praxis - Matthias Hoffmann

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Fachzeitschriftfür Beschäftigutlgs- utld Arbeitstherapie
K 7941
praxis
•
le
Heft 2
24. Jahrgang (ISSN 0932-9692)
• Ergotherapie bei Parkinson-Patienten
• Regulationsstörungen bei Säuglingen und Kleinkindern
• Diagnostik bei Rechenstörungen
~
verlag modernes lernen
April 2011
Neurologie
Geführte Interaktionstherapie nach dem
Affolter-Modell bei Schädigungen des ZNS
ESflter Mahr, Andl'ea Tod'
E
in Glas Wasser trinken, etwas
essen, sich waschen, anziehen, auf-
stehen oder sich hinsetzen - das
alles sind Handlungen, die wir Tag
für Tag vollziehen, ohne weiler darüber nachzudenken oder uns bewusst darauf zu konzentrieren. Für
Menschen, deren Wahrnehmung
aufgrund einer Schädigung des Zentralen Nervensystems (ZNS) gestört
ist, stellt jedoch schon die Ausübung
dieser vermeintlich banalen alltäglichen Handlungen eine Herausforde-
rung dar.
Ob aufgrund einer angeborenen Be-
hinderung oder verursacht durch
einen Unfall oder eine Krankheit Menschen mit Wahrnehmungsslörungen haben Probleme mit der Einord-
nung und Verarbeitung von Informationen. Daher können sie im Gegensatz zu gesunden Menschen diese
Informationen nicht dazu anwenden,
um eine Beziehung zwischen dem eigenen Körper und ihrer Umwelt herzustellen, was jedoch die Basis von
zielführenden Handlungen ist.
Eine Therapie, die wahrnehmungsgestörten Menschen dabei hilft, Informationen zu erspüren, eine Beziehung zwischen dem eigenen Körper
und der Umwelt herzustellen und dadurch das Ausführen zielgerichteter
Handlungsabläufe neu oder wieder
zu erlernen, ist die geführte Interaktionstherapie nach dem AffolterModell.
Das taktil-kinästhetische
System als Grundlage
der Wahrnehmung
Die Ergotherapeutinnen Christiane
BORCHERS und Sandra SUTARNA set·
zen beide bereits seit vielen Jahren
die geführte Interaktionstherapie
nach Affolter in ihrer Arbeit sowohl
mit Kindern als auch mit Erwachsenen ein. "Schon für einen im
Grunde einfachen und alltäglichen
Vorgang, wie beispielsweise ein
Glas Wasser zu trinken, muss ein
Mensch eine ganze Reihe von Informationen wahrnehmen, verarbeiten und in bestimmte Handlungen
umsetzen", erklärt Sandra SUTAANA.
"So muss ich als Erstes meine Position zur Unterlage und im Raum
erspüren und wahrnehmen können,
dann meine Position in Bezug zum
Glas, es folgen die Verlagerung des
Körperschwerpunktes in der gerichteten Bewegung zum Glas und die
damit einhergehenden Ausgleichbewegungen des Körpers, das Vorbereiten der Greifhand und schlie Blich
das Ergreifen des Glases. Für jede
Bewegung muss ich auch die angemessene Kraft und Geschwindigkeit finden. Aus der Verarbeitung all
dieser gespürten Bewegungen und
durch die ständige variable Wiederholung dieses Vorgangs speichere
ich schließlich ab, was ein Glas ist
und was der Vorgang des Trinkens
beinhaltet. Es sind also eine Vielzahl
von Gehirn- und Körperleistungen
nötig, die bei gesunden Menschen
als automatisierter Prozess stattfinden und abgespeichert sind."
Das so genannte taktil-kinästhetische System, also die Wahrnehmung
über erspürte Berührung, Bewegung
und Position, gilt als Grundlage der
Wahrnehmung und damit als Grundlage für die Fähigkeit der Umwelterkundung und der Feinmotorik. Bei
kleinen Kindern lässt sich beobachten, wie sie die Eigenschaften von
Gegenständen zunächst über diese
Kanäle wahrnehmen
- der Tastsinn
ist also ausschlaggebend für Wahrnehmung und Erfahrung der
Umwelt.
Geführte Interaktionstherapie in der Praxis
Diese Erkenntnis liegt auch der geführten Interaktionstherapie zugrunde, die Mille der 1970er Jahre von
der schweizerischen Logopädin und
Psychologin Felicie AFFOLTER entwickelt wurde. Dabei befindet sich
der Therapeut hinter dem Patienten und führt mit seinem Körper und
seinen Händen dessen Bewegungen. So werden gemeinsam Informationen gespürt und Beziehungen
zwischen Körper und Umwelt hergestellt. Christiane BOAcHEAs, die
hauptsächlich mit Kindern arbeitet,
betont "Durch diese spezielle Haltung beim geführten Ausführen und
Üben von Alltagssituationen kann
der Therapeut auch gut die Verfaspra.,·is ergotherapie • Jg. 24 (2) •
April 2011
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Neurologie'
sung des Patienten wahrnehmen ob er sich verkrampft, angespannt,
nervös oder entspannt ist - und entsprechend darauf reagieren."
