Glücklich ist, wer vergisst?

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Kapitel 2
Glücklich ist, wer vergisst?
«Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist» –
so heisst es in der «Fledermaus». In Wirklichkeit sind die Gedächtnisstörungen für die Betroffenen das schmerzlichste und
schrecklichste Symptom der Krankheit. Verlust des Gedächtnisses und der Erinnerungen ist kränkend und schmerzhaft
und führt zum Selbstverlust. Gedächtnis ist die geistige Fähigkeit, Erfahrungen zu speichern und später zu reproduzieren
oder wieder zu erkennen, um diese für das Leben, Erleben und
Verhalten nutzbar zu machen und Neues hinzuzulernen.
Gerade für demenzbetroffene Menschen wäre die Fähigkeit zu lernen lebenswichtig, denn sie sind gezwungen, ihren
Lebensstil zu ändern und sich neuen Situationen anzupassen.
Weil Anpassen wiederum Lernen bedeutet, was zunehmend
unmöglich wird, wird das Leben Demenzbetroffener beschwerlich, kränkend und zeitlos. Weil es ohne Erinnerungen
kein Ich-Bewusstsein gibt, fehlt den Betroffenen ihre eigene
Geschichte, sodass sie stets in einer Dauergegenwart leben.
Neuropsychologische Kenntnisse über den Krankheitsverlauf
bei Demenz sind Voraussetzung für die Betreuung demenzbetroffener Menschen. Erfolgreiche Kommunikation und angepasstes Beschäftigen sind nur dann möglich, wenn bekannt ist,
über welche kognitiven (geistigen) Fähigkeiten jemand noch
verfügt. Gedächtnisverlust zeigt sich je nach Schweregrad der
Krankheit sehr unterschiedlich und ist auch vom ursprüng7
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Warum sind neuropsychologische Kenntnisse
wichtig?
lichen intellektuellen Niveau und vom kulturellen Hintergrund des Betroffenen abhängig: Ein Pensionär mag zwar den
Namen des Betreuers vergessen haben, aber er weiss noch sehr
gut, wie die Hauptstadt von Frankreich heisst. Auf Grund
einer Gedächtsstörung ist also nicht abzuleiten, welche anderen Gedächtnisbereiche auch nicht mehr funktionieren, was
dazu führt, dass die Betreuenden die wirkliche geistige Leistungsfähigkeit häufig falsch einschätzen. Solche Fehleinschätzungen können sich im Umgang mit Demenzbetroffenen negativ auswirken und zu deren krasser Unterschätzung – aber
auch zu schwerer Überforderung – beitragen.
Für den Alltag ist es bedeutsam, dass es zeitlich und inhaltlich
sehr unterschiedliche Gedächtnisfunktionen gibt (Abb. 2).
쎲 Das sensorische Gedächtnis. Das Wahrnehmen von Bildern, Tönen oder Gerüchen dauert nur wenige hundert Millisekunden. Wenn dem Reiz Aufmerksamkeit geschenkt oder eine Bedeutung zugeschrieben wird, wandert er nach weniger als
einer Sekunde zum Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis, das Teil
unserer geistigen Gegenwart ist. Es ermöglicht uns, gleichzeitig eine Situation zu verstehen, zu verarbeiten und schon wieder neue Reize aufzunehmen.
쎲 Das Kurzzeitgedächtnis speichert und verarbeitet eine Information für ca. 20 Sekunden, höchstens aber eine Minute, sodass ein Grossteil ständiger Neuinformationen – zum
Glück – gleich wieder vergessen geht.
쎲 Das Langzeitgedächtnis ist der Speicher für alle Erfahrungen, Informationen, Emotionen, Fertigkeiten, Wörter, Kategorien, Regeln, Urteile usw., die aus dem sensorischen und
dem Kurzzeitgedächtnis übertragen wurden. Es stellt das Wis8
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Welche Arten von Gedächtnis gibt es?
Aufmerksamkeit
Wahrnehmung
Sensorischer Speicher (1 s)
sehen
hören
tasten
riechen
schmecken
fühlen
Kurzzeitspeicher (ca. 18 s)
(Arbeitsgedächtnis)
kodieren, enkodieren
Langzeitspeicher
Prozedurales Gedächtnis
Automatismen
Deklaratives Gedächtnis
Semantisch
Episodisch
Wissen-Können
selbst erlebt
sen eines jeden Menschen über sich selbst und die Welt dar.
Auch das Langzeitgedächtnis hat unterschiedliche Funktionen:
Das episodische Gedächtnis speichert Ereignisse, die in räumlich-zeitlicher Beziehung stehen zu persönlichen autobiographischen Daten, wie zum Beispiel Erinnerungen an den Hochzeitstag oder Urlaub. Das semantische Gedächtnis hingegen
besteht aus erlerntem Wissen aus Büchern oder aus der Schule
sowie aus universellem Weltwissen ohne Bezug zur Autobiographie.
쎲 Das prozedurale Gedächtnis schliesslich ist der Speicher
für geistige und motorische Fertigkeiten und speichert Bewegungsabläufe und Fertigkeiten wie Rad fahren und Schuhe
binden, nähen, abwaschen oder auswendig gelernte Gedichte
aufsagen.
