6 Vorwort 9 Warum uns wahnhafte Patienten besonders herausfordern 15 17 25 33 35 Abgrenzungen 39 Wie entsteht ein Wahn? 39 45 Die Wahngenese 49 Macht Wahn Sinn? 57 Wo kommt Wahn vor? 59 67 Diagnostik 72 Umgang mit wahnkranken Menschen 72 77 79 82 86 90 91 95 104 Wahn und selbstschädigendes Verhalten 112 Wahn und Fremdgefährdung 114 Fremdgefährdung erkennen, einschätzen und behandeln 123 Schlussbemerkung 125 Ausgewählte Literatur Was ist Wahn? Fühlen, Denken, Handeln Das Erleben der Wahnwirklichkeiten Kulturspezifische Aspekte Die Psychologie des Wahns Krankheiten mit Wahn nach ICD-10 Psychotherapeutische Haltung und Gesprächsgestaltung Konsultationsanlässe Behandlungsrahmen Therapeutische Zugänge Medikamentöse Behandlung Angehörigenarbeit Kultursensibler Umgang Zwangsmaßnahmen Warum uns wahnhafte Patienten besonders herausfordern Der Umgang mit wahnhaften Patientinnen und Patienten stellt an alle, die mit ihnen professionell zu tun haben, hohe Anforderungen. Das liegt zunächst einmal daran, dass es – besonders für den Anfänger in der Psychiatrie – nicht einfach ist, sich überhaupt auf eine Person mit derart ungewöhnlichen Erlebens- und Verhaltensweisen unvoreingenommen einzulassen. Hinzu kommt aber noch, dass die Vielgestaltigkeit wahnhaften Erlebens eine große Bereitschaft und Fähigkeit erfordert, uns in ganz unterschiedlichen Situationen angemessen zu verhalten und den betroffenen Menschen jeweils individuell zu begegnen. Die folgenden drei Fallgeschichten mögen hiervon einen Eindruck vermitteln. B e i sp i e l 1 d Eine an einer Manie erkrankte sechzigjährige Patientin begleitet die Dozentin in ein Studentenseminar. Die Patientin leidet seit rund dreißig Jahren an einer bipolaren Störung. Im Vordergrund der Symptomatik steht ein ausgestalteter, mit einem Größenwahn einhergehender Abstammungswahn. Die Studenten und Studentinnen waren bisher noch nicht mit Patienten konfrontiert, die an Wahnerleben leiden. Die Patientin betritt in euphorischer Stimmung den Unterrichtsraum und berichtet – nach kurzer Vorstellung durch die Dozentin – ausführlich über ihr inneres Erleben. Sie stamme vom britischen Königshaus ab und sei gleichzeitig die Präsidentin der Medizinischen Hochschule. Der nominelle Präsident sei nicht der richtige Präsident. Auch kenne sie diverse berühmte Persönlichkeiten. Die Patientin bezieht einzelne Studenten mit Fragen in ihre Schilderung ein. 9 Einige reagieren aufgeschlossen, manche etwas verlegen oder humorvoll. Anderen ist anzumerken, dass sie Sorge haben, sie könnten ebenfalls angesprochen werden. B e i sp i e l 2 d Eine 25-jährige schizophren erkrankte Patientin präsen- tiert sich in der Aufnahmesituation mit ausgeprägtem Wahnerleben und Denkzerfahrenheit. Eine geordnete Kontaktaufnahme ist kaum möglich. Die Assistenzärztin kann nur begrenzt ein Gespräch mit ihr führen. Plötzlich beginnt die Patientin, mit klarer Stimme das Ave Maria völlig akkurat zu singen. Die Ärztin ist verunsichert und weiß nicht, wie sie reagieren soll. B e i sp i e l 3 d Ein paranoid erkrankter Patient bedroht einen Archi- tekten mit Mord, da dieser ihm unrecht getan habe. Es wird ein Unterbringungsbeschluss beantragt. In der Anhörung lehnt der Richter diesen zunächst ab, da der Patient bisher nicht fremdgefährdend im engeren Sinne agiert habe. Im Verlauf des Gesprächs