2. Jahrgang, April 2008, 74-84 - - - Rubrik Neue Arzneimittel - - - Neue Arzneimittel: Vareniclin Nicotinsucht und Belohnungssystem Klinische Wirksamkeit und Pharmakokinetik Nicotinerge Acetylcholinrezeptoren im ZNS Sicherheit und Verträglichkeit und pharmazeutische Beratung Vareniclin - 75 - Vareniclin (Champix®) Prof. Dr. Georg Kojda Fachpharmakologe DGPT, Fachapotheker für Arzneimittelinformation Institut für Pharmakologie und klinische Pharmakologie Universitätsklinikum, Heinrich-Heine-Universität Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf [email protected] Lektorat: Dr. med. Christian Lange-Asschenfeldt, Leitender Oberarzt Gerontopsychiatrie, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Heinrich-Heine-Universität, Rheinische Kliniken Den Fortbildungsfragebogen zur Erlangung eines Fortbildungspunktes zum Fortbildungstelegramm Pharmazie finden Sie hier*: http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/Kurzportraet.html Es handelt sich um einen Rubrik-Fortbildungsfragebogen, d.h. dieser Fragenbogen enthält Fragen zu mehreren Beiträgen im FORTE-PHARM Titelbild : Universitätsbibliothek New York , Urheber : Photoprof , Lizenz : Fotolia Fortbildungstelegramm Pharmazie 2008;2:74-84 Vareniclin - 76 - Abstract Nicotine, the active principle of tobacco, is a strong inducer of addiction as is heroine and cocaine. Addicition to nicotine develops quickly and even guided attemps to quit smoking are rarely succesful. Only 10 % of smokers remain abstinent without smoking cessation aids. If relapse prevention is supported by drugs such as nicotine and bupropione this rate increases to 20 %. Varenicline is a specific ligand at a subpopulation of central nicotinergic acetylcholine-rezeptors (nAchR), the α4ß2nAchR. These receptors are involved in the development and persistence of nicotine addiciton. Nicotine elicits a longlasting activation of such receptors which results in desensitization and upregulation. Varenicline is a partial agonist which stimulates α4ß2 nAchR and thereby reduces craving. In addition, its high affinity prevents binding of nicotine. This activity reduces the effects of nicotine and helps to prevent a relapse. To date, varenicline is the most effective smoking cessation aid. Clinical trials have shown an approximately 3-fold increase of abstinence rates compared to placebo and about 1,5-fold higher rates compared to bupropion and nicotine. The most frequent side effect occurring in 30 % of users is nausea. Abnormal dreams and constipation are less frequent. In view of the possibility of neuropsychiatric symptoms such as changes in behavior, agitation, depressed mood, suicidal ideation and suicidal behavior, varenicline must be used cautiously and any therapeutic regimen requires active survey and chaperonage by health care professionals. Abstrakt Nicotin, der Hauptinhaltsstoff von Tabak, zählt zu den starken Suchtinduktoren, wie Heroin oder Kokain, d.h. die Sucht entwickelt sich rasch und ist schwer zu therapieren. Bisherige Erfahrungen nach einem Jahr zeigen Erfolgsquoten von etwa 10 % Abstinenz bei kaltem Entzug und etwa 20 % Abstinenz bei pharmakologisch unterstützter Rückfallprävention mit Nicotinpräparaten und Bupropion. Vareniclin ist ein spezifischer Ligand an einer Subpopulation zentral lokalisierter nicotinerger Acetylcholin-Rezeptoren (nAchR), den α4ß2 nAchR. Dieser Rezeptor ist an der Entstehung und Unterhaltung der Nicotinsucht beteiligt. Nicotin bewirkt eine dauerhafte Stimulation, die letztlich in einer Desensibilisierung und Hochregulation der Rezeptoren mündet. Vareniclin ist ein partieller Agonist. Es stimuliert einerseits den α4ß2 nAchR und dämpft dadurch die Entzugserscheinungen. Andererseits