St. Markus, München DIE „ICH BIN“-WORTE JESU Der Weinstock Prof. Dr. Christian Albrecht 6. Juli 2014 3. Sonntag nach Trinitatis Predigt über Johannes 15, 5 Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Liebe Gemeinde, „Abschiedsworte müssen kurz sein wie Liebeserklärungen“, wusste Theodor Fontane. Das Ich-binWort Jesu, das uns heute beschäftigt, löst diesen Anspruch ein. Das Wort fällt im Zusammenhang der Abschiedsreden Jesu. Er weiß, dass er gehen muss und gehen wird. Und die Jünger wissen dies genauso. Jeder Abschied, sei es ein kleiner oder ein großer Abschied, wirft uns regelmäßig die Frage vor die Füße, wie wir weiterleben sollen und wie wir weiterleben können in einem Leben, das uns unverfügbar ist, das von der permanenten Notwendigkeit des Abschiednehmens geprägt ist; auch davon, ständig auf der Hut sein zu müssen vor überraschenden Abschieden. Jeder Abschied, sei er groß oder klein, erschüttert die Selbstverständlichkeit der Lebensvollzüge, in die wir uns gerade gut eingelebt hatten, für einen Augenblick. Um wie viel mehr gilt das für die Jünger. Ihnen, die einstmals alles aufgegeben hatten, um in der Gegenwart Jesu ihre Heimat zu finden, droht nun mit dem bevorstehenden Heimgang Jesu ein elementarer Beziehungsverlust. Vor ihnen liegen irritierende Herausforderungen der Verlassenheit und der Einsamkeit, der Desorganisation und der Notwendigkeit, sich neu zu orientieren im Leben. Recht unvermittelt und plötzlich, ohne umständliche Einleitung werden die Angesprochenen in eine Beziehungskonstellation hineingestellt durch das knappe Wort, durch die bündige Verhältnisbestimmung: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Joh 15,5). Es sind zunächst und vor allem die menschlichen Verunsicherungserfahrungen schlechthin, auf die Jesus im Bild vom Weinstock eingeht: die Erfahrung, dass es in der Zerbrechlichkeit menschlicher Beziehungen keine verlässliche Stabilität gibt, sondern dass diese Beziehungen immer wieder durchkreuzt werden von Verunsicherungen und Verlusten. Es sind die Erfahrungen von Enttäuschung und Befremdung statt unverbrüchlicher Gemeinsamkeit. Es sind Erfahrungen der Entfernung im Wandel, Erfahrungen des Misslingens von Gemeinschaftlichkeit. Es sind, nicht zuletzt, elementare Erfahrungen der Angst vor dem, was nach dem Abschied kommt; der Angst vor dem Alleinsein und vor der Kraftlosigkeit. Mitten in diese Verunsicherungserfahrungen hinein fährt das Wort vom Weinstock mit seinem frappierenden Indikativ, kurz und knapp: ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Kein Lamento, keine Vertröstung. Keine beschwichtigende Zukunftsprognose im Sinne eines „das wird schon werden“, keine Aufmunterung im Sinne eines „das schaffst du schon irgendwie“. Es wird nichts Zukünftiges gesagt und nichts Aufforderndes, im Abschied zu hören ist vielmehr eine reine Zustandsbeschreibung der Gegenwart: ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Das Wort vertröstet nicht ins spirituelle Idyll, nicht in irgendeine Traumwelt, sondern weist in die Realität der Gegenwart. In diesem Abschied mit seinem kurzen Wort wird nichts Geringeres als die Beziehung selbst zum Thema. Aus dem Sein in Christus wird das Bleiben in Christus. Aus dem aktuellen Sein in Christus wird das unlimitierte Bleiben in Christus. Im Wort vom Rebstock wird der Abschied von Jesus damit so zum Thema, wie dieser sich auch in der realen Erfahrung der großen und kleinen Abschiede, die wir nehmen müssen, zeigt: Es mag der direkte Austausch mit demjenigen, von dem man sich verabschieden muss, mit dem