bezieht der Patient den Richter in sein Wahnsystem mit ein, ein körperlicher Angriff durch den Patienten kann gerade noch verhindert werden. Diese drei Fallgeschichten verdeutlichen, dass wahnkranke Menschen beim Gegenüber Verunsicherung, aber auch Faszination, Sorge vor verbaler oder körperlicher Grenzüberschreitung und ebenso Interesse, Ratlosigkeit und affektives Mitschwingen auslösen können. Es ist das in vielfältiger Hinsicht »Unberechenbare«, die Konfrontation mit dem ungewöhnlichen Erleben, das insbesondere bei fehlender oder geringer Vorerfahrung im Umgang mit wahnhaften Menschen und je nach Situation bedrängend, bedrohlich, unverständlich und ratlos machend oder auch erheiternd anmuten kann. Gleichzeitig ist es interessant, macht neugierig und fordert heraus. Bei der manischen Patientin merkten die Studentinnen und Studenten, die erstmals mit einer wahnkranken Patientin konfrontiert waren, sehr schnell, dass sie – anders als von ihnen erwartet – in 10 der Lehrsituation keineswegs verunsichert war, im Gegenteil trat sie souverän und selbstbewusst auf, ein subjektives Leiden am Wahn war vordergründig nicht erkennbar. Die Patientin hatte »das Heft in der Hand«, ja, sie übte durch ihr dominantes Verhalten im Wahn so etwas wie Macht aus. Die Studierenden waren verunsichert und wollten nicht bloßgestellt werden. Erst die Nachbesprechung mit der Dozentin, in der die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Vermutungen der Studierenden, ihre Gegenübertragungen und die Symptomatik im Zusammenhang mit der Biografie analysiert wurden, trug zum Verständnis für die Patientin und ihre Erkrankung bei. Zudem stellte sich allmählich ein »Verstehen« auf der Beziehungsebene ein. Warum habe ich mit Angst auf den Kontaktversuch der Patientin reagiert? Was hat meine Angst mit dem subjektiven Erleben der Patientin zu tun, und was hat es mit mir zu tun? Das auf diese Weise aufkommende Verstehen des Wahnerlebens weckte Neugier und gab Sicherheit für die nächste Begegnung mit einem wahnkranken Menschen im Seminar oder in der späteren Arbeit. Die junge, schizophren erkrankte Patientin, die im Aufnahmegespräch plötzlich das Ave Maria sang, brachte die Assistenzärztin in eine bizarr anmutende Situation. Sie wusste nicht, warum die Patientin dies tat, sie konnte ihr Ziel, eine strukturierte Anamnese zu erheben, nicht erreichen und erlebte sich als rat- und hilflos. Während der oberärztlichen Zweitsicht sang die Patientin erneut. Der Oberarzt erläuterte der Ärztin anschließend das Singen als Wiederherstellungsversuch der brüchigen Ich-Grenze, als eine Sicherheit gebende Möglichkeit, der angstvoll erlebten Situation standzuhalten. Mit diesen Hinweisen vermittelte er der Assistenzärztin, dass das Verhalten der Patientin durchaus nachvollziehbar und sinnhaft war. Der Richter, der vom Patienten in den Wahn einbezogen wurde, erlebte plötzlich, wie es sich anfühlt, von einem wahnkranken Men11 schen bedroht zu werden. Aus der abstrakten Einschätzung des Gefährdungspotenzials aus der Distanz wurde nun ein persönliches und unmittelbares Erleben der Bedrohung. Der Richter erließ daraufhin einen Unterbringungsbeschluss! Es sind also am ehesten das »Nichteinschätzbare«, das »Unheimliche«, das »Nicht- oder Schwernachvollziehbare« und der Aspekt des »Unvorhersehbaren«, das uns im