Wege für Menschen mit psychischen Erkrankungen im Jobcenter

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con_sens
Consulting für Steuerung und soziale Entwicklung
Teilhabe an Arbeit:
Wege für Menschen mit psychischen Erkrankungen im
Jobcenter
für die Region Hannover
14. September 2015
Dr. Helmut Hartmann
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Kurze Vorstellung con_sens
Im Bereich „Arbeit und Beschäftigung“
con_sens ist seit vielen Jahren für zahlreiche Jobcenter nach dem SGB II
bundesweit tätig. Unter anderem hat con_sens 2014 eine Expertise über
Langzeitarbeitslosigkeit in der Region Hannover erstellt.
Bereits vor mehreren Jahren hat con_sens auf den Aspekt „Gesundheit“
hingewiesen und war an der Entwicklung des Konzeptes „AmigA“ beteiligt.
Dr. Helmut Hartmann ist geschäftsführender Gesellschafter von con_sens.
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INHALT
1. Einführung und Inhalt
2. Was ist eine psychische Erkrankung? Diagnostik und mehr …
3. Diagnosen und Eingangsverfahren im Jobcenter
4. Wege zur Beschäftigung für Betroffene
5. Empfehlungen für Jobcenter
(Insgesamt 17 Folien).
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Definitonen
Was ist eine psychische Erkrankung?
Eine psychische oder seelische Störung ist eine krankhafte Beeinträchtigung der
Wahrnehmung, des Denkens, Fühlens, Verhaltens bzw. der Erlebnisverarbeitung oder
der sozialen Beziehungen. Es gehört zum Wesen dieser Störungen, dass sie der
willentlichen Steuerung durch den Patienten nicht mehr oder nur zum Teil zugänglich
sind. (Wikipedia)
Vertragsärzte und Krankenhäuser verwenden heute den ICD GM (Diagnoseklassifikationssystem, deutsche Version, der WHO), aktuelle Ausgabe ICD-10 von 2012, nach § 295 SGB
V. Gebräuchlich auch das DSM-5 der American Psychiatric Association.
Klassifizierung der psychischen und seelischen Erkrankungen ist heute umstritten.
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Verbesserte Wahrnehmung von Erkrankungen
Psychische Erkrankungen heute nicht häufiger (Prävalenz), aber häufiger erkannt
Psychische Störungen sind derzeit die vierthäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen im Rahmen der GKV. Seit 1991 erfolgte ein Anstieg der AU-Tage um
etwa 33 Prozent. Dieser angeblich ansteigende Trend existiert seit der Einführung der
Erfassung im Jahre 1976, auch stationär: Seit 1986 stieg die Zahl der Krankenhausfälle
von 3,8 Fällen je 1000 GKV-Versicherte auf 9,3 Fälle im Jahr 2005. Aktuelle Zahlen hat
das IAB (Forschungsbericht 12/2013) vorgelegt: 12 % der AU-Tage, 4,7 % der Fälle.
Sekundärstudien (z. B. Uni Münster, Dirk Richter) zeigen, dass die Zahl der Fälle in
Wirklichkeit nicht zugenommen hat. Geschätzt sind in D ca. 8 Mio. betroffen, jeder
Vierte hat einmal im Jahr eine Störung (im Lebenslauf addiert zu ca. 50 %). Differenzierte
Verfahren und ausgebaute Institutionen fördern interessengeleitete Diagnosen.
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Zweifelhafte Diagnostik
Psychische und seelische Erkrankungen oft zweifelhaft diagnostiziert
Nicht jede Abweichung des emotionalen oder kognitiven Erlebens ist eine Störung mit
Krankheitswert. Viele Menschen erleben über eine kurze Zeit leichte Stimmungsschwankungen, die sich von selbst zurückbilden und von den Betroffenen nicht als Krankheit
erlebt werden. Auch gibt es Menschen, die unter einer schweren emotionalen Belastung
depressive oder psychotische Episoden erleben und anschließend psychisch stabil
weiterleben.
