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„Die soziale Erneuerung des Christentums“.
Die Herausforderung Friedrich Siegmund-Schultzes
im Kontext seiner Zeit1
von Wolfgang Grünberg
Im Wintersemester 1899/1900 hielt an der Berliner Universität Adolf von Harnack,
der in Berlin und darüber hinaus mit Sicherheit bekannteste Theologe, vom Fach
Kirchenhistoriker, der im Nebenamt auch noch Direktor der Staatsbibliothek und
Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war, vor einem großen Auditorium von
etwa 600 Studierenden aller Fakultäten 16 historisch angelegte Vorlesungen über
„Das Wesen des Christentums“. Diese Vorlesungen waren das akademische Ereignis
Berlins in dieser Zeit. Es ging um eine Bilanz an der Epochenschwelle. Auch als
Buch wurde diese Darstellung des „Wesens des Christentums“ ein Erfolg, der auch
nach über 100 Jahren noch anhält.2
In seinen letzten Vorlesungen – wohl Anfang 1900 – kommt Harnack auf den Protestantismus der Gegenwart zu sprechen. Darin heißt es zusammenfassend:
Der „Protestantismus hat im Gegensatz zum Katholizismus die Innerlichkeit der Religion und das ‚sola fide‘ ausschließlich betonen müssen; aber eine Lehre in scharfem
Gegensatz zu einer anderen zu formulieren ist immer gefährlich. [...] Das Wort: ‚Liebet ihr mich, so haltet meine Gebote‘ trat ungebührlich zurück. [...] Aber die Religion
ist nicht nur Gesinnung, sondern Gesinnung und That, Glaube, der in der Heiligung
und in der Liebe thätig ist: das müssen die evangelischen Christen noch viel sicherer
lernen, um nicht beschämt zu werden […]“3
Voraus in die Zukunft blickend, sagt Harnack:
Es „hat sich durch den Gang, den die Geschichte genommen hat, ein weites Gebiet
aufgethan, auf welchem sich der christliche Brudersinn noch ganz anders bewähren
muß, als er es in den früheren Jahrhunderten erkannt und vermocht hat – das soziale
[Gebiet]. Hier liegt eine gewaltige Aufgabe, und in dem Maße, als wir sie erfüllen,
werden wir die tiefste Frage, die Frage nach dem Sinn des Lebens, freudiger beantworten können.
1
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3
Friedrich Siegmund-Schultze, „Die soziale Erneuerung des Christentums und die Einheit der Kirche“
(1918), in: ders., Friedenskirche, Kaffeeklappe und die ökumenische Vision. Texte 1910–1969, hgg.
von Wolfgang Grünberg u.a., München 1990, 23-43.
Vgl. Trutz Rendtorff (Hg.), Adolf von Harnack, Gütersloh 1999. A.v. Harnack knüpft damit bewusst
an die programmatische Schrift F.D.E. Schleiermachers: Über die Religion. Reden an die Gebildeten
unter ihren Verächtern (1799) an und versucht sie zeitgemäß in seiner Weise zu überbieten. Vgl.
auch die Wirkungsgeschichte des Titels im Judentum bei Eschelbacher und Leo Baeck, aber auch
bei Bultmann und Ebeling.
Rendtorff, Harnack, a.a.O., 253.
14
Wolfgang Grünberg
Meine Herren! Die Religion, nämlich die Gottes- und Nächstenliebe ist es, die dem
Leben einen Sinn gibt; die Wissenschaft vermag das nicht [...] Wenn wir dann auf den
Gang der Geschichte der Menschheit blicken, ihre aufwärts sich bewegende Entwicklung verfolgen [...] so werden wir Gottes gewiß werden, des Gottes, den Jesus Christus seinen Vater genannt hat und der auch unser Vater ist.“4
18 Jahre später, an der Wende der Krisenjahre 1918/1919 hält der junge, 33jährige,
weit weniger bekannte Lizentiat der Theologie und damalige Vorsitzende der deutschen Zentrale für Jugendfürsorge und Inhaber anderer Ämter, Friedrich SiegmundSchultze, zwei zündende Vorträge, einen in Uppsala mit dem Titel: „Die soziale Erneuerung des Christentums und die Einheit der Kirche“ und zwei Monate danach im
Frühjahr 1919 an der Berliner Universität einen weiteren zum Thema: „Sozialismus
und Christentum“.5 Diese beiden Vorträge hängen in der Sache und auch biographisch bei Friedrich Siegmund-Schultze eng zusammen.