verhindert die hohe Affinität die Bindung von Nicotin an α4ß2 nAchR, was die Nicotinwirkungen vermindert und dadurch einem Rückfall entgegenwirkt. Vareniclin ist derzeit die wirksamste pharmakologische Unterstützung der Rückfallprävention nach Rauchstopp. Die klinische Prüfung ergab eine etwa 3-fach bessere Wirksamkeit gegenüber Placebo und eine etwa 1,5fach bessere Wirksamkeit gegenüber Bupropion und Nicotin. Bei ca. 30 % der Behandelten löst Vareniclin milde Übelkeit aus. Abnorme Träume und Obstipation sind seltener. Die Möglichkeit neuropsychiatrischer Nebenwirkungen wie Zunahme aggressiven Verhaltens oder andere Verhaltensveränderungen sowie depressive Verstimmung oder Suizidgedanken erfordern eine vorsichtige Anwendung und eine aktive Begleitung der Therapie durch Arzt und Apotheker. Einleitung Zigaretten sind die am häufigsten konsumierten Suchtmittel überhaupt (Weblinks 1-3). Ihr Dauergebrauch ist vor allem mit einem erhöhten Risiko für Herz- und Gefäßerkrankungen und einem erhöhten Risiko von Bronchialkarzinomen verbunden. Etwa die Hälfte aller Raucher verstirbt vorzeitig an Erkrankungen, die sich auf den Zigarettenkonsum zurückführen lassen. Der Hauptinhalts- und gleichzeitig auch Suchtstoff des Tabaks, das Nicotin, induziert bei Dauergebrauch u.a. enzephalografisch nachweisbare Veränderungen der Hirnaktivität (1). Daran beteiligt sind wesentliche Bestandteile des Belohnungssystems. Das Belohnungssystem wird u.a. durch Stimulation nicotinerger Rezeptoren im ventralen Tegmentum angeregt (Abb. 1). Die dadurch erhöhte Feuerungsrate der Neuronen führt zu einer Fortbildungstelegramm Pharmazie 2008;2:74-84 Vareniclin - 77 - Abb. 1: Hirnregionen (grün), die durch Nicotin beeinflusst werden. Nicotin stimuliert wesentliche Bestandteile des Belonungssystems (Abb. nach Weblink 4). tor-down-Regulation“. So ist bekannt, dass der dauerhaft erhöhte Sympathikustonus bei Herzinsuffizienz zu einer Herunterregulation von ß1-Adrenozeptoren führt (2). Eine ähnliche Herunterregulation von ß2-Adrenozeptoren hat sich nach Dauertherapie mit ß2Adrenozeptor-Agonisten wie Fenoterol zeigen lassen (2). Im Fall von Nicotin ist dies anders (Abb. 2-3). So konnte in mehreren Untersuchungen an Tier und Mensch gezeigt werden, dass die pulsatile Dauerexposition mit Nicotin, beispielsweise durch Rauchen, die Dichte nicotinerger Rezeptoren nicht reduziert sondern deutlich erhöht (3). vermehrten Freisetzung von Dopamin im Nucleus accumbens und zu entsprechenden Projektionen in den präfrontalen Cortex und das limbische System. Darüber hinaus kommt es auch zur vermehrten Freisetzung von Katecholaminen und einer Toleranzentwicklung. Vor allem die zu Beginn oft als positiv erlebten zentralnervösen Effekte von Nicotin lassen bei Dauergebrauch rasch nach. Daran beteiligt ist eine Veränderung der Dichte und der Sensitivität der zentralen Rezeptoren für Nicotin. Placebo Nicotin Abb. 3: Durch Autoradiographie nachweisbare Hochregulation nicotinerger Rezeptoren im präfrontalen cerebralen Cortex bei Rauchern und Nichtrauchern. Je dunkler die Färbung, umso höher ist die Rezeptorendichte (Abb. nach (3)). Abb. 2: Tierexperimentell nachweisbare Hochregulation nicotinerger Rezeptoren in verschiedenen Schichten im Gehirn nach oraler Gabe von Nicotin. Je heller (gelber) die Färbung, umso höher ist die Rezeptorendichte (Abb. nach Weblink 4). In vielen Geweben bewirkt die Dauerstimulation von Rezeptoren eine Verminderung von deren Dichte, also eine „Rezep- Diese Hochregulation nicotinerger Rezeptoren erscheint auf den ersten Blick paradox. Es ist jedoch bekannt, dass die Dauerstimulation durch Nicotin durch seine hohe intrinsische Aktivität und, verglichen mit