art eines
Unterwerfungsvertrages einfach ‚gibt’ – diese heteronome Normengenese tritt zurück.
Und erlauben Sie mir auch diese Erinnerung: In der späteren Bundes- und Thora-Theologie
scheint die Geltungsfrage der Entstehungsfrage übergeordnet zu werden. In logischer
Zuspitzung würde daraus folgen: unabhängig davon, wie das Gesetz zustandegekommen ist,
es ist einsehbar gerecht, und daher kann man sich kraft autonomer Erkenntnis der Gründe für
dessen Gültigkeit – mithin als freier Diskurspartner – mit dem Gesetz Gottes identifizieren, so
als habe man es selbst gegeben. Also ganz im Sinne der Kantischen Autonomie, die Hermann
Cohen denn auch zum Angelpunkt seiner ethischen Rekonstruktion „der Quellen des
Judentums“ macht.261
Was Kohlbergs Stufe der moralischen Prinzipienorientierung, Stufe 6, anbelangt, so ist sie
veränderungsbedürftig. Es gilt, sie derart zu reformulieren, daß sie wirklich dem Anspruch
gerecht wird, es handele sich hier um die Rekonstruktion der verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit. Dann muß sie so begründet und formuliert sein, daß sie den rein
kommunikativen Charakter einer strikten, verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit hat, so daß
das
anzustrebende
Ziel
und
das
Geltungskriterium,
die
hermeneutische
Verständigungsgegenseitigkeit und die diskursive Geltungsgegenseitigkeit, als regulative
Prinzipien festgehalten sind. Demgemäß läßt sich auf der moralischen Prinzipienstufe ein
akommunikatives Prüfungsverfahren, etwa ein Gedankenexperiment oder ein role taking in
260
H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Darmstadt 1978 (zit.: Religion der
Vernunft (1978)), Kap. VIII, bes. S. 144-155.
261
Ebd., bes. S. 218f, 377, 395, 401f. Vgl. S. 235f, 276f, 308.
190
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Form des Einfühlens in den Anderen und dessen Situationswahrnehmung, bloß
umständehalber und unter starkem Fallibilitätsvorbehalt in Kauf nehmen: als Notbehelf,
dessen Ergebnisse riskant hypothetisch sind – kritikbedürftig im Blick auf eine Verständigung
mit den Betroffenen über ihre eigene Situationseinschätzung und ihr Selbstverständnis.
191
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4.2
11.12.2009
Eine verantwortungsethische Stufe 7 oder: Das Problem der moralischen
Strategiebildung
angesichts
‚schmutziger’
Handlungsbedingungen
und
fragwürdiger Zumutbarkeit.
Freilich ist die Prinzipienfrage, ob eine Handlungsmaxime überhaupt argumentativ
zustimmungswürdig sei, in hohem Maße idealisierend. Setzt sie doch voraus, daß alle
Beteiligten wahrhaftig, argumentationseinsichtig und guten Willens sind, also auch bereit, die
zustimmungswürdigen, diskursiv universalisierbaren Normen ausnahmslos zu befolgen. Just
diese regulative Idealisierung müssen Verantwortungsträger nach Maßgabe ihrer jeweiligen
realen Handlungssituation geschichtsbezogen und folgensensibel, kurz: realistischverantwortungsethisch gewissermaßen einklammern – nicht um sie vergessen zu dürfen,
sondern um sie differenzieren zu können: Das regulative Ideal, die Normen eines
idealisierenden
praktischen
Handlungsorientierungen
Diskurses,
umzuarbeiten;
ist
und
in
folgenverantwortbare,
dabei
müssen
die
konkrete
situationsbedingten
Moralrestriktionen berücksichtigt und konterstrategisch aufgefangen werden. “Blauäugigkeit“
ist oft unverantwortlich. In der sozialen Wirklichkeit gilt, daß „gutgemeint“ nur zu oft das
Gegenteil von „gutgetan“ bzw. von „verantwortlich“ ist.
Diese erfolgsverantwortliche Lektion gehört vor allem dann unabdingbar zur moralischen
Urteilsbildung, wenn es um Verantwortung für anvertraute Schwächere geht, und wenn die
Verantwortungsträger nicht voraussetzen können, daß sie es de facto einzig mit moralischen
Handlungspartnern und moralgemäßen Handlungsbedingungen zu tun haben (werden). Eben
diese Voraussetzung kann in der sozialen Wirklichkeit unzutreffend sein. Ist das der Fall,
dann
wäre
es
gegenüber
Schutzbefohlenen,
Klienten,
aber
auch
gegenüber
Kooperationspartnern, die sich auf ‚mich’ verlassen, unverantwortlich, wenn ‚ich’ mich
gleichsam blauäugig verhielte. Wie? Indem ich meinem Gegenüber stets guten Willen bzw.
moralische Untadeligkeit oder auch nur strikte Rechtlichkeit unterstellte. Das Gleiche kann
auch für mein Verhalten in bzw. gegenüber Institutionen, Machtzusammenhängen und
sozialen Systemen gelten. Vorsicht, ja strategisches Kalkül, mag hier im Interesse ‚meiner
Leute’
durchaus
angebracht
sein.
Soll
‚ich’
als
Verantwortungsträger
oder
Mitverantwortlicher doch dafür geradestehen können, daß sie nicht Schaden nehmen und ‚ich’
ihre (vorausgesetzt: legitimen) Interessen mit Erfolg wahrnehmen kann.
192
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Wer verantwortlich handeln und den Seinen keine Schadensfolgen aufhalsen will, der muß
sich aus moralischen Gründen mit moralischer Skepsis wappnen. So muß er darauf gefaßt
sein, daß ein Gegenüber massiv Eigeninteressen durchsetzen will und daher weder zur strikten
Befolgung von Rechtsnormen (vom Straßenverkehr bis zu Handelsgeschäften) bereit ist noch
gar zu einer argumentativ dialogischen Bemühung um das moralisch Richtige. Auch sind in
vielen Feldern der Gesellschaft – von den politischen Arenen über die Märkte bis zum
Finanzmarkt und zur Börse – die Handlungsbedingungen weniger dialogisch als vielmehr
strategisch bzw. strategisch agonal vorstrukturiert: Es geht nicht (oder nicht vordringlich) um
Konsens aus guten Gründen, sondern zumal um Vorteile im Kampf der Macht- und
Interessen-Konkurrenz. Infolgedessen sollten Verantwortungsträger ein gewisses moralisches
Mißtrauen ins Spiel bringen, indem sie ihr moralisches Vertrauen auf den guten Willen der
Gegenseite bzw. auf garantiert moralanaloge Handlungsbedingungen und Institutionen
einklammern, statt sich naiv darauf zu verlassen. Sie sollen bereit sein, Konterstrategien zu
entwickeln, um der moralisch legitimen Sache zum Erfolg zu verhelfen. Die realistische, ja
moralskeptische Distanznahme nach außen und die Bereitschaft, moralisch legitime
Konterstrategien zu suchen und einzusetzen, gehören zur Fürsorglichkeit, die ein
Verantwortlicher nach innen wahrzunehmen hat.
Denken wir z.B. an Unternehmer oder Manager, die für den Unternehmenserfolg einzustehen
haben, sich aber allenthalben mit der Zahlung von Schmiergeldern, mit Korruption und
dergleichen Moralwidrigkeiten konfrontiert sehen, die in den meisten Ländern auch
Rechtswidrigkeiten sind. Sie stehen vor dem verantwortungsethischen Problem, ob bzw. unter
welchen Bedingungen und in welchem Ausmaß sie sich jetzt in der unmittelbaren Situation,
die für sie eine Notlage – im Wettbewerb um einen wichtigen, auch arbeitsplatzsichernden
Auftrag – darstellen kann, an einer solchen schlechten Praxis beteiligen dürfen. Falls ja,
müßten sie dieses Vorgehen rechtfertigen können als eine Notstrategie, die sie ad hoc, zur
Bewältigung
dieser
unmoralischen
Situation
ergreifen.