Beide Vorträge sind programmatisch. Sie sind typisch für Friedrich SiegmundSchultze und zeigen im Vergleich mit den erwähnten Vorlesungen Adolf von Harnacks über das „Wesen des Christentums“, mit welch einer kritischen und konstruktiven Klarsicht im Blick auf die damalige Gegenwart und mit welch einem langen
Atem im Blick auf die Zukunft hier ein aufgehender Stern am Himmel Berlins am
Werke war, ein Stern, den leider viele damals nicht wahrgenommen haben.
Adolf von Harnack sah die Defizite des preußischen Staatskirchentums, die damit
einhergehende Zähmung und politische Funktionalisierung der jesuanischen Bewegung und des frühen Christentums und das Defizit in sozialen Belangen durchaus
ähnlich wie 18 Jahre später Friedrich Siegmund-Schultze. Gleichwohl sprach Harnack noch im Pathos eines Geschichts- und Wissenschaftsoptimismus der wilhelminischen Ära. Harnack meinte für das 20. Jahrhundert von einer „aufwärts sich bewegenden Entwicklung“ im „Gange der Geschichte“ ausgehen zu können. Harnacks optimistischer Blick eines deutsch und patriotisch orientierten Kulturprotestantismus
war zeittypisch. Sie wurde auch von Ernst Troeltsch, Reinhold Seeberg, Wilhelm
Herrmann und vielen mehr geteilt.6 Wie anders die Stimmung 1918/1919. Es war die
Zeit der Krise, der Krisis, der Unterscheidungen: Versailles, Revolution 1918,
Dolchstoßlegende, Abdankung des Kaisers usw.; Karl Barth veröffentlichte die erste
Auflage seines berühmten Römerbriefkommentars.7 In diese brisante Stimmung hinein
spricht Friedrich Siegmund-Schultze. Auch er natürlich Patriot, auch er von Haus aus
kein Demokrat, sondern Monarchist. Aber er verabschiedet sich schon 1911 nicht
nur von der „Potsdamer Luft“, von der Nähe zum Hof – er nennt diese Zeit „Flitterwochen“, die man doch bald beenden müsse und entwindet sich dem beherrschenden
4
5
6
7
Rendtorff, Harnack, a.a.O., 261 f.
Siegmund-Schultze, Friedenskirche, Kaffeklappe und die ökumenische Vision, a.a.O., 339-351.
Vgl. Paul Hinneberg (Hg.), Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, Teil I, Abteilung IV: Die Christliche Religion – mit Einschluss der israelitisch-jüdischen Religion von J.
Wellhausen, A. Jülicher, A. Harnack, N. Bonwetsch, K. Müller, F.X. Funk, E. Troeltsch, J. Pohle, J.
Mausbach, C. Krieg, W. Werrman, R. Seeberg, W. Faber, H.J .Holzmann, Berlin – Leipzig 1906.
Karl Barth, Römerbrief, Bern 11919.
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Einfluss des preußischen Oberkirchenrats in Berlin.8 Der Weggang vom edlen Potsdam hin zum Projekt der „Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost“ war für Friedrich Siegmund-Schultze aber kein Bruch, sondern Konsequenz seines Glaubens und
seiner wachen Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Metropole.
Maxim Gorki hat im mittleren Teil seiner Biographie mit dem Titel: „Meine Universitäten“9 seinen vergeblichen Versuch beschrieben, an eine „richtige“ Universität zu
kommen. Er landet stattdessen, selbst mittellos, im Milieu der armen Schlucker, der
Gelegenheitsdiebe, kurz bei den Elenden und Heruntergekommenen der Stadt. Diese
Menschen nennt er seine eigentlichen „Professoren“ und bezeichnet deren Notunterkünfte, Baracken und Kaschemmen am Hafen als seine „Universität“.