Abschied zu Ende sein. Das lebendige Gespräch ist zu Ende. Aber es ist doch die Beziehung zu ihm damit nicht beendet. Diese Beziehung zu jemandem, von dem ich mich verabschiede, besteht ja weiter. Aus dem aktuellen, freilich auch begrenzten Sein in Christus wird das grundsätzliche, zeitlich unbegrenzte Bleiben in Christus. Das Bleiben also ist das Thema dieses kurzen Abschiedswortes. Aber wie soll man sich das vorstellen, dieses Bleiben in Christus? Wie geschieht es? Und wie zeigt es sich im Weiterleben nach dem Abschied, welche Folgen hat es? Bleiben in Christus, das meint die Teilhabe an der Liebe Gottes, die sich in Jesus Christus erschließt. Es ist kaum möglich, hier ein weniger großes Wort, eine weniger aufgeladene Vorstellung zu bemühen als diejenige von der Liebe Gottes. Wer in Christus bleibt, bleibt in seiner Liebe. Wer in Christus bleibt, dem ist es gegeben, in aller Irritation, die ein Abschied, ein kleiner wie ein großer Abschied, mit sich bringt, in allem Kummer vielleicht auch, sich gerade nicht in der Sorge um die eigene Selbstbewahrung zu verlieren, sondern sich in vertrauensvoller Freiheit auf das überlegene Können der Liebe zu verlassen. Dies ist das Urbild der in Jesus Christus erschlossenen göttlichen Liebe. Es ist nicht ganz einfach, über diese Liebe anders als in großen, sehr allgemeinen Worten zu sprechen. Aber diese großen Worte sagen doch wenig aus, weil sie in ihrer Größe recht abstrakt und blass bleiben. Manche Eigenheiten dieser wahrhaft unermesslichen göttlichen Liebe erschließen sich aber leichter, wenn man sich ihnen in der Analogie zu ihrer Abschattung, der Liebe unter Menschen, anzunähern versucht. Das bedeutet keine Trivialisierung oder Abwertung der göttlichen Liebe, sondern dürfte ein sinnvoller Schlüssel zu einem lebendigen Verständnis der göttlichen Liebe sein, zu einer Öffnung für ihre konkreten Spuren in der Führung des Lebens im Verstehen des Lebens. Sie hat ihren lebenspraktischen Gehalt. Denn für die göttliche Liebe gilt zum Beispiel in besonderem Maße, was wir aus der Liebe zwischen Menschen kennen: Sie hat, wo sie mir entgegenkommt, ein schlechterdings unverfügbares Dasein. Sie ist da, ohne dass man etwas dafür oder dagegen tun könnte. Vielleicht ist in dieser Hinsicht die Liebe der Eltern zu ihrem Kind ja wirklich die kleine Schwester der göttlichen Liebe. Sie kommt einem einfach entgegen. Und man kann wenig dafür oder dagegen tun, sie zu empfinden und sich schenken zu lassen. Man kann sich diese Liebe nicht einfach anverwandeln, durch einen Vorsatz oder durch einen Akt des Willens. Man kann ihr aber auch nicht ausweichen. Sie zu empfinden, sie sich geben zu lassen, ist Gnade. Darum ist die indikativische Form des Wortes vom Rebstock so wichtig: Ihr seid bereits Reben, ihr seid bereits geliebt. Es ist wie mit den Liebeserklärungen unter Menschen. Man kann sie sich sagen lassen und man kann sie auch hören. Aber sich diese Liebe zu eigen machen zu können, sie in das eigene Selbsterleben und Selbstgefühl aufzunehmen, das bleibt unverfügbar. Man kann es nicht erzwingen. Wo die Liebeserklärung ins Herz geht und dort auf Resonanz stößt, da empfinden wir das als Gnade. Ein weiteres kommt hinzu. Wer sich der Liebe einmal hingibt, der bleibt dabei. Wem es gegeben ist, sein Herz zu öffnen, der Liebe des Partners oder des Freundes, der bleibt dabei. Auch das dürfte ein blasser Spiegel der göttlichen Liebe in unseren menschlichen Liebesgeschichten sein. Wer sich öffnet, der kann sein Ergriffensein von dieser Liebe nicht ohne weiteres wieder abstellen. Er