Ließe
sich
eine
solche
Situationsstrategie als Notmaßnahme rechtfertigen? Wohl einzig dann, wenn sie (erstens)
wirklich eine Not abwehrt, also einer Notwehr entspricht, und wenn sie (zweitens) verbunden
wird mit einem energischen, erfolgsfähigen, längerfristigen Engagement zur Veränderung der
schlechten Handlungsbedingungen – etwa der Situation „keinen Auftrag ohne Bestechung
etc.“. Die Unternehmer müßten sich also fragen, ob und auf welche Weise sie dieser
moralwidrigen Praxis entgegenarbeiten können, ohne dadurch ihren (vorausgesetzt: legitime
Güter anbietenden) Unternehmen und Mitarbeitern gefährlichen Schaden zuzufügen.
193
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Darf sich ein Verantwortungsträger unter dem Zwang dieser Situation und der Notwendigkeit,
den für sein Unternehmen lebenswichtigen Auftrag A zu erhalten, ausnahmsweise auf eine
Zahlung von Schmiergeldern etc. einlassen? Sollte er das sogar tun, sofern er sich von
vornherein für das Ziel engagiert, daß in seinem Auftragsland L mittelfristig die Schmiergeldund Korruptionspraxis als Wirtschaftskriminalität geächtet wird? Das liefe darauf hinaus, die
Notmaßnahme einer Konterstrategie – gleichsam durch einmaliges Heulen mit den Wölfen –
zu kompensieren, nämlich durch das Engagement für eine moraladäquate Veränderung der
rechtlichen und wirtschaftspolitischen Verhältnisse, die allerdings mittelfristig greifen
müßte.262
In der Situation weitaus dramatischer, in der moralischen Beurteilung durchaus
übersichtlicher sind Dilemmasituationen, in denen die mögliche Lebensrettung gegen die
unmittelbare Wahrhaftigkeit steht, das Gebot der Hilfeleistung gegen das Gebot „du sollst
nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“. Denn hier ist die Lebensrettung eindeutig
der Wahrhaftigkeit vorzuordnen, sofern durch eine unwahrhaftige Auskunft ein sonst
bedrohtes Leben gerettet werden kann. Man denke an einen Mörder, der einen Hausbesitzer
oder einen Wohnungsbesitzer fragt, ob sich der von ihm gesuchte X in der Wohnung versteckt
habe. Auch wenn es kein Mörder, sondern z.B. ein Gestapo-Beamter zur Zeit des Dritten
Reiches oder ein Jakobiner zur Zeit des revolutionären Terreurs ist, welcher diese Frage stellt,
so ist die schützende Lüge, mit der der Hausbesitzer antwortet, sofern sie denn wirklich eine
Schutzfunktion erfüllen kann, eine legitime moralische Konterstrategie. Sie ist moralisch
legitim, weil keine begründete Zustimmung des Gesuchten zu seiner Ermordung möglich und
in einer reinen Argumentationsgemeinschaft erwartbar ist. Wir werden bei Gelegenheit Kants
auf dieses vergleichsweise harmlose aber lehrreiche Dilemmabeispiel zurückkommen.
Bis hierher haben wir das Rechtfertigungsproblem moralischer Strategien einfacher
dargestellt, als es wirklich ist, weil wir allein das Verhältnis eines Verantwortlichen nach
außen, nicht aber das Verhältnis zu seinen Leuten bzw. Schutzbefohlenen berücksichtigt
haben. Es dabei bewenden zu lassen, hieße die verantwortungsethische Urteilsbildung zu
verkürzen. Denn das moralstrategische Außenverhältnis des Verantwortlichen wirft einen
Schatten auch auf sein Binnenverhältnis: Er muß prüfen, inwieweit er es den Seinen bzw. dem
262
Zu dem Problem: D. Böhler, Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung. Hans Jonas und die
Dialogethik – Perspektiven gegen den Zeitgeist, in: Th. Bausch, D. Böhler u.a. (Hg.), Zukunftsverantwortung
in der Marktwirtschaft. In memoriam Hans Jonas, EWD-Bd. 3, Münster 2000, bes. S. 59ff und 63ff. Vgl. die
empirisch orientierte Einzelanalyse und Problemübersicht von Britta Richarz, Wirtschaftskriminalität als
Diskussionsgegenstand in der aktuellen deutschsprachigen Wirtschafts- und Unternehmensethik,
Magisterschrift, Philosophisches Institut der Freien Universität Berlin, 2006.
194
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Gefährten oder z.B. den Angehörigen des Unternehmens, für das er tätig ist und
Entscheidungen zu treffen hat, zumuten sollte und kann, in die Strategiebildung einbezogen
und in deren Einzelheiten eingeweiht zu werden. Das hier zuständige regulative Prinzip heißt:
so viel gemeinsame Beratung und Abstimmung wie unbedingt möglich, so viel Schonung der
eigenen Leute und so viel Zurückhaltung von Informationen wie nötig. Doch schließt diese
Orientierung in Grenzsituationen auch ein gänzliches Verschweigen ein. Sofern eine
offenherzige Erörterung der eigenen Verhaltensweise den anderen Betroffenen nicht zumutbar
erscheint oder diese sogar schädigen bzw. gefährden dürfte, insoweit sollte sie unterbleiben.
Dann gilt es zu schweigen. Es bleibt dann nur der Diskurs im engsten Kreis oder sogar nur
mein Gewissensdiskurs...
Die Abwägung der Zumutbarkeit kann, jedenfalls in Situationen, wo sehr viel auf dem Spiele
steht oder wo es gar um das Leben geht, auch zum Täuschen, ja selbst zum Belügen guter
Freunde und Verwandter führen. Im Widerstand gegen das totalitäre und terroristische
Naziregime hat Dietrich Bonhoeffer solches Täuschen, wiewohl er sehr darunter litt,
praktiziert und reflektiert. Offenbar hatte er wie viele Christen – unter ihnen Immanuel Kant –
das achte Gebot „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ radikalisiert
und universalisiert. War sein ursprünglicher Sitz im Leben die Gerichtsverhandlung unter
dem Tor im alten Israel, so daß es sich auf Zeugenaussagen in einer mündlichen Verhandlung
bezog, konnte es im Anschluß an die Moralität der Bergpredigt als Verpflichtung zu
allgemeiner und permanenter Wahrhaftigkeit verstanden werden. Es mag dieser Hintergrund
sein, vor dem der Häftling Bonhoeffer nach zehn Jahren Nazisystem und Widerstand gegen
dasselbe zum Jahreswechsel 1943 die Frage stellte:
„Sind wir noch brauchbar? Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen
Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede
gelernt, wir sind durch Erfahrung mißtrauisch gegen die Menschen geworden und mußten
ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche
Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden – sind wir noch brauchbar?“263
Ein anderes Beispiel gibt der Schauspieler Michael Degen Er war im März 1943 als Junge mit
seiner jüdischen Mutter vor der SS geflüchtet, war mit ihr von Berliner Wohnung zu
Wohnung untergetaucht, und hatte dann eine Weile bei der exilrussischen Pianistin Ludmilla
Dimitrieff, die auch für Parteigrößen private Klavierkonzerte gab, Unterschlupf gefunden. Die
herbe, fast egomane Frau in den besten Jahren, Witwe eines deutschen Juden, schwärmte
263
D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. E. Bethge,
München 111962 (zit.: Widerstand (1962)), S. 31.
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gegenüber dem Knaben von beschnittenen Männern, holte ihn nachts zu sich ins Bett und
mißbrauchte ihn sexuell. Das verschwieg der Junge seiner Mutter im Zimmer nebenan.
Michael Degen erinnert sich: „Wenn ich nicht verheimlicht hätte, wie Ludmilla mich
bedrängte, wäre meine Mutter sofort ausgezogen. Wir hätten auf der Straße gestanden und das
– wäre wahrscheinlich der Tod gewesen. Da hatte ich zum ersten Mal eine große
Verantwortung.“264
Stellen wir hier die moralische Verantwortungs- und Zumutbarkeitsfrage: Fragen wir uns,
worin genau die moralische Strategie des Jungen bestand. Wie verhält er sich? Worauf leistet
er Verzicht?