Friedrich Siegmund-Schultze suchte in ähnlichem Sinne eine andere „Universität“ im
Proletariermilieu des Berliner Ostens. Er fand im gemeinsamen Leben und Lernen
mit den Jugendlichen – auch in spiritueller Hinsicht – eine neue Begegnung mit dem
Inkognito des Nazareners, der ihm, gemäß Mt 25,40, in den Hungrigen, den Fremden, den Durstigen, den Elenden und Gefesselten begegnete.
Die älteste Tochter von Friedrich Siegmund-Schultze, Elisabeth Hesse, hat berichtet,
wie ihr Vater in Krisenzeiten durch inbrünstiges, zeitweise auch lautes Beten zu Jesus um seinen inneren und dann auch seinen äußeren Standort rang.10 Er war in solchen Situationen, die ja nur in der Intimität der Familie überhaupt erfahrbar wurden,
sehr erregt. Er gehört zu den Menschen die „erschütterbar“ waren. Er mag auch gezittert haben. Jedenfalls ist auf dieser innersten spirituellen Ebene seiner Persönlichkeit eine Nähe zur Spiritualität der Quäker, der Zitterer erkennbar. Quäker war eine
eigentlich als Spottname gedachte Bezeichnung für die Religiöse Gemeinschaft der
Freunde, die auf George Fox (1624–1691) zurückgeht und von England aus schon
im 17. Jahrhundert auf dem Kontinent Fuß fasste. Englische Quäker waren es auch,
mit denen Friedrich Siegmund-Schultze zeitlebens innerlich und äußerlich verbunden
blieb.
Friedrich Siegmund-Schultze lief den individuellen wie kollektiven „Erschütterungen“ – und das ist mehr als „Betroffenheit“ – nicht davon. Er wollte sie weder rein
rationalistisch oder gar zynisch verarbeiten. Er wollte sie als Botschaft, als message,
verstehen. Er hatte die seltene Gabe und den selten gewordenen Mut, Erschütterungen nicht sofort psychologisch zu neutralisieren, sondern sie als Widerfahrnis ernst
zu nehmen und sie spirituell, rational und politisch durchzuarbeiten. Am Ende dieses
dreifachen Verarbeitens standen dann innere Klarheit und Entschiedenheit nach außen. So war die Grundlage bereitet, dass bei Friedrich Siegmund-Schultze Wort und
Tat zusammenpassten.
Ich beschreibe diesen innersten Bezirk seiner Person versuchsweise mit Kategorien,
die aus der Quäkertradition vertraut sind: Da gibt es die Erfahrung des inneren Lichtes, und dem entspricht nach außen das Christentum der Tat. Wie erschütterbar, aber
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9
10
Elisabeth Hesse, „Der Vater“, in: Siegmund-Schultze, Friedenskirche, Kaffeeklappe und die ökumenische Vision, a.a.O., 394-409.
Maxim Gorki, „Meine Universitäten“, in: ders., Werke in Vier Bänden, hgg. von Eva Kosing und
Edel Mirowa-Florin, Berlin – Weimar 1977, Bd. 4, 5-157.
Hesse, „Der Vater“, a.a.O.
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Wolfgang Grünberg
auch wie entschieden er zeitlebens war, meine ich an zwei Fotos wiederzuerkennen,
die ihn 1918 in Berlin als 33-Jährigen (Abb. 1) und 1964 in Soest als fast 80Jährigen (Abb. 2) zeigen.11
Abb. 1
Abb. 2
11
Beide Abbildungen in: Evangelisches Zentralarchiv in Berlin (EZA), Sign. EZA 500/3520 (Abb. 1),
EZA 500/3521 (Abb. 2).
„Die soziale Erneuerung des Christentums“
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Das Christentum der Tat und das nach langem inneren Ringen aufscheinende innere
Licht bedingen sich gegenseitig. Gelassen und entschieden kann man auf Dauer nur
eine Position vertreten können, die mehr ist als das Ergebnis eines rational abgewogenen Kosten-Nutzenkalküls.
