Umgang mit wahnkranken Menschen

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Vorwort
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Warum uns wahnhafte Patienten besonders herausfordern
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Abgrenzungen
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Wie entsteht ein Wahn?
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Die Wahngenese
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Macht Wahn Sinn?
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Wo kommt Wahn vor?
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Diagnostik
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Umgang mit wahnkranken Menschen
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95
104
Wahn und selbstschädigendes Verhalten
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Wahn und Fremdgefährdung
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Fremdgefährdung erkennen, einschätzen und behandeln
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Schlussbemerkung
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Ausgewählte Literatur
Was ist Wahn?
Fühlen, Denken, Handeln
Das Erleben der Wahnwirklichkeiten
Kulturspezifische Aspekte
Die Psychologie des Wahns
Krankheiten mit Wahn nach ICD-10
Psychotherapeutische Haltung und Gesprächsgestaltung
Konsultationsanlässe
Behandlungsrahmen
Therapeutische Zugänge
Medikamentöse Behandlung
Angehörigenarbeit
Kultursensibler Umgang
Zwangsmaßnahmen
Warum uns wahnhafte
Patienten besonders
herausfordern
Der Umgang mit wahnhaften Patientinnen und Patienten stellt an
alle, die mit ihnen professionell zu tun haben, hohe Anforderungen.
Das liegt zunächst einmal daran, dass es – besonders für den Anfänger in der Psychiatrie – nicht einfach ist, sich überhaupt auf eine
Person mit derart ungewöhnlichen Erlebens- und Verhaltensweisen
unvoreingenommen einzulassen. Hinzu kommt aber noch, dass
die Vielgestaltigkeit wahnhaften Erlebens eine große Bereitschaft
und Fähigkeit erfordert, uns in ganz unterschiedlichen Situationen
angemessen zu verhalten und den betroffenen Menschen jeweils
individuell zu begegnen. Die folgenden drei Fallgeschichten mögen
hiervon einen Eindruck vermitteln.
B e i sp i e l 1 d Eine an einer Manie erkrankte sechzigjährige Patientin
begleitet die Dozentin in ein Studentenseminar. Die Patientin
leidet seit rund dreißig Jahren an einer bipolaren Störung. Im
Vordergrund der Symptomatik steht ein ausgestalteter, mit einem
Größenwahn einhergehender Abstammungswahn. Die Studenten und Studentinnen waren bisher noch nicht mit Patienten
konfrontiert, die an Wahnerleben leiden. Die Patientin betritt
in euphorischer Stimmung den Unterrichtsraum und berichtet –
nach kurzer Vorstellung durch die Dozentin – ausführlich über
ihr inneres Erleben. Sie stamme vom britischen Königshaus ab
und sei gleichzeitig die Präsidentin der Medizinischen Hochschule. Der nominelle Präsident sei nicht der richtige Präsident.
Auch kenne sie diverse berühmte Persönlichkeiten. Die Patientin
bezieht einzelne Studenten mit Fragen in ihre Schilderung ein.
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Einige reagieren aufgeschlossen, manche etwas verlegen oder
humorvoll. Anderen ist anzumerken, dass sie Sorge haben, sie
könnten ebenfalls angesprochen werden.
B e i sp i e l 2 d Eine
25-jährige schizophren erkrankte Patientin präsen-
tiert sich in der Aufnahmesituation mit ausgeprägtem Wahnerleben und Denkzerfahrenheit. Eine geordnete Kontaktaufnahme
ist kaum möglich. Die Assistenzärztin kann nur begrenzt ein
Gespräch mit ihr führen. Plötzlich beginnt die Patientin, mit klarer
Stimme das Ave Maria völlig akkurat zu singen. Die Ärztin ist
verunsichert und weiß nicht, wie sie reagieren soll.