Acetylcholin, lange Wirkdauer ebenfalls zu einer Desensibilisierung nicotinerger Rezeptoren führt (4). Dies lässt vermuten, dass die Hochregulation nicotinerger Rezeptoren eine Kompensation für die Desensibilisierung darstellt. Insgesamt steigen durch die zentral erregenden Effekte von Nicotin auch bei Fortbildungstelegramm Pharmazie 2008;2:74-84 Vareniclin - 78 - Nicotinabhängigkeit die Aufmerksamkeit und die Konzentrationsfähigkeit an. Die genannten Wirkungen sind jedoch auch verantwortlich für das rasche Auftreten und die Unterhaltung einer Sucht, die sowohl durch eine physische als auch durch eine psychische Abhängigkeit gekennzeichnet ist. Während die physische Abhängigkeit schnell überwunden werden kann, führt die psychische Abhängigkeit auch noch nach monatelangem Rauchstopp zum Rückfall. Vereinfacht dargestellt führt Nicotinabusus also zu einer profunden Desensibilisierung des Belohnungssystems. Die endogene Stimulation von Neuronen des ventralen Tegmentums durch Acetylcholin reicht dann nicht mehr aus, das System normal zu aktivieren. Als Folge treten Entzugserscheinungen auf, die auf der verminderten Freisetzung von Dopamin im Nucleus accumbens beruhen. Hierzu zählen auch das „Craving“ (Verlangen, auch Suchtdruck), Stimmungsschwankungen, Agressivität, Nervosität und depressive Episoden (Abb. 4). gem Rauchen eintritt. Ob hieran die veränderte Dichte und Empfindlichkeit nictoninerger Rezeptoren im Gehirn beteiligt sind ist nicht bekannt. Es ist auch nicht bekannt, ob sich die in Abb. 2-3 dargestellten Veränderungen nach chronischem Nicotinabusus durch Rauchstopp wieder zurückbilden. Nicotinerge Acetylcholinrezeptoren Grundsätzlich sind nicotinerge Acetylcholinrezeptoren (nAchR) ligandengesteuerte Ionenkanäle, die aus je 5 Untereinheiten bestehen. Die Diversität der Untereinheiten und die unterschiedliche Zusammensetzung zu einem funktionellen Rezeptor führt zu einer Vielfalt verschiedener nAchR (Tab. 1). Nicotinerge Acetylcholinrezeptoren Typ NN Gewebe/ Untereinheiten Vegetative Ganglien/ α3ß4 NM Neuromuskuläre Endplatte/ α1ß1γδ NZNS Zentrales Nervensystem α2-10, ß1-4 Tab. 1: Übersicht zu den verschiedenen Formen nicotinerger Acetylcholinrezeptoren (nAchR). Abb. 4: Schematische Darstellung der Verarmung von Dopamin im Nucleus accumbens, die durch die Desensibilisierung nicotinerger Acetylcholin-Rezeptoren im ventralen Tegmentum zustande kommt und wesentlich für das „Craving“ (Verlangen, auch Suchtdruck) verantwortlich ist (Abb. nach Weblink 4). Grundsätzlich muss davon ausgegangen werden, dass neuronale Mechanismen existieren, die eine Art Gedächtnis für die Nicotinwirkung darstellen, denn selbst nach längerem Rauchstopp erfährt ein ehemaliger Raucher die typische Belohnungsreaktion, während diese bei einem Nichtraucher erst nach mehrmali- Wie in Abb. 5 dargestellt, sind am α4ß2 nAchR die Bindungsdomänen für Acetylcholin an den Nahtstellen zwischen den Untereinheiten α4 und ß2 lokalisiert (5). Auch wenn die Stöchiometrie der Untereinheiten nicht letztlich geklärt ist, wird davon ausgegangen, dass der native Rezeptor aus zwei α4- und drei ß2Untereinheiten besteht und somit auch als (α4)2(ß2)3-nAchR bezeichnet wird (6). Dennoch konnte unter bestimmten Bedingungen auch die Existenz eines (α4)3(ß2)2-nAchR gezeigt werden. Allerdings ist bei dieser Zusammensetzung der Untereinheiten die Sensitivität gegenüber Acetylcholin vermindert und die Leitfähigkeit von Ca++ erhöht (6). Die Bindung von Acetylcholin und/oder Nicotin führt zu einer Konformationsänderung des (α4)2(ß2)3-nAchR mit konse- Fortbildungstelegramm Pharmazie 2008;2:74-84 Vareniclin - 79 - kutiver starker Erhöhung der Leitfähigkeit für Na+ und Ca++. Ingesamt wurde über ein