Die Spiritualität der Quäker macht Ernst mit dem Basissatz des christlichen Glaubens: Ich glaube an den Heiligen Geist und die Gemeinschaft der Heiligen. Damit
ist nicht eine fides historica, eine Erinnerung gemeint, sondern ein gegenwärtiges
Ereignis: „Ich glaube“. Friedrich Siegmund-Schultze rechnete mit der erfahrbaren
Präsenz des Göttlichen, freilich sub contrario, wie Theologen sagen, unter der Maske des Gegenteils, will sagen: Im Kreuz Christi, im Elend und in der Schmach des
zum Tode verurteilten Nazareners ist Gott präsent. Hier leidet der Schöpfer an seiner
Welt und in seinen Geschöpfen. Von ähnlichen Kreuzesleiden in der Geschichte geht
in verborgener, aber ahnbarer, nämlich Erschütterungen auslösender Weise, ein
Sturmbraus aus. Das hebräische Ruach, übersetzt: Geist(in) meint den Wind, den
Sturm, das Vorwärtsdrängende, meint etwas, das Veränderungen und Wege aufzeigt.
Wer sich der Erschütterung öffnet und mit dem Geschehen von Kreuz und Auferstehung Christi in Verbindung bringt, vermag ein konkretes, aber zugleich unbedingtes
Nein und ein unbedingtes Ja zu erkennen, eine verborgene Botschaft: Ein unbedingtes, wie von Gott selbst eingegebenes Nein zu Leiden und Gewalt, zu Ungerechtigkeit, Unfrieden und Lebensverachtung – und ein unbedingtes Ja: Die Anerkenntnis
der verletzlichen, aber zugleich unbedingten Würde des Menschen, der Einmaligkeit
seiner Geschöpflichkeit.
Trotz, nein in aller Finsternis und Widrigkeit gibt es die Gabe des inneren Lichts, die
aufscheinende Präsenz des Geistes Gottes – und zwar im Heute – in einer Gegenwart, die auf das mir Begegnende wartet, die nicht flieht, sondern stand hält.12
Scheint so Licht in der Situation auf, so ist dieses Aufscheinen Aufklärung im Ursinn, Enlightenment, Illumination. Solch eine Erfahrung verpflichtet. Friedrich
Siegmund-Schultze hat ihr in Wort und Tat zu entsprechen versucht.
Die „soziale Erneuerung des Christentums“, von der Friedrich Siegmund-Schultze
1918 spricht, ist von dieser Mitte aus als Programm gut entschlüsselbar: Mitten in
der allgemeinen Untergangsstimmung 1918/1919, das zeigt schon die erste Seite des
Vortragsmanuskriptes, erhebt hier ein Mann seine Stimme, die die Krise als Chance,
als Ruf in die Zukunft deutet. Friedrich Siegmund-Schultze resigniert nicht und verwirft alle reaktionären und damals gängigen politischen Träumereien. Hören wir in
den Text hinein:
„Eine gewaltige Umwandlung vollzieht sich in den europäischen Ländern. Äußerlich
im Zerfall alter Reiche, im Niedergang der bisher herrschenden Klassen; innerlich im
Verschwinden alter Geistesmächte, im Zusammenbruch der bisher geltenden Weltanschauungssysteme. Das Christentum ist in den Strudel mit hineingerissen. Stürzt diese
‚konservativste Macht im modernen Geistesleben‘ mit den anderen Mächten?“13
12
13
Vgl. Horst-Eberhard Richter, Flüchten oder Standhalten, Reinbek 1976.
Siegmund-Schultze, Friedenskirche, Kaffeklappe und die ökumenische Vision, a.a.O., 23.
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Wolfgang Grünberg
Ist diese Frage rhetorisch gemeint? Ich glaube das nicht. Denn nach Friedrich Siegmund-Schultze starb 1918 das Christentum als „Macht“ im Bunde mit den „alten
Mächten“, also mit dem preußischen Thron, mit seiner obrigkeitlichen Funktion tatsächlich. Aber schon in diesen ersten Zeilen seines programmatischen Vortrags deutet er die Perspektive an, aus der eine Erneuerung kommen kann. Friedrich Siegmund-Schultze fährt fort:
„Oder sind Kräfte der Erneuerung [der alten Mächte] darin [im Untergang] enthalten,
[Kräfte] die dem Ansturm standhalten, ja den Sturm führen, die Richtung angeben,
das Neue heranbringen?“14
Das sind kühne Sätze. Die Niederlage selbst also als Geburtsort des Neuen? Die
Niederlage der alten Mächte war und ist der einzig möglicher Weg der Erneuerung.
