Halb nackert in der Kälte

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T. DARSHUBER / OBERAMMERGAU
Gesellschaft
Abendmahls-Probe: „Mich verlangt es danach, mit euch das Pessachmahl zu feiern“
Passionstheater Oberammergau: Weltläufigkeit
S P E K TA K E L
„Halb nackert in der Kälte“
Christus hat eine Freundin, streitet mit seinen Jüngern, betet auf Hebräisch zum Pessachfest:
Zum 40. Passionsspiel-Jubiläum im Mai bringt Spielleiter Christian Stückl einen neuen Jesus auf die
Oberammergauer Bühne – sehr menschlich und sehr jüdisch. Von Barbara Supp
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kalt hier im April, und ein rauchender, gestikulierender, in einen schwarzen Anorak
verpackter Mensch namens Stückl tobt
durch das Passionstheater von Oberammergau. Scheucht seine Darsteller über
die Bühne, versucht, die Texte des Pfarrers
Joseph Alois Daisenberger dem Tonfall
nach in die Gegenwart zu transponieren.
„Deine Feinde reden Arges wider dich“,
das heißt „Woaßt eigentlich, was d’Leut
reden?“ So sollen sie es sagen. So sagen sie
es dann auch.
In Oberammergau ist Passion, seit einem Jahr sprießen Haupthaar und Bärte
für die Premiere am 21. Mai. Zum 40. Mal
werden die Dörfler dem Gelübde folgen,
das ihre Ahnen im Pestjahr 1633 abgelegt
haben: Dass sie alle zehn Jahre das „Spiel
vom Leiden, Sterben und Auferstehen unseres Herrn Jesus Christus“ aufführen würden. Ein Kraftakt für ein 5200-EinwohnerDorf; 2155 werden mitwirken, eine halbe
Million Zuschauer wird erwartet, an jedem
Spieltag knapp 5000. Und so viel Neues
wie diesmal, im „Heiligen
Jahr“ 2000, war nie.
Auf der Wiese hinter
dem Festspielhaus sind
Bauarbeiter schon dabei,
Robert Wilsons „14 Stations“ zu zimmern – ein
Kreuzweg aus Holzhäuschen;
tonnenschwere
Findlinge hängen drin
und symbolisieren Bedrohliches; Veronika, das
ist die mit dem SchweißH. MUNZIG
D
a sagt einer, dass er sterben wird. Seinen Freunden sagt er es, die ihn jetzt
als Verräter ansehen; seiner Freundin, deren Zärtlichkeit er sich eben noch
gegönnt hat, bei einer Massage mit duftendem Öl. Dann fragt sie nach dem Morgen,
und er antwortet mit einer grauenhaften Vision: „Deine Augen erkennen mich nicht
mehr. Denn ich bin in die Kelter geworfen,
und der Wein, der ausrinnt, ist mein Blut.“
Das hat was, dieser raue, dunkle Ton,
dieser Anton Burkhart als Jesus Christus
von Oberammergau. Auch
die Salbung war nicht
schlecht, oder hätte man
es doch weiter treiben sollen? Magdalena öffnet
dem Herrn das Gewand,
er steht mit nacktem
Oberkörper da – einer
aus dem Ensemble kam
auf die Idee, und Christian Stückl, der Spielleiter, hat sich genussvoll
gefragt, „was das für
Reaktionen gäbe“.
Es ist Nacht unter freiem Himmel und verflixt
Orchesterprobe
Neue Töne fürs Jubiläum
FOTOS: H. MUNZIG (li.); T. DARSHUBER / OBERAMMERGAU (re.)
im Alpenvorland
Kostümprobe des „Hohen Rates“: Jesusfreundliche Minderheit
H. MUNZIG
tuch, ist 2,60 Meter groß und bügelt, und Otto Huber den fertig hatten, luden sie zur
der Auferstandene in der letzten Station Lesung. Eine lange Lesung war das, große
baumelt kopfüber in einem neun Meter Schläfrigkeit kam über die Zuhörer, fast
kampflos gingen die Änderungen durch.
hohen, Tipi-artigen Holzkonstrukt.