Na+/Ca++-Verhältnis von 0,51,0 berichtet (5). Durch den Einstrom der Kationen durch die Zellmembran der Neuronen kommt es hauptsächlich zu einer Depolarisation der Membran, einer vermehrten Freisetzung von anderen Neurotransmittern sowie zur Steuerung der Expression neuronal wichtiger Proteine. Neben der direkten Leitfähigkeit für Ca++ durch den α4ß2 nAchR wird dieses Kation auch durch spannungsabhängige Ca++-Kanäle, die durch die Depolarisation nach Stimulation durch Acetylcholin aktiviert werden, in das Neuron geleitet. Welcher der jeweiligen Effekt im Vordergrund steht hängt auch von der Lokalisation innerhalb des neuronalen Netzwerkes ab. (Tab. 2). Dabei spielt der α4ß2 nAchR auch für die Entstehung und Unterhaltung einer Nicotinabhängigkeit eine wichtige Rolle (5,7). So ist dieser Rezeptor bei Nicotinabhängigkeit deutlich hochreguliert (Abb. 2-3) (6). Erkrankungen mit Beteiligung α4ß2-nicotinerger Acetylcholinrezeptoren Lokalisation Erkrankung Frontaler Cortex, Hippocamus Epilepsie Cortex, Hippocamus Morbus Alzheimer Hippocamus Schizophrenie, Angstpsychosen Thalamus, RapheKern, Rückenmark Schmerz Ventrales Tegmentum, Nucleus accumbens Nicotinabhängigkeit Substantia nigra, Corpus striatum Morbus Parkinson Tab. 2: Übersicht zur Beteiligung des α4ß2 nAchR an Erkrankungen des zentralen Nervensystems (nach (5)). Abb. 5: Schematische Darstellung des nicotinergen heteropentameren α4ß2 Acetylcholin-Rezeptors. Gezeigt sind die heteropentamere Struktur sowie die Aktivierung durch gleichzeitige Besetzung beider Bindestellen bei Anwesenheit von Nicotin. Nicht dargestellt ist die Leitfähigkeit für Ca++. Der α4ß2 nAchR kann 1) postsynaptisch (induziert bzw. verstärkt Feuerung des Neurons) 2) präsynaptisch (moduliert Freisetzung von Neurotransmittern, auch als Autorezeptor) 3) präterminal (moduliert Reizleitung und Feuerungsrate) lokalisiert sein, kommt in sehr vielen verschiedenen Strukturen des Gehirns vor und ist auch an der Entstehung und Unterhaltung von Erkrankungen beteiligt Wirkungsmechanismus Vareniclin ist ein spezifischer Ligand an einer Subpopulation nicotinerger Acetylcholin-Rezeptoren (nAchR), den α4ß2 nAchR. Vareniclin verhält sich dabei als partieller Agonist. Wie in Abb. 6 dargestellt, ist der partielle Agonismus gekennzeichnet durch eine Begrenzung der intrinsischen Aktivität, d.h. der Fähigkeit den Rezeptor zu stimulieren. Dies bedeutet, dass Vareniclin zwar mit hoher Affinität an den α4ß2 nAchR bindet, aber nur einen Teil der Wirkung auslösen kann, die ein voller Agonist auslösen würde. Verfügt der partielle Agonist über eine hohe Affinität, kann er auch nicht so leicht aus seiner Bindung verdrängt werden. Auf diese Weise wird verhindert, dass ein voller Agonist, wie beispielswei- Fortbildungstelegramm Pharmazie 2008;2:74-84 Vareniclin - 80 - se Nicotin, an den Rezeptor bindet und seine Wirkung entfaltet. Insofern kann ein Partialagonist auch als Antagonist wirken. Andererseits kann Vareniclin die Wirkung von Nicotin deutlich abschwächen, bzw. in Gegenwart von Vareniclin lässt sich im Tierexperiment kein zusätzlicher Effekt von Nicotin auf die Freisetzung von Dopamin nachweisen. Dies bedeutet, dass Vareniclin einen Teil der Wirkungsstärke von Nicotin erreicht und auf diese Weise die Entzugserscheinungen dämpfen kann. Bei gleichzeitigem Rauchen kann das Nicotin jedoch nun nicht mehr an die bereits von Vareniclin besetzten α4ß2Rezeptoren binden und damit auch seine Wirkung nicht mehr entfalten. Dadurch werden die positiv erlebten Effekte des Rauchens unterbunden (7). Pharmakokinetik Abb. 6: Unterschied zwischen vollen Agonisten wie Acetylcholin und Nicotin und dem Partialagonisten Vareniclin. Infolge des partiellen Agonismus sind