B e i sp i e l 3 d Ein paranoid erkrankter Patient bedroht einen Archi-
tekten mit Mord, da dieser ihm unrecht getan habe. Es wird ein
Unterbringungsbeschluss beantragt. In der Anhörung lehnt der
Richter diesen zunächst ab, da der Patient bisher nicht fremdgefährdend im engeren Sinne agiert habe. Im Verlauf des Gesprächs
bezieht der Patient den Richter in sein Wahnsystem mit ein, ein
körperlicher Angriff durch den Patienten kann gerade noch verhindert werden.
Diese drei Fallgeschichten verdeutlichen, dass wahnkranke Menschen beim Gegenüber Verunsicherung, aber auch Faszination, Sorge
vor verbaler oder körperlicher Grenzüberschreitung und ebenso Interesse, Ratlosigkeit und affektives Mitschwingen auslösen können. Es
ist das in vielfältiger Hinsicht »Unberechenbare«, die Konfrontation
mit dem ungewöhnlichen Erleben, das insbesondere bei fehlender
oder geringer Vorerfahrung im Umgang mit wahnhaften Menschen
und je nach Situation bedrängend, bedrohlich, unverständlich und
ratlos machend oder auch erheiternd anmuten kann. Gleichzeitig
ist es interessant, macht neugierig und fordert heraus.
Bei der manischen Patientin merkten die Studentinnen und Studenten, die erstmals mit einer wahnkranken Patientin konfrontiert
waren, sehr schnell, dass sie – anders als von ihnen erwartet – in
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der Lehrsituation keineswegs verunsichert war, im Gegenteil trat sie
souverän und selbstbewusst auf, ein subjektives Leiden am Wahn
war vordergründig nicht erkennbar. Die Patientin hatte »das Heft
in der Hand«, ja, sie übte durch ihr dominantes Verhalten im Wahn
so etwas wie Macht aus. Die Studierenden waren verunsichert und
wollten nicht bloßgestellt werden.
Erst die Nachbesprechung mit der Dozentin, in der die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Vermutungen der Studierenden, ihre
Gegenübertragungen und die Symptomatik im Zusammenhang mit
der Biografie analysiert wurden, trug zum Verständnis für die Patientin und ihre Erkrankung bei. Zudem stellte sich allmählich ein
»Verstehen« auf der Beziehungsebene ein. Warum habe ich mit Angst
auf den Kontaktversuch der Patientin reagiert? Was hat meine Angst
mit dem subjektiven Erleben der Patientin zu tun, und was hat es
mit mir zu tun? Das auf diese Weise aufkommende Verstehen des
Wahnerlebens weckte Neugier und gab Sicherheit für die nächste
Begegnung mit einem wahnkranken Menschen im Seminar oder in
der späteren Arbeit.
Die junge, schizophren erkrankte Patientin, die im Aufnahmegespräch plötzlich das Ave Maria sang, brachte die Assistenzärztin
in eine bizarr anmutende Situation. Sie wusste nicht, warum die
Patientin dies tat, sie konnte ihr Ziel, eine strukturierte Anamnese
zu erheben, nicht erreichen und erlebte sich als rat- und hilflos.
Während der oberärztlichen Zweitsicht sang die Patientin erneut.
Der Oberarzt erläuterte der Ärztin anschließend das Singen als Wiederherstellungsversuch der brüchigen Ich-Grenze, als eine Sicherheit
gebende Möglichkeit, der angstvoll erlebten Situation standzuhalten.
Mit diesen Hinweisen vermittelte er der Assistenzärztin, dass das
Verhalten der Patientin durchaus nachvollziehbar und sinnhaft war.
Der Richter, der vom Patienten in den Wahn einbezogen wurde,
erlebte plötzlich, wie es sich anfühlt, von einem wahnkranken Men11
schen bedroht zu werden. Aus der abstrakten Einschätzung des Gefährdungspotenzials aus der Distanz wurde nun ein persönliches und
unmittelbares Erleben der Bedrohung. Der Richter erließ daraufhin
einen Unterbringungsbeschluss!