Schon seltsam, an einem Ort zu inszeMancher Gemeinderat seufzt schon über
die Wilson-Installation, aber es passiert ja nieren, wo ein Gutteil des Publikums mehr
noch viel mehr. Bühnenbildner Stefan das Glaubens- als das Theatererlebnis
sucht. Wer hier reüssieHageneier hat die alten
ren will, muss vielem
Passions-Prachtgewänder
genügen, dem Bedürfnis
eingemottet und neue
nach Kommerz und dem
Kostüme entworfen: Gronach Katharsis und seibes Tuch, aus Indien imnen ästhetischen Anportiert; prächtig Besprüchen obendrein.
sticktes für die Obrigkeit,
Stückl hat sich für die
für das Volk zerschlisseZumutung entschieden:
nen grauen Stoff. Daifür einen neuen Jesus, eisenbergers Text von 1860
nen wütenden, kämpfewurde bearbeitet, ebenrischen. Einen menschso die Kompositionen des
lichen will er, der sich mit
Rochus Dedler. Und für
seinen Aposteln herumdie Inszenierung – da hafstreitet, die auch nicht
tet Stückl, dieser 38-jährimehr alles blind akzepge Theatermensch, ein
tieren. Einen diesseitigen
Oberammergauer, der an
Jesus, mit einem sehr irden Münchner Kammerdischen Sinn für Gerechspielen, in Frankfurt und
tigkeit. Für ihn, sagt
Wien Karriere gemacht
Stückl, ist dieser Galiläer
hat, der im Jahr 2002 Ineiner, der das Leben
tendant am Münchner
kennt, der Umgang mit
Volkstheater werden soll
Zöllnern und Huren hat,
und ziemlich viel Weltder um die 30 die Wende
läufigkeit nach Hause
erlebt und sich fragt, ob
trägt. Und in die Passion,
natürlich. Dorthin vor Spielleiter Stückl: Lust auf Neues das alles war? Ob das so
weitergehen soll?
allem.
An 50 von 100 Spieltagen sieht Jesus aus
Schon 1990 war Stückl Spielleiter, aber
damals war noch nicht die Zeit für Refor- wie Toni Burkhart, 30, Förster von Beruf;
men, damals artete jedes bisschen Neue- ein massiv wirkender Mann, von dem der
rungsversuch in Kampf aus. Heute weiß er, Pfarrer fand, dass er einen viel zu runden
wie man mit einem Gemeinderat umgeht, Kopf habe für einen Jesus. Kein Typ für
der ständig abstimmen will. Über den Text verklärte Tragik jedenfalls, sondern einer,
zum Beispiel. Als Stückl und sein Dramaturg der die herkömmliche Art Christus sowied e r
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so langweilig fand: „Immer leidend, leidend, leidend und dann tot.“
An den anderen 50 Tagen erscheint der
Herr in Gestalt von Martin Norz, 34, Verwaltungsfachwirt; der kommt optisch der
Gestalt auf dem Turiner Grabtuch sehr
nahe und wurde schon 1990 vom Publikum geschätzt. Er wirkt zerbrechlicher als
sein Kollege, aber auch er sagt, dass er
all das schwierig zu spielen finde, „was a
bissl heilig aussehn soll“. Die Kreuzigung
dagegen nicht. Die ist zwar „körperlich a
bissl unangenehm“, bei Regen vor allem,
„wenn man halb nackert in der Kälte
hängt“ mit den Armen immer nach oben,
aber das sei „nicht so schlimm“. Überhaupt
werde die Rolle immer interessanter, und
das mit dem Hebräisch kriegen sie auch
immer besser hin. Hebräisch? Ja doch, Hebräisch, ein paar Sätze wenigstens. Weil
dieser Jesus doch wirklich neu ist. Weil
man merken soll, dass er Jude ist.