Liest man diese Sätze einmal aus der Perspektive der Spiritualität der Quäker, dann
entschlüsseln sie sich noch tiefer: Die alten Mächte gehen letztendlich an ihrem
Glauben an die eigene Macht zugrunde. Man muss sich nur die national-patriotische
Trunkenheit im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vor Augen führen und man
weiß, was der Glauben an die eigene Übermacht gegenüber den vermeintlich Schwächeren im 20. Jahrhundert und – Gott sei es geklagt – darüber hinaus bis zum Irakkrieg alles anrichtet.
Es gilt zugleich nicht fatalistisch auf die Niederlage zu reagieren, sondern im Prozess
des Niedergehens schon die Kräfte zu identifizieren, die vielleicht, kaum sichtbar,
doch schon das Neue ankündigen, ja die vielleicht dem „Sturm die Richtung geben“
können. Darauf käme es an. Gab es solche Menschen 1918? Friedrich SiegmundSchultze erinnert an die englischen und deutschen Freunde aus den später Krieg führenden Staaten, die in Konstanz am 3. August 1914 als Gebetsgemeinschaft zusammenkamen und sich so gemeinsam gegen das drohende Unheil stemmten. Sie wiesen
schon im allgemeinen Hurra-Patriotismus von 1914 die Richtung! Hier wehte der
Wind der Zukunft, der das Ende nationalstaatlicher Selbstüberhebung vorwegnahm.
Es gibt sie also, die Menschen, die auf die „Salzkraft des Evangeliums“,15 wie Friedrich Siegmund-Schultze auch sagen kann, setzen. Diese Kraft ist überall, also diesseits und jenseits aller Grenzen präsent und wartet nur darauf, gebraucht zu werden.
Wo dies geschieht, erneuert sich die Christenheit in ihrer sozialen Funktion: Sie wird
hellhörig, hellsichtig und kooperationsfähig für und mit den „Anderen“. Eine solche
Sensibilität ebnet darum den Weg zur „Einigung der Christenheit“16. Sind dies
Träumereien? Nein es sind Ziele.
In drei Abschnitten begründet und entfaltet Friedrich Siegmund-Schultze sein Programm zur sozialen Erneuerung des Christentums. Im I. Teil geht es um das Verhältnis von Wort und Tat im Christentum, unter den Bedingungen einer Arbeitsgesellschaft. Im II. Teil geht es um das Verhältnis von Glaube, Liebe und Hoffnung. Der
III. Teil handelt von der Freundschaftsarbeit der Kirchen in Europa, also von der
wachsenden Einheit der Kirche.
14
15
16
Ebd.
Ebd., 24.
Ebd.
„Die soziale Erneuerung des Christentums“
19
Einige Anmerkungen zu den ersten beiden Teilen17:
Mit scharfen Worten geißelt Friedrich Siegmund-Schultze die reformatorische Kirche des Wortes und des Glaubens, die zu einer akademischen Lehrkirche der Wörter
geworden sei. Die seinerzeit berechtigte Kritik gegenüber einer angeblich heilsbringenden Bedeutung frommer Werke habe sich verselbstständigt und das für Jesu Leben typische Zusammenwirken von Wort und Tat, von Predigen und Handeln verdunkelt. Dies mag nach einer binnentheologischen Polemik klingen. Aber der Schein
täuscht. Es geht bei dieser Frage vielmehr auch um den bis heute relevanten Stellenwert von Arbeit in seiner Bedeutung für den Einzelnen und die Gesellschaft.
Von dieser Warte aus gesehen ist es – mitten in der einsetzenden Not des Kriegsendes und der frühen Nachkriegszeit – ausgesprochen mutig, wenn Friedrich Siegmund-Schultze mit guten Gründen vor der Überschätzung der Arbeit als Heilsbringer warnt. Arbeit kann zur Ersatzreligion werden. Friedrich Siegmund-Schultze deutet an, dass gerade auch das Kriegshandwerk in der nationalen Propaganda zum Lebenssinn, zum Heilsbringer, zum Opfer bringenden Mythos hochstilisiert wurde.
