207 Editorial Seltene Erkrankungen in der Rheumatologie Eine häufige Herausforderung Die neuen ambulanten Versorgungsstrukturen nach § 116 b des Sozialgesetzbuches rücken die Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen erneut in den Fokus des Interesses. Die spezialärztliche Versorgung, die in diesem Vertrag geregelt ist, ist – neben den schweren Verlaufsformen – speziell für Patienten mit seltenen Erkrankungen gedacht. Für seltene Erkrankungen sind nicht nur maximale Erfahrung, sondern auch die besten Strukturen, die vor allem ein eng geknüpftes interdisziplinäres Netz umfassen, notwendig. In der Rheumatologie sind die seltenen Erkrankungen von besonderer Wichtigkeit. Das Erkennen und Behandeln seltener Erkrankungen ist ein essenzieller Teil der Aufgaben internistischer Rheumatologen. Bei der Differenzialdiagnose von Symptomen von rheumatischen Erkrankungen müssen diese immer mit bedacht und abgegrenzt werden. Seltene Erkrankungen sind in der Europäischen Union definiert als Erkrankungen, die eine Prävalenz von 5 auf 10 000 Einwohner nicht überschreiten. Dazu gehört nach dieser gültigen Definition noch z. B. die systemische Sklerose, nicht aber mehr der systemische Lupus erythematodes oder das Sjögren-Syndrom. Anhand der Daten der deutschen Kerndokumentation hatten 2011 zehn Prozent der dokumentierten Patienten rheumatologische Erkrankungen, die unter eine solche Definition fallen. ▶ Tabelle 1 zeigt eine Statistik der häufigsten dieser Diagnosen, von denen die meisten autoimmun oder autoinflammatorisch bedingt sind, und oft potenziell schwere Verläufe aufweisen können. Korrespondenzadresse Prof. Dr. med. Christoph Fiehn ACURA-Rheumazentrum Baden-Baden Rotenbachtalstr. 5, 76530 Baden-Baden Tel.: 0 72 21/352-401, Fax: 0 72 21/352-490 E-Mail: [email protected] arthritis + rheuma 2013; 33: 207–209 In dieser Ausgabe der arthritis + rheuma, die wir Ihnen nun vorstellen möchten, geben die Autoren einen Überblick über einige, in der Praxis oft sehr spannende und differenzialdiagnostisch immer wieder zu erwägende rheumatische Erkrankungen. Wir als Gastherausgeber haben darauf geachtet, dass die Krankheitsbilder, die Themen der Arbeiten sind, nicht erst kürzlich anderweitig in deutschsprachigen Artikeln zusammengefasst wurden. Für aktuelle Übersichten zum Morbus Behçet (1), den Dermato- und Polymyositiden (2, 3), dem adulten Morbus Still (4), den ANCA-assoziierten Vaskulitiden (5) oder aber der Sarkoidose (6), die alle auch ohne Zweifel zu dieser Gruppe gehören, und es wert sind, studiert zu werden, verweisen wir daher auf die aktuelle bereits existierende Literatur. In unserer Ausgabe möchten wir einen Bogen schlagen von dem SAPHO-Syndrom als einer Erkrankung, die eine besondere Herausforderung an die radiologische Differenzialdiagnose stellt, über die hereditären Fiebersyndrome wie dem familiären Mittelmeerfieber, bei dem sich die Rheumatologie u. a. mit der Pädiatrie trifft, bis hin zum Morbus Whipple, dem seltenen, aber umso vielseitigeren und geheimnisvolleren infektiösen Krankheitsbild der Rheumatologie, Gastroenterologie und manchmal auch Neurologie. Hier werden vor allem aktuelle Aspekte der Erkrankung diskutiert. Die systemische Sklerose – von den seltenen die häufigste Erkrankung – stellt durch die Resistenz gegenüber der Therapie eine tägliche Herausforderung dar. Die Immundefektsyndrome gehören sicher zu den seltensten Erkrankungen, mit denen Rheumatologen zu tun haben – als immunologisch geschulte Ärzte haben wir aber auch hier besondere Aufgaben in der Erkennung. Schließlich zeigen wir in einer CME-Arbeit über die rezidivierende Polychondritis ein Musterbeispiel einer Erkrankung, die nicht nur eine