Im Dunkeln ziehen Arbeiter ein nachtblaues Zelt auf die Bühne, den schweren
Tisch für das Abendmahl, den siebenarmigen Leuchter dazu. „Rabbi“ sagen die Jünger zu Jesus, und er sagt: „Kommt! Sehnlichst verlangt es mich danach, das Pessachmahl mit euch zu feiern.“ Jesus spricht
und trägt den Gebetsschal dabei, er bricht
das Brot, reicht den Kelch, dann sagt er:
„Baruch ata Adonai elohenu melech haolam boray pri ha-gafen. Gelobet seist Du,
Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du
die Frucht des Weinstockes schaffst!“
„Ist doch klar“, sagt Huber, der Dramaturg. „Jesus stammt aus jüdischer Familie.
Er hat von einer jüdischen Mutter das Beten gelernt.“
Dass es viele geben wird, die das nicht
so selbstverständlich finden, ist ihm bewusst, aber Huber ist nicht die Art
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H. MUNZIG
Gesellschaft
Stellprobe für die Kreuzigung: „Körperlich a bissl unangenehm“
Mensch, die einer Debatte ausweicht, und
in letzter Zeit ist er darin mehr denn je gestählt. Schließlich hat er Tage, Wochen,
Monate mit Kritikern des Spiels verbracht.
Mit kirchlichen Kritikern und vor allem
amerikanisch-jüdischen Organisationen,
die empfindlich sind für antisemitische Anspielungen. Viele ihrer Einwände hielt er
für berechtigt. Viele, nicht alle.
Also haben sie vieles, aber nicht alles
verändert: Der jüdische Hohe Rat, der
beim römischen Statthalter Pilatus das
Todesurteil erzwingt, ist kein geschlossener Block mehr mit lauter blutrünstigen
Geistlichen, sondern hat ein paar Abweichler, die auf der Seite des Mannes aus
Nazareth stehen. Auch im Volk gibt es
nicht nur den Mob, der nach der Kreuzigung schreit, sondern auch eine jesusfreundliche Minderheit. Und Pilatus ist
nicht mehr die Unschuld, der edle Römer, sondern ein Intrigant mit eigener,
krummer Tour.
Schwierig das alles, sagt Christian Stückl,
aber „ich mag die Auseinandersetzung“
sagt er auch und dass er sehr glücklich sei,
dass der „Blutruf“ endlich entfallen darf.
Das ist der grausige Satz, den Volk und
Priester angesichts des gemarterten Christus von sich gaben: „Sein Blut komme über
uns und unsere Kinder!“ Weg damit, sagte Stückl schon 1990. Muss bleiben, sagte
der theologische Berater und Kirchenbeauftragte. Drei Gemeinderatssitzungen
gab es deswegen, Stückl unterlag und be124
half sich auf seine Weise: Ein paar sehr alte
Männer hat er den Satz so nuscheln lassen,
dass ihn keiner verstand.
Es hätte ja sein können, dass sie ihm die
paar Freiheiten damals übel nahmen, und
es war keineswegs sicher, 1996, dass Oberammergau den jungen Stückl wieder als
Spielleiter wählen würde. Gut, man kannte ihn von klein auf, schon 1970 war er immer in den Kulissen herumgewuselt, weil
er wissen musste, wie man das macht mit
der Kreuzigung – Stückl, „der Bühnenschreck“. Ein Glück eigentlich für sein
Dorf, dass da so einer groß wurde, der etwas von Oberammergau versteht und vom
Theater auch, und doch – dieser Unberechenbare; wer wusste schon, was er wieder
anstellen würde mit der Passion?