Wenn Arbeit, gleich welcher Art, zum einzigen Lebenssinn wird, wird Arbeitslosigkeit oder altersbedingter Ruhestand zur Katastrophe. Sowohl das Produzieren als
auch das Konsumieren von Gütern mag in Grenzen gut und richtig sein – aber als
quasireligiöse Erfüllungen des Lebenssinnes sind beide Formen fatal. Auch Ersatzdrogen können süchtig machen. Zwischen dem Verhalten von „workaholics“ und
dem Verfallensein an Produktions- bzw. Konsumrausch bestehen Strukturanalogien.
Die religiöse Sehnsucht ist dem Menschen eingeschrieben und sie ist unstillbar. Das
ist kein Mangel, sondern Auszeichnung. Das Gegebene zu transzendieren, hat selbst
Teil an der Ahnung des gottgegebenen Grundes und Zieles des Menschen. Seine unbedingte Würde muss nicht erst durch Arbeit erworben oder erarbeitet werden, sondern ist Gottes Mitgift an sein Geschöpf.
Gerade die berechtigte Kritik an einer Überschätzung von Arbeitsleistung als Selbstlegitimierung darf aber nicht in eine Unterschätzung umschlagen, aus der dann die
Entfremdung von Kopf und Hand, von Denken und Reden auf der einen Seite, und
Tun des Notwendigen auf der anderen Seite gefolgert wird. Die Überwindung der
Entfremdung bzw. die Überwindung von Verhältnissen, die Entfremdung zur Folge
haben, zielt ja gerade darauf, dass die Person ihre Einheit von Reden und Handeln,
von Kopf und Hand soweit wie möglich wiedererlangt!
Es gibt Bereiche des Lebens, die – auch unabhängig von Verhältnissen, die nicht einfach verändert werden können – geeignet sind, die Einheit und Einzigkeit der Person
zur Geltung bringen. Friedrich Siegmund-Schultze nennt die Bereiche Sittlichkeit,
Kunst und Religion. Nehmen wir das Beispiel der christlichen Religion.
Die Religion Jesu von Nazareth ist im Kern zusammengefasst im Doppelgebot der
Liebe zu Gott und zum Nächsten. Liebe ist der exemplarische Fall für das Übereinstimmen von Reden und Handeln, von Hören und Lassen, von vita activa und vita
passiva. Eine Religion der Liebe braucht Glaube und Hoffnung. Aber eine Religion
17
Zum III. Teil vgl. den Beitrag von Wolfram Weiße in diesem Band.
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Wolfgang Grünberg
des lediglich korrekten Glaubens an die reine Lehre ist defizitär. Eine Religion der
als Hoffnung verkauften Vertröstung auf irgendwelche späteren innerweltlichen oder
außerweltlichen Erfüllungen wird zum Verrat an der jetzt möglichen Liebe.
Damit ist der Horizont erreicht, vor dem Friedrich Siegmund-Schultze auch das Verhältnis von Christentum und Sozialismus durchdenkt. Wir sahen: Ein verkopfter Protestantismus in staatskirchlicher Funktion geht 1918 zu Recht unter. Friedrich Siegmund-Schultze versteht per definitionem Sozialismus als „die Gedankenwelt und das
System der deutschen Sozialdemokratie“.18 Dieser Sozialismus aber ist ein Sozialismus „ohne Seele“. Der Kampf gegen die Religion ist historisch zwar verständlich,
aber im Blick auf die vorausgesetzte Anthropologie ist auf Dauer problematisch, ja
mehr noch: kontraproduktiv. Der Mensch, gerade der arme Mensch, lebt nicht vom
Brot allein. Der Materialismus des etablierten Sozialismus schwächt sich selbst, indem er relativ autonome Bereiche wie Religion, Sittlichkeit, Bildung und Kunst in
ihren Möglichkeiten und als mögliche Partner unterschätzt. Aber es bleibt dabei: In
seinem Kampf gegen die schreiende Ungerechtigkeit des kapitalistischen Systems
hat der Sozialismus Recht. In geschickter Argumentation, vereint mit einprägsamen
Formeln, sieht Friedrich Siegmund-Schultze den real existierenden Sozialismus der
deutschen Sozialdemokratie eines Kautsky, eines Liebknecht, eines Bebel dabei am
Werke, mit ihrem berechtigten Antiklerikalismus das Kind mit dem Bade auszuschütten, sich also der Hilfe der Religion Jesu, der jüdisch-christlichen Liebesreligion zum eigenen Schaden zu entschlagen.