die Effekte von Vareniclin biphasisch und abhängig von der Konzentration des Liganden Nicotin. Im Allgemeinen wirken partielle Agonisten trotz hoher Affinität nur mäßig agonistisch. Wie in Abb. 7 dargestellt, wird mit Vareniclin eine geringere Stimulation der Freisetzung von Dopamin im Nucleus accumbens erreicht als mit Nicotin. Vareniclin wird nach oraler Gabe praktisch vollständig resorbiert und erreicht nach 3-4 Stunden maximale Plasmakonzentrationen. Nahrungsaufnahme oder Tageszeit beeinflussen dies nicht. Nach ca. 4 Tagen ist ein „Steady-state“ erreicht. Die Plasmaproteinbindung liegt bei < 20 %. Vareniclin zeigt bei einem Verteilungsvolumen von ca. 415 l eine Penetration in die Gewebe einschließlich Gehirn. Vareniclin wird nur geringfügig metabolisiert und zu 92 % unverändert renal eliminiert. Neben der glomerulären Filtration spielt auch die aktive Sekretion über den organischen Kationentransporter OCT2 eine Rolle. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt etwa 24 Stunden (gesamter Abschnitt nach (8)). Klinische Wirksamkeit Abb. 7: Tierexperimenteller Nachweis des partialagonistischen Wirkprinzips von Vareniclin, welches zwar weniger stark wirksam ist als Nicotin, jedoch die Wirkung von Nicotin deutlich reduziert (nach (7)). Vareniclin ist in mehreren randomisierten doppelblinden Studien gegen Placebo und gegen Bupropion klinisch geprüft worden. Zwei dreiarmige Studien verglichen je 3 Monate Behandlung mit Vareniclin, Bupropion und Placebo (n=1483 und 1413, Auswertung nach 9-12 und 952 Wochen) (9,10) und eine Studie zur Erhaltungstherapie über 24 Wochen gegen Placebo (n=2416) (11). In den beiden Studien, die Vareniclin mit Bupropion und Placebo verglichen, zeigten sich für alle untersuchten Zeitpunkte signifikant höhere Abstinenzraten gegenüber Placebo. Die entsprechenden Fortbildungstelegramm Pharmazie 2008;2:74-84 Vareniclin - 81 - Odds-Ratios zeigen allerdings, dass der Effekt mit zunehmender Studiendauer geringer wird. Während Vareniclin nach 9-12 Wochen noch 3,85-fach besser wirksam war als Placebo, zeigte die kumulative Auswertung nach 13-24 Wochen eine 2,47-fach und nach 13-52 Wochen eine 1,35-fach bessere Wirkung gegen Placebo (Weblink 5). Dieses Phänomen läßt sich bei jeder Studie zur pharmakologischen Rückfallprävention bei Rauchstopp beobachten. Wie in Abb. 8 mittels prozentualer Abstinenzraten dargestellt, gilt dies auch für die Behandlung mit Bupropion und die Placebogruppe. Die Daten beruhen auf einer „intention-to-treat“-Analyse, d.h. jeder einmal randomisierte Studienteilnehmer wurde in die Auswertung aufgenommen, ob er die Therapie nun erhalten hatte oder nicht. Abb. 8: Kumulative Abstinenzraten in den klinischen Prüfungen von Vareniclin (A: nach (9), B: nach (10), *Abstinenz bestätigt durch Atemluft-Kohlenmonoxid, † zusätzlich telefonische Rückfrage) Auch der Vergleich mit Bupropion ergibt eine Überlegenheit für Vareniclin. Die kumulativen Abstinenzraten zeigten nach 9-12 Wochen eine 1,92-fach und nach 952 Wochen eine 1,46-1,77-fach bessere Wirksamkeit als Bupropion (Weblink 5). Folgt die Analyse dem Verlauf der Therapie, so zeigt sich nach 24 Wochen eine signifikante Überlegenheit von Vareniclin gegenüber Bupropion, während der Unterschied zum Zeitpunkt 52 Wochen zwar numerisch erhalten bleibt jedoch das Signifikanzniveau nicht mehr erreicht (9,10). In einer weiteren Studie wurde untersucht, ob sich die Abstinenzraten gegenüber Placebo erhöhen, wenn die ursprüngliche 3-monatige Behandlungsphase um weitere 3 Monate verlängert wird (11). Hierzu erhielten in einer offenen Phase 1.927 Patienten Vareniclin. Diejenigen, die nach 12 Wochen abstinent waren (n=1236, 64,1 %) wurden dann randomisiert einer