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Abb. 2. Schematische Darstellung der Gedächtnisfunktionen.
Welches Gedächtnis wird zuerst von der
Krankheit betroffen?
Was bedeutet Kommunikation?
Das Wort Kommunikation bedeutet Mitteilung, Verbindung,
Anteil nehmendes, tätig werdendes, geöffnetes Sein des Menschen im Umgang mit anderem und anderen.
Der Mensch ist selbst eine Informationsquelle. Nicht
kommunizieren ist unmöglich und selbst Schweigen und Untätigsein ist eine Mitteilung an die Aussenwelt. Jedes Individuum ist Sender und Empfänger gleichzeitig. Im Kommunikationsprozess wird eine Idee, ein Gedanke oder ein Konzept
aus der Umwelt aufgenommen. Zwischen Personen basiert
dieser Austausch auf Sprache (Sprechen, Schreiben) oder
nonverbaler Kommunikation (Körpersprache) mittels Gestik, Mimik, Gebärde oder Haltung. Informationen und Konzepte aus der Umwelt (zum Beispiel das Erfassen einer Verkehrssituation) ermöglichen es einem Menschen erst, in sei10
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Im Demenzverlauf sind zuerst das Kurzzeit- und das episodische Gedächtnis und (etwas später) auch das semantische Gedächtnis betroffen, während das prozedurale Gedächtnis und
sehr früh erlerntes semantisches Wissen noch lang erhalten
sind und in der Betreuung und Aktivierung demenzbetroffener
Menschen genutzt werden können. So erstaunt es nicht, dass
ganz frühe Erinnerungen mit emotionalem Inhalt, wie zum
Beispiel Melodien, Lieder, kindliche Situationen, in denen sich
der Betroffene sehr wohl fühlte, auch bei fortgeschrittener Demenz erhalten sind.
Gelingt es den Pflegenden, Kommunikation und Umgang
mit den Demenzbetroffenen an die noch vorhandenen Gedächtnisfunktionen anzupassen, tragen sie entscheidend zum
Wohlbefinden der Bewohner bei.
ner Umwelt zu funktionieren, sich zurechtzufinden und sich
zu orientieren. Kommunikationskompetenz bedeutet ein erfolgreiches Zusammenwirken von Wahrnehmung (Sinnesorganen), kognitiven Funktionen und Emotionen.
Wie verändert sich die Sprache in der Demenz?
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Die Autoren leben und arbeiten in der Schweiz.
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Leider sind es gerade diese höheren kognitiven Fähigkeiten, die
bei einer Demenz langsam zusammenbrechen. Weil es zu einem Gespräch die Entwicklung von Ideen und Inhalt braucht,
damit das Gespräch weiter laufen kann, werden Gespräche mit
Demenzbetroffenen zunehmend schwieriger. Der Gesprächsfluss stockt immer mehr, die Sprache wird ausdrucksarm und
inhaltlich ziellos. Häufig werden komplizierte Begriffe oder
Sachverhalte mühsam umschrieben. Die Syntax (Zusammenstellung der Wörter zu einem Satz) wird falsch und ungewöhnlich, was nicht selten zu unfreiwilligem Humor führt, da
die Sätze kurios, fremd und manchmal witzig klingen. Oft erstaunt es die Angehörigen, dass die Demenzbetroffenen einen
besonders treffenden Satz aussprechen, der jedoch gerade das
Resultat einer unerwarteten Wortwahl und Syntax ist. Von
Angehörigen wird manchmal auch berichtet, dass Demenzbetroffene auf einmal «geschwollen» sprächen und sich oft auf
Hochdeutsch1 mit ihnen unterhielten. Semantische (bedeutungsrelevante) und phonetische (Aussprache-) Fehler häufen
sich. So sprechen die Betroffenen vom Tisch, wenn sie Bett
meinen, oder wiederholen mehrmals eine Silbe, zum Beispiel
«Mumumumutter». Auch Personalpronomen wie «wir» oder
«ich» werden in späten Demenzphasen nicht mehr verstanden.
In dieser Phase bewährt es sich, mit den Betroffenen in der
dritten Person zu sprechen, wie zum Beispiel «Pfleger X zieht
jetzt dem Herrn Müller seinen Mantel an». Eine solche Aufforderung, welche an die Kommunikation mit Kindern erinnert, wird sehr viel besser verstanden als die gleiche Aufforderung in der sprachlich korrekten Form «Ich ziehe Ihnen jetzt
den Mantel an». Noch später treten auch für alltägliche Begriffe Wortfindungsstörungen und Schwierigkeiten beim Verstehen einfacher Begriffe auf, ehe sich die Sprache schliesslich
bei schwerer Demenz auf wenige Worte und Silben reduziert
und unverständlich wird.
Welche Brücken gibt es trotz eingeschränkter
Kommunikation?