bleibt da- bei, und zwar relativ unabhängig davon, wie es ihm nachher subjektiv ergehen mag. Denn er hat sich selbst, sein Selbstgefühl über die Wahrnehmung dieser ihm entgegenschlagenden Liebe aufgebaut. Er kann nicht ohne weiteres von ihr lassen, selbst wenn er wollte. Das würde einen Verlust der eigenen Identität bedeuten. So geht es uns, wenn wir unser Selbstgefühl aufbauen über die uns entgegenschlagende Liebe, sei es die menschliche, sei es deren Urbild, die göttliche. Und ein letztes lässt sich vielleicht sagen: Liebe hört im Abschied nicht auf. Sie verliert auch im Trennungsschmerz nicht ihren Sinn und gewinnt diesen Sinn auch nicht erst dadurch, dass sie auf Erwiderung stößt. Es mag ein wenig irritieren, etwas so Allumfassendes wie die göttliche Liebe in Analogie zu unseren alltäglichen Erfahrungen zwischenmenschlicher Liebe gesetzt zu hören. Aber das ist nicht trivial, so lange man vor Augen behält, dass es sich dabei lediglich um Annäherungen an das handelt, was die göttliche Liebe sein dürfte. Trivial ist es vielmehr, wenn über diese göttliche Liebe lediglich in abstrakten, hermetischen Großbegriffen geredet wird, die sich jedem erfahrungsmäßigen Zugang verschließen und uns Verstehenwollende darum am Ende doch eher ratlos zurücklassen. Wer in Christus bleibt, bleibt in seiner Liebe. Diese Liebe hat etwas höchst Lebendiges und Lebensbestimmendes mit hohem lebenspraktischen Gehalt. Sie hat etwas Dynamisches – bleiben heißt auch, in lebendiger Bewegung zu bleiben. Vor allem aber schließt das Bleiben in der Liebe ein, Früchte zu bringen. „Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht.“ Das protestantische Gemüt könnte sich hier verunsichert finden angesichts der Unmittelbarkeit, in der die Versicherung der göttlichen Liebe mit den fruchtbringenden Werken in Verbindung gebracht wird. Aber ebenso schnell dürfte man sich wieder beruhigen. Denn schnell zeigt sich, dass mitnichten eine Aufforderung ausgesprochen wird, sondern ein Zustand beschrieben ist. Der Imperativ, den der protestantische Hörer fürchten könnte – „wer in mir bleibt und ich in ihm, der muss nun aber auch Früchte hervorbringen!“ – fällt gerade aus. Statt dessen wird schlicht festgestellt, im Sinne einer Zustandsbeschreibung: „Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht.“ Keine Aufforderung ist zu hören, und auch von den guten Werken, die nun etwa folgen müssten, ist nicht die Rede. Die Rede ist von den vielen Früchten, die der Stamm hervorbringt, weil er ein kräftiger und lebendiger Stamm ist. Weil die Rebe in dem Stamm angewurzelt ist und seine Kraft in ihm bleibt, müssen seine Früchte auch gut sein. Die Logik der Vorstellung von den guten Werken wird also genau umgedreht. Es ist gerade nicht so, dass wir uns der Christusgemeinschaft nun nachträglich als würdig erweisen müssten durch religiöse Leistungen. Es ist auch nicht so, dass die Christusgemeinschaft uns aus geheimnisvollen Gründen in die Lage versetzen müsste, nun Besonderes tun zu können, zu dem wir vorher nicht in der Lage waren, im Sinne einer religiösen Leistungssteigerung. Nein, es ist genau umgekehrt. Martin Luther formulierte es folgendermaßen: Christus spricht zu dir: „wir sind also beide ineinander gewurzelt und einverleibt, dass mein Wort und dein Herz ein Ding worden ist … So ist dann alles, was du lebst und tust, wohlgetan und lauter gute Früchte.