Analog zu dem Verhalten des Theologen im Widerstand, der den Talar ausgezogen hatte und
in den Geheimdienst, die Abwehr des Dritten Reiches eingetreten war, suspendierte auch der
Knabe Michael Degen seinen Anspruch auf direkte Wahrhaftigkeit. Seiner Mutter
verschweigt er, was die russische Pianistin, die ihnen auf dem Höhepunkt der
Judenvernichtung im halb zerbombten und beängstigend kontrollierten Berlin eine rettendes
Versteck bietet, und dadurch ihr Leben bewahrt, ihm selbst antut. Während sonst Mutter und
Kind alles miteinander teilen, distanziert das Kind hier die Vertrauensgemeinschaft, in der es
sich aufgehoben fühlt und noch Geborgenheit findet – in Mitten des Mordterrors, vor dem es
sich zu retten gilt. Das Kind durchbricht die zwischen ihm und seiner Mutter
selbstverständliche Erwartungserwartung der gegenseitigen Wahrhaftigkeit. Eine große
seelische Leistung, durch die es plötzlich moralisch erwachsen wird, ja die Rolle des
Verantwortungsträgers übernimmt, welcher die Folgen seines Handelns bedenkt, das
unverantwortbare totale Risiko wahrnimmt – und daher der Mutter das Unzumutbare nicht
zumutet.
Indem der Junge seine unmittelbare Wahrhaftigkeit suspendiert, gibt er aber nicht die
Wahrhaftigkeit des Argumentationspartners preis. Vielmehr erweist er sich gerade dadurch als
einer, der die Dilemmasituation und deren Lebensgefahr sich klar macht, der also ernsthaft
überlegt, und deshalb als glaubwürdiger Partner in einer möglichen, freien und offenen
Argumentationsgemeinschaft Anerkennung und vermutlich auch Zustimmung für seine
Handlungsweise fände: dafür daß er der Mutter verschweigt, was vorgeht. Denn nur dadurch
kann er dem Verantwortungsprinzip gerecht werden, welches gebietet, ihrer beider Leben vor
der Vernichtung, vermutlich vor Auschwitz, zu bewahren. Das Interview mit Michael Degen
zeigt, daß er bereits als Kind das Argument der Folgenverantwortung und das der
Zumutbarkeitsabwägung mit intuitiver Klarheit befolgt hat. In dem Begleitdiskurs, den er mit
264
M. Hanfeld, Ein Gespräch mit dem Schauspieler Michael Degen. Das jüdische Totengebet hat mir das
Leben gerettet, in: FAZ, 31.Oktober 2006, S. 46.
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sich selbst führt, in seinem Gewissensgespräch, sieht das Kind so ernsthaft wie sorgsam nach
der verantwortlichen Handlungsweise. Betrachten wir es mithin als virtuellen Diskurspartner,
der in seiner äußersten Gefahrensituation keine Diskursgemeinschaft in Anspruch zu nehmen
wagt. Können wir dann sagen, es habe seinem Wahrhaftigkeitsanspruch zuwidergehandelt?
Doch wohl nicht. Denn wie ein Diskurspartner, der nach dem besten Argument sucht, hat er
seinen Wahrhaftigkeitsanspruch gegenüber der Geltungsinstanz einer virtuellen, idealen
Argumentationsgemeinschaft keineswegs zurückgenommen, hat ihn vielmehr eingelöst. Aber
und gerade nur dadurch, daß er den Wahrhaftigkeitsanspruch in der direkten Interaktion mit
der Mutter zurücknimmt, um Verantwortung zu übernehmen, indem er di Mutter vor einem
lebensgefährlichen Dilemma und sie beide vor dem drohenden fürchterlichen Tode bewahrt, –
eben dadurch wird er für diese Situation ein glaubwürdiger Diskurspartner.
Ein zweites kommt hinzu. Der Junge suspendiert nicht allein den unmittelbaren
Wahrhaftigkeitsanspruch, er verzichtet auch auf die unmittelbare Wahrnehmung seines
Autonomieanspruchs, nämlich gegenüber Ludmilla. Läßt er sich doch von ihr mißbrauchen,
zum Instrument ihrer sexuellen Wünsche machen. Er beharrt nicht auf seiner
Selbstbestimmung ihr gegenüber, er duldet, daß sie seine Integrität verletzt, daß sie ihn zum
Mittel ihrer egoistischen Zwecke macht und erniedrigt. Er verzichtet darauf, seinen Anspruch
auf Menschenwürde durchzusetzen. Er fordert nicht ein, was Kant in seinem Imperativ der
Menschenwürde als unbezweifelbares moralisches Recht anerkannt hat – den Anspruch, von
Anderen nie nur als Mittel, sondern immer zugleich als Zweck gebraucht zu werden.265
Auf andere Weise aber, auf der Ebene des argumentativen Diskurses, den er als
Gewissensdiskurs mit sich selber führt, verwirklicht er freilich den Anspruch auf Autonomie
desto glänzender. Er erweist sich als urteilsautonom. Gerade dadurch, daß er sich nicht in die
Arme seiner Mutter wirft und laut werden läßt, was ihm von der Ludmilla angetan wird,
erweist er sich als autonomer Argumentationsteilnehmer; sprachen doch gute Gründe für ihn,
die in jedem Diskurs, in dem allein sinnvolle Argumente zählen, Anerkennung fänden.
265
Ungekürzt lautet die Menschenwürde- oder Selbstzweckformel Kants Kategorischem Imperativ:
„Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit
zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ I. Kant, GMS, S. 429 (vgl. Meiner-Ausgabe, Hamburg
1990, S. 54 f.). Im Anschluß daran arbeitet Kant die „Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem
Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich sich selbst gibt“, als Kriterium dafür heraus, daß dem Menschen ein
absoluter bzw. „innerer“ Wert zukomme, und nicht etwa bloß ein von außen zugemessener, relativer Wert,
nämlich entweder ein Marktpreis oder ein Affektionspreis (ebd., Akademieausgabe, S. 434 f.)
Kant kommt zu dem Schluß, daß moralische Autonomie, also die Selbstbestimmung eines Willens hinsichtlich
seiner moralischen Urteilsbildung bzw. Gesetzgebung „der Grund der Würde der menschlichen und jeder
vernünftigen Natur“ sei (ebd., S. 436).
Es ist eben diese Würde aufgrund moralischer Autonomie, welche in unserem Beispiel der heranwachsende
Michael Degen unter Beweis gestellt hat, indem er auf moralstrategische Weise Verantwortung
wahrgenommen und es ertragen hat, von Ludmilla Dimitrieff de facto manipuliert und entwürdigt zu werden.
197
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
An diesem Beispiel gewinnen wir zwei Einsichten, die von grundsätzlicher Bedeutung sind:
erstens die metaethische Unterscheidung der unmittelbaren Handlungen von dem
(argumentativen)
Diskurs
über
diese
bzw.
über
die
Situation,
zweitens
die
moralphilosophische Einsicht, daß es verantwortungsethisch geboten sein kann, legitime
Ansprüche, deren Erfüllung einem als moralische Rechte zustehen, in moralrestriktiven
Situationen zurückzunehmen, also selbst ethisch zurückzustecken und sich konterstrategisch
zu verhalten. Warum das? Weil ein unmittelbares ethisches Verhalten für Betroffene
unzumutbar wäre und unverantwortliche Folgen nach sich zöge. Diese Einsichten lassen sich
in folgendem Schema festhalten:
Diskurslegitimer
Umgang
mit
dem
Geltungsanspruch
‚Wahrhaftigkeit’
und
der
Anerkennungserwartung ‚Geachtetwerden der Menschenwürde/Autonomie’ (MW/A).
Ebene
Rolle
‚meine’ Wahrhaftigkeit
Anerkennung ‚meiner’ MW/A
Unmittelbare
Praxis in
Lebenswelt
und
Gesellschaft
(faktische)
Lebensrolle
im Umgang mit fakt.
Adressaten als (mögl.)
Diskurs- und Moralgefährder
einklammerbar und
suspendierbar
im Umgang mit einer Person bzw.
Institution, die die Anerkennung
‚meiner’ MW/A verweigert,
einklammerbar und suspendierbar
(Begleit-)
Diskurs
(bzw.
Gewissen)
(auch kontrafaktische)
Diskurspartnerrolle
(DP)
in der Beziehung zu fakt.
Adressaten als ernsthaftem
DP und zur idealen
Argumentationsgem. (relig.:
zu Gott) unbedingt einzulösen
in der Beziehung zu einem fakt.