Sie haben dann wohl an die Einnahmen
gedacht, an die 65 Millionen Mark, die sie
erwarten, wenn das Spiel ausverkauft ist;
sie haben sich an die Kritiker aus Amerika
erinnert und an die Tatsache, dass traditionell der größte Teil der 500 000 Zuschauer aus Übersee kommt. Sie haben
sich gesagt, dass wohl doch viel dafür spreche, einen Profi als Spielleiter zu nehmen
und nicht den ortsansässigen Zahnarzt, der
beim Bürgerentscheid als Gegenkandidat
antrat. Er sei „wirklich nicht sicher gewesen“, sagt Stückl. „Ein bisschen überrascht“ habe ihn die Wahl schon.
Und jetzt? Jetzt gibt es immer noch Leute, die ihm Briefe schreiben mit der Beschwerde, dass ein Jesus doch nicht dund e r
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kelhaarig sein dürfe, der müsse doch
„Arier“ sein. Aber es gibt auch den Trupp
junger Leute, mit denen er seit Jahren
im Dorf Theater spielt, und die sehr froh
sind, dass der Christian inszeniert. Und
dann gibt es Leute wie seinen Großvater
Benedikt Stückl, den knurrigen Hohen
Priester Annas. Seit 1930 ist er dabei; er
seufzt ein bisschen und sagt: „Die Zeiten
sind halt anders. Das muss man eben
sehen.“
Benedikt Stückl ist 76, misst die Zeit
nicht nach Jahren, sondern nach Passionsspielen, ist zum fünften Mal Annas und
lebt darauf hin, ihn auch bei der letzten
Vorstellung am 8. Oktober zu spielen; kann
ja sein, es ist das letzte Mal. Kaiphas war
er schon, Herodes auch, und einmal sah es
auch so aus, als würde er Jesus werden –
das ging aber damals nicht. Weil er mit einer Evangelischen verheiratet war.
Immer gab es ja Grenzen dessen, was
Oberammergau ertrug. Die „Rosner-Probe“ beispielsweise, das war das Projekt des
Holzbildhauers Hans Schwaighofer, die ertrug es nicht.
Der hatte den 1750 verfassten Text des
Benediktiner-Paters Ferdinand Rosner ausgegraben, ein Werk in knapp 9000 Versen
voller Deftigkeiten; Schwaighofer wollte es
von Antisemitismen säubern und mit einer
Gruppe Enthusiasten auf die Bühne bringen. Nichts da. Mit Unterschriftenlisten,
Einkaufsverbot, Drohbriefen kämpften
Traditionalisten gegen die Reformer – es
Gesellschaft
ren ist oder seit 20 Jahren dort lebt. 47
spielberechtigte Türken hat die Behörde
nun gezählt, und als einer ernsthaft Interesse anmeldete, erhoben sich gleich Stimmen in der Gemeinde – da gebe es doch die
Jobs in der Theaterreinigung. Woraufhin
Stückl dafür sorgte, dass der Mann einen
der begehrten Posten als Römer bekam.
Fürst und Kunz
Vier Jahrhunderte Oberammergauer Passionsspiele
V
Geistliche aus England schwärmten
on einem englischen Bischof
stammt der Ratschlag: Für den, von ihren „Pilgerreisen“ in das Voralder Jesus verloren hat, gibt es pendorf, von den „bescheidenen Bauzwei Wege zu ihm zurück, der eine ern mit der sanften Denkungsart und
führt über Jerusalem, der andere über dem frommen Schauspiel“. AmerikaOberammergau. Etwa eine halbe Mil- nische Touristen buchten Sommerfrilion Pilger nehmen in diesem Sommer sche mit Kost und Passion.
Bis heute haben es die Veranstalter
die bayerische Variante. Alles Theater.
Das Passionsspiel steht in Oberammer- abgelehnt, ihr Theater woanders aufgau wieder auf dem Programm, ein zuführen als im Schatten des Kofelfrommer Akt zu Ehren Gottes und zum Bergmassivs. Sogar Hollywood gaben
sie 1922 einen Korb, trotz eines luNutzen der Einwohner des Dorfes.
Das Spektakel ohnegleichen
hat eine jahrhundertelange Tradition. Am Anfang stand, so will
es die Legende, ein Gelübde.