ausgeprägte Prof. Dr. Christoph Fiehn Dr. Keihan Ahmadi-Simab © Schattauer 2013 arthritis + rheuma 4/2013 Downloaded from www.arthritis-und-rheuma-online.de on 2017-11-02 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 208 Editorial Tab. 1 Anzahl der Patienten mit seltenen, rheumatologischen Erkrankungen (Inzidenz ≤ 5/10 000) in der deutschen Kerndokumentation 2011 (Zink et al. persönliche Mitteilung) Diagnosen Anzahl (%) systemische Sklerose (inklusive CREST) 351 (2,0) Morbus Behçet 250 (1,4) ANCA-assoziierte Vaskulitiden 227 (1,3) Overlap-Kollagenosen 183 (1,0) juvenile idiopathische Arthritis 142 (0,8) Dermato-/Polymyositis 122 (0,7) unklassifizierte Vaskulitiden 109 (0,6) Panarteriitis nodosa 108 (0,6) Sarkoidose 101 (0,6) adulter Morbus Still 77 (0,4) Takayasu-Arteriitis 41 (0,2) relabierende Polychondritis 16 (0,09) chronisch rekurrierende multifokale Osteomyelitis (CRMO) 8 (0,04) Interdisziplinarität der verschiedenen Fachgebiete notwendig macht, sondern auch durch den potenziell schweren und lebensgefährlichen Verlauf einer Rundum-die Uhr-Bereitschaft bedarf. Seltene Erkrankungen beschäftigen die gesamte Medizin. In den vergangenen Jahren haben sich in großer Zahl interdisziplinäre Zentren für seltene Erkrankungen gebildet. Das Expertenportal www.orpha. net, das von französischen staatlichen Institutionen initiiert, aber nun international betrieben und durch die europäische Union mitfinanziert wird, informiert umfassend und vielsprachig über seltene Erkrankungen, ihre Diagnostik, die Zentren und Netzwerke, klinische Studien und Selbsthilfegruppen. Diese Seite ist auch eine nützliche tägliche Hilfe, da sie Zugang zu aktueller Literatur und Ansprechpartnern vermittelt. Die Behandlung und Betreuung von Patienten mit seltenen rheumatischen Erkrankungen ist sinnvollerweise in Zentren angesiedelt, in denen nicht nur die notwendige Erfahrung und interdisziplinäre Struktur vorhanden ist, sondern auch die wissenschaftliche Erforschung dieser Erkrankungen erfolgt und von denen aus kli- Tab. 2 Typische Leitsymptome seltener Erkrankungen, die bei der Abklärung von Gelenkschmerz und -schwellung auf eine seltene Erkrankung als Ursache hinweisen können Leitsymptom Arthritis/Arthralgien ...plus weitere Symptome • Raynaud-Syndrom • Sklerodaktylie • Schluckstörungen • Erythema nodosum • Atemnot • Fieber • Claudicatio-Symptomatik • RR-Differenz • Carotodynie • Sattelnase • wiederkehrende Ohrmuschelentzündung • orale und genitale Aphthosis • Pyodermien • schmerzhafte Augenrötung oder Sehstörungen (Konjunktivitis, Möglicher Hinweis auf... Systemische Sklerose Sarkoidose Takayasu-Arteriitis Polychondritis Morbus Behçet Keratitis, Uveitis, Neuritis nervi optici) • Thrombophlebitiden • dominante Gelenkkontrakturen • Karpaltunnelsyndrom in jugendlichem Alter • Trübung der Hornhaut, Taubheit • Durchfall/abdominelle Beschwerden • episodischer Charakter der Arthritiden • Fieber • pustulöse Hautveränderungen palmar und plantar • Schmerzen und Schwellungen der vorderen Thoraxwand • Fieber • Hautausschlag • muskelkaterartiger Schmerz • Muskelschwäche • Schluckstörungen • Atemnot • Godron-Papeln • heliotropes Exanthem • Mechaniker-Hände • Kopfklinik: Epistaxis, Rhinitis, Otitis, Sinusitis • Hämoptysen/Atemnot • Purpura • Parästhesien • Gewichtsabnahme • Fieber • Muskelschmerz • schmerzhafte Augenrötung und Sehstörungen (Skleritis) nische Studien initiiert werden. Um seltene Erkrankungen zu erkennen, ist aber der Rheumatologe in der Praxis und Klinik genauso notwendig, der aus der großen Zahl von Patienten mit den häufigen rheumatischen Erkrankungen die Kolibris erkennt. Mukopolysacharidosen Morbus Whipple SAPHO-Syndrom Fiebersyndrome