Adressaten als ernsthaftem DP und
zur idealen
Argumentationsgemeinschaft
unbedingt zu gewährleisten
Gehen wir nun wieder zu unserem Beispiel zurück. Es zeigt uns, daß der
verantwortungsethische Realitätsvorbehalt – der realistisch-moralische Vorbehalt, nach außen
(gegenüber Dritten und gesellschaftlichen Mächten) nötigenfalls strategisch zu handeln –,
unangenehm nach innen, mithin auch auf uns selbst zurückschlägt. Sieht man nämlich von
dem zweiten moralstrategischen Gesichtspunkt in dem Beispiel Michael Degens ab, also von
dem Verzicht auf die Durchsetzung der eigenen Autonomie, und konzentriert man sich auf die
Suspendierung der unmittelbaren Wahrhaftigkeit, dann erkennt man:
Die ursprünglich nach außen gerichtete strategische Vorbehaltlichkeit und konterstrategische
Verhaltensbereitschaft muß, zumindest angesichts von Lebensgefahr, auch nach innen
gewendet werden. Denn zumal Wahrhaftigkeit, also die unmittelbare Aufrichtigkeit und
Offenheit je ‚meiner’ Kommunikation mit ‚meiner’ Umgebung, kann in gefahrvollen
198
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
Situationen u.U. selbst für den vertrautesten Kreis der Betroffenen unzumutbar sein. Das ist
ganz sicher und zumindest dann der Fall, wenn sie unverantwortliche Risiken erzeugt:
Risiken, die einzugehen illegitim wäre, weil sie „das Ganze der Interessen der betroffenen
Anderen“, wie Hans Jonas formuliert266, aufs Spiel setzen würden. Denn das Leben umkreist
alles, was moralisch zu berücksichtigen ist. Denn ohne das Leben gibt es keinerlei Wert, keine
Achtung der Menschenwürde, keine mögliche Moralität etc. Daher gilt, daß ‚meine’
Wahrhaftigkeit nach innen zumindest dann, wenn sie das Leben Anderer oder mein eigenes
Leben gefährden dürfte, zurückgenommen werden soll. Das ist ein kategorisches moralisches
Sollen.
Kurzum: Die Rücksicht auf die Zumutbarkeit der Wahrheit nach innen, also auf die
Zumutbarkeit ‚meiner’ Aufrichtigkeit und Offenheit in der Kommunikation (über die
Handlungslage und ‚meine’ Handlungsweise mit den ‚Meinen’) ist die Kehrseite der
Konterstrategie
nach
Verantwortungsethik.
außen
Rücksicht
und
ebenfalls
auf
die
ein
unabdingbares
Zumutbarkeit
mitsamt
Moment
der
moralstrategischer
Zurücknahme der Wahrhaftigkeit ist zumindest dann verantwortungsnotwendig und daher
moralisch geboten, wenn das Gesamtinteresse der betroffenen Anderen bedroht ist, ihr Leben.
Die moralstrategische Fragestellung führt also nicht etwa zu einem andersartigen Prinzip, das
neben das Moralprinzip mit seinem Kriterium der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit träte.
Nein, sie ergibt sich aus dessen Anwendung auf das Dilemma eines/einer Verantwortlichen,
der/die in nonmoralanalogen Situationen moralisch richtig handeln will und soll. Will er/sie
aber unter solchen (moralfeindlichen) Bedingungen noch moralisch legitim agieren, so muß
er/sie Handlungsweisen suchen, die im Lichte der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit als
folgenverantwortlich und zumutbar gelten können. Bei dieser Suche leitet ihn/sie die
geltungsmäßig
prinzipienbezogene
und
faktisch
situationsbezogene
moralische
Verantwortungsfrage (7): ‚Welche strategischen Gegenmittel nach außen und z.B. welche
Wahrhaftigkeitszurückhaltungen oder Lügen nach innen sind unter den je gegebenen
moralrestriktiven Handlungsbedingungen für Verantwortungsträger als Diskurspartner
zustimmungswürdig
und
daher
mit
dem
Moralprinzip
vereinbar,
d.h.
moralisch
verantwortbar? Und zwar auch dann, wenn sie persönlichen moralischen Intuitionen oder
religiösen Geboten zuwiderlaufen sollten.‘
Die
herausgestellte
Leitfrage
nimmt
den
Verantwortungsträger
oder
die
Verantwortungsträgerin in eine besondere Pflicht: die Pflicht für den (möglichen) Erfolg des
266
H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation.
Frankfurt am Main 1979. (zit. als PV), S.79.
199
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
Moralischen in nicht moralgemäßen Verhältnissen. Insofern läßt sie sich als erfolgsmoralische
Frage bezeichnen. Sie erweitert die moralintrinsische Perspektive, welche wir zuallererst
einnehmen, wenn wir nach dem Standpunkt der Moral suchen, um zwei Aspekte: Zunächst
um die realistische Einschätzung der Handlungsbedingungen und der moralischen Folgelasten
eines unmittelbar moralischen Verhaltens i.S. eines dialogisch offenen Miteinanders, sodann
durch die praktische Bemühung um einen Erfolg des Moralischen unter kontra-moralischen
Bedingungen. Beides zusammen bedeutet eine Präzisierung des Moralstandpunkts, nämlich
die Konkretion der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit von deren Idee zur Realisierbarkeit.
Und erst in dieser Konkretion kommt die Aufstufung der Gegenseitigkeitsperspektive zu ihrer
Vollendung – von der Gesinnungsstufe (6) zur Verantwortlichkeitsstufe (7).
Eine konsequente Aufstufung der Gegenseitigkeit ist also durchaus mit der, politisch von Max
Weber und zukunftsethisch von Hans Jonas, diskursethisch von Karl-Otto Apel und
feministisch
von
Carol
Verantwortungsperspektive
Gilligan
vereinbar.
geltend
gemachten,
Wohlverstanden,
kann
Fürsorgedie
Fürsorge-
und
und
Verantwortungsperspektive nämlich nichts anderes verlangen als die Bereitschaft zu
Konterstrategien und die Prüfung solcher nach Maßgabe der verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit (Stufe 6). Die Handlungsbedingungen, angesichts derer sie zu entwickeln
sind, sind nicht bloß asymmetrisch, sondern moralrestriktiv. Hier liegt das Problem des, am
schärfsten von Max Weber und Karl-Otto Apel eingeforderten, Übergangs von der
„Gesinnungsethik“ zu einer „Verantwortungsethik“, von einer gleichsam privaten Moralität
zu einer sozialen und politischen Folgenmoral, allgemein von der Selbstsorge um den eigenen
reinen Willen und die (auch nach außen erscheinende) seelisch-moralische Integrität hin zu
der Sozialsorge und Zukunftssorge um die berechtigten Bedürfnisse und Geltungsansprüche
Anderer, welche auf dem Spiele stehen. Dieser Überstieg zur Verantwortungsethik läßt sich in
folgenden Stichworten zusammenfassen:
Verantwortungsethik als Bildung moralischer Strategien durch Beziehung des Moralprinzips
„D“ auf non-moralanaloge Situationen.
Dieses Beziehen bzw. Anwenden führt
(1)
zur Differenzierung und Konkretion von „D“ zu → „D-V“ bzw. „Stufe 7“ (nach
Böhler) und
(2)
zu einer jeweiligen moralischen Strategiebildung gemäß „D-V“: situative Suspension
bei diskursidealer Aufrechterhaltung von Wahrhaftigkeit und Autonomie. Der Maßstab
ist, daß ‚ich‘ als Diskurspartner in einer freien Argumentationsgemeinschaft für
200
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
‚meine‘ Verhaltensweise einstehen und für meine Bemühung mit Recht Anerkennung
erwarten kann.