1633, mitten im Dreißigjährigen
Krieg, konnten sich die Oberammergauer der über sie hereingebrochenen Pest nur noch erwehren, indem sie Gott einen
Handel vorschlugen. Und siehe,
es ward gut.
Der Schwarze Tod verzog sich,
die Dörfler führten fortan alle
zehn Jahre ihr Passionsspiel auf.
Mit zunehmendem Gewinn. 1801
blieb für die Gemeinde ein Rein- Hitler in Oberammergau (1934)
verdienst von 373 Gulden und 20
Kreuzer, ein Jahrhundert darauf tru- krativen Angebots für die Verfilgen ihr 174 000 Besucher schon eine mungsrechte.
Die Zurückhaltung der Dörfler zahlMillion Mark ein.
Als die anderen Dörfer ihre Auf- te sich aus. Gekrönte Häupter und ilführungsrechte verloren, besaßen die lustre Würdenträger aus der ganzen
Oberammergauer in Bayern ein Mono- Welt reisten zu ihnen. Die Besucherpol, mit dem sie wuchern konnten. Ih- zahlen verdoppelten sich. Im Angesicht
re Stärke war die Flexibilität. Sie er- des gekreuzigten Jesus trafen sich in
probten neue Textfassungen, eine neue Oberammergau Fürst und Kunz.
Am 21. Juli 1930 saß auch Adolf HitMusik, eine neue Dramaturgie und
vermieden jede Anspielung auf strit- ler vor der Bühne, mit ihm seine Nichtige Themen zwischen den Konfes- te Geli Raubal und Joseph Goebbels. In
dessen Tagebuch ist nachzulesen: „gesionen.
Aus ganz Europa reisten die Zu- packt und zu Tränen gerührt“. Am 13.
schauer an. Den Patrioten erschien die August 1934, zum 300-jährigen JuOberammergauer Passion nun als biläum, kehrte Hitler wieder, dieses
„Hort des deutschen Volksgeistes“. Da Mal als enthusiastisch gefeierter „Fühstörte es nicht, dass 1870 die Spiele ab- rer“. Acht Jahre später war dem Dikgebrochen wurden. Der Krieg gegen tator bei seinen Tischmonologen noch
genau in Erinnerung, dass Pontius Pidie Franzosen hatte Vorrang.
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Nicht so einfach, wenn man als Erster so
eine Barriere durchbricht. Elisabeth Petre
hat das schon 1990 erfahren – da war sie die
erste verheiratete Maria, „ein Schandfleck“, hetzten die anonymen Briefeschreiber: „Des Nachts kriecht sie zu ihrem
Mann ins Bett und regelt den Verkehr, und
tagsüber steht sie auf der Bühne und mimt
latus „wie ein Fels inmitten des jüdischen Geschmeißes und Gewimmels“
gewirkt habe.
Ein schlechteres Gedächtnis hatten
die Oberammergauer, die in Scharen
der Hitler-Partei zugelaufen waren.
Nach 1945 wollte keiner was gewusst,
keiner was getan haben. Und ihr bestes
Stück sollte antisemitisch sein?
Fünf Jahre nach Kriegsende führten
sie es wieder auf, gestützt auf ein Millionendarlehen der amerikanischen Militärregierung und mit einem nahezu
unveränderten Text. Zur Eröffnung kamen angereist: Bundespräsident Heuß
und Kanzler Adenauer sowie die Hohen Kommissare der Besatzungsmächte, John McCloy aus den USA und Sir
Brian Robertson aus England. Der
Münchner Kardinal Michael Faulhaber, der die Dörfler stets davor
gewarnt hatte, ihre Seele „um
den Dollar zu verkaufen“, gab
seinen Segen mit der Missio canonica. Damit „war die Entnazifizierung von Oberammergau abgeschlossen“, schreibt ironisch
der US-Autor James Shapiro in
seinem neuen Buch „Bist du der
König der Juden?“ (DVA).