Grundsätzlich ist der Krankheitsbegriff in der Medizin unscharf definiert. Neben einer
objektiv feststellbaren Abweichung von einer zuvor definierten Norm spielt daher das
individuelle bzw. subjektiv erlebte Leid des Betroffenen eine Rolle.
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Mögliches Labeling
Gefahr des „Labeling“
Innerhalb der Psychiatrie wird neuerdings die problematische Entwicklung einer „Inflation“
psychiatrischer Diagnosen diskutiert, durch die normale Reaktionen bzw. vorübergehende
Befindlichkeiten pathologisiert werden. (Allen Frances: Normal – gegen die Inflation
psychiatrischer Diagnosen, Dumont ,2013).
Beispiel: 1980 hielt man einen Menschen für normal, wenn er ein Jahr lang um einen nahen
Angehörigen trauerte. 1994 empfahl man Psychiatern mindestens zwei Monate Trauerzeit
abzuwarten, bevor man Traurigkeit, Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen und Apathie als
behandlungsbedürftige Depression einstufte. Mit dem neuen Katalog psychischer Störungen
DSM 5 wird ab Mai 2013 empfohlen, schon nach wenigen Wochen die Alarmglocken zu
läuten.
Es gibt parallel aber auch eine Enttabuisierung psychischer Erkrankungen.
Labeling besagt: Eine Zuschreibung erfolgt unbegründet, aber die Zuschreibung kann den
unerwünschten Zustand mit erzeugen.
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Diagnostik im Jobcenter
Grundthese: ein Jobcenter ist mit der Diagnose psychischer Erkrankungen überfordert.
Zweite These: Gutachten psychologischer Dienste helfen selten weiter.
Mitarbeiter eines Jobcenters können allenfalls Auffälligkeiten erkennen, die einen Verdacht
auf eine Erkrankung generieren. Wenn die Auffälligkeiten eine erhebliche und nachhaltige
Störung des Arbeitsablaufs erzeugen, ist Handeln angezeigt, das i.d.R. die Einbeziehung
Dritter sinnvoll macht. Es ist zweckmäßig, niedrigschwellig zu handeln, um kein ‚Labeling‘ zu
bewirken.
Ein ärztliches Gutachten hat oft nur den Zweck, die Abgabe der Zuständigkeit rechtlich zu
fundieren (siehe dazu: Regeln zum Übergang von SGB II auf SGB XII). Das IAB dokumentiert
die Arbeitsweise der Gutachter gut (Forschungsbericht.., S.66 ff.)
Naheliegend und dem AmigA-Konzept entsprechend: Fachkräfte im Haus können mit
Betroffenen zweckmäßiger umgehen. Dabei geht es weniger (!) um medizinischpsychologische Kompetenz, sondern um Praxiserfahrung und Hintergrundkenntnisse.
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Diagnostik im Jobcenter: der Verdacht
Verfahren des Umgangs mit psychischen Auffälligkeiten meist unklar (und schwierig).
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Jobcenters können allenfalls Auffälligkeiten
erkennen, die einen Verdacht auf eine Erkrankung generieren. Wenn die Auffälligkeiten
eine erhebliche und nachhaltige Störung des Arbeitsablaufs erzeugen, ist Handeln angezeigt,
das i.d.R. die Einbeziehung Dritter sinnvoll macht. Es ist zweckmäßig, niedrigschwellig zu
handeln, um kein ‚Labeling‘ zu bewirken.
Somit ist erforderlich: klare Regeln im Umgang mit Auffälligkeiten (z. B. denkbarer 1. Schritt:
Zuständigkeitswechsel), die Verfahrensweisen sollen wenig sichtbar und auf keinen Fall
diskriminierend wirken. Die Toleranz endet bei erheblichen Gefährdungen des
Arbeitsablaufs und Gefährdungen der Mitarbeiter/innen des Jobcenters. Eine Qualifizierung
von Mitarbeitern (vorzugsweise: training on the job) ist notwendig.
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Statistische Daten für das SGB II ….