Dieser Übergang schließt Belastungen der moralischen Person ein; ja er kann eine moralische
Identitätskrise zur Folge haben, wofür es bewegende Zeugnisse gibt – nicht zuletzt bei
Repräsentanten des religiösen Ethos oder eines Standesethos (Pfarrer, Ärzte, Soldaten). Es
fragt sich jedoch, ob es sich bei solchen unleugbaren Krisen des moralischen
Selbstverständnisses eigentlich um eine Krise auf der metakonventionellen moralischen
Prinzipienstufe (6) handelt. Oder begegnen wir hier gesinnungsethischen Überhöhungen
tradierter moralischer Intuitionen bzw. Ideale, die sich in einem argumentativen, anhand des
Moralkriteriums der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit (6) geführten Diskurses nicht
verteidigen
lassen,
so
daß
sie
auch
die
verantwortungsethische
Prüfung
einer
moralstrategischen Konkretion (7) nicht bestehen können? Entwicklungslogisch wäre jeweils
zu prüfen, ob es sich um Verabsolutierungen tradierter, institutionalisierter und eingelebter
Orientierungen unterhalb der diskursfähigen Prinzipienstufe 6 handelt. Das können ebenso
Orientierungen an Recht und Ordnung (Stufe 4) oder am Sozialvertrag (Stufe 5) sein wie auch
eine religiöse Bindung an göttliche Gebote.
M.E. bezeugen die moralischen Identitätskrisen der Gesinnungsethiker die inneren
Schwierigkeiten, gegenüber den Stufen 3, 4 und 5 die Autonomie eines konsequent
prinzipienethischen Urteils zu gewinnen und zu behaupten. Denn diese erfordert eine
prinzipiengeleitete Distanzierung nicht allein der ethischen Konventionen (Stufen 3 und 4),
sondern auch der durch einen Sozialvertrag oder durch einen Glaubensbund mit Gott
anerkannten Grundnormen (gemäß Stufe 5 bzw. 5 ½). Die moralische Urteilsautonomie, die
man als möglicher Diskurspartner von vorneherein in Anspruch genommen hat, ist
anstrengend. Sie schließt eine zweifache Bereitschaft zum kritischen Diskurs ein: die
Bereitschaft zur Geltungseinklammerung aller konkreten normativen Gehalte und die
Bereitschaft zu deren Verantwortbarkeitsprüfung angesichts der gegebenen Situation. Um
moralische Autonomie zu praktizieren, bedarf es dialektischer Einsicht und psychologischer
Selbstdistanz samt Konfliktbereitschaft.
Zunächst ist die dialektische Einsicht erfordert, daß ‚wir’ einerseits Urteilende sind, die als
Diskurspartner das ideale Geltungsverhältnis universaler Reziprozität zu allen möglichen
Argumentationspartnern und ihren sinnvollen Diskursbeiträgen anerkannt haben, andererseits
aber Akteure bzw. Rollenträger, die als Verantwortliche den Moralrestriktionen
asymmetrischer Handlungsbedingungen und nonmoralanaloger Verhaltensweisen ausgesetzt
sind bzw. sein können. Die Dialektik dieser beiden ursprünglichen Positionen, in der ‚wir’ uns
201
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
hier befinden, ist der Bezugsrahmen der Verantwortungsethik. Denken und praktizieren läßt
sich moralische Verantwortung einzig dann, wenn beide Positionen gleichermaßen
berücksichtigt
werden.
Diskursidealität
ohne
Folgenverantwortungsrealismus
wäre
schwärmerisch und verlöre den konkreten Gegenstand des Diskurses aus den Augen.
Folgenverantwortungsrealismus ohne Diskursidealität wäre zynisch, wüßte nicht, was es
eigentlich zu verantworten gelte und vor welcher Instanz.
Zur Umsetzung jener Dialektik braucht es Selbstdistanz und Institutionendistanz – Abstand
von eingelebten ethischen Orientierungen und Selbstverständnissen. Wer moralisch
verantwortlich sein will, benötigt Raum und Kraft für eine moralstrategische Risiko- und
Konfliktbereitschaft. Deren normativer Sinn besagt: ‚Suche und praktiziere Konterstrategien –
auch auf die (wohl selten auszuschließende) Gefahr hin, daß du etwas bewirkst, was man im
nachhinein, in einem besser informierten Diskurs über die Verantwortbarkeit des Getanen
bzw. in Gang Gesetzten, nicht gutheißen und als zustimmungswürdig ansehen kann.’ Ohne
die Risikobereitschaft, praktisch zu irren, Gewissensbisse zu erleiden oder im Urteil Anderer
schlecht dazustehen, gibt es keine couragierte, moralstrategische Tat – keine „freie,
verantwortliche Tat auch gegen Beruf und Auftrag“, wie Dietrich Bonhoeffer formulierte.267
Summa summarum können wir das verantwortungsethische Problem so pointieren: Während
auf der Stufe 6 die Diskursfrage einfach lautet, ob eine bestimmte Handlungsweise oder Norm
im Prinzip moralisch richtig ist, ob sie überhaupt der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit
entspricht, so daß sie unter Diskurspartnern argumentative Zustimmung finden würde und
daher anzustreben ist, stellt sich auf Stufe 7 das situationsbezogene Realisierungs- und
Durchsetzungsproblem dessen, was als eigentlich moralisch richtig erkannt worden ist. Das
Moralkriterium
der
verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit
als
argumentativer
Zustimmungswürdigkeit bleibt ungeschmälert in Kraft. Und das ist von entscheidender
Bedeutung.
Warum? Ohne Bindung der moralstrategischen Diskurse an das Moralkriterium liefen sie
Gefahr, der Willkürregel „Der (moralische) Zweck heiligt die (nonmoralischen) Mittel“
anheimzufallen. Dann lösten sich die verantwortungsethischen Beratungen und Überlegungen
in ein strategisches Erfolgskalkül auf: die Mittel und Wege würden bloß noch an den
zweckrationalen Kriterien von Effizienz und Erfolg gemessen. Das liefe auf die unmoralische
Selbstermächtigungsformel hinaus, die da lautet: „uns ist alles erlaubt“.
An dem Maßstab der moralischen Urteilsbildung ist nicht zu rütteln: die eine moralische
Prinzipienorientierung hat Bestand. Aber die Handlungssituationen, um deren Beurteilung
267
D. Bonhoeffer, Widerstand (1962), S. 14.
202
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
oder praktische Bewältigung es zu tun ist, können von aller Moralität entfernt sein. Denen, die
moralisch guten Willens sind, kann mancherlei Amoralität entgegenstehen. Daher richtet sich
der Blick der Teilnehmer an einem verantwortungsethischen Diskurs in realistischer
Nüchternheit
auf
jene
‚schmutzigen’
Handlungsbedingungen,
unter
denen
der
Verantwortliche nicht auf die Moralbereitschaft des Gegenübers und nicht auf eine
Moralgemäßheit der Verhältnisse rechnen kann noch darf. Das ist das von Karl-Otto Apel so
genannte B-Problem der Ethik; es verlangt die Bildung und Prüfung „moralischer
Strategien“268, gibt als deren Bewertungsmaßstab aber das regulative Diskurskriterium der
argumentativen Zustimmungswürdigkeit an: ‚Fragt euch, frage dich, ob eure/deine ins Auge
gefaßte Strategie die begründete Zustimmung aller, zumal der Betroffenen, erhalten würde,
wenn sie diese Situation (im Lichte der euch/dir zugänglichen Informationen) als strikte
Argumentationspartner beurteilten!’
Durch die Koppelung der realistischen, und zwar moralstrategischen Situationseinschätzung
an das diskursethische Moralkriterium transformiert sich die Prinzipienethik von einer
Gesinnungs- in eine Verantwortungsethik. Dieser Überstieg von einem idealisch
unmittelbaren Verständnis und Anwendungswillen des Moralprinzips hin zu einer
moralstrategischen Konkretion des Moralprinzips, und zwar anhand der Fragen nach
Folgenverantwortbarkeit und Zumutbarkeit, stellt ein neues Urteilsniveau dar: Nunmehr sucht
der Urteilende nach einer Handlungsweise, die den Erfolg des Moralischen unter nicht
moralischen Bedingungen möglichst gewährleistet. Für die Problematik schlage ich eine
eigene Stufe vor: „Stufe 7“.
268
K.-O. Apel, Ist die philosophische Letztbegründung moralischer Normen auf die reale Praxis
anwendbar?, in: Funkkolleg Studientexte (1984), III, bes. S. 624-634. Ders., Diskurs (1988), S. 256ff, 265ff
und 299f; ders., The Response of Discourse Ethics to the Moral Challenge of the Human Situation as Such and
Especially Today, Leuven 2001 (zit.: The Response (2001)), S. 77ff.