Nach dem millionenfachen
Mord an den Juden sah die Welt
grundlegend anders aus. Die Aufmerksamkeit für antisemitische
Phänomene war vielfach geschärft. Das bekamen die Oberammergauer zu spüren. In den sechziger Jahren zwang sie eine Protestwelle
inklusive Boykottaufruf vom hohen
Ross. Dazu kam, dass auch die katholische Kirche, die sich mit dem Zweiten
Vatikanum von ihren antisemitischen
Schlacken zu befreien suchte, den Segen verweigerte.
Erbitterter Streit machte sich mitten
im Voralpendorf breit, Reformwillige
standen gegen Traditionalisten. Es half
nichts. Ganz konnte sich das Passionsspiel den Reformen nicht entziehen.
So hat sich auch das Bild der Juden
in dem Stück gewandelt, ist differenzierter und freundlicher jetzt. Das
Theater über Leben und Leiden des
ersten Christen kann weitergehen, aufwendiger und gewinnbringender denn
zuvor.
Rolf Rietzler
SÜDD. VERLAG
ging nicht. Achtmal durften die RosnerLeute im Jahr 1977 ihr Stück zur Probe
aufführen, dann war Schluss.
„Danach“, sagt Christian Stückl, „war
lange die Tür für Reformen zu.“ Jetzt erst,
im Jahr 2000, darf jeder mitspielen, ob Katholik oder Moslem oder Hindu, vorausgesetzt, dass er in Oberammergau gebo-
die Heilige Jungfrau Maria.“ Trotzdem er- te unterscheiden kann zwischen der Rol- ging: „Geht’s noch, Toni?“ „Passt scho“,
kämpften ein paar Mutige das Recht für le, die jemand spielt, und dem Rest. Nie- kam jedes Mal zurück.
Muss passen, es wird ja auch bei jedem
alle Passionsspielerinnen, verheiratet und mand sieht den Judas-Darsteller mehr als
älter als 35 zu sein. „Allerhöchste Zeit“, einen Finsterling an, und niemand, das Wetter gespielt. Im Frühjahr kann es noch
sagt Elisabeth Petre, 47, weil sie findet, hofft auch die 39-jährige Helga Stucken- lange schneien im Alpenvorland, es kann
„dass endlich Schluss sein musste mit die- berger, eine Holzschnitzmeisterin, die die noch ganz schön kalt sein, wenn die SpielMagdalena spielt, niemand halte sie des- saison beginnt. Regendach und Fußsen traurigen Geschichten“.
Es gab ja Dramen im Dorf wegen dieser wegen für ein loses Weib, „so etwas ist bodenheizung hat nur der Zuschauerraum,
nicht die Bühne, aber egal, man hält durch,
Regelung, immer schon. Da waren die vorbei“.
Oder doch nicht? Jesus-Darsteller Norz man muss sich ja die AufwandsentschädiFrauen, die vor der Passion nicht heiraten
wollten, und danach hatte der Mann erlebt manchmal noch japanische Journa- gung verdienen, 42 000 Mark brutto für eiwomöglich keine Lust mehr dazu. Da war listen, die fest überzeugt sind, dass die nen Jesus, 7000 für jeden im Volk.
Ab Mai wird das Leben wieder diesen
lange der Zwang, ein hoch moralisches Le- Dorfbevölkerung vor ihrem Christus in die
ben zu führen; der Fall jenes Mädchens Knie geht. Und er hört von Oberammer- besonderen Rhythmus haben: Die Apostel
beispielsweise, das in jungen Jahren
zur Maria erkoren wurde, und nach
den Spielen bestand seine Mutter weiter darauf: „Du bist die Maria. Du
schaust mir keinen Mann an.“ Jahrelang ging das so, dann wurde es noch
mal zur Maria erwählt, leider; es fand
aus der Rolle nicht mehr heraus, wurde seltsam und trug bleibenden seelischen Schaden davon.