“ (Martin Luthers Evangelien-Auslegung, Bd. 4 [1954], 450.) Das ist, um es nicht misszuverstehen, natürlich nicht gemeint als die die billige Beruhigung, dass alles Misslungene schon irgendwie gut sei, nicht gemeint als nachträgliche Adelung all des Missratenen in unserem Tun. Der Hinweis auf die Früchte spricht in eine ganz andere menschliche Situation, in die der Kraftlosigkeit. Er richtet sich auf eine mutlose und depressive Grundstimmung, die uns überkommt, wenn wir uns überfordert fühlen – überfordert von den Aufgaben, überfordert davon, dass wir Kraft bräuchten, die wir nicht spüren. Es ist eine Situation, die uns gerade in Abschieden überfallen mag. „Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht“ ist darum die Aufforderung, dem Schein der Kraftlosigkeit nicht auf den Leim zu gehen. Es ist die Ermunterung, die gefühlte Schwäche nicht zu verabsolutieren. In dem Satz schwingt nichts Geringeres mit als der Grund für das Vertrauen, den eigenen Blick auf die Beschränktheit und Begrenztheit des eigenen Lebens, des eigenen Radius und der eigenen Beziehungen nicht auch schon für Gottes Blick auf unser Leben zu halten. Das Einssein mit Christus erweist sich als eine befreiende Kraft, deren Kräftigkeit gerade darin zum Ausdruck kommt, dass das Wirken des mit Christus vereinten Menschen im Lichte dieses Einsseins ein fruchtbares, erfülltes und erfüllendes Wirken ist – auch da, wo wir es nicht sehen oder erkennen können, nicht auf den ersten Blick und manchmal auch nicht auf den zweiten Blick. Damit führt uns das Bild vom Weinstock zurück auf unsere Sehnsucht nach erfülltem, nach gelingendem Leben – eine Sehnsucht, die sich gerade in der Krise meldet, in Krisen wie den Abschieden. Das Bild vom Weinstock ist die Antwort auf die Kraftlosigkeit, auf Gelähmtheit und auf Schlappheit, die von uns Besitz ergreifen, wenn das Leben im Umbruch ist. Was den Jüngern gesagt wird, das ist auch uns gesagt: Auch im Abschied bleibt die Gemeinschaft, und dieses Bleiben in der Gemeinschaft bedeutet nicht angstvolles Aneinanderklammern und nicht Beziehungsstillstand. Das Bleiben zielt auf Bewegung, auf Fortsetzung – und es verspricht die Kräfte, die wir im Abschied noch nicht spüren. Das Bild vom Weinstock ist in den Abschied gesprochen, in die großen und die kleinen Abschiede, die wir nehmen müssen, in Abschiede von Menschen, Abschiede von Lebenssituationen, Abschiede von vertrauten Umständen, Abschiede von Fähigkeiten, Abschiede von Gewissheiten und Zuverlässigkeiten. In all diesen Abschieden weist es uns auf das, was in den Veränderungen bleibt. Das Bild vom Weinstock zeigt uns das Bleibende, von dem aus wir die Veränderungen, die Abschiede zu bewältigen vermögen. Denn es zeigt uns, was wir in der Gemeinschaft mit Gott immer schon sind und dauerhaft bleiben: ängstlich, aber bewahrt. Unvollkommen, aber liebevoll umfasst. Fehlerhaft, aber rein. Das Bild vom Weinstock zeigt uns eine an Ort, Zeit, Personen und Fähigkeiten nicht gebundene Beheimatung, aus der wir auch durch Irritationen wie die Abschiede, die erwarteten und die überraschenden, nicht herausgeworfen werden können. Wir werden auch künftig bisweilen scheitern – und es wird uns auch künftig bisweilen manches gelingen. Wir werden auch künftig Erfahrungen von Sinnlosigkeit machen – und es werden uns auch künftig Erfahrungen gelingenden, erfüllten Lebens zuteil. Wir werden auch künftig Menschen verlieren – und gewinnen. Das ist in der Tat ein tröstliches Bild, ein tröstlicher und aufmunternder Abschiedsgruß. Nicht nur so kurz, sondern auch so bekräftigend wie eine Liebeserklärung. Amen. Nächster Universitätsgottesdienst Themenreihe: KRIEG UND FRIEDEN Gott mit uns 26. Oktober 2014 Prof. Dr. Christoph Levin Universitätschor