203
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
4.3
Erfüllte
11.12.2009
Autonomie:
‚Meine’
Verantwortung
und
Glaubwürdigkeit
als
Diskurspartner.
Wenn wir zurücktreten von der bis hierher diskutierten Problematik einer Entwicklungslogik
des moralischen Urteils bzw. der praktischen Urteilskompetenz, mag die Frage aufkommen,
ob oder inwiefern derlei auch für den Entwicklungsweg der philosophischen Paradigmen von
Bedeutung
sei.
Die
Antwort
ergibt
sich
daraus,
daß
erst
das
dritte,
das
kommunikationsphilosophische Paradigma imstande ist, Kohlbergs Idee zu würdigen und
fruchtbar zu kritisieren. Mehr noch, die soeben vorgetragene (und erst noch abzuschließende)
Auseinandersetzung ist selbst ein signifikantes Ergebnis des dritten philosophischen
Paradigmas, der Kommunikationsphilosophie – und ihrer internen Entwicklung von
Habermas’ Rekonstruktion des Idealtyps ‚kommunikatives Handeln‘ zu einer sokratischen
Reflexion auf ,uns‘ als Partner in Diskursen, hier: in praktischen Diskursen. Beides wird
deutlich, wenn wir auf die Anfänge der Kommunikationsphilosophie und deren erste
Auseinandersetzung mit Kohlberg in den späten siebziger und ersten achtziger Jahren des 20.
Jahrhunderts zurückblicken.
Jürgen Habermas hat auch dank seiner intensiven, kundigen Auseinandersetzung mit
Lawrence Kohlberg Wissenschaftsgeschichte geschrieben. 1976 gab er den Anstoß zu einer
kommunikationsbezogenen Reformulierung von Kohlbergs höchster Stufe. Sein Argument
war dieses: Von einer verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit könne strenggenommen erst dann
die Rede sein, wenn die Bedürfnisse der Betroffenen „nicht mehr nur innerhalb eines durch
kulturelle
Überlieferung
naturwüchsig
fixierten
Interpretationsrahmens
nach
einem
monologisch angewendeten Prinzip der Verallgemeinerung überprüft“ und also „die
Bedürfnisinterpretationen nicht länger als gegeben angenommen, sondern in die diskursive
Willensbildung einbezogen werden“269. Im Anschluß daran kritisierte Apel 1980, daß
Kohlberg, wenn er die Stufe 6 durch Kants Kategorischen Imperativ erläutert, auf das einsame
Gedankenexperiment eines Einzelnen zurückgehe: „Der Einzelne überlegt sich, ob seine
subjektiven Grundsätze des Handelns universalisierbar sind [...], aber er berät sich nicht mit
anderen darüber“. So schließe Kohlbergs Definition der Stufe 6 noch nicht die
269
J. Habermas, Moralentwicklung und Ich-Identität, in: ders., Zur Rekonstruktion des historischen
Materialismus, Frankfurt a. M. 1976, S. 88 und 87.
204
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
(entscheidende)
„Forderung
11.12.2009
einer
zwischen
allen
Betroffenen
zu
vollziehenden
Verständigung“ über den Sinn ihrer Bedürfnisse und Interessen ein.270
Allerdings haben Habermas und anfänglich auch Apel (1980) aus dieser berechtigten Kritik
eine falsche entwicklungslogische Konsequenz gezogen. Nahmen sie doch Kohlbergs Stufe 6
als solche einer formalistischen Pflicht- und monologischen Gewissensethik hin und fügten
dieser dann – im Sinne einer „universalen Sprachethik“ – noch eine siebente Stufe der
„universalistischen Bedürfnisinterpretationen“ als höchste Stufe hinzu.271 Aber es ergibt
keinen Sinn, einfach weiterzuzählen und fortzustufen, wenn Kohlbergs Bestimmung der
Urteilsstufe 6 das entwicklungslogische Telos der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit
offensichtlich unterbietet, das Moralprinzip also fehlerhaft ansetzt.
Außerdem ist auch der Geltungsanspruch eines Gewissensurteils ein Anspruch auf
Zustimmungswürdigkeit, der die mögliche Kommunikation mit Anderen einschließt,
wenngleich diese sich in der Lage, die der Urteilende vorfindet, vielleicht nicht realisieren
läßt. Daher sieht sich der Urteilende/Handelnde zu einer kommunikationsentlasteten, mehr
oder weniger einsamen Urteilsbildung genötigt. Sein Geltungsanspruch ist es aber, „nach
bestem Wissen und Gewissen“ zu urteilen. Darin ist die Verpflichtung enthalten, sich um das
beste Wissen zu bemühen.272 Und das beste soziale Situations- bzw. Bedürfniswissen gewinnt
man durch Kommunikation mit den Betroffenen, das zweitbeste durch Methoden der
Interpretations- und Verständigungswissenschaft, der Hermeneutik, welche das nicht
mögliche Gespräch über den Sinn dessen, was abwesende oder verstorbene Autoren gesagt
bzw. gewollt haben, durch sorgsame Verfahren der Sinnerschließung zu kompensieren sucht.
Das hermeneutische Regulativ bleibt die Idee der Verständigung mit den betreffenden
Anderen: die regulative Idee der „Verständigungsgegenseitigkeit“ (Böhler).273
Kurzum: Wenn die Entwicklungslogik auf verallgemeinerbare Gegenseitigkeit zielt, dann
muß deren eigentliche Prinzipienstufe, die Stufe 6, selber kommunikationsbezogen formuliert
werden. Eine Korrektur durch nachträgliche Ergänzung des Fehlenden, nämlich der
Kommunikation, durch Hinzufügung einer eigenen Stufe 7, wäre Flickschusterei. Erforderlich
ist also eine verständigungsbezogene Reformulierung der Kohlbergschen Stufe 6. Diese muß
270
K.-O. Apel, Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und
Entwicklungsstufen des moralischen Bewußteins, in: Funkkolleg Studientexte (1984), I (Erstausgabe als
„Studienbegleitbrief 1“ im Jahre 1980), S. 62.
271
J. Habermas, a.a.O., S. 83 und 84f; vgl. K.-O. Apel, a.a.O., S. 62f.
272
Hegels Kritik der romantischen Irrationalisierung des Gewissensbegriffs und G.H. Meads Beziehung
des Gewissensurteils auf die ideale Kommunikationsgemeinschaft, das universe of discourse, weisen darauf
hin und sind daher für eine Klärung des Gewissensbegriffs unverzichtbar: D. Böhler, Philosophischer Diskurs
im Spannungsfeld von Theorie und Praxis, in: Funkkolleg Studientexte (1984), II, bes. S. 347-350; ders., R.P.
(1985), S. 339ff.
273
Vgl. meine Einführung dieses Terminus’ in: Funkkolleg Studientexte (1984), I, S. 276, vgl. 274ff und
in Bd. III, S. 858f.
205
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
zwei verschiedenartige Gesichtspunkte berücksichtigen, die Habermas im Begriff des
praktischen Diskurses zusammenwirft. Das ist zuallererst die Gegenseitigkeit der
Verständigung über den Sinn anstelle eines auf willkürgefährdete Analogieschlüsse
angewiesenen monologischen Verstehens. Sodann geht es um die Gegenseitigkeit der Geltung
von Gründen, worauf die diskursive Prüfung zielt. Im ersten Schritt steht eine kommunikative
Sinnermittlung als Verständigung zwischen den Urteilenden und den möglichen Betroffenen
über ihre Interessen und ihre Situation an: „Was ist der Sinn der Handlungsweise und der
dahinterstehenden Bedürfnisse, Interessen bzw. Werte von N. N.? Was wollen die
Betroffenen, und wie verstehen sie ihre Situation?“
Erst dann, wenn wir durch direkte Kommunikation oder hermeneutische Verfahren dieses
Situationswissen erworben haben, sind wir legitimiert, den moralischen oder praktischen
Diskurs im engen Sinne zu führen. Strenggenommen, ist der praktische Diskurs also erst der
zweite Schritt. Er dreht sich um die normativ moralische Frage: „Was sollen wir (im Sinne der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit) tun, wenn die Situation der Betroffenen mitsamt ihren
Interessen und Werten so und so beschaffen ist?“ Nach Maßgabe des Diskursprinzips soll nun
– wieder möglichst kommunikativ – geklärt werden, was es in der besonderen Situation heißt,
im Sinne der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit zu handeln. Es geht hier um die
Bestimmung der „Geltungs-Gegenseitigkeit“ der Gründe für/gegen eine Handlungsweise.