Elisabeth Petre ist nicht der Typ, der
sich ins Düstere flüchtet, eher selbstbewusst und lebenserfahren, Kauffrau
und verwitwete Mutter von zwei Kindern. Eine, die sich „nicht unbedingt
darum gerissen“ hat, diese Rolle wieder zu spielen: „Immer nur Leiden,
immer nur Tod.“ Immerhin freue sie
sich, so sagt sie, dass die Maria neuerdings „nicht mehr ganz so flennerd“
daherkommt wie bisher. Aber noch etwas mehr Rebellion – das wär’ schon
schön. Was soll man denn davon halten, als Mutter, wenn der Sohn namens
Jesus in Bethanien vor allen Leuten Magdalena-Darstellerin Stuckenberger: Zärtlichkeiten für Christus
gauern oder sogar von Kirchenleuten, dass das ja alles sehr schön
inszeniert werde, die neue Passion, aber dass man doch mit den
Jesussen bitte anders umgehen solle als mit dem übrigen Darstellervolk. Per Inspiration sollten die
ihre Rolle erfühlen, per Eingebung
sozusagen. „Mit dem Jesus nicht
proben“, das hat auch Christian
Stückl schon gehört, von einem
Kardinal.
Haben sie aber. Nach Israel sind
sie gefahren mit den Darstellern,
zwecks Einstimmung in Geschichte und Szenerie. Eine Filmreihe
„von Oberammergau nach Hollywood“ haben sie hergeholt und
alle in Pasolinis Matthäus-Passion
Jesus-Darsteller Burkhart: Dunkel und kämpferisch
geschickt. Ein Stimmbildner von
poltert: „Wer ist meine Mutter, und wer der Münchner Otto-Falckenberg-Schule
sind meine Brüder?“ Maria akzeptiert das. kommt regelmäßig nach Oberammergau,
Elisabeth Petre fällt es schwer, so etwas zu und den ganzen Winter über haben sie geprobt. Was ziemlich unbequem ist in eiakzeptieren.
Die Leute – sie klatschen, natürlich, nem Freilufttheater. Im Gedächtnis blieaber Elisabeth Petre möchte glauben, dass ben Szenen wie die, als Jesus Toni Burkeine Maria heutzutage in Ruhe gelassen hart anderthalb Stunden lang im Anorak
wird in ihrem Privatleben, dass die nicht am Kreuz hing anstatt der spielüblichen 20
heilig tun muss, dass Oberammergau heu- Minuten, als immer wieder einer fragen
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sind hauptsächlich vormittags dran, Römer
am Nachmittag, der Hohe Rat den ganzen
Tag, aber das macht nichts, weil die meisten Rentner sind. Die Schulkinder kommen morgens, wenn der Gang nach Jerusalem auf dem Plan steht, und die Bauern
auf den Feldern packen am frühen Nachmittag zusammen, damit sie bei der
„Empörung“ pünktlich sind.
Jesus Martin Norz wird überlegen, ob er
morgens doch noch im Büro im Bauamt
vorbeischaut. Maria Elisabeth Petre muss
am Anfang auf die Bühne, danach im
Christkindlmarkt Käthe-Wohlfahrt-Engel
verkaufen, dann zur Kreuzigung auf die
Bühne zurück.
Laientheater eben. Aber manchmal, in
magischen Momenten, noch viel mehr. In
Momenten wie jenem an einem Abend im
April, da Jesus Toni Burkhart am Ölberg
seine Jünger beschimpft; frostig ist es, er
trägt grünen Parka und Baseballmütze und
sieht plötzlich wie der frühe Fidel Castro
aus, er wacht und hadert und rechtet mit
Gott, schreit „verlass mich nicht“, schreit
„rette mich, Vater, verbirg dein Angesicht
nicht vor mir“; einer, der den Abgrund
sieht und allein ist mit sich und dem, was er
weiß. Ein Verzweifelter. Ein Mensch. ™
FOTOS: H. MUNZIG
Gesellschaft
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