Es sind also am ehesten das »Nichteinschätzbare«, das »Unheimliche«, das »Nicht- oder Schwernachvollziehbare« und der Aspekt
des »Unvorhersehbaren«, das uns im Kontakt mit wahnkranken
Menschen verunsichert und ängstigt, gleichzeitig aber auch neugierig macht und nicht zuletzt fasziniert. Dem »Atmosphärischen«
kommt dabei eine wesentliche Bedeutung zu, da Betroffene unter
dem Einfluss eines Wahns vieles nicht verbal mitteilen können oder
wollen. Zu diesem »Unsagbaren« führt Hinderk M. Emrich aus:
»Der Verweis auf das Unsagbare setzt einen fundierten Umgang
mit den Möglichkeiten und Grenzen des Etwas-Sagens voraus«
(Emrich 2009, S. 10).
Das wahnhafte Erleben vermittelt sich dem Untersucher aber nicht
nur über das gesprochene Wort. Gestik, Mimik, Verhalten und die
Gefühle der Patientinnen und Patienten sind oft erste und eindeutige Anzeichen des wahnhaften Erlebenswandels. Auch die Wahrnehmung des vom wahnkranken Menschen ausgelösten eigenen
Affekts ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Was von
alledem kann der Therapeut wahrnehmen und zum Verständnis
des Patienten nutzen?
Therapeuten werden durch den Umgang mit wahnhaften Menschen
in mehrfacher Hinsicht herausgefordert. Um den Patienten in seinem
Wahnerleben zu verstehen, muss dieser sich mitteilen dürfen. Und
der Therapeut muss sich um ein Verstehen des Betroffenen und um
Offenheit gegenüber seinen Anliegen bemühen. Insbesondere muss
die Bereitschaft vorhanden sein, das zunächst »Unverständliche«
zuzulassen. Auch muss der Therapeut akzeptieren, dass nicht alle
wahnhaften Äußerungen verständlich und verstehbar sind. Jann E.
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Schlimme führt hierzu aus: »Unabdingbare Voraussetzung für dieses
zwischenmenschliche Verständnis aufseiten des Psychiaters ist aber
die bewusst wahrgenommene Präsenz der letzten und radikalen
Offenheit des Lebens, welches sich hartnäckig allen letztgründigen
Bestimmungsversuchen, auch denen einer psychischen Erkrankung,
entzieht« (Schlimme 2009, S. 27).
Eine weitere Herausforderung betrifft den angemessenen Umgang
mit der oft unmittelbar radikalen Umsetzung und Verfolgung wahnbedingter Vorhaben. Die von anderen Personen normalerweise
erwarteten üblichen Umgangskonventionen sind bei wahnhaften
Menschen häufig außer Kraft gesetzt, die Möglichkeiten der Verhaltenssteuerung durch internalisierte Instanzen dessen, was gesellschaftlich erlaubt ist, sind eingeschränkt oder aufgehoben. Dieses
tritt zum Beispiel im Liebeswahn zutage, dessen durch Affekt und
wahnhafte Überzeugung bedingte Dynamik und Stringenz andere
– auch den Therapeuten – erschrecken und überfordern kann. Ein
neues Terrain muss betreten werden, um den Patienten erreichen
zu können.
Es gilt immer wieder, das Unverständliche, Unheimliche, Bizarre
auszuhalten und zu versuchen, es zu verstehen, ohne Erleben und
Verhalten eines wahnhaften Menschen auf Krankhaftes zu reduzieren. Gleichzeitig sollten Grenzüberschreitungen benannt und
begrenzt werden. Wird ein wahnkranker Patient aggressiv, bedroht,
beschimpft, bespuckt oder verletzt er den Therapeuten körperlich,
gilt es, die Situation, die Erkrankung und – nicht zuletzt – das eigene
Verhalten zu reflektieren und nach Möglichkeit den Vorfall mit dem
Patienten zu besprechen.
Der Therapeut sollte sich als »Realitätsspiegel« verstehen, ohne
den Wahnkranken abzulehnen. Offenheit und Klarheit in seinem
Verhalten und in seinen Aussagen können einerseits dem Erkrankten
Struktur, Orientierung und Zuverlässigkeit bieten und ihm dadurch
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