Demnach ergibt sich eine kommunikationsbezogene Reformulierung der moralintrinsischen
Urteilsstufe 6 mit der Fragestellung: „Wie sollen wir uns gegenüber den Interessen der
Betroffenen eigentlich bzw. idealiter verhalten?“ Die Antwort läuft, formal gesprochen auf
die Aufforderung hinaus:
Berücksichtigt die beiden Ebenen eines praktischen Diskurses:
(1) Verständigung (möglichst mit den Betroffenen) über den Sinn ihrer Interessen und
über ihre Situation. (Ebene der Verständigungsgegenseitigkeit)
(2) Diskurs (möglichst mit den Betroffenen): Wozu sind wir – eigentlich/idealiter –
verpflichtet, wenn die Situation samt den Interessen der Betroffenen so und so
beschaffen ist? (Ebene der Geltungsgegenseitigkeit)
Aus diesen Überlegungen ergibt sich folgende kritische Rekonstruktion von Kohlbergs
Entwicklungslogik des moralischen Urteils bzw. der lebensweltlichen praktischen
Diskurskompetenz als Aufstufung des Gegenseitigkeitsniveaus. In der anschließenden Tabelle
wird diese Aufstufung vor allem von der dritten, entwicklungslogisch tragenden Säule
(„Urteils- und Gegenseitigkeitsniveau“) dargestellt.
206
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
11.12.2009
Entwicklungslogik hin zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit des moralischen Urteils:
Lawrence Kohlberg und die Diskursverantwortungsethik
Stufe der Orientierung
1 Orientierung durch Ego-Intuitionen/Lustgewinn und
durch egozentrische Machtkonformität
Urteils- und Gegenseitigkeitsniveau
Reziprozität von Gehorsam –
Belohnung bzw. Freiheit von Strafe
(gut ist, was mir nützt)
2 Physisch pragmatische Ich-Orientierung mit egoistischer Instrumentell relativistische
Tauschperspektive
Gegenseitigkeit (do ut des)
Bezugspunkt
Je deine Handlung, je
mein Bedürfnis
Je meine/deine
Handlungsweise
mögliche Regressionstendenzen
Diskursebene
I
Prämoralisch:
Egoismus
Strategismus
Reifungskrise: zur Anerkennung Anderer und sozialer Rollen
II
Konventionell: Bezug auf
persönliche Autorität und
konkrete Werte/Normen
Bezug auf
funktionale Autorität u.
Rechtsnormen bzw.
-verfahren
3 Orientierung an Vorbildern und konkreten Tugenden in
den Rollen ,unserer‘ Gruppe
4 Orientierung an der Aufrechterhaltung von Recht und
sozialer Ordnung um ihrer selbst willen
Soziale Identität und Anerkennung
gemäß Bezugsgruppe:
Gegenseitigkeit von Erwartungen in
,unserer’Gruppe
Ordnungs- und Rechtsbewußtsein:
Gegenseitigkeit des generalisierten
(normativen) Anderen
Rollen →
gruppenbezogene
Anerkennung und
Fürsorge
Normensystem →
Institutionenloyalität
Reifungskrise (4 ½): zur Autonomie durch Prinzipienorientierung samt Folgen- und Strategie-Verantwortung
III
Metakonventionell/
prinzipienbezogen:
Gedankenexperimente
oder Diskurse über die
Einsehbarkeit (für mich)
und Zustimmungswürdigkeit (für alle) von
Werten/ Normen/
Handlungsweisen
5 Legalistische Orientierung am Sozialvertrag i.S. des
Nutzens ,unserer‘ Gesellschaft (Gemeinwohl)
5½ Orientierung an Kult- u. Sittenvertrag („Bund“) mit Gott
dem Gerechten und Liebenden (z. B. Mose 2. B., 20; 3.
B. 19, 18; 5. B. 5 u. 6; Propheten, z.B. Micha 6,8; Hillel
und Jesus)
6 Orientierung am universalen Moralprinzip: ‚Wozu sind
wir unbedingt verpflichtet? Was sollen wir eigentlich
tun?’ → Dialog-Moralprinzip ‚D’: „Ist die Maxime M
aufgrund von Verständigungs-Gegenseitigkeit und in
rein argumentativen Diskursen zustimmungswürdig?“
7 Ausgang von (6) mit Blick auf faktische
Moralrestriktionen: ‚Können wir als Diskurspartner die
Erfolgsstrategie X zur Durchsetzung der Maxime M
moralisch noch verantworten?’ ‚Ist die Strategie
zustimmungswürdig?’
Politische Autonomie gegenüber der
Verbindlichkeit von Konvention und
Gesetz: Vertragspartnerschaft
Theonomie mit partieller Autonomie
gegenüber Eigeninteressen und
Verpflichtungen von 3 bis 5:
Korrelation mit Gott, dem Gerechten
Kommunikative Diskurs-Einstellung
mit Autonomie gegenüber 3 bis 5½,
Verallgemeinerbare Verständigungsund Geltungsgegenseitigkeit unter
(möglichen) Diskurspartnern
Verfassungs- bzw.
Sozialvertragsgrundsätze
Als gerecht einsehbare Gebote Gottes
und Nächstenliebe
bzw. Goldene Regel
Moralprinzip ‚D’ →
Menschenwürde und
Diskurs-Gerechtigkeit:
alle Rechtsansprüche
gleichermaßen
berücksichtigen!
DiskursverantDiskurs-Autonomie gegenüber
moralischen Gesinnungsmaximen (6): wortungsprinzip ‚D-V‘
argumentative Zustimmungs→ Erfolgsbezogene
Moral- und Zukunftswürdigkeit im Blick auf nonreziproke
Handlungsbedingungen
sorge gemäß ‚D’
207
Vorlesung Böhler WS 2009/2010
Die
hier
vorgeschlagene
11.12.2009
Entwicklungslogik
reformuliert
Kohlbergs
Schema
in
diskursverantwortungsethischer Sicht. Diese Reformulierung hat gegenüber dem Urbild vier
Vorteile. Sie vermeidet den Kategorienfehler des „Postkonventionalismus“, zudem kann sie
das genuin moralische Niveau der hebräisch-biblischen Überlieferung würdigen (Stufe 5 ½).
Drittens
bestimmt
verallgemeinerbare
sie
das
moralische
Gegenseitigkeit,
so
Prinzipienniveau
daß
auch
das
der
Stufe
6
strikt
Beurteilungsverfahren
als
nicht
monologisch sondern partizipatorisch angelegt ist: Sinnverständigung und Diskurs treten an
die Stelle eines bloßen Verallgemeinerbarkeitstests, den einer allein als Gedankenexperiment
durchführen kann. (Zu diesem Selbstwiderspruch läßt sich Kohlberg durch seine Anlehnung
an Kant und Rawls verleiten.) Nachdem derart Kommunikation in die Vernunft eingebracht
und dadurch die methodisch solipsistische Perspektive der Tradition überwunden worden ist,
wird durch Einführung einer verantwortungsethischen Urteilsstufe 7 auch die Tendenz zu
einer gesinnungsethisch idealistischen Anwendung des moralischen Prinzipienurteils
aufgehoben. Die vierte Errungenschaft ist sozusagen das „Überlegungsgleichgewicht“ von
Kommunikation,
prinzipiengeleitetem
Verantwortungsdiskurs:
konterstrategische
Die
realistische
Erfolgsgesichtspunkt
Idealdiskurs
und
real
Zukunftsverantwortung
ernüchtert
die
folgenbezogenem
konkretisiert,
Orientierung
an
der
der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit.
Was bedeutet dieser kommunikationsbezogen revidierte entwicklungslogische Ansatz für die
Wie-, die Was- und die Warum-Frage der Moral? Wie wir moralisch werden bzw. es werden
können, zeigt Kohlbergs Sukzession der Urteilsentwicklung: das Moralischwerden ist ein
Bildungsprozeß der sich aufstufenden Gegenseitigkeitsorientierung im eigenen Überlegen. Im
Laufe der Sozialisation, der Selbstwerdung und Persönlichkeitsentwicklung differenziert sich
die faktische Orientierung bei Normenkonflikten derart, daß die Urteilenden die Frage, was
‚moralisch’ heiße, im Sinne einer stufenweise allgemeineren bzw. umfassenderen
Gegenseitigkeit (jedenfalls implizit) beantworten.