Placebo- und einer Vareniclin-Gruppe zugeteilt und für weitere 28 Wochen nachbeobachtet. Es fällt auf, dass in dieser Studie deutlich mehr Patienten die offene VareniclinBehandlung abbrachen (37,2 %) als in den beiden kontrollierten doppelblinden Studien die verblindete VareniclinBehandlung (24,1 % in (10), 25,8 % in (9)). Der größte Anteil der Studienabbrecher gab Nebenwirkungen an (27.9 %), während dieser Grund zum Studienabbruch in den 3-Monatsstudien von 15,5 % (9) bzw. 16,9 % (10) der Studienabbrecher genannt wurde. Als Ergebnis der Studie zeigte sich eine signifikante Verbesserung der Abstinenzrate in der Vareniclingruppe. Dabei zeigte die kumulative Auswertung der Abstinenzraten in den Wochen 13-52, dass Vareniclin 1,34-fach besser wirksam war als Placebo. Dies entspricht nahezu dem Ergebnis, welches auch nach alleiniger 3monatiger Therapie erzielt wurde, weshalb eine Verlängerung der Therapiedauer auf 6 Monate wenig sinnvoll erscheint. Schließlich ergab eine nicht publizierte Meta-Analyse des Herstellers im Rahmen eines indirekten Vergleichs eine signifikante Überlegenheit von Vareniclin gegenüber der Nicotintherapie (Weblink 5), d.h. dass Vareniclin nach 12 Wochen 1,78-fach und nach 52 Wochen 1,66fach besser wirksam ist als Nicotin. Die Fortbildungstelegramm Pharmazie 2008;2:74-84 Vareniclin - 82 - Autoren des NICE-Appraisals weisen nach eigenen Analysen jedoch darauf hin, dass der Vareniclineffect möglicherweise überschätzt wurde und geben ein Odds-Ratio von 1,54 an (Weblink 5). Insgesamt ergibt die Analyse aller Studiendaten, dass Vareniclin die wirksamste pharmakologische Unterstützung der Rückfallprävention nach Rauchstopp ist, die derzeit zur Verfügung steht (Weblink 5). Auch eine Analyse der Cochrane Collaboration von 2007 kommt zu dem Schluss, dass Vareniclin etwa 3-fach häufiger zu einer langfristigen Abstinenz führt als Placebo (12). Es wird jedoch angemerkt, dass die bisherigen Ergebnisse durch unabhängige Studien überprüft werden sollten, und das ein prospektiver, randomisierter Vergleich mit Nicotin bislang fehlt. Demgegenüber kommt das arznei-telegramm® zu dem Schluss, dass wegen des dürftigen Nutzens und der potentiell lebensbedrohlichen Risiken von der Anwendung von Vareniclin abzuraten ist (Weblink 6). ten und Keyborders der Musikgruppe “Edie Brickell & the New Bohemians”, Jeffrey Carter Albrecht, der sich das Rauchen abgewöhnen wollte und seit einiger Zeit Vareniclin einnahm. In der Nacht vom 4.09.2007 hat sich der Musiker in betrunkenem Zustand sehr aggressiv gegenüber seiner Freundin verhalten und sie wiederholt mit Schlägen und Tritten misshandelt. Der Freundin gelingt es vorne aus dem Haus zu flüchten, über die Hintertür wieder hineinzukommen und ihn auszusperren. Nach lautstarken aber erfolglosen Versuchen wieder hineinzukommen, beginnt er an der Hintertür des Nachbarn zu randalieren. Der verständlicherweise alarmierte Nachbar gibt nach Warnungen einen Warnschuss durch die geschlossene Tür ab und trifft Jeffrey Carter Albrecht versehentlich tödlich im Kopf. Unerwünschte Wirkungen von Vareniclin Art Sicherheit und Verträglichkeit Die häufigste Nebenwirkung von Vareniclin ist Übelkeit (Tab. 3). Sie betrifft vor Placebobereinigung, was der Behandlungssituation in der ambulanten Versorgung am nächsten kommt, knapp ein Drittel aller Behandelten. In den meisten Fällen wurde die Übelkeit von den Betroffenen als geringgradig eingeschätzt (72 % der Fälle, (10)). Übelkeit von mittlerer (23 %) oder schwerer Intensität (5 %) waren deutlich seltener (10). In ähnlicher Weise schätzen auch Gonzales et al. die durch Vareniclin induzierte Übelkeit ein (9). Weiterhin wird in beiden Studien übereinstimmend beschrieben, dass