und adulter Morbus Still Myositiden Kleingefäßvaskulitiden Seltene rheumatische Erkrankungen erkennen Wie kann man nun seltene rheumatische Erkrankungen erkennen? Das Wichtigste ist sicher, erst einmal an die Möglichkeit zu denken, dass eine solche Erkrankung vorliegen könnte. Dies gelingt vor allem dann, arthritis + rheuma 4/2013 © Schattauer 2013 Downloaded from www.arthritis-und-rheuma-online.de on 2017-11-02 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. Editorial wenn man solche Erkrankungen schon einmal gesehen hat. Viele Erkrankungen, gerade die mit den eindrucksvollen, unvergesslichen klinischen Bildern, wie die rezidivierende Polychondritis oder das SAPHO-Syndrom, prägen sich unauslöschlich in das Gedächtnis ein und haben einen hohen Widererkennungseffekt. Das Lernen am Fall – und eben auch seltenen Fällen –, ist daher in der Ausbildung von Rheumatologen ein sehr wichtiges Werkzeug. Es gibt aber auch systematische Methoden, seltene Fälle zu detektieren. Dafür ist insbesondere die Anamnese geeignet. Die meisten Patienten werden wegen Schmerzen und Schwellungen der Gelenke zum Rheumatologen geschickt. Dieses Leitsymptom sollte aber nicht nur Anlass geben, die üblichen Fragen nach Morgensteifigkeit, morgendlichem Schmerzmaximum usw. zu stellen, die der Diagnostik der rheumatoiden Arthritis dienen. Seltene Erkrankungen erkennt man, indem Symptome wie Epistaxis, Raynaud-Syndrom, Durchfall, Fieber und vieles mehr erfragt werden. Nur eine systematische Anamnese – auch seltener Symptome – hilft auch bei Patienten mit atypischen Symptomen, auf seltene Erkrankung aufmerksam zu werden. ▶ Tabelle 2 zeigt Beispiele für Symptome, die erfragt werden können, um den Verdacht auf seltene Erkrankungen zu lenken. Dies geht von dem häufigsten Primärsymptom der Arthralgien und Arthritis aus. Ganz ähnlich ist es aber auch bei anderen Leitsymptomen, die zur Überweisung zum Rheumatologen führen können, wie Fieber unklarer Ursache, Uveitis, Rückenschmerz u. v. m. Das regelmäßige Abfragen von Symptomen für seltene Erkrankungen, auch dann, wenn primär erst mal kein Verdacht für eine solche besteht, ist wahrscheinlich das wirksamste Werkzeug, diese zu erkennen. Dazu gehört Disziplin, aber auch Augenmaß und klinische Erfahrung. Das sind Tugenden, die aber von jeher in der Rheumatologie zu Hause sind. Die neuen Strukturen der spezialfachärztlichen Versorgung nach § 116b SGB V werden helfen, das Erkennen, die Erforschung und die bessere Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen auch in der Rheumatologie zu fördern. Wir hoffen, dass wir mit diesem Sonderheft der arthritis+rheuma dazu beitragen können, einige der Krankheitsbilder, die unsere Disziplin so interessant und besonders macht, den Leserinnen und Lesern etwas näher zu bringen. Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen! Ihre Prof. Dr. Christoph Fiehn Baden-Baden Dr. Keihan Ahmadi-Simab Hamburg Literatur 1. Kötter I. Update Morbus Behçet. Z Rheumatol 2012; 71: 760–764. 2. Gretler J. Abklärung und Differenzialdiagnose der Myositiden. arthritis+rheuma 2013; 33 (1): 9–14. 3. Schirmer M, Duftner C. Therapieansätze bei Myositis. arthritis+rheuma 2013; 33 (1): 16–18. 4. Dechant C, Kruger K. Der adulte Morbus Still. Dtsch Med Wochenschr 2011; 136 (33): 1669–1673. 5. Holle JU. ANCA („anti-neutrophil cytoplasm antibody“)-assoziierte Vaskulitiden. Z Rheumat 2013; 72: 445–456. 6. Kirsten D. Pulmonale Sarkoidose: aktuelle Diagnostik und Therapie. Dtsch Med Wochenschr 2013; 138 (11): 537–541. © Schattauer 2013 arthritis + rheuma 4/2013 Downloaded from www.arthritis-und-rheuma-online.de on 2017-11-02 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 209