Die entwicklungslogische Antwort auf die Entstehungs- bzw. Wie-Frage der Moral lautet:
Man wird moralisch, indem man zunächst – auf der vorkonventionellen und dann der
konventionellen Ebene – die Frage, was moralisch zu sein heiße, in Form einer zunehmend
umfassenden und abstrakten Gegenseitigkeit zu beantworten lernt. Dann erfolgt der Einschnitt
der Krisenstufe 4½, der Sprung auf die metakonventionelle Urteilsebene. Hier wird nach
Grundsätzen dafür gesucht, warum eine Gegenseitigkeitsorientierung als moralisch gelten
soll. Die Was-Frage verwebt sich mit der Warum-Frage. Ja, sie wird nun im Lichte der
Begründungs- bzw. Warum-Frage gestellt. Die Antworten stufen sich jetzt so auf, daß
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progressiv
allgemeine
und
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abstrakte
Grundsätze
ins
Spiel
kommen;
und
zwar
folgendermaßen:
Stufe 5
– Einhalten der Grundsätze eines Sozial- und Verfassungsvertrags in bezug auf
die Angehörigen ‚unseres’ politischen Verbandes, z.T. mit Menschenrechten,
Stufe 5 ½
– Einhalten der Grundsätze einer als göttlich geachteten Gerechtigkeits- und
Liebesethik mit Pflichten gegenüber allen Menschen,
Stufe 6
– Sich-Einlassen auf kommunikative Diskurse und Sich-Orientieren am Prinzip
der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit,
Stufe 7
– Sich-Distanzieren von einem gesinnungsethischen, harmonistischen und
konkretistischen Verständnis des Moralprinzips und von der Ausschließlichkeit
der rein dialogisch kommunikativen Einstellung, statt dessen Sich-Einlassen
auf moralstrategische Situations- und Folgen-Diskurse, deren Ergebnisse aber
dem Dialogprinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit genügen sollen.
Die Stufen 6 und 7 eröffnen zudem die Chance einer erfüllten Autonomie. Denn sie
ermöglichen es den Urteilenden, sich als Diskurspartner einzuholen, indem sie ihren
Anspruch auf Urteilsautonomie, auf autonome Diskurspartnerschaft, einlösen – durch
Beantwortung der prägnanten Frage „Warum moralisch sein?“ Es ist dies eine doppelte Frage,
nämlich die wertethische Frage der Selbstmotivation: „Warum will ich eigentlich moralisch
sein?“ und die normativ ethische Frage der Verbindlichkeitserkenntnis: „Warum soll ich
(begründeterweise) moralisch sein?“ Auf der sechsten Stufe und mit situations- sowie
zukunftsbezogener Differenzierung auf Stufe 7 erschließen sich den Fragenden – im Zuge
einer sokratischen Besinnung auf ihre Ansprüche als Diskurspartner – nämlich folgende
Antworten:
‚Ich, der ich mit Anspruch auf Wahrheit einen Diskurs führe, will mich um VerständigungsGegenseitigkeit und um Geltungs-Gegenseitigkeit bemühen, weil ich erkenne bzw. erkannt
habe, daß andersartige Orientierungen mit meinem Anspruch, ein autonomer Diskurspartner
zu sein, in Widerspruch geraten müssen, also meine Diskursglaubwürdigkeit und damit auch
meine moralische Identität zerstören würden.’
Wenn skeptisch nachgefragt wird, warum man diese moralische Wertorientierung wählen und
warum man diese Selbstmotivation wollen solle, so ergibt sich – ebenfalls durch Besinnung
auf die eigene Diskurspartnerrolle – diese Antwort: ‚Weil ich anderenfalls meinen Anspruch,
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auch und gerade bei der Beurteilung meiner Auffassungen und Handlungsweisen ein
glaubwürdiger Diskurspartner zu sein, preisgeben müßte. Denn ich würde mir selbst praktisch
unverständlich und verlöre gegenüber anderen meine Glaubwürdigkeit, meinen moralischen
Kredit, den ich als Diskurspartner in Anspruch genommen habe, wenn ich in Zweifel zöge,
daß ich die Bemühung um Sinnverständigung und um das beste Argument als meine Pflicht
erkennen kann und daher in der Pflicht stehe, meine Urteilsbildung und mein Verhalten an der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit zu orientieren. Also sehe ich ein, daß ich eben das tun
soll.’
Ist aber die Handlungssituation so beschaffen, daß du als Akteur (bzw. der von dir zu
beurteilende
Akteur)
moralwidrige
Bedingungen
vorfindest
oder
solche
Handlungsnebenfolgen nicht ausschließen kannst, die das Leben Dritter gefährden bzw. deren
Menschenwürde
in
Frage
stellen,
dann
stehst
du,
Diskurspartner,
vor
dem
verantwortungsethischen Dilemma der Stufe 7: Du benötigst jetzt eine moralische Strategie,
für die du in realer Kommunikation mit allen Beteiligten und Betroffenen (jedenfalls zur Zeit)
keinen Konsens finden kannst. Freilich ist ein strategisches Handeln deiner dialogischen
Moralgesinnung zuwider, weil du die Autonomie Anderer strikt achtest und niemanden
‚hintergehen’ willst.
Nun frage dich als Diskurspartner, der das beste Argument sucht, mithin letztlich die
Geltungsgegenseitigkeit in einer idealen Argumentationsgemeinschaft der wohlinformierten
und moralischen Diskurspartner, ob du es sowohl wollen kannst als auch es verantworten, d.h.
rechtfertigen und daher sollen kannst, die Entscheidung für eine jetzt nicht konsensfähige
Strategie zu umgehen. Bald wirst du einsehen: du kannst diesen moralisch einfachen Weg
nicht ernsthaft wollen. Denn er ist unvereinbar mit deiner moralischen Prinzipienorientierung,
weil diese die Übereinstimmung deiner Handlungsweise bzw. deines Urteils mit der
Geltungsgegenseitigkeit
verlangt
Kommunikationsgemeinschaft.
und
Das,
damit
was
in
deren
Akzeptanz
letzter
Instanz
in
zählt,
einer
idealen
das
letztlich
ausschlaggebende Kriterium, ist nicht die faktische Zustimmung seitens deiner real gegebenen
Kommunikations-, sondern die Zustimmungswürdigkeit einer idealen, unbegrenzten
Argumentationsgemeinschaft. Freilich verlangt diese strikte Orientierung am DialogMoralprinzip die Zivilcourage, sich von der realen Kommunikationsgemeinschaft zu
distanzieren, und ebenso die Gesinnungscourage, im Gegenzug zur unmittelbaren Moralität
sich auf eine moralische Strategiebildung einzulassen und das reale Gegenüber zu
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hintergehen. Der bequeme Weg wäre das Paradox eines ethischen Egoismus: du würdest im
Sinne der Stufe 4 (Legalität) und der Stufe 1 (bloße Egoität) dein gesinnungsethisches Moralund Selbstverständnis (inkonsequente Stufe 6) behaupten, darüber aber deine moralische
Anerkennung der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit in rein argumentativen Diskursen
(konsequente Stufe 6) fahren lassen.
Generell gilt: Alles das, was du als Diskurspartner nicht wollen kannst, weil es deiner
moralischen Identität als eines Diskurspartners widerspricht, das darfst du auch nicht
vorschlagen, wollen oder tun.
Alles, was mit der Glaubwürdigkeit des Diskurspartners unverträglich ist, das darf ein
Diskurspartner nicht wollen. Also soll er verantwortungsethische Diskurse führen und soll
eine moralische Strategie suchen. Welcher Art muß diese sein? In Frage kommt bloß eine
Strategie, von der er – gemeinsam mit den ernsthaften Diskurspartnern, denen er vertrauen
kann – nach bestem Wissen und Gewissen anzunehmen berechtigt ist, daß sie in einer idealen
Kommunikationsgemeinschaft Zustimmung finden würde.
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