Ergotherapeulin Christiane BORdie zusammen mit Gabriele
FINKENZELLER·GöTZ in eigener Praxis
in Frankfurt am Main tätig ist, begann
1996 nach dem Alfolter-Modell therapeutisch zu arbeiten. Sie initiierte
den "Frankfurter Kreis u , der weiteren
Ergotherapeuten,' Physiotherapeulen und Logopäden, die die geführte Interak1ionslherapie anwenden,
als Plattform für professionellen Austausch und
Weiterbildung dient. Diese Berufsgruppen und
andere Interessierte mit
einer heilpädagogischen
Ausbildung erhalten hier
Informationen zur Ausund Weiterbildung nach
dem Affolter-Modell.
Ansprechparlnerin ist
Christiane BORcHERs (Tel.
069-970187).
CHERS,
es sind keine speziellen, teuren Geräte nötig - mit der entsprechenden
Einweisung können Angehörige oder
Pflegepersonal die therapeutische
Arbeit selbst wirkungsvoll unterstützen."
Therapie für Patienten
jeden Alters
Als Beispiel für die erfolgreiche Therapiearbeit berichtet Christiane BORCHEAS von einem kleinen Jungen, der
als schwer autistisch galt und darüber hinaus auch eine Gehörbehin-
teraktionstherapie in Kontakt kam.
Einer ihrer Patienten ist der 51-jährige Matthias HOFFMANN, der im April
2008 im Zuge einer Operation eine
Sauerstoffunterversorgung des Gehirns und damit einen schweren hypaxischen Hirnschaden erlitt.
Nach mehreren Wochen in Koma
und Wachkoma leidet er heute unter
schweren Wahrnehmungsstörungen,
einer stark beeinträchtigten Motorik
und verfügt nur noch über einen sehr
reduzierten Wortschatz. Zudem hat
er das Lang- und Kurzzeitgedächtnis
verloren und kann auch
einfache HandJungsabläufe nicht selbstständig
durchführen.
Therapeutin
Sand ra
SUTAANA arbeitet nun daran, dass durch das gezielte Führen des Körpers
und der Hände Matthias
HOFFMANN über gespürte
Informationen seine Umwelt neu erfährt und erlernt.
Besonders überzeugt ist
Unterstützt wird sie dabei
Christiane BORCHERS von
von
weiteren Therapeudieser Therapieform auf~
ten
wie
Logopäden und
grund der hohen Alltags"Die
Physiotherapeuten.
relevanz: "Mit der geTherapie ist besonders
führten Interaktionsthegut für Patienten mit Hirnrapie werden komplexe
verletzungen geeignet,
Störungen sehr global in
Durch das geuelte Führe" der H(lIld die UII/welt /leu erspiirell
weil ehemals bekannalltäglichen Situationen
te Handlungsabläufe so
- wie z.B. Essen vorbereiten, Waschmaschine ausräumen, derung haI. Zu Beginn der Therapie nicht mehr abgespeichert sind. Im
sich anziehen - behandelt. Durch hatte das Kind bisher so gut wie kei- Grunde beginnt man wieder, die Umdas Lösen dieser alltäglichen Pro- nen Kontakt zu den Menschen oder welt nach dem frühkindlichen Muster
bleme setzt sich der Patient mit der Dingen in seiner Umgebung her- - also über Erspüren - zu erfahren",
physikalischen Welt auseinander. Er gestellt. BORCHEAS begann, mit ihm erklärt SUTARNA.
erfährt Kräfteverhältnisse und Ur- nach der Affolter-Methode Kontakt
sache-Wirkungsgesetze und lernt, zu seiner Umwelt aufzunehmen, und
diese zu deuten. Dies ist die Grund- bezog auch die Eltern mit in die Thelage für weitere Lernschritte in allen rapie ein. "Heute kann er sich nicht
Bereichen." Zudem hilft die Therapie nur alleine anziehen und sich ein Für die Autorinnen:
nicht nur Kindern oder Erwachsenen Brot schmieren - er hat sogar Ge- Andrea Todt
mit schweren Behinderungen, auch bärdensprache gelernt und kann sich [email protected]
[email protected]
die allgemeine Konzentrations- und darüber ausdrücken", erzählt sie.
Lernfähigkeit bei Menschen mit weniger schwerwiegenden Störungen
wird verbessert. BORCHERS fährt fort:
"Außerdem kann die Therapie sozusagen überall durchgeführt werden,
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(:1"f~o(I"'I'''fJi(: • Jg. 24 (2) - April 2011
Einen gänzlich anderen Fall betreut
Sandra SUTARNA, die seit ihrer Aus~
bildung zur Ergotherapeutin in der
Praxis von Christiane BOAcHERs arbeitet und dort mit der geführten In-
Stichworte: Affoller-Modello Schädigungen
des ZNS Wahrnehmungs störungen
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