Ein Sozialismus ohne Seele ist gleichwohl nicht weniger problematisch als ein Protestantismus ohne Leib. Die evangelischen Kirchen sind zu Lehrkirchen geworden
und haben das protestantische Pathos der egalité aller Menschen vor Gott im feudalen landesherrlichen Kirchenregiment strukturell wieder verraten. Eine Religion, in
der es nur darum geht „das richtige im Kopf zu haben, ist ein Kopf ohne Leib, eine
Religion ohne soziale Kraft.“19
Der seelenlose Sozialismus dagegen unterschätzt den Adel der einzelnen Person,
seine Individualität, die auch unter ungünstigsten Verhältnissen Spielräume ihres
Ausdrucksvermögens braucht und nutzt, wie in Sittlichkeit, Kunst und Religion. Ein
leibloser Protestantismus der Einzelnen braucht seine soziale Erneuerung im Geist
des Nazareners und des urchristlichen Sozialismus. Die Krise von 1918/19 ist demnach als Ruf zu werten, dass sich Christentum und Sozialismus beide erneuern und
dies auch können, wenn sie sich aneinander abarbeiten, wenn sie also bereit sind,
von einander zu lernen. Da die obrigkeitliche Lehrkirche in der Arbeiterschaft ihren
Kredit gründlich verloren hat, braucht man neue Arbeiter, Sozialarbeiter im Geiste
der Bergpredigt. Sie sind die Brückenbauer zwischen dem Sozialismus ohne Seele
und dem Christentum ohne Leib. Friedrich Siegmund-Schultze schreibt 1918 in den
Anfang seines programmatischen Aufsatzes zugleich seine Hoffnung hinein. Sind
diese Hoffnung und die von Siegmund-Schultze gestellte Aufgabe überholt?
In der sozialen Zerrüttung, die das Kennzeichen der Zeit ist, in aller ihrer grenzenlosen äußeren und inneren Not, gibt es eine Kraft sozialer Erneuerung; eine Kraft, die
18
19
Siegmund-Schultze, Friedenskirche, Kaffeeklappe und die ökumenische Vision, a.a.O., 340.
Ebd.
„Die soziale Erneuerung des Christentums“
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von den wenigsten genutzt wird und deshalb noch kaum Wirkungen erzielt hat; eine
Kraft, die nicht einmal ihren Inhabern recht bekannt ist. In Wahrheit ruht das Schicksal der Welt in den Händen derer, denen jene Kräfte der Erneuerung gehören. Wenn
nur die Menschen Gottes wagten, das, was ihnen gegeben ist, anzuwenden! Aber wie
soll die Welt neu werden, wenn die Menschen nicht erneuert sind? Die soziale Erneuerung der Menschheit hängt an der sozialen Erneuerung des Christentums.20
20
Die hier vorgetragene Deutung, Friedrich Siegmund-Schultze von der Spiritualität der Quäker aus zu
verstehen, unterscheidet sich deutlich von Stefan Grotefeld, Friedrich Siegmund-Schultze. Ein deutscher Ökumeniker und christlicher Pazifist, Gütersloh 1995. Diese umfassende und hervorragende
Dissertation untersucht in erster Linie die Schweizer Exiljahre Siegmund-Schultzes. Grotefeld erkennt im Blick auf sein Verständnis von Sozialismus eine „Sozialtheokratie“ mit aristokratischen
Führerpersönlichkeiten als Träger dieser Bewegung. Auch von diesem Ansatz aus könnte man das
obige Zitat verstehen. Aber der „Religionsgemeinschaft der Freunde“ (Quäker) elitären Aristokratismus mit paternalistischer Attitüde zu unterstellen, ginge an der Spiritualität und Praxis dieser
„Freunde“ völlig vorbei. Darum komme ich zu einer anderen Sicht. Aber vielleicht ist Friedrich
Siegmund-Schultze auch in dieser Hinsicht ein Vermittler verschiedener Deutungen des Sozialismusbegriffs.
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