Kontakt mit wahnkranken Menschen verunsichert und ängstigt, gleichzeitig aber auch neugierig macht und nicht zuletzt fasziniert. Dem »Atmosphärischen« kommt dabei eine wesentliche Bedeutung zu, da Betroffene unter dem Einfluss eines Wahns vieles nicht verbal mitteilen können oder wollen. Zu diesem »Unsagbaren« führt Hinderk M. Emrich aus: »Der Verweis auf das Unsagbare setzt einen fundierten Umgang mit den Möglichkeiten und Grenzen des Etwas-Sagens voraus« (Emrich 2009, S. 10). Das wahnhafte Erleben vermittelt sich dem Untersucher aber nicht nur über das gesprochene Wort. Gestik, Mimik, Verhalten und die Gefühle der Patientinnen und Patienten sind oft erste und eindeutige Anzeichen des wahnhaften Erlebenswandels. Auch die Wahrnehmung des vom wahnkranken Menschen ausgelösten eigenen Affekts ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Was von alledem kann der Therapeut wahrnehmen und zum Verständnis des Patienten nutzen? Therapeuten werden durch den Umgang mit wahnhaften Menschen in mehrfacher Hinsicht herausgefordert. Um den Patienten in seinem Wahnerleben zu verstehen, muss dieser sich mitteilen dürfen. Und der Therapeut muss sich um ein Verstehen des Betroffenen und um Offenheit gegenüber seinen Anliegen bemühen. Insbesondere muss die Bereitschaft vorhanden sein, das zunächst »Unverständliche« zuzulassen. Auch muss der Therapeut akzeptieren, dass nicht alle wahnhaften Äußerungen verständlich und verstehbar sind. Jann E. 12 Schlimme führt hierzu aus: »Unabdingbare Voraussetzung für dieses zwischenmenschliche Verständnis aufseiten des Psychiaters ist aber die bewusst wahrgenommene Präsenz der letzten und radikalen Offenheit des Lebens, welches sich hartnäckig allen letztgründigen Bestimmungsversuchen, auch denen einer psychischen Erkrankung, entzieht« (Schlimme 2009, S. 27). Eine weitere Herausforderung betrifft den angemessenen Umgang mit der oft unmittelbar radikalen Umsetzung und Verfolgung wahnbedingter Vorhaben. Die von anderen Personen normalerweise erwarteten üblichen Umgangskonventionen sind bei wahnhaften Menschen häufig außer Kraft gesetzt, die Möglichkeiten der Verhaltenssteuerung durch internalisierte Instanzen dessen, was gesellschaftlich erlaubt ist, sind eingeschränkt oder aufgehoben. Dieses tritt zum Beispiel im Liebeswahn zutage, dessen durch Affekt und wahnhafte Überzeugung bedingte Dynamik und Stringenz andere – auch den Therapeuten – erschrecken und überfordern kann. Ein neues Terrain muss betreten werden, um den Patienten erreichen zu können. Es gilt immer wieder, das Unverständliche, Unheimliche, Bizarre auszuhalten und zu versuchen, es zu verstehen, ohne Erleben und Verhalten eines wahnhaften Menschen auf Krankhaftes zu reduzieren. Gleichzeitig sollten Grenzüberschreitungen benannt und begrenzt werden. Wird ein wahnkranker Patient aggressiv, bedroht, beschimpft, bespuckt oder verletzt er den Therapeuten körperlich, gilt es, die Situation, die Erkrankung und – nicht zuletzt – das eigene Verhalten zu reflektieren und nach Möglichkeit den Vorfall mit dem Patienten zu besprechen. Der Therapeut sollte sich als »Realitätsspiegel« verstehen, ohne den Wahnkranken abzulehnen. Offenheit und Klarheit in seinem Verhalten und in seinen Aussagen können einerseits dem Erkrankten Struktur, Orientierung und Zuverlässigkeit bieten und ihm dadurch 13