die Übelkeit mit der Zeit nachlässt und nur wenige Patienten (2,3-2,6 %) die Studien wegen dieser Nebenwirkung abbrachen. Ein ähnliches Ergebnis zeigt auch die Studie zur 6-monatigen Therapie mit Vareniclin (11). Unter Vareniclin können auch neuropsychiatrische Symptome auftreten, die Anlass zur Sorge geben und für Aufsehen gesorgt haben. Auslöser der intensiven Diskussion zu diesen Nebenwirkungen war ein kurioser Fall in den USA. Es handelt sich dabei um den Tod des Gitarris- Verum Placebo 28,8 % 9,1 % Mundtrockenheit 6,2 % 4,4 % Flatulenz 5,8 % 2,7 % Obstipation 7,2% 2,7 % Schlaflosigkeit 14,2 % 12,6 % Abnorme Träume 11,7 % 4,5 % Schlafstörungen 5,2 % 3,2 % 14,2 % 12,4 % 6,2 % 6,5 % Übelkeit Kopfschmerz Schwindel Tab. 3: Übersicht zu den verschiedenen Nebenwirkungen von Vareniclin. Die angegebenen Zahlen geben jeweils den Mittelwert der Angaben aus den beiden 3-armigen randomisierten klinischen Studien wieder (nach (9,10)). Ausgehend von diesem Fall wurden weitere Fälle neuropsychiatrischer Störungen gemeldet. Insbesondere werden Suizide mit der Einnahme von Vareniclin in Verbindung gebracht. Die U.S. Food and Drug Administration hat Fortbildungstelegramm Pharmazie 2008;2:74-84 Vareniclin - 83 - daher eine Erweiterung der offiziellen Arzneimittelbeschreibung (in Deutschland die Fachinformation) erwirkt (Weblink 7). Darin wird darauf hingewiesen, dass 1) Vareniclin schwerwiegende neuropsychatrische Störungen auslösen könnte 2) solche Störungen durch Veränderungen bei Rauchstopp verstärkt werden könnten, und 3) bestehende psychatrische Erkrankungen wie Schizophrenie oder Depressionen verstärkt werden könnten. Ähnliche Änderungen sind auch für Europa geplant. Es ist daher unerlässlich Patienten und am besten auch deren nächste Angehörige vor der Einnahme von Vareniclin auf die Möglichkeit psychopathologischer Nebenwirkungen wie Zunahme aggressiven Verhaltens (Gereiztheit) oder andere Verhaltensveränderungen sowie depressive Verstimmung oder Suizidgedanken hinzuweisen. Wichtig dabei erscheint, dass diese Effekte durch den Rauchstopp, der üblicherweise 1-2 Woche nach erstmaliger Einnahme erfolgt, verstärkt werden könnten. Es erscheint daher ebenfalls erforderlich, dass Ärzte und Apotheker die Patienten, die Vareniclin einnehmen, nicht nur informieren, sondern auch in besonderem Maße für eine Beratung zur Verfügung stehen. Idealerweise sollte diese Bereitschaft bereits bei der Erstverordnung bzw. – abgabe signalisiert werden. Kontraindikationen Vareniclin ist kontraindiziert, wenn eine Überempfindlichkeit gegen den Wirkstoff oder einen der sonstigen Arzneimittelbestandteile vorliegt. Weiterhin weisen tierexperimentelle Ergebnisse auf reproduktionstoxische Wirkungen hin, weshalb Vareniclin nicht in der Schwangerschaft verwendet werden sollte. Es ist nicht bekannt, ob Vareniclin in die Muttermilch übergeht. Eine Anwendung in der Stillzeit sollte daher aus Sicht des Autors nicht erfolgen. Fazit Vareniclin erzielt bessere Abstinenzquoten als Placebo, Bupropion und Nicotintherapie. Wegen bislang nicht abschließend geklärter Risiken durch selten vorkommende psychiatrische Störungen sollte es nur bei gleichzeitiger Betreuung durch Heilberufler (z.B. Ärzte, Apotheker, Psychologen) eingesetzt werden. Wichtig erscheint die Einhaltung der Therapiedauer von 12 Wochen. Häufigste Nebenwirkungen sind Übelkeit, Schlafstörungen und abnorme Träume. Deklaration möglicher Interessenkonflikte: Der Autor deklariert im Jahre 2007 ein genehmigtes Beraterhonorar von Pfizer Deutschland erhalten zu haben. Hinweise: Eine Übersicht zur den Möglichkeiten der pharmakologischen Rückfallprävention bei Rauchstopp mit dem Titel „Beratung zur Raucherentwöhnung in Apotheken“ finden Sie unter folgendem Link http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/SerieApothekenpraxis.html Fortbildungstelegramm Pharmazie 2008;2:74-84 Vareniclin - 84 - Weiterführende Weblinks 1) http://www.dkfz.de, Internetseite des Deutschen Krebsforschungszentrums, 2) http://www.rauchfrei2006.de/ Internetseite zur Aktion „Rauchfrei 2006. 