Das IAB resümiert in einer Studie (2013):
Mehr als jeder dritte Leistungsbezieher nach SGB II (TK 2006 / AOK 2009: 37 %) weist
innerhalb eines Jahres eine ärztlich festgestellte psychiatrische Diagnose auf. Die Daten der
Krankenkassen zeigen zudem auf, dass – neben den im Rahmen dieses Berichtes nicht
berücksichtigten Suchterkrankungen – affektive Störungen (ICD10: F30-F39) mit bis
zu einem Sechstel der Leistungsberechtigten sowie neurotische, Belastungs- und
somatoforme Störungen mit etwa einem Fünftel (ICD10: F40-F49) besonders bedeutsame
Erkrankungsgruppen darstellen. Besonders häufig treten in der Praxis auch depressive
Störungen und Angststörungen in Kombination auf. (S. 79)
Was sagt uns das? …. Ziemlich wenig!!
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Diagnostik im Jobcenter: Überschätzungsgefahr
Mitarbeiter/innen des Jobcenters neigen oft zu Überschätzungen
Das IAB hat in seinem Forschungsbericht (12/2013, S. 52 f.) festgestellt,
• dass Leitungskräfte der Anteil psychisch Erkrankter in einer Spannweite zwischen 5 % und
40 % angeben;
• Mitarbeiter teilweise bis zu 2 Dritteln ihrer Kunden als psychisch auffällig einstufen;
• Ärzte bzw. ärztliche Fachdienste zu einer Prozentzahl von 10 % bis 15 % tendieren.
Dies belegt eine stark subjektive Färbung der Sichtweise der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter - bei dieser Thematik nicht verwunderlich. Die bisherigen (unterschiedlichen!)
Vorgehensweisen (Wissen um zuständige Experten, Einschätzungsschulungen, Gutachten
usw.) lösen das grundsätzliche Problem nur begrenzt.
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Beschäftigung für Menschen mit psychischen Problemen
Grundsatz: Psychisch Erkrankte können einer Beschäftigung nachgehen – die
Spannweite der Formen ist groß
• Es gibt Fälle, bei denen die Arbeitsaufnahme relativ unproblematisch ist (A); ebenso gibt
es Fälle, denen der Zugang zur Arbeit nicht möglich ist (B). Der größte Teile der Fälle ist
schwierig zuzuordnen (C).
• Ob eine Arbeitsaufnahme möglich ist, kann bei (C) nicht eindeutig diagnostiziert werden,
da es auch vom Arbeitsplatz bzw. Arbeitgeber abhängt. Arbeitsvermittlung ist Makeln und
damit ein Zwang zu Kompromissen auf beiden Seiten!
• Von der ersten Beratung bis zum Beschäftigungseinsatz: es kommt auf das Verfahren an!
Feste Diagnosen sind nicht nur oft unmöglich, sie können sogar den Prozess negativ
beeinflussen! Work first : auch für psychische Beeinträchtigte (Gruppe C)!
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Der Weg zur Beschäftigung ….
Grundsatz: Psychisch Erkrankte sollten in der Regel NICHT mit einer ‚Diagnose‘
starten…
• Diagnosen sind schwierig, unsicher und möglicherweise sogar negativ wirksam. Daher
sollte Arbeit und Beschäftigung (ggf. als Einstieg, Erprobung u. ä.) im Vordergrund stehen.
Ausnahmen für Gruppe (B) – Arbeit unmöglich.
• Jobcenter sollten Strukturen und Verfahren entwickeln, wie bei „auffälligen Personen“ ein
gestufter Ablauf erfolgen kann (quasi der praktische Test statt der fertigen Diagnose). Dies
schließt eine klare Hilfe (i.d.R. „im Hause“) zur schnellen Klärung für „eindeutige“ (zu
definieren!) Fälle nicht aus.
• Arbeit bzw. Beschäftigung kann auch „heilend“ wirken: es geht primär um Teilhabe und
Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Daher ‚geschützte‘ Beschäftigung stets mit
Aufstiegsmöglichkeiten versehen.
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Rechtliche Grundlagen der Beschäftigung der Betroffenen
Grundsätzlich gibt es 3 Rechtsgrundlagen:
• Instrumente des SGB II (einschl. der freien Förderung!), die jedoch primär auf Vermittlung
in den ersten AM ausgerichtet sind.