✓ Demenzbetroffene wahrnehmen und offen mit
ihnen reden
✓ Gefühle sprechen lassen – nicht mit dem Kranken
verstummen
✓ Körpersprache und Körperkontakt einsetzen –
mit Gesten sprechen
✓ Taktvoll berühren – aber Berührungen vermeiden, bis
bekannt ist, ob diese geschätzt werden
✓ Positives hervorheben – auf Positives lenken
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Bei reduzierter Kommunikationsfähigkeit können die Demenzbetroffenen ihre Bedürfnisse nicht mehr wie früher mitteilen,
sie werden falsch oder gar nicht mehr verstanden. Herausforderndes Verhalten oder depressiver Rückzug sind häufig Reaktionen auf gestörte oder erloschene Kommunikation. Folgende Hilfestellungen zur Kompensation einer gestörten Kommunikation sind hilfreich:
✓ Sich Zeit nehmen – geduldig bleiben
✓ Kommunikationshilfen beiziehen – Umgebung anpassen
✓ Sich beim Sprechen zeigen – nicht von hinten sprechen
✓ Klar und deutlich sprechen – mit Reden ermuntern,
ohne zu überfordern, aber keine Babysprache benutzen
✓ Äusserungen wiederholen – nicht zu viel auf einmal
sagen – Vormachen
✓ Sich vorstellen, wenn nötig mehrmals und immer wieder
✓ Gleichzeitig über mehrere Sinnesorgane kommunizieren
✓ Konkret reden – nur über Sichtbares sprechen
✓ Trösten – sanft beruhigen
Was man nicht tun sollte
✗ Streiten, kritisieren, bestrafen, zurechtweisen
✗ Über den Demenzbetroffenen vor andern Mitmenschen
reden
✗ Worte benützen, die negative Reaktionen auslösen
✗ Ironie und Doppeldeutigkeiten verwenden
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In der Kommunikation brauchen wir alle Sinneskanäle.
Neben Sprache und Körpersprache erreichen wir Demenzbetroffene durch Berührung, Musik, durch Düfte und Geschmack. Auch wenn Demenzbetroffene uns nicht mehr
sprachlich mitteilen, was sie wahrnehmen, erkennen sie sehr
wohl, was für sie wohltuend oder was beunruhigend oder unangenehm ist. Sie benutzen dabei häufig Körpersprache und
Gesten, sind unruhig, schreien oder weinen.
Was bedeutet Validation?
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Validation [Feil, 1990] ist ein therapeutisches Kommunikationskonzept für das Verständnis und den Umgang mit Demenzbetroffenen und bedeutet wörtlich «etwas für gültig erklären». Feils Anleitungen, die Aussagen demenzbetroffener
Menschen nicht durch die Realität zu korrigieren, sondern zu
akzeptieren und dem Demenzbetroffenen auf einer emotionalen Ebene «wertschätzend» zu begegnen, führen im Alltag zu
weniger konfliktgeladenen Auseinandersetzungen und können
das Selbstwertgefühl des Demenzbetroffenen für kurze Zeit
stabilisieren. Umstrittener ist das von Feil entwickelte Krankheitsmodell, das die Demenz in vier Stadien der Desorientiertheit einteilt und als «Stadien der Aufarbeitung» bezeichnet.
Für jedes dieser Stadien hat Feil spezielle therapeutische Techniken entwickelt. Von der mit Warenzeichen eingetragenen Validationstechnik wird behauptet, sie trage bei Demenzbetroffenen zur «Bewältigung ungelöster Probleme früherer Lebensphasen» bei. Die Validationsmethode und insbesondere die
aus ihr entwickelte «integrative» Validation [Richard, 1979],
die nicht den Anspruch einer Therapie erhebt, sondern Beziehung und Vertrauen zwischen Betreuenden und Demenzbetroffenen aufbauen hilft, hat den historischen Verdienst, einen
Umdenkprozess und einen Perspektivenwechsel in der Betreuung Demenzbetroffener in die Wege geleitet zu haben.
Literatur
S. Boschert:
Auch wer nicht mehr sprechen kann, hat noch viel zu sagen.
Die Bedeutung alternativer Kommunikationsformen.
Leicht gekürzter Vortrag anlässlich der 3. Internationalen
Geriatrietage im Geriatriezentrum Wienerwald, November 2000.
www.alzheimer-selbsthilfe.at
P. Calabrese, H. Förstl (Hrsg):
Psychopathologie und Neuropsychologie der Demenzen.
Berlin, Pabst, 2000.
C. Chervet:
Umgang mit herausfordernden (psychopathologischen)
Verhaltensweisen; in C. Wittensöldner (Hrsg): Pflege und
Betreuung älter werdender Menschen.
Singen, Recom, 1988, pp 861–873.
D. Ermini-Fünfschilling:
Alzheimer? Früherkennung ist wichtig.
Yverdon, Schweizerische Alzheimervereinigung, 2001.
www.alzheimer.ch
N. Feil:
Validation. 4. Auflage.
Wien, Verlag Altern & Kultur, 1992.
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S. Käppeli (Hrsg):
Pflegekonzepte. Band 3.
Bern, Hans Huber, 2000.
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