FOTOS: ASTROFOTO Planetarischer Nebel: „Der Saft kommt im grünen Bereich“ ASTRONOMIE Grablichter der Sonnen Haben die Astronomen die Hälfte aller Gestirne im All bisher übersehen? In den Weiten zwischen den Galaxien sind Forscher auf rätselhafte Einsiedler-Sterne gestoßen. I liarden Sonnen als Passagieren an Bord durch Ozeane der Leere. So wohlgeordnet sieht das Bild aus, das sich die Sternenkundler vom Weltall gemacht haben. Doch jetzt ist ein Team von Astrophysikern in den Weiten des intergalaktischen Meeres gleichsam auf Schiffbrüchige gestoßen – auf bislang unentdeckte Sonnen, die fernab von allen anderen Sternen im leeren Raum zwischen den W. M. WEBER m Weltall gehen die Lichter noch lange nicht aus. Zehn Trilliarden Sterne wie die Sonne brennen derzeit vor sich hin. In jeder Sekunde zünden zehntausend neue. Geboren werden Sonnen in Galaxien wie der Milchstraße. Außerhalb dieser meist scheibenförmigen Sternenhaufen aber beginnt das große Nichts. Wie kosmische Schiffe treiben die Galaxien mit Mil- Astrophysiker Méndez, Kudritzki*: „Vor Freude an die Decke gesprungen“ d e r s p i e g e l 1 4 / 1 9 9 8 Galaxien dümpeln. „Unsere Beobachtung ist ungeheuer aufregend“, erklärt Rolf Kudritzki, Leiter der Universitäts-Sternwarte München. „Wenn sich das bestätigt, haben wir Astronomen die Hälfte aller Sterne im All bisher glatt übersehen.“ Allerdings sind die Himmelsforscher den sonderbaren Sonnen-Singles erst indirekt auf die Spur gekommen. Die Wissenschaftler haben bislang nur sterbliche Überreste der Phantomsterne gefunden – fremdartig schimmernde Gaswolken, die in der Milchstraße seit langem unter dem Namen „Planetarische Nebel“ bekannt sind. Auch die Erdensonne wird sich dereinst in solche Nebelschwaden auflösen. In etwa fünf Milliarden Jahren geht ihrem Glutofen der nukleare Brennstoff aus. Am Ende eines langen, feurigen Lebens wird sich die Sonne dann zu einem „Roten Riesen“ aufblähen. Wenn ihr Sterben beginnt, wird sie den Erdenmenschen noch einmal so richtig einheizen: Mittags bedeckt die glutrote Sonne die Hälfte des Himmels. Auf der Erde verdampft das Wasser der Ozeane. Immer heißer wird es auf dem entvölkerten Planeten, wie Butter schmelzen auf seiner staubtrockenen Oberfläche die Berge. Schließlich verschlingt der sich ausdehnende Heimatstern nach den Planeten Merkur und Venus auch die Erde. Letzter Akt im Himmelsdrama: Nach diesem Aufbäumen kollabiert die aufgeblähte Sonne wieder und schrumpft zu einem nur erdgroßen Reststern, einem „Weißen Zwerg“. Dabei sprengt sie in einer gewaltigen Explosion ihre äußere Hülle ab – mit knapp 100 000 Stundenkilometern rast die Gaswolke davon. Vom Reststern noch einige Jahrtausende lang angestrahlt, leuchtet dieser Planetarische Nebel wie eine Neonlampe im All. Myriaden ausgebrannter Sonnen haben bereits Planetarische Nebel ausgebildet. Knapp 2000 solcher Grablichter der Sterne wurden bisher allein in der Milchstraße gefunden. Ihren irreführenden Namen erhielten die Planetarischen Nebel im Jahre 1785 von dem britischen Astronomen William Herschel. Die grünlich leuchtenden Nebelscheiben erinnerten den Gelehrten an den vier Jahre zuvor von ihm entdeckten Gasplaneten Uranus. Ihre unverwechselbaren Leuchteigenschaften machen die Planetarischen Nebel für heutige Astronomen hochinteressant: Wie gigantische Lichtverstärker wandeln sie die unsichtbare UV-Strahlung des Reststerns in ihrem Zentrum in sichtbares Licht fast nur einer einzigen Wellenlänge um. „Der ganze Saft kommt im grünen Bereich raus“, sagt Kudritzki. Die fluoreszierenden Gaswolken lassen sich deshalb mit Hil* Am Observatorium auf dem Wendelstein in den Bayerischen Alpen. 