3) http://www.akdae.de/35/index.html, Internetseite der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Bereich Therapieempfehlungen, Tabakabhängigkeit, 1. Auflage 2001 4) http://www.thebrain.mcgill.ca, Internetseite des Kanadischen Instituts für Neurowissenschaften, mentale Gesundheit und Abhängigkeit sowie des Kanadischen Institutes für Gesundheitsforschung mit vielen Illustrationen zum Thema, die sowohl für Anfänger, als auch für fortgeschrittene und professionelle Nutzer angelegt sind. Dargestellt werden die einzelnen Unterthemen auf molekularer, zellulärer, neurologischer, psychologischer und sozialer Ebene (englischsprachig) 5) http://www.nice.org.uk/nicemedia/pdf/FinalAppraisalDetermination.pdf, Beurteilung von Vareniclin durch das National Institute for Health and Clinical Excellence, „NICE - Final appraisal determination – Varenicline for smoking cessation“ (englischsprachig) 6) http://www.arznei-telegramm.de, Internetseite des arznei-telegramm®: arznei-telegramm® Arzneimitteldatenbank 7) http://www.fda.gov/cder/drug/InfoSheets/HCP/vareniclineHCP.htm , eine Internetseite der U.S. Food and Drug Administration (FDA) mit Informationen zu Vareniclin für Heilberufler (englischsprachig) Literatur 1. Kojda G, D Hafner, M Behne, M Wilhelm: Pharmakologie Toxikologie Systematisch. Bremen, London, Boston, UNI-MED AG, 2002, pp 1-987 2. Dzimiri N. Regulation of beta-adrenoceptor signaling in cardiac function and disease. Pharmacol Rev 1999;51:465501. 3. Perry DC, Davila-Garcia MI, Stockmeier CA, Kellar KJ. Increased nicotinic receptors in brains from smokers: membrane binding and autoradiography studies. J Pharmacol Exp Ther 1999;289:1545-1552. 4. Hulihan-Giblin BA, Lumpkin MD, Kellar KJ. Effects of chronic administration of nicotine on prolactin release in the rat: inactivation of prolactin response by repeated injections of nicotine. J Pharmacol Exp Ther 1990;252:21-25. 5. Jensen AA, Frolund B, Liljefors T, Krogsgaard-Larsen P. Neuronal nicotinic acetylcholine receptors: structural revelations, target identifications, and therapeutic inspirations. J Med Chem 2005;48:4705-4745. 6. Gotti C, Moretti M, Gaimarri A, Zanardi A, Clementi F, Zoli M. Heterogeneity and complexity of native brain nicotinic receptors. Biochem Pharmacol 2007;74:1102-1111. 7. Coe JW, Brooks PR, Vetelino MG, Wirtz MC, Arnold EP, Huang J, Sands SB, Davis TI, Lebel LA, Fox CB, Shrikhande A, Heym JH, Schaeffer E, Rollema H, Lu Y, Mansbach RS, Chambers LK, Rovetti CC, Schulz DW, Tingley FD, III, O'Neill BT. Varenicline: an alpha4beta2 nicotinic receptor partial agonist for smoking cessation. J Med Chem 2005;48:3474-3477. 8. Pfizer Pharma GmbH. ChampixR. Fachinformation 2008; 9. Gonzales D, Rennard SI, Nides M, Oncken C, Azoulay S, Billing CB, Watsky EJ, Gong J, Williams KE, Reeves KR. Varenicline, an alpha4beta2 nicotinic acetylcholine receptor partial agonist, vs sustained-release bupropion and placebo for smoking cessation: a randomized controlled trial. JAMA 2006;296:47-55. 10. Jorenby DE, Hays JT, Rigotti NA, Azoulay S, Watsky EJ, Williams KE, Billing CB, Gong J, Reeves KR. Efficacy of varenicline, an alpha4beta2 nicotinic acetylcholine receptor partial agonist, vs placebo or sustainedrelease bupropion for smoking cessation: a randomized controlled trial. 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