• Instrumente des SGB XII: § 11 Abs. 3 sowie insbesondere §§ 53 ff. (Eingliederungshilfen).
• SGB IX: § 4 als breite Grundlage der Möglichkeiten; berufliche Rehabilitation nach § 33 ff.,
insbesondere auch unterstützte Beschäftigung (§ 38a SGB IX), § 55 Teilhabe am Leben i.d.
Gemeinschaft.
Es mangelt nicht an rechtlichen Möglichkeiten, auch die Dreiteilung und unterschiedliche
Kostenträgerschaft ist nicht zwingend ein Problem.
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Der „richtige“ Einstieg auf dem Weg zur Arbeit ….
Für die Mehrheit der ‚nicht eindeutigen‘ Fälle:
• der Wunsch und die Neigung des Kunden ist ein guter Ausgangspunkt und eine gute
Grundlage… (ggf. unterstützt durch spezielle Verfahren der Identifizierung der eigenen
Fähigkeiten, Z. B. ABC-Methode)
• Arbeit zuerst: für alle denkbar möglichen Fälle. Selbst beim vorzeitigen Abbruch hat ein
Lernprozess stattgefunden! Erzeugung von Selbsterkenntnis der Behandlungsbedürftigkeit
sollte parallel stattfinden, ebenso wie eine Diagnostik durch den Betreuer (z. B. für Fall
ausbleibender oder unmöglicher Selbsterkenntnis).
• Verschiedene Rahmenbedingungen sind vorteilhaft: spezialisierte Fachkräfte im Hause,
intensive Kooperation mit externen Trägern, dritte Hilfeinstanzen. Man beachte: jede zu
starke Spezialisierung und Abgrenzung kann das Labeling fördern.
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Rahmenbedingung: der externe Träger
Für den externen Beschäftigungsträger bedeutet dies:
• möglichst wenig spezialisiert und breites Angebot an Beschäftigungsformen.
• die Beschäftigungsformen sollen den Aufstieg ermöglichen (unerheblich ist dabei, wie
viele es tatsächlich schaffen). Daher möglichst enge Kooperation mit dem „normalen“
Arbeitsmarkt.
• Der (ggf. vorläufigen) Diagnose angepasst sind spezifische Formen der Teilhabe und
Förderung anzubieten. Eine denkbar breite Palette an Möglichkeiten erfordert ein
pragmatisches Vorgehen.
• Steuerung und Kontrolle des Trägers durch das Jobcenter erfordert eigenes Verfahren:
umfassende Transparenz, intensive Kommunikation und Lernberichte sind wichtige als
messbare Ziele (wer will dies festlegen?). Empfehlung: Finanzierung über Budgets.
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Empfehlungen für Jobcenter
Der Umgang mit psychisch auffälligen / Kranken Kunden stellt das Jobcenter vor
besondere Herausforderungen. Pragmatisches Vorgehen im Spannungsfeld
zwischen „Labeling“ und „zielgenauer Förderung“ ist gefragt.
• Klare Verfahrensweisen bei Auffälligkeiten mit gestuften Verfahren der Reaktion!
Mitarbeiter/innen benötigen Unterstützung.
• Spezialisierte (hausinterne) Fachkräfte können bestimmte Prozesse optimieren und
beschleunigen. Man beachte: keine zu starke Separierung vom Normalprozess.
• Externe Beschäftigungsträger benötigen eine spezifische Rolle (breites Portfolio, Nähe
zum 1. AM usw.) und Steuerung (budgetfinanziert, transparent, intensiver begleitet).
• Fast alle Vorschläge der Fachliteratur tendieren zu personenzentriertem Verfahren. Es
fehlt: Einbeziehung des sozial integrativen Verfahrens! Inklusion gilt auch für psychisch
beeinträchtigte Personen!
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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
con_sens
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Rothenbaumchaussee 11 20148 Hamburg
Tel.: 040 410 32 81 Fax: 040 41 35 01 11
[email protected]
www.consens-info.de
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10.09.2015
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