193 Wissenschaft fe von Spezialfiltern noch aus riesiger Ent- stiert. Aber wer hat die heimatlosen Sterne in die kosmische Wüste geschickt? fernung identifizieren. Nach der gängigen Lehrmeinung könZudem geben alle diese Objekte annähernd die gleiche Lichtmenge ab. Aus nen sich Sonnen ausschließlich in Galaxien der gemessenen Helligkeit eines Planeta- bilden. Nur dort gibt es dichte Gaswolken, rischen Nebels läßt sich somit ziemlich ge- die zu Sternen verklumpen können. „Aber nau schließen, wie weit dieser entfernt ist. vielleicht handelt es sich bei den Sonnen Kudritzki: „Das sind unsere besten Leucht- fernab der Galaxien um Sternengreise, die schon vor sehr langer Zeit aus der Urmafeuer im All.“ Ihre spektakuläre Entdeckung gelang terie entstanden sind“, sagt Kudritzki. dem Münchner Astrophysiker und seinen „Das würde alle bisherigen Vorstellungen Kollegen, als sie mit Hilfe dieser kosmi- über das Werden von Sternen über den schen Markierungslampen den Abstand zu Haufen werfen.“ Für wahrscheinlicher halten es die Astroeiner weit entfernten Galaxie bestimmen wollten. Dabei erlebten sie eine große physiker jedoch, daß die Sternen-SonderÜberraschung. „Es war reiner Zufall. Bei linge Opfer gigantischer Katastrophen gedrei Planetarischen Nebeln sah es nur auf worden sind. In der Frühzeit des Univerden ersten Blick so aus, als ob sie zu der sums kam es häufig vor, daß Galaxien fernen Galaxie gehörten“, berichtet Ku- miteinander zusammenstießen. Da die dritzki. „Dann stellte sich heraus, daß sie Sonnen durch gewaltige Leerräume voneinander getrennt sind, kollidierten bei weit dahinter im Weltraum lagen.“ Nicht auszuschließen war jedoch, daß die Planetarischen Nebel zu einer unsichtbaren Zwergengalaxie gehörten, die zu lichtschwach für die Instrumente war. Um einen Trugschluß zu vermeiden, begab sich Team-Kollege Roberto Méndez auf die Kanareninsel La Palma. Der Astrophysiker richtete das 4-Meter-HerschelTeleskop auf einen anderen, vollkommen leeren Ausschnitt des Himmels. Seine Beobachtung war eindeutig: Diesmal hatte die elektronische Kamera sogar elf Planetarische Nebel festgehalten. Kudritzki: „Da sind wir vor Freude an die Decke gesprungen.“ Die Konsequenzen dieser Entdeckung sind in der Tat spektakulär: Wenn im Leerraum fernab der nächsten Galaxien solche Sternenleichen Galaxien: Sternenschiffe mit Milliarden Passagieren glühen, so folgern die Astrophysiker, muß es dort auch noch viele le- einem Galaxien-Crash zwar so gut nie die bende Gestirne geben. Wie die Wissen- einzelnen Sterne. Die Wucht eines solchen schaftler vermuten, sind diese Sonnen weit Zusammenpralls könnte aber groß genug lichtschwächer als die Planetarischen Ne- gewesen sein, um Sonnen aus ihrer stabibel und können deshalb selbst mit den len Bahn zu reißen – sie wurden weit hinstärksten Teleskopen nicht aufgespürt aus in den intergalaktischen Abgrund geschleudert. werden. „Mit ein paar von solchen Irrläufern haZumindest läßt sich aber hochrechnen, wie groß ihre Zahl ist. „Planetarische Ne- ben wir gerechnet“, meint Kudritzki ratlos. bel leuchten nur wenige zehntausend Jah- „Aber durch welche dramatischen Zusamre, dann erlischt ihr lichtspendender Rest- menstöße die Galaxien die Hälfte ihrer stern; eine solche Zeitspanne ist nur ein Sterne verloren haben könnten, läßt sich Wimpernschlag im Leben einer Sonne“, kaum erklären.“ Wäre die Erdensonne in grauer Vorzeit erläutert Kudritzki. „Wenn wir in diesem winzigen Himmelsausschnitt also bereits aus der Milchstraße gekickt worden, würein Dutzend der kurzlebigen Planetari- de auch sie als ein Einsiedler-Stern durch schen Nebel finden, muß es dort von Mil- die Unendlichkeit trudeln. Die nächste Nachbarsonne wäre Hunderte von Lichtliarden von aktiven Sternen wimmeln.“ In letzter Konsequenz könnte dies be- jahren entfernt. Am Himmel über der Erde deuten, so der Astrophysiker, daß jede würden so gut wie keine Sterne funkeln. ™ zweite Sonne außerhalb einer Galaxie exi- Nachts herrschte totale Finsternis. 196 d e r s p i e g e l 1 4 / 1 9 9 8